Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2. Kapitel. Am Scheidewege.

Großmama und Großpapa hielten ihr Nachmittagsschläfchen. Der alte Geheimrat auf dem Sofa, Frau Annemarie daneben in dem bequemen Ledersessel, wie sie es nun schon seit Jahren gewöhnt waren. Die Zeitung war der geäderten Hand des Schlafenden entfallen. Seine tiefen Atemzüge mischten sich mit dem Summen einer respektlosen Fliege.

Frau Annemarie schlief nicht. Sie blickte von der Uhr drüben an der Wand unruhig zum Fenster, das die schon schrägen Sonnenstrahlen einfing. Wo das Kind nur blieb? Mußte es nicht längst hier sein? Eine halbe Stunde Fahrt, der Weg zum Bahnhof und das letzte Stück hier draußen – wieder befragte sie mit angstvollen Augen die Uhr. Nein, wirklich, um eine halbe Stunde hatte sie sich verspätet. Wenn da nur nichts passiert war. Man las jetzt so viel von Unglücksfällen. Gut, daß ihr Mann schlief und nichts von ihrer Unruhe merkte. Rudi würde sie auslachen wie stets, wenn sie um Mariettas Ausbleiben sorgte. »Binde doch das Mädel an dein Schürzenband fest, daß es dir nicht entlaufen kann. Seitdem die Frau auf die Siebzig lossteuert, wird sie immer wunderlicher.« Trotzdem Frau Annemarie knapp die Mitte der Sechziger überschritten hatte, pflegte ihr Mann sie damit aufzuziehen. Das heißt, wenn er guter Laune war. Dies war jetzt durchaus nicht immer der Fall. Frau Annemaries Blick wanderte von der unaufhaltsam weiter tickenden Uhr zu dem Gesicht des Schlafenden. Sie konnte es sich nicht verhehlen, daß er stark gealtert war seit der schweren Krankheit damals vor fünf Jahren. Die Stirn reichte fast bis zum Hinterkopf. Jahre verantwortungsvoller Arbeit hatten Falten und Fältchen um Augen und Mund eingegraben. Und immer noch gab es keinen Feierabend für den gewissenhaften Arzt. Wenn auch die Praxis allmählich abbröckelte, an Jüngere überging, der Stamm seiner Patienten war dem alten Geheimrat Hartenstein treu geblieben. Ja, es gab viele, die sich in der chirurgischen Klinik, der er noch immer vorstand, lieber den altbewährten Händen anvertrauten als den jüngeren seiner Assistenten. Wenn nur die Augen mit seiner Willenskraft gleichen Schritt gehalten hätten. Aber die ließen seit geraumer Zeit nach und machten Frau Annemarie fast noch größere Sorgen als ihrem Manne selbst. Augenblicklich aber war es die Enkelin, die all ihre Gedanken in Anspruch nahm. Denn irgend etwas zum Sorgen mußte sie immer haben, sonst wäre ihr nicht wohl, behauptete ihr Mann. Es ging auf drei – – was mochte Marietta nur passiert sein?

Geräuschlos erhob sich die alte Dame. Ganz so leichtfüßig wie früher war sie auch nicht mehr. Das linke Bein streikte, besonders wenn sie eine Weile gesessen hatte, dann mußte es erst wieder in Gang kommen. Ja, ja, man wurde eben nicht jünger. Behutsam, um den Schlafenden nicht zu wecken, begab sich Frau Annemarie zum Fenster. Und als ob sie die Enkelin mit der Kraft ihrer Gedanken magnetisch herbeigezogen hätte, ging da gerade die Gartentür. All der Sonnenglanz, den das Fenster einließ, schien sich in den noch heute leuchtend blauen Augen der alten Frau zu spiegeln.

»Da ist es, unser Kind. Ich hab's ja gewußt, daß es nichts weiter auf sich haben würde.« Obgleich sie eigentlich gerade das Gegenteil angenommen hatte. Viel hätte nicht gefehlt, dann hätte Frau Annemarie temperamentvoll gegen die Scheibe geklopft, um der heimkehrenden einen Gruß zuzuwinken. Aber fünfundvierzig Ehejahre hatten sie doch zu gut erzogen. Der Schlaf ihres Mannes war ihr heilig. Warum schaute das Kind denn gar nicht auf? Es ging so in Gedanken verloren, als habe es Gott weiß was für schwere Rätsel zu lösen. War es von seiner neuen Tätigkeit nicht befriedigt?

Das steife Knie der Großmama mußte mit, ob es wollte oder nicht. Vorsichtig zur Tür – ihr Mann rührte sich nicht. So – nun war sie draußen. Ob Frau Trudchen auch alles für Marietta recht heiß gehalten hatte?

Sie steckte den Kopf zur Küche hinein, wo Frau Trudchen, die getreue Schaffnerin des geheimrätlichen Hauses, die dampfende Suppe auffüllte, während ihre Adoptivtochter, die dreizehnjährige Lotte, bereits mit dem Tablett darauf wartete.

»Nun, Trudchen, alles in Ordnung? Ist auch die Soße inzwischen nicht zu sehr eingepruzzelt? Vergessen Sie nicht, das Ei zum Spinat zu kochen. Unser Kind sieht blaß aus. Wir müssen es ein bißchen pflegen.«

»Mein Jott, nu hat Frau Jeheimrat schon wieder keine Ruhe nich jehabt. Als ob Lotteken und ich Fräulein Marietta nich jut versorgen täten. Frau Jeheimrat is doch kein Jüngling mehr und braucht ihr Nachmittagsschläfchen wie jeder bejahrte Jreis.« Wirklich, Frau Trudchen, die allzeit treu sorgende, war recht unzufrieden mit ihrer Herrin.

Die klopfte ihr begütigend auf die Schulter. »Nanu, was ist Ihnen denn über die Leber gelaufen, Trudchen? Ein Jüngling bin ich mein Lebtag nicht gewesen, und ein bejahrter Greis werde ich auch niemals sein.« Sie lachte herzlich, daß es auch über das breite Gesicht der Dienerin wie Sonnenleuchten durch gewitterschwere Wolken ging. Lottchen aber stimmte so belustigt in das Lachen der alten Dame ein, daß auch die Suppe in dem Teller ausgelassen über den Rand schwippte. So ansteckend wirkte Frau Annemaries Lachen noch immer.

»Na, da haben wir's ja, Lotteken, kannste dich nich 'n bißchen vorsehen. Und Frau Jeheimrat braucht auch jar nich so zu lachen, wenn man's jut mit ihr meinen tut«, ereiferte sich Frau Trudchen.

»Das weiß ich ja, daß das Krakeelen nur auswendig ist, Trudchen. So, Lottchen, nun trage die Suppe rein. Ei, da bist du ja, mein Seelchen. Es ist recht spät geworden.« Die letzten Worte waren an Marietta gerichtet, die in diesem Augenblick auf der zum oberen Stockwerk führenden Treppe auftauchte. Sie hatte oben ihr Stübchen, dasselbe, das ihre Mutter einst bewohnt, wo sie inzwischen abgelegt und sich gewaschen hatte.

»Großmuttchen, du nicht in deinem Lehnsessel? Das ist aber unrecht, daß du mir deinen Nachmittagsschlaf opferst. Das darfst du nie wieder tun. Versprich es mir.« Liebevoll zog Marietta den Arm der Großmama durch den ihrigen und betrat mit ihr das Speisezimmer, wo Lotte und die Suppe schon auf sie warteten.

»Fängst du auch noch an, deine alte Großmutter herunterzuputzen? Frau Trudchen hat das schon zur Genüge besorgt«, scherzte die Großmama. »Schlaf du mal, wenn du in Sorge bist, daß irgend etwas passiert sei.«

»Ja, was soll denn passiert sein? Großmuttchen, du siehst am hellen Tage Gespenster.« Marietta unterbrach Lottchen, die ihr freudestrahlend berichtete, daß sie unter dem Exerzitium, das Marietta ihr durchgesehen, » très bien« bekommen. »Ich kann gar nicht früher zu Hause sein. Hast du die Absicht, dich jeden Tag um mein spätes Heimkommen aufzuregen? Dann esse ich lieber im Internat der Frauenschule, Großmuttchen. Es wäre vielleicht überhaupt richtiger, daß ich Frau Trudchen nicht doppelte Mühe mache«, überlegte das junge Mädchen, zum Löffel greifend.

»Du bist wohl nicht ganz bei Troste, Kind! Willst deiner Großmama das Geld vertragen? Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Und Frau Trudchen würde dir das sicher übelnehmen. Nun iß, Seelchen, iß und laß dir's schmecken.« Die Großmama begleitete jeden Löffel Suppe, den Marietta an die Lippen führte, liebevoll mit ihren Blicken. Es schien ihr im Geiste besser zu munden als der Enkelin selbst.

»Von dem Spinat mußt du noch nehmen, Jetta. Er ist besonders gut. Spinat ist eisenhaltig, der geht ins Blut. Wie blaß du wieder aussiehst. Habt ihr auch gesunde, luftige Schulräume dort? Nein, nein, nicht erzählen, erst essen.« Obgleich Frau Annemarie begierig war, Näheres über den ersten Tag in der sozialen Frauenschule zu hören, überwog doch ihre Fürsorge. »Ich hätte ja gern mit dem Essen auf dich gewartet. Aber du weißt ja, Großpapa ist ungemütlich, wenn es nur fünf Minuten nach halb zwei wird. Du brauchst keine Angst zu haben, wir bleiben bei unserer Tischzeit. So, Seelchen, nun iß noch das Kompott, eingelegte Kirschen von unseren Schattenmorellen draußen im Garten. Und dann erzähle!« Frau Annemarie tat der Enkelin eigenhändig die Früchte auf. Sie wartete.

Aber Marietta hatte es nicht gar so eilig mit dem Berichten. Nachdenklich schaute sie auf jeden Kirschstein, den sie an den Rand des Tellers in gleichmäßigen Abständen legte. Wie rührend die Großmama um ihr Wohl besorgt war. Durfte sie da noch schwanken?

Marietta wußte nicht, daß sie eine ganze Zeit lang den Kompottlöffel an die Lippen gehalten hatte, ohne die daraufliegende leckere Kirsche in den Mund spazieren zu lassen. Ihre Gedanken waren weit fort. Die pendelten zwischen den Arbeiter-Lehmhütten auf den brasilianischen Kaffeeplantagen und dem großelterlichen Rosenhaus hin und her. Wo brauchte man sie notwendiger?

In die Augen der alten Dame, die mit großmütterlicher Freude an der liebreizenden Enkelin hingen, trat von Sekunde zu Sekunde wachsende Unruhe. Da war etwas nicht im Lot. Dazu bedurfte es nicht erst ihres erfahrenen Blickes, um das zu erkennen. So lebhaft wie Mariettas Mutter, Frau Annemaries Ursel, einst gewesen, war deren Tochter ja nie. Anita, die Zwillingsschwester, glich darin mehr der Mutter. Marietta war von einer gleichmäßigeren, stilleren Heiterkeit. Um so mehr befremdete die Großmama ihr einsilbiges, sichtlich bedrücktes Wesen. Hatte sie in dem neuen, selbsterwählten Berufskreise Verdruß oder Enttäuschungen gehabt?

Eigentlich war Frau Annemarie überhaupt nicht so sehr für die soziale Frauenschule gewesen. Marietta war zart, die Tätigkeit, welche die soziale Ausbildung dort erforderte, war eine recht anstrengende. Sie hatte ja durchaus nichts dagegen, daß das Kind seine Zeit und Arbeit gemeinnützigen Zwecken weihte. Aber das konnte sie doch wie bisher, unter Anleitung ihrer Tochter Vronli, die in so vielen Wohlfahrtseinrichtungen ehrenamtlich tätig war, weiter fortsetzen. Wozu bedurfte es dazu erst noch jahrelanger Studien? Gerda hatte der Kusine den Floh ins Ohr gesetzt. Weil Gerda die soziale Frauenschule besuchte, mußte auch Marietta das gleiche tun. Dabei lag doch die Sache für beide ganz verschieden. Ihre Enkelin Gerda mußte darauf sehen, sich als Lehrerstochter möglichst bald auf eigene Füße zu stellen, sich vom Vater unabhängig zu machen. Sie mußte daran denken, eine Anstellung als soziale Beamtin zu erhalten. Bei Marietta war das doch nicht nötig. Die Tochter des reichen Kaffeekönigs in Brasilien konnte sich den Luxus einer unbezahlten Tätigkeit, die ihren Neigungen entsprach, gestatten. Man konnte genug Gutes tun, wenn das Herz und der Geldbeutel nur groß genug dazu waren. Dazu brauchte man nicht erst die soziale Frauenschule zu besuchen. Aber daß das Kind so wieder heim kam, so still und bedrückt, das hatte sie nicht erwartet. Das schlug dem Faß den Boden aus.

»Also so wenig begeistert bist du von deiner neuen Tätigkeit, Jetta?« Wie stets ging Frau Annemarie grade auf ihr Ziel los. »Macht nichts, Seelchen. Besser, du siehst gleich im Anfang ein, daß es nichts für dich ist, als daß du dir die besten Jahre deines Lebens damit verdirbst. Mir ist es ganz recht, daß es so gekommen ist.«

»Wie denn?« Ganz erstaunt ließ Marietta die Kirsche vom Löffel wieder auf den Teller zurückgleiten.

»Na, ich denke, du bist unbefriedigt von der sozialen Frauenschule. Sie entspricht gewiß nicht deinen Erwartungen. Sind dir die Lehrkräfte oder die Mitschülerinnen nicht sympathisch?«

Jetzt mußte Marietta lachen. Es klang so silberhell wie stets. »Weder das eine noch das andere, Großmuttchen. Was du für eine rege Phantasie hast. Es hat mir sehr gut in der sozialen Frauenschule gefallen. Die Vorsteherin, Fräulein Dr. Engelhart, scheint eine herrliche Frau zu sein. Wir sind alle ganz begeistert von ihrer Auffassung der sozialen Aufgabe.«

»Hm« –, die Großmama zog die Brille hervor, die sie sonst eigentlich nur beim Lesen gebrauchte. »Hm« – – –, aufmerksam betrachtete sie dadurch ihr junges Gegenüber.

Marietta wurde es ungemütlich unter dem prüfenden Blick der alten Dame. Die Großmama hatte so klare Augen, sie schienen auf den Grund der Seele zu lesen. Marietta setzte ihre Teller zusammen und trug sie in die Küche. »Damit Frau Trudchen nicht noch hinterherräumen muß.«

Frau Annemarie lächelte verständnisvoll. Sie lächelte über die hauswirtschaftliche Tüchtigkeit der einst als Tropenprinzeßchen in ihr Haus gekommenen Enkelin und über den wahren Grund ihres Ordnungssinnes. Nun, wenn das Kind nicht Rede stehen wollte, sie würde es nicht dazu zwingen. Über kurz oder lang kam Marietta wohl von selbst zu ihr. Sie hatte noch stets mit allem, was sie bewegte, den Weg zu ihr gefunden.

Frau Annemarie begab sich in ihr Biedermeierzimmer, ihr ureigenstes Reich. Dort war jeder Gegenstand, jedes Möbel fest mit ihr verwachsen, durch Überlieferung und Erinnerung ein Teil ihrer Persönlichkeit geworden. An dem breiten Erkerfenster standen in weißen Porzellantöpfchen Alpenveilchen in allen Farbenstufen; vom zartesten Rosa bis zum tiefsten Purpurrot. Großmamas Blumenfenster war vorbildlich. Keiner hatte solche segensreiche Hand wie sie für die Blumenpflege. Wenn der Garten draußen seine Blütenkinder Herbststürmen preisgeben mußte, dann begann es drinnen an Großmamas Erkerfenster zu treiben und zu blühen. Ihren »Wintergarten« pflegte sie ihren Erkerplatz scherzhaft zu nennen. Im Bauer über dem runden Mahagoni-Nähtisch schmetterte Mätzchen ihr seine Jubelhymne entgegen. Und ein letzter Sonnenstrahl verweilte noch einige Sekunden, um Großmamas Lieblingsplätzchen zu vergolden.

Sie ließ sich in den mit grünem Rips überzogenen Lehnstuhl nieder. Mätzchen hielt in seinen musikalischen Übungen inne und äugte erstaunt auf seine Herrin herab. Nanu? Keine Arbeit in den stets fleißigen Fingern? Still lagen die Hände ihr im Schoß. Nachdenklich suchten ihre Augen das Weite.

Großmama dachte nach. Sie überlegte, kombinierte, schüttelte den Kopf und nickte dann einige Male vor sich hin. Natürlich, so war's. Die Lösung war ganz einfach. Daß sie auch nicht gleich darauf gekommen. Sicherlich hatte es irgendeine Kabbelei mit Gerda gesetzt. Gerda war manchmal ein wenig rechthaberisch und wollte alles besser wissen. Marietta, aus weicherem Holz, war etwas empfindsam. Viel zu weich war das Mädel für das Leben, das einen doch oft recht derbe anpackte. Sie hatte sich gewiß die Unstimmigkeit mehr zu Herzen genommen, als die Angelegenheit wert war. Frau Annemarie war ordentlich froh, daß sie jetzt das Rätsel gelöst hatte. Da griffen ihre Hände auch schon nach dem Ausbesserkorb. Langes Feiern war nicht ihre Sache.

Sie hielt die schadhafte Damastserviette gegen das Licht. Eine Jagd war als kunstvolles Muster in das seidigglänzende Gewebe hineingewebt. Diese Jagd mit Hirschen, Hunden und Jägern hatte schon ihre Begeisterung erregt, als sie noch Doktor Brauns kleines Nesthäkchen gewesen und mit ehrfürchtigen Augen vor dem mullverhangenen Wäscheschrank der eigenen Großmutter gestanden hatte. »Dieses Jagdgedeck sollst du mal bekommen, Annemarie, wenn du groß bist und dich verheiratest. Ich habe für jede Enkelin ein Damastgedeck bestimmt.« Als wäre es heute, so genau erinnerte sich Frau Annemarie jener Szene aus ihrer Kinderzeit. Merkwürdig – sie lebte jetzt überhaupt viel mehr in der Vergangenheit als früher. Längst vergessene Bilder, die jahrzehntelang entschwunden, tauchten manchmal wieder auf. Das ging wohl jedem so mit zunehmendem Alter. Die Gegenwart erforderte nicht mehr volles Sicheinsetzen, die Zukunft hatte nicht mehr viel zu bringen. Was blieb da noch? Die Vergangenheit eines langen, an Freud und Leid reichen Lebens. Beinahe zärtlich streichelte die fein geäderte Hand über den alten Damast. Nein, sie sollte noch nicht ausrangiert werden, ihre Jagdserviette. War man nicht selbst auch allenthalben rissig und brüchig geworden? Emsig begann sie den Faden durch die schadhaften Stellen zu ziehen.

Droben im Stübchen grade über dem Biedermeierzimmer der Großmama saßen sich indessen Marietta und Lottchen gegenüber. Hier war jetzt Schulstunde. Lottchen, die seit einem halben Jahr von der Volksschule auf das Mädchenlyzeum umgeschult war, zeigte trotz heller Auffassungsgabe in den fremden Sprachen manche Lücke. Marietta hatte sich vorgenommen, dieselben auszufüllen. Ihr, die schon als Kind fünf verschiedene Sprachen gelernt hatte, machte das weiter keine Mühe. Sie betrachtete Lottchen immer noch als ihren kleinen Findling, für den sie verantwortlich war. Hatte sie nicht damals in Brasilien der sterbenden Mutter der Kleinen versprochen, sich ihres verwaisten Kindes anzunehmen, es nach Deutschland zu befördern, zu den in Schlesien lebenden Verwandten? Die Nachforschungen nach denselben waren erfolglos geblieben. Lottchen hatte in Lichterfelde ebenfalls eine Heimat gefunden. Frau Trudchen und ihr Mann, das Kunzesche Ehepaar, das schon über zwanzig Jahre in Haus und Klinik des Großvaters tätig war, hatten die kleine Waise an Kindes Statt angenommen. Die Großmama mit ihrem warmen Herzen betrachtete auch das fremde Kind wie eins ihrer zahlreichen Enkelkinder. Für die materiellen Anschaffungen der Kleinen, Kleidung, Schulgeld usw., aber sorgte Mariettas Vater, der reiche Plantagenbesitzer in Brasilien. Oder vielmehr seine Tochter tat es. Der Scheck, den Marietta allmonatlich vom Vater zur Verfügung gestellt bekam, bedeutete für deutsche Begriffe eine recht beträchtliche Summe. Die persönlichen Bedürfnisse des einst so eleganten Tropenprinzeßchens waren in Deutschland in dem bürgerlich-bescheidenen Heim der Großeltern ebenfalls bescheidener geworden. Trotzdem Marietta nur gewöhnt war, das Beste zu kaufen und sich vornehm elegant kleidete, entsprach Schlichtheit dem Grundzuge ihres Wesens. Den Hauptteil des väterlichen Schecks verwandte sie dazu, um anderen eine Freude zu machen. Ihre kleinen Schützlinge im Kinderhort und in der Krippe waren ihre besten Abnehmer. Sie hatte es auch angeregt, daß Lottchen in ein Lyzeum umgeschult wurde. Der Großvater stimmte nicht dafür. »Unsere Volksschulen sind so vortrefflich, daß sie eine solide, ausreichende Grundlage für den späteren Beruf geben. Wozu soll das Kind über seinen Stand hinaus? Es braucht nicht französisch und englisch zu lernen.« Aber Marietta mit ihren sozialen Grundsätzen hatte ihm auseinandergesetzt, daß jedem Menschen mit guter Veranlagung die Gelegenheit geboten werden müsse, so viel wie möglich zu lernen. Der Großpapa dachte doch sonst so human – alt und jung verstanden sich darin nicht. Die Großmama mußte wieder mal vermitteln. Sie schlug sich auf Mariettas Seite. Warum sollte man dem Kinde, wenn die dazu erforderlichen Geldmittel da waren, nicht die Möglichkeit geben, sich durch gute Bildung in eine höhere Lebenssphäre hinaufzuarbeiten? Es war ganz ausgeschlossen, daß sich Lottchens Anverwandte, nach denen man jahrelang Nachforschungen angestellt, noch melden würden. Lottchen war ein liebes, bescheidenes Kind, das seinen Pflegeeltern auch dankbar bleiben würde, wenn ihr Lebensweg sie in gebildete Kreise führte. So war Lotte Lyzeumsschülerin geworden und gehörte dort zu den besten. Freilich, Marietta setzte auch ihre Ehre darein, das Kind in jeder Weise zu fördern, daß sie ihrer Fürsprache keine Schande machte.

Heute war die junge Lehrerin nicht so bei der Sache wie sonst. Und diese Gedankenabwesenheit übertrug sich auf die Schülerin. Denn ein Kind merkt es sofort, ob der Lehrende sich ganz einsetzt, oder ob seine Gedanken woanders weilen.

» To say – said – said, to forgot – forget – forgetten – – – stimmt das, Fräulein Marietta? Ach, Sie haben ja gar nicht aufgepaßt. Hier steht's ›ich habe vergessen‹ heißt › I have forgotten‹«, beschwerte sich die Schülerin über die Lehrerin, das Pauken der unregelmäßigen englischen Verben unterbrechend.

Marietta fuhr beschämt hoch. »Wirklich, Lottchen, ich habe eben nicht aufgepaßt«, gab sie ehrlich zu. »Fange noch mal von vorn an.« Und sie gab sich redlich Mühe, ihre Gedanken fest auf die unregelmäßigen Verben zu richten. Aber das Herunterleiern derselben war eintönig und langweilig. Lottchen konnte sie wie am Schnürchen. Während Marietta die Blicke auf das blühende Kindergesicht richtete, mußte sie unwillkürlich daran denken, wie elend und bleich, wie mager und abgezehrt das Kind gewesen, als sie es in den Tropen in ihr Haus genommen. Freilich, daran waren die ungesunden Lebensbedingungen der Plantagenarbeiter in Brasilien schuld. Lottchens Eltern, die als deutsche Auswanderer dort drüben ihr Glück zu finden glaubten, hatten das Tropenklima und die unhygienischen Wasserverhältnisse das Leben gekostet. Sie waren einem typhösen Fieber erlegen. Wieder sah Marietta die fensterlose Lehmhütte in dem Plantagendorfe der Orlandos, einer der reichsten Familien drüben, vor sich, zu der ihr kleiner Findling sie einst geführt. Damals war zuerst der Wunsch in dem vierzehnjährigen Mädchen erwacht, soziale Hilfe zu leisten, den Armen, Bedrückten zu helfen.

» To know – knew – knewed – nein, knowd wie heißt denn ›gewußt‹, Fräulein Marietta?« Lottchen blickte ganz verwundert auf ihre sonst so pflichteifrige Lehrerin, die schon wieder nicht aufmerksam zu sein schien.

» Known muß es heißen, Lottchen – to know – knew – known«, beeilte sich Marietta ihren Fehler wieder gutzumachen. Ihre Gedanken kehrten endgültig von den Kaffeeplantagen zu Lottchens unregelmäßigen Verben zurück. Die Stunde nahm nun ohne Störung ihren Fortgang, bis Frau Trudchen unten mit den Kaffeetassen klapperte.

Die Nachmittagskaffeestunde liebte Frau Annemarie jetzt ganz besonders. Sie war ihr die gemütlichste am Tage, da dieselbe ihre Lieben um sie vereinte. Sonst fehlte meistens einer bei den Mahlzeiten oder hetzte, um fortzukommen. Seitdem der Geheimrat nur noch vormittags in der Klinik seine Sprechstunde abhielt, war er nachmittags frei, wenn nicht gerade ausnahmsweise noch ärztliche Besuche vorlagen, oder sich ein kühner Patient erdreistete, den Nachmittagsfrieden der alten Herrschaften durch unerwünschtes Klingeln zu unterbrechen. Das heißt unerwünscht nur bei Frau Annemarie. Sie wollte, daß ihr Mann sich allmählich zur Ruhe setzen sollte, daß er mit seinen Kräften haushielt. Er hatte lange genug, Tag und Nacht bei Wind und Wetter seine Pflicht getan. Aber der alte Herr knurrte, daß man ihn jetzt zum alten Eisen warf. Er war überhaupt in seiner Stimmung nicht mehr so gleichmäßig wie früher. Es war für Frau Annemarie oft gar nicht leicht, heiter und geduldig zu bleiben. Wenn Marietta daheim war, hob sich sein Stimmungsbarometer erstaunlich. »Ich werde auf meine alten Tage noch eifersüchtig werden«, drohte die Großmama oft.

Heute war Großpapa guter Laune. Sein Nachmittagsschläfchen hatte ihn erfrischt, das Kind, sein »Mariele«, wie er Marietta auf gut deutsch nannte, schenkte ihm den Kaffee ein, und derselbe war so heiß, daß man sich den Mund daran verbrannte und ihn beim besten Willen Frau Trudchen nicht zurückschicken konnte, weil er nicht heiß genug sei.

»Echt Tavaressches Gewächs – ja, ja, ein Familienprodukt mundet doch ganz anders. Das hat halt unser Ursele mit besonderer Liebe drüben geerntet.« Der Geheimrat pflegte diesen Witz seit einundzwanzig Jahren zu machen, seitdem seine Jüngste Milton Tavares, dem Kaffeekönig von Santos, übers Meer gefolgt war. Seitdem die großen überseeischen Sendungen regelmäßig eintrafen. Man trank in Lichterfelde gar keinen anderen Kaffee. Aber Frau Annemarie tat ihrem Manne den Gefallen, seinen Witz, wie stets, pflichtgemäß zu belachen.

»Nun erzähl' halt, Kind, wie's in deiner neuen Zwangsanstalt gewesen ist«, begann der alte Herr, sich gemütlich in die Sofaecke zurücklehnend, nachdem die Enkelin ihm die übliche Nachmittagszigarre, Aschbecher und Streichhölzer hingesetzt hatte. Er ließ sich gar zu gern von Marietta verwöhnen.

»Ja, da ist noch nicht viel zu berichten, Großpapa. Die Leiterin der sozialen Frauenschule, Fräulein Dr. Engelhart – – –«

»Fräulein Dr. Engelhart, wahrscheinlich mehr hart als Engel. Ein arg verschrobenes, bebrilltes Frauenzimmer, gelt?«

»Das ist Fräulein Doktor Engelhart ganz und gar nicht, Großpapa. Sehr gescheit und lieb ist sie. Aber freilich große Anforderungen scheint sie an uns zu stellen.« Marietta sah ein wenig sorgenvoll drein.

»Bist wohl noch nit blaßschnäbelig genug – ich hätt' meine Einwilligung nimmer zu dem Unfug geben sollen«, knurrte der alte Herr.

»Unfug – wenn man seinen notleidenden Mitmenschen helfen will«, verteidigte das junge Mädchen eifrig seine sozialberuflichen Pläne. »Du hast den Unfug doch fünfzig Jahre mitgemacht, Großpapa. Der Arzt – und noch dazu einer, der seinen Beruf so auffaßt wie du – ist doch genau solch ein sozialer Arbeiter.«

»Hm – na ja – gegen die praktische Arbeit habe ich auch nix einzuwenden.« Marietta hatte den Großpapa schon wieder besänftigt.

»Ja, hast du denn nicht zum Examen studieren müssen? Denke nur, was wir alles wissen sollen: Hygiene und Psychologie, Sozialethik und Sozialpädagogik, Volkswirtschaftslehre und – – –«

»Hör' auf, hör' auf, Seelchen, mir wird ganz schwindlig dabei.« Die Großmama blickte von der bunten Häkelarbeit – einer Schlummerrolle, mit der sie den Großpapa zum Geburtstag zu überraschen gedachte – ganz erschreckt hoch.

»Du hast recht, Großmuttchen, mir ist auch etwas schwül zumute geworden. Für Gerda ist das natürlich nur alles Kinderspiel.«

Aha – die Großmama machte sich einen Knoten in ihr Gedächtnis. Da mußte sie einhaken. Da lag sicher der Grund zu Mariettas Verstimmung heute mittag.

»Und wenn du all das Zeug in deinen Kopf 'neingetrichtert hast, was kannst dann werden, Mädle? Städtischer Nachtwächter oder gar Frau Wirtin im Asyl für Obdachlose?« zog sie der alte Herr gutgelaunt auf.

»Unsere Jetta bleibt bei ihrer kleinen Garde, die wird ihren Hort- und Krippenkindern nicht untreu«, kam Großmama ihrem Liebling zu Hilfe.

»Das ist noch gar nicht so sicher, Großmuttchen. Ich kann ebensogut die Arbeiterwohlfahrt zum Spezialgebiet wählen. Nur muß ich mich entscheiden, ob Jugendfürsorge oder – – –.« Marietta brach jäh ab und wurde rot bis an die Wurzeln des goldbraunen Haares. Da hatte sie sich aufs Glatteis begeben und mehr gesagt, als sie eigentlich beabsichtigte.

Großmamas leuchtende Augen sahen über die Brille hinweg angelegentlich hinüber. Was hatte das Kind nur? Warum wurde es so verlegen? Frau Annemarie machte sich den zweiten Knoten in ihr Gedächtnis.

Der Großpapa aber, dem nichts aufgefallen, drängte, nun endlich den Nachmittagsspaziergang zu machen. Sonst würde es stichdunkel. Dabei war er soeben erst mit seiner Zigarre fertig geworden, dem regelmäßigen Signal zum Aufbruch. »Die Nachmittagssprechstunde war wieder mal nit zu bewältigen«, stellte er, sich selbst ironisierend, fest und griff nach dem breitkrempigen, weichen Filzhut. Den »Doktorhut« nannte ihn seine Frau. Einen Überzieher bei diesem warmen Spätsommerwetter? Ausgeschlossen. Bis es kalt wurde, sah man den alten Geheimrat Hartenstein in seinem schwarzen Gehrock laufen. Da nützten alle Bitten und Vorstellungen seiner Frau nichts.

Die Großmama hatte sich in Mariettas Arm eingehängt. Allzuoft hatte sie jetzt nicht die Freude, mit der Enkeltochter wochentags spazieren gehen zu können. Marietta hatte ihre Arbeit im Kinderhort höchst ernst und gewissenhaft genommen. War diese doch Vorbedingung für ihre Aufnahme in der sozialen Frauenschule. Nur selten hatte sie einen Nachmittag frei.

Aus den Nachbarvillen folgten den dreien wohlwollende Blicke. Aha – Geheimrats machten ihren Spaziergang. Dann war's grade ein viertel sechs. Man konnte die Uhr danach stellen. Der alte Herr, welcher als Vorreiter stets fünf Schritte voraus zu sein pflegte, war von einer pedantischen Pünktlichkeit. Die alten Leutchen, die als junges Paar einst ihr Nest hier draußen gebaut hatten, gehörten zu dem Straßenbild, wie die Linden und Blutbuchen, welche den Fußsteig besäumten, wie der Kirchturm, den man am Ende der Straße sah. Ein jedes Kind kannte sie. Fast jedem der Käufer war der beliebte Arzt ein treuer Helfer gewesen. Und seine anmutige Frau hatte sich, ob man sie nun persönlich kannte oder nur vom Sehen, von Anfang an die Herzen der Nachbarn erobert. Man hatte die Kinder heranwachsen und davonfliegen sehen, man hatte die Enkelschar in Geheimrats Rosengarten toben gehört. Die Ankunft der exotischen Enkelinnen hatte viel Staub aufgewirbelt. An allem, was Hartensteins betraf, nahm die Straße regen Anteil. Hier zog man nicht alle paar Jahre ein und aus, hier war man seßhaft. Fast jeder bewohnte sein eigen Haus. Hier draußen lebte man, wie in einer kleinen Stadt für sich.

Es war ein anmutiges Bild, die alte Dame mit dem im Laufe der Zeit schneeweiß gewordenen Haar am Arm der jungen Enkelin, die wie eine zarte, fremdländische Blüte ausschaute. Ein wenig behäbig, ein wenig schwerfällig war die Großmama schon, aber das Antlitz noch immer rosig, kaum von einer Falte durchfurcht. Mehr noch aber fesselte die liebe, gütige Art, die aus Blick und Wort der alten Dame sprach.

Sie hielt es jetzt an der Zeit, mal ein wenig bei der Enkelin auf den Busch zu klopfen.

»Man darf es der Gerda nicht übelnehmen, wenn sie manchmal ein wenig selbstherrlich und geistig überhebend erscheint. Sie meint es nicht so, daran ist nur die Schulmeisterei, die sie vom Vater geerbt hat, schuld.«

»Mir gegenüber ist Gerda niemals überhebend. Wir verstehen uns sehr gut.« Mariettas Antwort befriedigte die Großmama nicht recht. Also damit war's nichts.

Der Großpapa, wieder fünf Schritte voraus, blieb an einer der Querstraßen wie immer stehen. »Links oder rechts?« fragte er, wartete die Antwort aber gar nicht ab, sondern bog gleich links ab, wo der baumbestandene Weg über die Bahnüberführung hinaus ins Freie führte. Das heißt, bis man ins Freie kam, dauerte es noch eine ganze Weile. Nicht nur Geheimrats Kinder und Enkel waren herangewachsen, auch Berlin hatte seine Steinglieder gestreckt. Hohe Mietskasernen hatten das Gartenland und die grünen Wiesen hier draußen in Lichterfelde verschlungen. Aber schließlich hörten sie doch auf, die sonne- und luftversperrenden Steinkästen, und man war draußen. Es gehörte der bescheidene Natursinn des märkischen Bewohners dazu, um sich an diesem »draußen« zu freuen. Da war zuerst ein Abladeplatz für Schutt und leere Konservenbüchsen. Darauf folgte Baugelände, von Zäunen umschlossen. Nun kamen die kleinen Laubengärten mit ihrem letzten Herbstschmuck. Und dann hörte der staubige Weg auf; man hatte richtiges, wenn auch schon etwas bräunliches Wiesengelände unter den Füßen, auf dem die Jungen ihre buntschweifigen Drachen steigen ließen. Silberne Dämmerung umschleierte dieses freie Land bis zu dem schwarzblauen Kieferngürtel des Grunewalds am Horizont. Der Wind trug auf seinen Flügeln den herben Duft von welkenden Blättern. Der alte Geheimrat liebte dieses Stückchen märkischer Poesie; es war sein Lieblingsspaziergang. Er blieb stehen und wartete auf seine Damen. »Schön hier draußen, gelt? Aber ihr kriecht ja im Schneckentempo. Dazu hast die Stütze deines Alters am Arm, Fraule?«

»Die Stütze deines Alters« – es gab Marietta einen Stich durchs Herz. Ihr war in der frischen Herbstluft so leicht und frei zumute geworden; alles Beschwerende war von ihr abgefallen. Aber jetzt war es plötzlich wieder da.

»Du darfst auch an der Stütze unseres Alters teilhaben, Rudi«, ging Frau Annemarie auf den Scherz ein. »Wenn du nur nicht immer als Schnelläufer vorangaloppieren möchtest.«

»Komm, Großpapa, ich habe noch einen Arm frei«, meldete sich nun auch Marietta.

»Nein, nein, ich stütze mich lieber auf meinen Stock. Auf euch junges Volk ist kein Verlaß. Eines schönen Tages geht ihr auf und davon, und wir Alten haben das Nachsehen«, neckte der Großpapa.

»Unsere Jetta geht nicht auf und davon, die bleibt bei uns«, sagte die Großmama zuversichtlich und drückte liebevoll den Arm der Enkelin.

»Und wenn sie uns irgendeiner fortkapert, wie dann, Fraule? Alles schon mal dagewesen.«

»Ja dann – wenn's der richtige ist – dann hätte ich ganz gewiß nichts dagegen einzuwenden«, bekräftigte die Großmama.

»Mich kapert keiner fort – höchstens meine Arbeit.« Wie dumm – Marietta biß sich auf die Lippen, durch die sich gegen ihren Willen ein schwerer Seufzer Bahn gebrochen.

Großmamas Ohr war zwar nicht mehr so fein wie früher, aber sie verstand dafür mit dem Herzen zu hören. Sie blieb atemschöpfend stehen und ließ ihrem Mann wieder ›seine fünf Schritt‹ Vortrab.

»Jetta, Seelchen, was ist es mit deiner Arbeit? Irgend etwas ist da nicht in Ordnung. Du bist verstimmt und bedrückt. Willst du dich nicht wie sonst aussprechen? Zu zweien trägt man jede Last leichter.«

»Ich darf dich nicht damit beschweren, Großmuttchen.« Marietta war zu ehrlich, um Ausflüchte zu machen.

»Hat mein Kind kein Vertrauen mehr zu seiner alten Großmutter?« Es klang traurig.

Dagegen war die weichherzige Marietta nicht gewappnet. Noch einen Augenblick schwankte sie, dann brach es sich Bahn. »Ich wollte dich damit verschonen, Großmuttchen, aber wenn du es denn wissen willst – ich muß mich entscheiden, ob ich in die Tropen zurückgehe oder hier bleibe.« Mariettas Stimme klang vor Erregung belegt.

Lachen – innerlich befreites Lachen antwortete. Was – die Großmama konnte darüber lachen – sie nahm es nicht ernst? Nun, um so besser.

»Seelchen, weiter ist es nichts – – – nun, darüber brauchen wir uns doch heute noch nicht den Kopf zu zerbrechen. Kommt Zeit, kommt Rat.«

»Heute nicht – aber doch in nächster Zeit. Es handelt sich um die praktische soziale Tätigkeit. Wir müssen uns für ein Spezialgebiet entschließen. Wenn ich mich für die Arbeiterfürsorge entscheide, tue ich es nur, um in Brasilien den Plantagenarbeitern gesündere und menschenwürdigere Lebensbedingungen zu erringen. Aber dann müßte ich euch verlassen, euch und Deutschland – ich fürchte mich davor, wieder in den Tropen zu leben. Ich stehe am Scheidewege und weiß nicht, wo meine Pflicht liegt, bei euch oder drüben.« So, nun war's heraus.

Frau Annemarie lachte nicht mehr. Kein selbstsüchtiger Gedanke kam ihr. Sie sah nur, daß Marietta in einem seelischen Zwiespalt war, daß ihr Liebling darunter litt. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder sprach.

»Wo deine Pflicht liegt, Kind? Uns, dem Großpapa und mir gegenüber hast du keine Pflicht, höchstens Herzenspflichten. Wir beide sind alt, wir werden nicht ewig leben. Du darfst dein Leben nicht mit Rücksicht auf uns gestalten. Aber auch drüben bei den brasilianischen Arbeitern liegt deine Pflicht nicht. Du bist nicht der Mensch, um den Kampf gegen eingewurzelte soziale Mißverhältnisse aufzunehmen und durchzuführen. Du bist körperlich und seelisch viel zu zart. Dazu bedarf es robusterer Nerven, amerikanischer Rücksichtslosigkeit, um sich dort drüben durchzusetzen. Du würdest bald flügellahm werden. Ganz abgesehen davon, daß du dich niemals bei der lähmenden Tropenhitze wohl gefühlt hast und sicher nicht imstande wärst, dabei ernsthaft zu arbeiten. Hast du mir nicht selbst erzählt, wie ihr in den heißen Monaten bei verdunkelten, gegen die Sonne fest versperrten Jalousien, matt und zu jeder Tätigkeit unlustig, vegetiert habt? Wie ihr euch um den ein wenig Kühlung spendenden Rieseneisschrank geschart habt und nur nachts ins Freie konntet? Glaubst du, dabei etwas schaffen zu können? Nein, Seelchen, du hast nur eine Pflicht, die, welche jeder Mensch hat, gegen sich selbst. Du bist für die Tropen ungeeignet. Auch deine Eltern sind bereits zu dieser Erkenntnis gekommen. Der Hauptzug deines Wesens ist deine Liebe und Fürsorge für die Kinder. Denen gehört deine Arbeit. Deine Pflicht ist es, für den Kreis zu wirken, für den du berufen bist, den du auszufüllen vermagst. Ob das nun in Amerika oder in Europa geschieht – wo du etwas leistest, wo du Gutes schaffst, da liegt deine Pflicht.«

Still war's, nachdem die Großmama gesprochen. Der warme, eindringliche Ton ihrer Worte schwang noch lange durch den verdämmernden Tagesglanz. Lange hing er Marietta noch im Ohr. Sie vermochte nicht gleich zu antworten. Immer dichter wurden die dunklen Schleier, welche Strauchwerk, Bäume und Häuser umwanden. Hier und da blitzten am Bahnkörper gelblich blinzelnde Lichter auf. Vom Grunewald her kam es feucht herangekrochen. Schon kam man wieder in bewohnte Gegend.

Da blieb Marietta stehen und schmiegte ihr Gesicht fest an den lieben, weißhaarigen Kopf der Großmama. »Heute hast du mir das Beste für mein Leben gegeben, Großmuttchen. Deine Worte sollen mir ein Wegweiser sein.«


 << zurück weiter >>