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15. Kapitel »Kommt ein Vogel geflogen.«

Herrliche Wochen verlebten die Berliner Kinder auf dem Gute. Viel schneller als zu Haus gingen die Tage dahin, mit beiden Händen hätten Klaus und Annemie sie festhalten mögen, denn jeder Tag brachte etwas neues Schönes.

Klaus sah aus wie ein richtiger Bandit, sonnverbrannt und meistens zerfetzt. Kein Baum war ihm zu hoch und kein Graben zu tief. Fräuleins Sommererholung bestand in täglichem Höschenflicken.

Auch Annemie war ein tüchtiger Wildfang geworden. Allenthalben trieb sie sich mit den drei Jungen herum. Ihre Angst vor Pferden, Kühen und Schweinen hatte sich längst gegeben. Selbst der große Truthahn konnte sich nur bei ihr in Respekt setzen, wenn er seinen Koller bekam. Aber wie hatte Nesthäkchen sich auch erholt. Ihre Bäckchen waren so rot wie ihr Musselinkleidchen und ihre Beinchen so braun wie ihre braunen Strümpfe.

Auch die sanfte Gerda war hier ganz außer Rand und Band. Sie blieb mit ihren hübschen Kleidern an allen Zäunen und Sträuchern hängen, schlug sich Beulen in den Kopf, tauchte mit zerkratztem Gesicht aus den Dornenhecken auf und kam meistens barfuß nach Hause.

Wenn sie sich trotzdem nicht so gut erholt hatte wie ihre kleine Mama, so lag das nicht an der Arnsdorfer Luft, sondern einzig und allein an Klaus. Der brachte die Puppe um ihre ganze Erholung, ewig mußte sie vor dem Schlingel zittern.

Durften die Kinder mit dem Leiterwagen mit aufs Feld hinausfahren, drängelte und schubste Klaus so lange, bis Puppe Gerda durch eine Leitersprosse durchkugelte und am Wege liegen blieb. Nicht einmal ihr Mütterchen hatte es gemerkt, erst bei der Rückfahrt konnte die ganz verstaubte Puppe wieder aufgelesen werden.

Spielte man im Heu, so war Gerda sicher dem Erstickungstode nahe. Der böse Klaus begrub sie unter einem Riesenheuberg bei lebendigem Leibe.

Wo der Bengel sie erblickte, bombardierte er die arme Gerda mit unreifen, vom Wind abgeschlagenen Äpfelchen, so daß ihre Nase schon ganz plattgedrückt war.

Ließen die Kinder am Entenpfuhl Schiffchen schwimmen, schwamm auch sicherlich Gerda plötzlich auf dem grünlichen Wasser. Und wenn Herbert auf Annemies Gebrüll die Puppe nicht errettete, der schlechte Klaus hätte sie elendiglich versaufen oder von einem Frosch verspeisen lassen. Ach, was Gerda für eine Angst vor diesen quakenden grünen Scheusalen hatte!

Wieder mal war Puppe Gerda plötzlich verschwunden. Eben noch hatte sie mit Annemie und allen andern Kindern im Wäldchen »Räuber und Prinzessin« gespielt, da war sie mit einem Male auf und davon. Klein-Annemarie durchsuchte voll Sorge jedes Brombeergestrüpp, jeden Maulwurfshügel – Gerda kam nicht zum Vorschein.

»Es ist schrecklich mit dem Kinde, sie ist hier in Arnsdorf total verwildert«, klagte sie Elli, Gerdas Tante. »Wer weiß, wo sie sich jetzt wieder herumtreiben mag!«

Aber als die Jungen, Herbert und Peter, welche die Räuber waren, ihre Taschentücher als Friedensfahne wehen ließen und herankamen, um zu fragen, ob die Mädels nicht ihren Räuberhauptmann Klaus gesehen hätten, da wußte Annemie gleich, wo sie Gerda zu suchen hatte.

»Mein Kind ist geraubt worden, der Räuberhauptmann hat meine kleine Gerda gestohlen!« Jammernd machte sich Annemarie mit den andern an die Verfolgung.

Nirgends eine Spur, weder von Klaus noch von Gerda. Man durchstöberte die Rosenhecken, die Lauben, Hof und Haus. Nirgends war der Puppenräuber zu entdecken. Der saß oben auf dem obersten Kornboden und spähte durch eine Dachluke hohnlachend auf seine Verfolger herab.

Wo aber hatte er Puppe Gerda gelassen? Denn die befand sich nicht mehr in seiner Gesellschaft.

Als der Räuberhauptmann das arme Puppenkind plötzlich beim Wickel hatte, glaubte Gerda, ihr letztes Stündchen habe geschlagen.

»Lieber Gott,« betete sie, »laß mich wenigstens eines sanften Todes sterben. Sorge dafür, daß der schlimme Klaus mich nicht in den Entenpfuhl bei den grünen Froschscheusalen ersäuft!«

Klaus raste mit dem entführten Kinde über Stock und Stein. Der Puppe schwanden die Sinne, sie schloß die Augen. Sie wollte gar nicht sehen, was der Bösewicht mit ihr vorhatte.

Als sie die Augenlider endlich wieder zu öffnen wagte, kniff sie sich mit der Zelluloidhand in die Nase, um zu sehen, ob sie überhaupt noch am Leben sei. Wo war sie denn bloß – etwa gar schon im Himmel?

Nein, so sah es im Himmel ganz sicher nicht aus. Ein mattes Dämmerlicht herrschte im Raum und eine merkwürdig warme Luft umwehte sie. Auch ließ sich ab und zu ein seltsames Brummen vernehmen. Dann pochte der Puppe das Herz vor Schreck bis in den Hals hinein.

Mit ihrem Lager konnte Puppe Gerda eigentlich ganz zufrieden sein. Sie ruhte in einer bequemen Holzwiege auf weichem, grünem Gras. Aber sie hätte gern gewußt, wo sie sich denn eigentlich befand.

Da wurde das Brummen neben ihr stärker – Gerda hielt den Atem an.

Barmherziger Himmel – über ihr tauchte ein fürchterliches Ungeheuer auf, mit glotzenden Augen und weitaufgerissenem Maul – eine Kuh!

Du guter Gott, die würde sie im nächsten Augenblick mit Haut und Haar verschlingen! Jetzt wußte die arme Gerda mit einem Male, wohin der arge Klaus sie geschleppt hatte, in die Futterkrippe des Kuhstalls hatte er sie gelegt.

Warum wartete denn das Ungetüm bloß noch, warum fraß die Kuh sie nicht lieber gleich auf, dann hatte wenigstens das Elend ein Ende!

Aber die Kuh dachte gar nicht daran, Gerda zu fressen, die hatte genau so große Furcht vor der Puppe, wie die vor ihr. Mit angstvoll glotzenden Augen starrte sie auf das merkwürdige Futter in ihrer Krippe.

Plötzlich fühlte Puppe Gerda sich ergriffen. Sie traute sich nicht, die Augen aufzuklappen, sicher hatte das Ungetüm sie bereits zwischen den Zähnen.

»Leb' wohl, Annemiechen, ich danke dir auch schön, daß du mich so lieb gehabt und stets so gut für mich gesorgt hast!« dachte die Puppe noch.

Da vernahm sie eine menschliche Stimme: »Potzwetter nicht noch mal, was haben die Knechte denn hier zwischen das Futter geschüttet –« und dann dröhnendes Lachen. »Ei, ist das nicht Klein-Annemaries Püppchen, das hätte sich die Bleß bald zum Abendbrot schmecken lassen!« Es war der Gutsherr, der das Futter des Viehs in Augenschein nahm.

Gerda blinzelte durch die Wimpern. Nein, sie befand sich nicht, wie sie gefürchtet, zwischen den Zähnen der Kuh, Onkel Heinrich hatte sie in seinen Fingern. Und jetzt steckte er sie in die Innentasche seiner Joppe – ach, wie geborgen fühlte sich die halbtot geängstigte Puppe an Onkels Brust.

Hinter den beiden brüllte es laut her vor Freude, die Kuh ließ sich jetzt endlich ihr Abendbrot schmecken.

Als auch die Familie auf der rosenumrankten Veranda beim Abendessen zusammensaß, fand sich endlich auch der Räuberhauptmann Klaus ein.

Annemie ließ ihre Erdbeermilch in Stich und packte ihn am Jackenzipfel.

»Klaus, wo hast du meine Gerda gelassen?«

Der Junge machte ein verschmitztes Gesicht.

»Die Prinzessin sitzt in einer Höhle gefangen«, antwortete er.

»Du sollst sie aber wiedergeben, du alter Räuber, meine süße Gerda grault sich so allein«, jammerte das Puppenmütterchen.

»Was zahlst du Lösegeld?« leitete der Räuberhauptmann die Verhandlungen ein.

»Meinen neuen Kreisel – und – und ein Marienkäferchen – und denn noch meine ganze Erdbeermilch«, rief Annemie weinend, da Klaus immer noch den Kopf schüttelte.

Puppe Gerda, die alles in Onkel Heinrichs Tasche mitanhörte, war ordentlich gerührt von der opferfreudigen Liebe ihrer kleinen Mama.

Onkel aber legte sich ins Mittel.

»Nichts da, Bandit, du schaffst die Puppe sofort ohne jedes Lösegeld her, sonst bekommst du überhaupt keine Erdbeermilch.«

Klaus gehorchte. Er hatte großen Respekt vor Onkel Heinrich und außerdem – Erdbeermilch aß er für sein Leben gern. Aber mit entsetztem Gesicht erschien er einige Minuten später wieder.

»Es ist was Schreckliches passiert!« stieß er hervor.

»Was – was denn?« Alles rief durcheinander.

»Die Kuh hat die Puppe aufgefressen! Ich hatte sie in der Futterkrippe versteckt, und jetzt ist die leer!«

»Meine arme Gerda!« Annemies Tränen flossen in Strömen, und auch Klaus fing an zu heulen. Und daran war nicht die Erdbeermilch, die er nun sicher nicht bekam, schuld, sondern Gerda und das Schwesterchen taten ihm ganz schrecklich leid. Er hatte ja kein schlechtes Herz, er war ja nur ein ausgelassener Strick.

Und während Annemie und Klaus die aufgefressene Gerda beweinten, hätte man deutlich ein feines, feines Lachen aus Onkels Rocktasche vernehmen können. Aber keiner hörte darauf.

Da, als Klein-Annemie wieder besonders schmerzlich aufschluchzte, fühlte sie plötzlich einen weichen Lockenkopf an ihrer nassen Wange. Zärtlich schmiegte sich ein kleines, kaltes Gesicht an ihr heißes.

»Gerda – du lebst!« Die hell aufjubelnde Annemie hielt ihr totgeglaubtes Kind unversehrt in den Armen.

Onkel Heinrich aber hatte den weinenden Räuberhauptmann am Schlafittchen.

»Diesmal habe ich die Puppe noch errettet, aber wehe dir, du Bengel, wenn du ihr noch mal auch nur ein Härchen krümmst!«

Klaus versprach hoch und heilig, Puppe Gerda von nun an in Frieden zu lassen und machte sich erleichtert an seine Erdbeermilch.

Wirklich, der Schreck hatte was genützt, Klaus ließ die Puppe jetzt ungeschoren. Aber seine wilden Streiche unterblieben trotz alledem nicht. Sogar das Schwesterchen verführte er dazu.

Es war am Tage vor der Heimreise. Da hatte Tante Kätchen ihr Damenkränzchen bei sich. Das war eine Kaffeegesellschaft von zwölf Damen, die jede Woche wo anders stattfand. Mehrere Damen von benachbarten Gütern und verschiedene aus dem nahen Städtchen gehörten dazu.

Da das Wetter so wunderschön war, hatte Tante Kätchen die Kaffeetafel im Freien unter dem großen Nußbaum gedeckt. Elli hatte fleißig dabei geholfen, und auch Annemie eifrig Teelöffel und Servietten herumgelegt.

»Ihr Kinder könnt heute nachmittag im Wäldchen spielen, da hören wir euer Toben wenigstens nicht«, sagte Tante Kätchen zu den drei Jungen. »Aber paßt mir auf Annemie auf, Elli geht in die Stadt zur Klavierstunde, und Fräulein will packen.«

»Schade, daß wir nicht beim Kaffeekränzchen sein dürfen«, sagte Herbert mit einem bedauernden Blick auf die rosengeschmückte Tafel.

»Ja, Mamsell hat Kuchen gebacken und Schlagsahne geschlagen«, fiel auch Peter betrübt ein.

»Ne, das meine ich nicht«, ließ sich der ältere Herbert wieder vernehmen. »Aber sie lachen immer so toll beim Kaffeekränzchen, man hört es Gott weiß wie weit. Wenn ich bloß mal dabei sein könnte!«

»Das kannst du ja«, fiel Klaus mit Gemütsruhe ein.

»Ne, Mutter hat gesagt, wir sollen im Wäldchen spielen.«

»Du mußt dich eben nicht sehen lassen«, meinte Klaus, der kleinste, aber durchtriebenste von den dreien.

»Wir könnten uns vielleicht unterm Tisch verstecken«, überlegte Herbert.

»Ne, da erwischt man uns, das Tischtuch reicht nicht soweit runter.« Peter schüttelte den Kopf.

»Aber hier oben im Nußbaum sieht uns kein Mensch, der ist ja so dicht«, flüsterte Klaus.

Der Nußbaum – famos – ja, das ging!

»Aber was machen wir mit Annemie?« Herbert zog nachdenklich die Stirn in Falten.

»Die nehmen wir mit, die hat ja hier wunderschön auf Bäume klettern gelernt.« Klaus wußte Rat.

Annemie war natürlich sofort für den Vorschlag zu haben. Und kurz vor vier sah man eine Range nach der anderen erst auf die Bank und von da aus in das niedrige Geäst des großen, dichten Nußbaumes klettern. Selbst Annemie brachte das Kunststück mit Herberts Hilfe zuwege.

»Nun noch meine Gerda«, auch die mußte die Reise auf den Baum antreten.

Die Kleine klatschte vor Freude in die Hände.

»Fein ist's hier oben, ich sitze wie in einer grünen Laube!« rief Annemie.

Aber »pst« machte Herbert über ihr, denn da kamen schon die ersten Damen.

Klein-Annemie hielt Gerda vorsorglich den Mund zu.

Es dauerte den Vöglein in den grünen Zweigen recht lange, bis alle vollzählig waren, und Mamsell mit der großen Kaffeekanne erschien. Die Riesenschale Schlagsahne stellte sie in die Mitte des Tisches gerade unter den Nußbaum. Peter, das Schleckmäulchen, leckte sich die Lippen, und auch Herbert, Klaus und Annemie, die anderen Vögel, machten lange Hälse und sperrten begehrlich die Schnäbel auf.

Eigentlich war es schrecklich mopsig bei solchem Damenkränzchen. Die taten ja nichts weiter als essen, trinken und reden. Hin und wieder lachten sie auch, aber gar nicht so toll, wie Herbert gesagt hatte.

Ach, wieviel schöner wäre es jetzt, im Wäldchen zu spielen und zu toben, als hier oben so mäuschenstill zu sitzen und sich halbtot zu langweilen.

Jeder einzelne von den fünf Vögeln – Puppe Gerda mit einbegriffen – wünschte, daß Klaus niemals auf den Gedanken gekommen wäre. Und er selbst am meisten. Ja, er überlegte allen Ernstes, ob man nicht heimlich hinter dem Baum herunterrutschen könnte.

»Nun reisen Ihre kleinen Gäste auch schon wieder ab, es wird Ihnen wohl ordentlich schwer, sich von ihnen zu trennen?« wandte sich die dicke Frau Bürgermeister an Tante Kätchen.

»O ja,« antwortete die, »Klein-Annemarie wird mir sehr fehlen. Klaus, der Unband, allerdings weniger. Ich bin jeden Tag froh, wenn er mit heilen Gliedern heimkommt.«

»Siehst du, Klaus, da hast du's – der Horcher an der Wand hört seine eigene Schand'.«

Annemie konnte nicht mehr still sitzen. Der Ast, auf dem sie saß, begann bedenklich zu knacken. Auch Puppe Gerda hatte es nun über, sich ruhig zu verhalten. Sie baumelte zum Zeitvertreib ein bißchen mit ihren Beinen.

»Holla – was ist denn das?« Auf Frau Apothekers Nase war plötzlich etwas vom Baum herabgesprungen und zur Erde gefallen, etwas kleines Braunes.

»Es wird eine Nuß gewesen sein«, beruhigte Tante Kätchen die erschreckte Dame.

Gerda aber reckte den Hals hinter ihrem ausgerückten Goldkäferschuhchen her.

Bautz – da verlor sie selbst das Gleichgewicht, kopfüber stürzte sie vom Baum herab, mitten hinein in die Schlagsahne.

Laut auf kreischte das Damenkränzchen vor Schreck.

Nur die dicke Frau Bürgermeister behielt ihren Humor.

»Was kommt denn da für 'n Vogel angeflogen?« lachte sie und fischte Gerda aus der Schlagsahne.

»Das ist ja Annemies Puppe, na, da wird ihr Mütterchen wohl auch nicht weit sein!« rief Tante Kätchen und spähte in den Nußbaum.

Richtig, da wuchsen ein paar braune Kinderbeinchen.

Und ein jämmerliches Stimmchen rief herunter: »Bitte, Tante Kätchen, hole mich doch!«

Unter allgemeinem Lachen kam auch das zweite Vögelchen zum Vorschein.

»Aber Annemie, was wolltest du denn da oben?« fragte Tante Kätchen, als die Kleine endlich wieder glücklich auf ihren Füßchen stand.

»Wir wollten doch so schrecklich gern bei deinem Damenkränzchen bei sein, aber es war mächtig langweilig!«

Da lachten die Damen wieder über die schmeichelhafte Kritik, Tante Kätchen aber fragte erstaunt: »Wir – wen meinst du denn noch?«

»Na, die drei Jungs, Gerda und ich.« Aufs neue lugte Tante Kätchen in den Nußbaum, aber kein Vogel ließ sich weiter sehen.

Die drei waren längst in dem allgemeinen Tumult ausgeflogen, das Nest war leer.

Das war Klaus und Annemies letzter Streich in Arnsdorf, und am nächsten Tage ging's nach Hause.


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