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10. Kapitel. Oll Modder Antje

Eine Glocke weckte Annemarie in aller Herrgottsfrühe am andern Morgen. Sie war noch ganz verschlafen und glaubte, in Berlin zu sein.

Himmel – war das nicht das Läuten des Schuldieners Piefke – kam sie zu spät in die Schule?

»Fräulein – Fräulein – es läutet – Margot ist bestimmt schon ohne mich heute in die Schule gegangen«, mit beiden Beinen zugleich sprang Annemarie erschreckt aus dem Bett.

Aber verdutzt blickte sie um sich. Da war kein Fräulein und keine Berliner Kinderstube. In den Betten drüben an den rosenrot getünchten Wänden lagen zwei fremde Kinderköpfe eingekuschelt, ein brauner mit Zöpfen und ein rötlich blonder Lockenkopf.

Ach – sie war ja im Wittdüner Kinderheim! Jetzt wußte Doktors Nesthäkchen wieder Bescheid. Der Lockenkopf da drüben, der müde zu ihr hinblinzelte, gehörte ihrer neuen Freundin.

»Du, Gerdachen, es hat eben zur Schule geläutet, du mußt aufstehen«, flüsterte Annemarie, da Ellen noch fest schlief.

»Ih wo, das war doch die Dampferglocke«, Gerda legte sich gähnend auf die andere Seite und tat es Ellen nach.

Aber Doktors Nesthäkchen war jetzt ganz ausgeschlafen, das mochte nicht noch einmal zurück ins Bett. Viel verlockender war es, in der neuen Heimat aus Entdeckungsreisen auszugehen.

Geräuschlos kleidete Annemarie sich an. Seit einem Jahr wusch sie sich schon allein, nur die Ohren hatte Fräulein öfters einer gründlichen Nachuntersuchung zu unterziehen. Mit dem Kämmen war die Sache schon schwieriger. Die welligen Blondhaare waren hier durch den ständigen Wind noch zerzauster, als in Berlin. Annemarie riß, zerrte und ziepte, daß ihr der Kopf weh tat, aber sie wollten sich nicht entwirren lassen. Da machte die Kleine kurzen Prozeß und band sie mit dem roten Seidenband nach hinten in ein drollig vom Kopf abstehendes Schwänzchen zusammen. Nun noch flink das gepunktete Musselinkleid – o weh – es wurde auf dem Nacken geschlossen. Vergeblich angelte die Kleine mit ihren Armen hinten in der Luft herum, die Druckknöpfe wollten sich nicht schließen.

»Na, denn nicht – dann gehe ich eben so!« Nesthäkchen warf den ungekämmten Kopf zurück und schlich barfuß zur Tür hinaus. Vater hatte ja gesagt, sie dürfe in Wittdün barfuß laufen und gestern hatte sie viele Jungen und Mädchen ohne Schuh und Strümpfe am Strand gesehen. Daß dies Kinder waren, die sich bereits an die Nordseeluft gewöhnt hatten, und daß es außerdem im heißen Sonnenschein gewesen, daran dachte das unüberlegte kleine Mädchen nicht.

Das Treppengeländer hinuntergerutscht, und nun stand sie in dem mit Korbsesseln und blühenden Töpfen geschmückten Vorraum. Alles still – das ganze Haus schien noch zu schlafen. Kein Laut – nur das Meer da draußen rauschte und brauste.

Ein wenig beklommen zumute wurde es Doktors Nesthäkchen trotz aller Beherztheit doch durch diese Stille in der fremden Umgebung. Selbst unten in der Küche hörte man noch kein Klappern. Kein Mädchen ließ sich sehen.

Annemarie schlich sich zur Haustür. Ein feiner Gedanke war ihr soeben gekommen. Sie wollte zu ihrer Mutti und diese mit einem Kuß wecken. Hatte Miß John denn gestern nicht gesagt, sie solle ihrer Mutti heute zwei »Kusse« zum Guten Morgen geben?

Solche Bosheit – die Haustür war verschlossen.

Aber wofür war Doktors Nesthäkchen denn die Schwester des wilden Klaus und seine treue Genossin bei allen dummen Streichen? Dort war ja ein offenes Fenster zum Garten hinaus, gar nicht sehr hoch schien es. Ei – da war der Wildfang schon manchesmal höher hinabgesprungen.

Hast du nicht gesehen, kletterte Annemarie auf das Fensterbrett – hurra – ein kühner Sprung, und sie stand unten in dem taufeuchten Garten.

Die Kleine fröstelte in ihrem offenen Kleide, denn die Sonne erhob sich eben erst verschlafen aus ihren Wolkenbetten. Und der frühe neblige Morgen ist ebenso kalt an der See wie der Abend. Auch das Barfußlaufen erschien ihr ein nur mäßiges Vergnügen in dem naßkalten Sande. Recht gern hätte Annemarie jetzt ihre Schuhe und Strümpfe angehabt. Aber zurück mochte sie nicht noch einmal – ach was – sagte Vater nicht immer. Bewegung ist gut, wenn man friert?

Das Barfüßchen setzte sich in Trab. Es jagte einige Male die Gartenterrassen hin und her und weckte die tauschlummernden Rosen, die kleinen, im Seegras wohnenden Insekten und all die Vöglein in den gelben Ginsterbüschen aus ihrer Morgenruhe. Die Rosen begannen leis zu duften, die Insekten umherzukrabbeln, und die Vöglein ihr Morgenlied zu zwitschern.

Ob sie nun schnell zu Mutti herumsprang? Aber am Ende war Mutti ärgerlich, daß sie mit offenem Kleid über die Straße lief? Vielleicht wollte Mutti auch noch schlafen, besser war schon, sie wartete noch ein bißchen. Denn die Straße und der dunstige Strand, auf den man hinabblicken konnte, lag noch wie ausgestorben da. Ganz Wittdün schlief noch.

Ganz Wittdün – ei, doch nicht! Als Annemarie jetzt zu dem Krokettplatz kam, der es ihr schon gestern angetan hatte und die bunten Holzkugeln nach allen Richtungen hin auseinander zu jagen begann, hob sich plötzlich aus den Gemüsebeeten hinter dem Hause ein merkwürdiger Kopf.

Braun und verschrumpelt war er wie eine vertrocknete Birne. Kein Haar war auf ihm zu sehen, eine seltsame schwarze Haube mit glänzendem Zierat ging fast bis in die Stirn hinein.

Annemarie stand und starrte die Erscheinung mit offenem Munde an. Ihre erste Empfindung war – fortzulaufen. Alle Märchen, die sie je gelesen von Frau Holle, von der Hexe aus Hänsel und Gretel, von der bösen Fee in Dornröschen, und von Zwerg Nase, sie wurden plötzlich beim Anblick der Alten in der Kleinen lebendig. Aber weglaufen – nein! Doktors Nesthäkchen war nicht feige; mit zehn Jahren glaubt man nicht mehr an Hexen und böse Feen. Außerdem pflegten letztere wohl auch kaum Tomatenpflanzen auszuschneiden, wie es die Alte dort gerade tat.

Diese aber war nicht weniger verwundert über den Anblick des kleinen barfüßigen Mädchens als Annemarie über den ihren.

»Nanu, wo kummst du denn her?« fragte sie mit einem Munde, in dem es keinen einzigen Zahn mehr gab. Unwillkürlich begann die Kleine wieder an ihre Hexenmärchen zu glauben.

»Dort aus Villa Daheim«, gab sie so keck wie möglich zur Antwort, trotzdem ihr Herz nichts weniger als keck pochte.

»Aus der Villa – ih, da schläft doch noch allens«, verwunderte sich die verschrumpelte Alte. Das klang eigentlich ganz menschlich.

»Ja, ich bin ausgekniffen – durch das Fenster – – –«

»Kind – Kind – du kannst dich ja up 'n Dot verkühlen, du bist gewiß die lütte Deern, die gestern erwartet wurde?« Das kam so freundlich heraus, daß Annemarie gar nicht mehr verstand, daß sie sich vor der alten Frau zuerst gefürchtet hatte.

»Wer sind Sie denn?« fragte sie zutraulich.

»Ick bün jo oll Modder Antje, mich kennt hier jedes Gör up (auf) Wittdün, die einheim'schen wie die fremden. Ick hab' schon die Modder selig von uns' Fru Kaptän up min Armen tragen. Dann hab ick min Ollschen Heirat, und als dat Unglück kam bei de Fru Kaptän, dat ihr smuckes blondes Haar in einer Nacht sneeweiß makt (gemacht) hat, da sünd wir allebeid', min Ollscher und ick, denn allwedder zu ihr gangen. Will's uns' Herrgott bet tau (bis zu) unserm seligen End'.« Mutter Antje gab sich alle Mühe, statt ihres friesischen Plattdeutschs möglichst hochdeutsch zu sprechen, daß die Kleine sie verstand.

»Welches Unglück?« Annemarie spitzte beide Ohren. Nun sollte sie es erfahren, warum die junge Frau Kapitän schneeweißes Haar wie die Großmama hatte.

»Nee, min Deern, nee! Du verkühlst dich hier buken (draußen) bei die feuchten Morgennebels. Die sünd nix nich für so 'ne lütte Stadtdeerns. Und nich mal Schuhe! Kumm, Kind, kumm mit ins Hus (Haus), dat du erst 'n Schluck Warmes in 'n Leib kriegst.« Mutter Antje raffte ihre Gartengerätschaften zusammen.

»Das Haus ist ja verschlossen – können Sie denn auch durchs Fenster reinklettern?« fragte Annemarie zweifelnd, auf die schwerfällig sich bewegende Alte blickend.

»Nee, min Deern, dazu sünd min Knochens all zu steif. Ick mein' nich die Villa, nee, unser lütt Hus (kleines Haus), dat uns die Fru Kaptän hier im Garten hat bauen laten (lassen).«

Richtig – ganz hinten am Ende der ausgedehnten Gartenanlagen stand ein sauberes Friesenhäuschen mit niedrigen Mauern und hohem Dach. Das hatte Annemarie noch gar nicht bemerkt.

Ob sie's wagen sollte, mitzugehen? Die alte Frau in »Zwerg Nase« hatte den kleinen Jakob auch in ihr Haus gelockt und ihn dann in ein Meerschweinchen verwandelt. Aber Mutter Antje hatte so gute blaue Vergißmeinnichtaugen, nein, es war ja grützdämlich von ihr, sich zu fürchten.

Beherzt stapfte das barfüßige kleine Mädel an der Seite der alten Frau dem netten Häuschen zu. Wie fein Mutter Antje angezogen war! Einen faltigen, schwarzen Rock trug sie, dazu eine bunte Blümchentaille und die große schneeweiße Schürze sah trotz der Gartenarbeit so frisch aus, als wäre sie erst eben aus dem Schrank genommen.

»Sind Sie vielleicht eine Spreewälderin?« erkundigte sich die kleine Berlinerin, welche diese den Babywagen im Tiergarten schiebenden und Bauerntracht tragenden Kindermädchen gut kannte.

»Nee, ick bün Friesin – so, min lütt Deern, nu tritt in und willkummen bei oll Modder Antje«, treuherzig reichte sie der Kleinen ihre schwielige Hand.

Ach, war das schön bei Mutter Antje! Das blitzsaubere Zimmer hatte Wände aus vielen bunten Kacheln, die sich zu einem Bilde zusammensetzten, das ein Schiff auf hohem Meer darstellte. Auch sonst hingen viele Schiffsbilder an den Wänden. Nein, und wie drollig – die Betten waren ja in die Wand hineingebaut. Eine schöne dunkle Holztäfelung ging ringsherum, und ein sauberer großblumiger Vorhang verbarg sie. Oben drüber aber waren lauter blanke Zinnkeller aufgestellt.

»So, min lütt Deern, da hast mal erst ein Paar warme Strümp«, die Alte nahm aus der schön geschnitzten Truhe dicke selbstgestrickte Wollstrümpfe in himmelblauer Farbe. Das waren ihre Sonntagsstrümpfe.

Annemarie lachte hellauf. »Da kann ich ja mit beiden Füßen in einen rein.«

»Ja, die Beinken sünd 'n büschen lütt für die Strümp, aber schadet nix, min Deern, wärmen dun se doch. Nu man fixing noch 'n Schluck Warmes in'n Leib.« Diesmal ging Mutter Antje an die Kachelwand – herrjeh – die ließ sich öffnen, das war ja ein richtiger Schrank, der in die Wand eingelassen war.

»Oll Modder Antje hat wat für dat lütte Süßsnuteken«, sie goß Milch in die kleine Kasserolle und trug sie in die Küche nebenan.

Annemarie machte ein wenig erbautes Gesicht. Milch mußte sie drüben in der Villa gerade genug trinken. Aber da kam Mutter Antje schon zurück, in den schrumpligen Händen trug sie eine große alte Bauerntasse mit Myrtenzweigen und Goldschrift.

»Dat is min Bruttaß', die is all öwer föfting Johr (fünfzig Jahr) alt«, sie stellte die schöne Tasse vor ihren kleinen Gast.

Aber zu Annemaries Schande muß es erzählt werden, daß sie unbedingt mehr Interesse für den verlockenden Inhalt als für die Brauttasse von Mutter Antje hatte.

Hm – Schokolade! Naschmäulchen ließ es sich schmecken.

»Da, min Deern, da hast ok 'n Friesenkuchen tau (zu), die kann keins so backen wie oll Modder Antje«, die gute Alte sah mit Freuden, wie es ihrem kleinen Besuch mundete.

War es hier nicht wirklich wie im Märchen? Dort in der Ecke stand ja auch noch ein Spinnrad – ganz wie in dem Dornröschenturm.

»Wo ist denn Ihr Mann, Mutter Antje?« erkundigte sich die Kleine eifrig kauend, während eine wohltuende Wärme ihr durch die erklammten Glieder zog.

»Der is up See.«

»Ist er Matrose oder am Ende gar Kapitän?«

»Nee, so weit hat's min oll Vadder Hinrich nich gebracht. Lotse is er – – –«

»Lotse – was ist denn das?« Doktors Nesthäkchen hatte dieses merkwürdige Wort noch nie in ihrem zehnjährigen Leben gehört.

»Ze, wat n Lotse is, dat is man eben n Lotse. Dat sünd die Allertapfersten hier an de Nordsee. Bei Sturm und Nacht fahren sie, ohn' an dat eigene Leben tau denken, in die wilden Wogens rut (raus), und führen die Schiffs, die in Gefahr sünd, sicher durch alle Klippens und Riffs bet (bis) in den Hafen. Er muß bald wedder do sein, oll Vadder Hinrich, die Uhr is all Klockner sechsen.«

»Was – so früh ist es noch?« Da war sie ja vor Tau und Tag ausgekniffen! Aber Annemarie bedauerte das durchaus nicht. Hatte sie doch dadurch Mutter Antjes Bekanntschaft gemacht.

»Wie kam denn das nun eigentlich mit dem Unglück von der Frau Kapitän, Mutter Antje?« forschte die Kleine begierig, nachdem sie ihrer Pflicht gegen Mutter Antjes Brauttasse vollauf nachgekommen. Denn diese Frage war ihr eigentlich ebenso wichtig wie die Schokolade.

»Je, wie sowat manchmal kummt. 'Ne dolle Sturmnacht war't, da is dat Schiff mit Mann und Maus versoffen. Nich hier an unsere Küste, hier hätten unsere braven Lotsen es woll gerettet. Nee, da draußen war't irgendwo.« die Alte machte mit dem braunen runzeligen Kinn eine Bewegung in die Luft hinein.

»Und denn?« Annemaries Augen hingen an den Lippen der alten Frau, die jetzt in Erinnerungen versunken, eine Pause machte.

»Je, wat ist da noch viel tau vertellen (zu erzählen)? Als de Nachricht von dem Dod des Herrn Kaptän kam, da is in der einen Nacht dat Haar von uns' Fru vor Gram weiß geworden. Und als denn ok ihr lütter Jung noch starb, da hat se sich fremde Kinners in dat Hus genommen, um wat für't Herz zu haben. Aber dat sünd keine Geschichtens für so lütte Deerns. Oll Modder Antje erzählt dem Kinning lieber mal Märchens von de Onnerbankjes, wenn et mal regnen dut.«

»Von den Onnerbankjes?« hellauf lachte Annemarie über das drollige Wort. »Was ist denn das für'n Ding?«

»De Onnerbankjes, dat sünd uns friesischen Heinzelmännchen – aber horch' eins Deern, da schellt ja all de Klock von de Villa. Nu is Zeit zu's Upstehn (Aufstehn) von die lütten Kinners. Nu lauf' man ok, dat du wieder rüber kummst. Aber dat Kleid muß ich dir doch woll noch taumaken (zumachen).« Mit ihren zitterigen Händen haspelte die Alte an Annemaries Musselin-Kleidchen herum.

»Ach, Mutter Antje, ich wollte ja noch vor dem Frühstück zu meiner Mutti, die gar nicht weit von hier wohnt, und ihr einen Gutenmorgenkuß geben, deshalb bin ich ja bloß ausgekniffen,« meinte Annemarie etwas betreten.

Aber auch Mutter Antje machte ein bestürztes Gesicht.

»Nach din Modder willst? Je, Kinning, weiß denn dat uns' Fru Kaptän, oder Tante Lenchen?«

»Nee«, Annemarie schüttelte der Wahrheit gemäß den ungekämmten Kopf.

»Na, min lütt Deern, denn bleib man lieber da, uns' gute Fru Kaptän mußt nicht ärgern, der mußt allen zulieb dun, die hat genug Schmerz all ihr Lebdag durchgemacht.«

Die Worte der einfachen alten Frau drangen tief in die Seele des warmherzigen kleinen Mädchens. Fest nahm Doktors Nesthäkchen sich vor, der jungen Frau Kapitän mit dem weißen Haar während ihres Aufenthaltes in Wittdün nur Freude zu machen. Mutter Antje hatte Annemarie nicht bloß vor einer tüchtigen Erkältung bewahrt, sondern ihr auch ein gutes Geleitwort in die neue Heimat mitgegeben.


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