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3. Kapitel. Der zehnte Geburtstag

Ja, nun ging es vorwärts. Langsam zwar, so langsam, daß die ungeduldige Annemarie glaubte, sie würde überhaupt nicht mehr aus ihrem »Käfig« herausgelassen. Die Freude, in Vaters Klinik zu sein, legte sich bald. Denn mit den allmählich wiederkehrenden Kräften kam die alte Lebhaftigkeit zurück, und damit die Qual des Stilliegenmüssens für den Wildfang.

So lieb Schwester Elfriede auch zu ihr war, die Sehnsucht nach der Mutter machte sich doch bald bemerkbar. Gerade ein krankes Kind bangt sich nach einem zärtlichen Mutterwort. Zwar schrieb Mutti täglich ein Briefchen voll Sehnsucht und Liebe an ihre kranke Lotte. Aber diese war allmählich dahintergekommen, daß tausend Briefe eine persönliche Liebkosung von Mutti nicht zu ersetzen vermochten. Und daß Mutti sie überhaupt nicht besuchen durfte, war eine arge Enttäuschung. Schwester Elfriede hatte es nicht immer leicht mit ihrer kleinen Patientin. Dabei hatte Annemarie die sanfte, stets freundliche Schwester mit dem sauberen Häubchen auf dem braunen Scheitel, die so geräuschlos im Zimmer waltete, von Herzen lieb gewonnen. Aber ein krankes Kind wird leicht eigenwillig. Und Doktors Nesthäkchen hatte schon vorher davon ein ganzes Teil in seinem hübschen Köpfchen.

Mutti durfte sie nicht besuchen, aber ein anderer weniger erwünschter Gast stellte sich ein – die Langeweile. Mit den Kleinkinderspielen, die sich in der Klinik vorfanden, wußte Annemarie nichts anzufangen, dazu war sie schon zu groß. Lesen sollte sie noch nicht, und immer konnte Schwester Elfriede doch auch nicht Geschichten erzählen. Der Mund tat ihr ja schon weh davon.

Draußen schlug der Aprilregen klatschend gegen die Fensterscheiben. Aber in Annemaries Krankenstübchen war es gemütlich. Bei der grünverhangenen Lampe saß Schwester Elfriede mit ihrer Stickarbeit. Annemarie ruhte in ihren weißen Kissen und – langweilte sich.

»Ha – uh – ah – uh –« sie gähnte aus Leibeskräften.

»Bist du schon müde, Herzchen, es ist noch nicht mal sechs Uhr. Vater war ja noch gar nicht zum Abendbesuch in der Klinik«, meinte die Schwester Elfriede verwundert.

»Nee, müde bin ich gar nicht, aber ich mopse mich so doll. Was soll ich denn bloß anfangen?«

»Wollen wir uns Rätsel aufgeben?« schlug die Schwester vor.

»Ach nee – ach nee, die Rätsel kenne ich ja schon alle.«

»So wollen wir Städtenamen oder Sprichwörter raten«, die gute Schwester verlor die Geduld nicht.

Aber auch dazu hatte das junge Fräulein keine Lust. Eigentlich hatte sie zu nichts Lust, sie wollte bloß ein bißchen quälen.

»Was haben wir denn heute für einen Tag?« begann es, nachdem es noch verschiedene Male gegähnt hatte, von neuem.

»Dienstag, Annemarie.«

»Ich meine, was für ein Datum.«

»Heute ist der fünfte April, Kind.«

»Was – schon der fünfte« – das sich langweilende kleine Mädchen wurde plötzlich ganz lebhaft. »Dann ist es ja die höchste Zeit, daß ich die Einladungen für meine Kindergesellschaft schreibe.«

»Aber Annemarie,« Schwester Elfriede lachte herzlich, »willst du etwa hier in der Klinik eine Kindergesellschaft geben?«

»Nee, hier natürlich nicht. Aber es sind ja noch vier ganze Tage bis zu meinem Geburtstag. Bis dahin bin ich bestimmt wieder gesund und zu Hause bei Mutti.«

»Nein, mein Herzchen, die Hoffnung muß ich dir leider nehmen. So schnell geht das doch nicht mit dem Gesundwerden. Sechs Wochen mußt du schon hier bei uns bleiben.«

»Wa–as?« Annemarie vergaß vor Schreck den Mund zuzumachen.

Als Vater kam, fand er seine Lotte wieder in Tränen. Nicht einmal die Osterzensur, die er ihr mitbrachte, durch welche sie zur Schülerin der siebenten Klasse aufrückte, vermochte sie zu trösten. Ja, selbst das »Lobenswert«, um das sie so gebangt, machte ihr keine Freude. Was nützte ihr denn das, wenn sie doch keine Kindergesellschaft geben konnte!

»Und auf meinen Geburtstag freue ich mich jetzt kein bißchen mehr, wenn ich dann noch in der ollen Klinik im Bette liegen muß. Wer soll mir denn hier was schenken?«

Vater lächelte geheimnisvoll und gab Annemarie den Rat, für alle Fälle Schwester Elfriede einen Wunschzettel zu diktieren, da sie selbst nicht schreiben durfte. Nun hatte die Kleine mehr als genug zu überlegen – für heute war die Langeweile aus dem Krankenzimmer gescheucht.

Der zehnte Geburtstag von Doktors Nesthäkchen war herangenaht. Goldene Frühlingssonne lachte zum Fenster hinein und küßte die kleine Schläferin als erste Gratulantin wach.

Doch Annemarie wollte gar nicht aufwachen. Sonst rumorte sie an ihrem Geburtstag zu Fräuleins Ärger schon vor Tau und Tag und konnte die Zeit gar nicht erwarten. Aber heute – worauf sollte sie sich wohl heute freuen? Krank, fern von Mutter und Vater, ohne Geburtstagstisch und ohne Gratulanten, ohne Nachmittagsschokolade und ohne Kindergesellschaft – und noch dazu an ihrem zehnten Geburtstag, der eine Null hatte und darum besonders festlich begangen werden mußte! Nein, sie wollte heute überhaupt nicht aufwachen.

Aber die übermütige Frühlingssonne, die nichts von Annemaries trübseligen Gedanken ahnte, ließ nicht nach, sie mit ihren goldenen Lichtern zu blenden. Jetzt nahm sie gar einen ganz feinen, spitzen Strahl und fuhr dem faulen Geburtstagskinde damit unter dem Stupsnäschen herum – au, wie das krabbelte.

»Hatschi« – und nochmals »hatschi« machte Annemarie, und nun schlug sie doch die Blauaugen auf.

Erstaunt rieb sie sich dieselben. Ja, träumte sie noch oder wachte sie? Da stand ja ein richtiger weißgedeckter Geburtstagstisch vor ihrem Bette mit zehn brennenden bunten Lichtchen und einem langen Lebenslicht. Ganz wie zu Hause. Blumen über Blumen waren auf den Tisch gestreut, Blauveilchen, Schneeglöckchen und gelbe Mimosen. Und dazwischen lagen viele Geschenke – mit einem Jubellaut griff das Geburtstagskind danach.

Handfertigkeitskasten, Würfel- und Gesellschaftsspiele, eine Puppenschneiderei, bunte Bleie und Postkarten zum Austuschen dazu, Kopfzerbrecher und – hurra – auch ein neues Geschichtenbuch. Im Umsehen waren alle trüben Gedanken Annemaries wie fortgeblasen.

Aber wo steckte denn bloß Schwester Elfriede, die das alles so liebevoll für sie hergerichtet? Annemarie wandte suchend den Kopf, um ihr zu danken. Da war keine Schwester Elfriede, aber einer, bei dessen Anblick die Kleine aufs neue in Jubel ausbrach. Hinter ihr stand der Vater. Lächelnd schaute er das Glück seiner Lotte.

In aller Herrgottsfrühe war der gute Vater schon in die Klinik gekommen, um seinem kranken Töchterchen eigenhändig den Geburtstagstisch aufzubauen. Wie hätte er es seiner Frau gegönnt, die Freude ihres jetzt zehnjährigen Nesthäkchens mitanzusehen. Nur über eines jammerte Annemarie noch, daß sie dem Vater nicht mal heute an ihrem Geburtstage einen Kuß geben durfte.

Nun zog der Vater sämtliche Gratulationsbriefe hervor. In jeder Tasche hatte er einen. Alle, alle hatten sie an die Annemarie geschrieben. Zuerst kam natürlich Muttis Brief heran. Da rann allerdings ein blinkender Tropfen Annemaries Stupsnäschen herunter, als sie die zärtlichen Worte und Wünsche, welche die Mutter zum erstenmal im Leben ihrem Kinde schreiben mußte, las. Aber der übermütige Brief von Klaus, der ihr »mit einer Träne im Knopfloch und mit einem Veilchenstrauß im Auge« Glück wünschte, stimmte sie gleich wieder heiter. Fräulein und Hans, ja selbst Hanne hatte an »ihr Kind« geschrieben.

»Vatchen, die Hanne hat sicherlich statt einer Feder den Schrubber zum Schreiben genommen. Sieh bloß mal«, Annemarie konnte sich gar nicht vor Lachen über die ungelenken Schriftzüge beruhigen.

Schwester Elfriede brachte das Frühstück und beglückwünschte ihre kleine Pflegebefohlene mit einem neuen Rätselbuch, da Annemarie ja von ihren alten Rätseln nichts mehr wissen wollte. Sie mußte sogleich Hannes Brief mit anhören. Ausgelassen las ihn das Geburtstagskind vor:

Mein lihbes Annemiehchen!

Ich gradulihre Dich auch zu Deinen Zähnten Gebuhrzdag und Wünsche Dich Gottes Sägen und immer Hübsch Gesunt. Und der Kuhchen Backe Ich Dich nach, wenn Du Man ärst Wieder Nachhause derfst. Du fählst mich Sehr und Ich Grieße Dir vielmals von Deine alte Hanne.

Und immer neue Briefe und Blumen kamen. Bunte Ansichtskarten von Margot und allen anderen Schulfreundinnen. Nein, war das aber nett, selbst ihr liebes Fräulein Hering hatte ihr eine Glückwunschkarte geschrieben. Die gute Großmama, die sich fast noch mehr Sorgen um ihr krankes Enkelchen machte, als selbst Mutti, schenkte ihr einen Phonographen. Die drolligsten Walzen hatte sie dazu ausgesucht, um ihrem Herzblatt die Zeit zu vertreiben.

Tante Albertinchen aber mit den grauen Ringellöckchen, deren Liebling sie war, sandte ihr ein Glückskleetöpfchen. Süß war das, Annemarie nahm sich vor, es ganz besonders gut zu pflegen.

Noch eine Überraschung brachte der festliche Tag.

Am Abend, als Vater noch einmal nach seinem Töchterchen sah, sagte er geheimnisvoll: »Ach, beinahe hätte ich es vergessen, ich habe dir ja noch einen Geburtstagsgast mitgebracht, Lotte.«

»Mutti?!« halb jauchzend, halb zaghaft fragend klang es, als ob Annemarie das große Glück gar nicht zu fassen vermochte.

»Nein, du Dummchen, Mutti darf doch nicht herkommen. Das weißt du ja. Es ist ein anderer – rate mal!«

Annemarie zerbrach sich den Kopf. Es gab keinen ihrer Verwandten und Bekannten, den sie nicht nannte. Aber jedesmal schüttelte der Vater den Kopf.

»Jemand, der sich nicht anstecken kann«, kam ihr der Vater zu Hilfe.

»Am Ende Puck?« sehr erfreut klang das gerade nicht.

»Nein, der würde hier doch etwas zu lebhaft sein«, lachte Doktor Braun. »Da, du schlechte Puppenmutter, diese junge Dame möchte dir gern gratulieren.«

»Gerda« – jubelnd rief es Nesthäkchen. Wie lange war es her, daß sie nicht solche Freude mit ihrer Puppe gehabt hatte! Doch wenigstens eine, der sie heute einen Kuß geben durfte. Denn Gerdas Gesicht war aus Zelluloid und konnte mit Lysol abgewaschen werden. Ordentlich gerührt war Annemarie, daß ihre alte Puppe, die sie im letzten Jahr so arg vernachlässigt, jetzt zu ihr kam, wo sie krank und allein war. Das kleine Mädchen hatte das Gefühl, als ob sie nun ihre allerbeste Freundin bei sich habe.

Wie hübsch Puppe Gerda wieder aussah! Neue glänzend braune Augen hatte sie bekommen. Die blonden Zöpfchen, die sich Annemarie vor Jahren mal selbst abgeschnitten hatte, damit ihr Puppenkind nicht als Kahlkopf herumlaufen sollte, waren zu niedlichen Schnecken über jedem Ohr aufgesteckt. Genau wie Ilse Hermann in ihrer Klasse! Ein wunderhübsches weißes Matrosenkleid hatte Fräulein ihr genäht, und die grüne Sportjacke hatte sicherlich Mutti ihr gehäkelt. Und wieviel Kleider und Hüte konnte Annemarie ihrer Gerda aus der neuen Puppenschneiderei noch selbst anfertigen. Schwester Elfriede versprach, ihr beim Zuschneiden behilflich zu sein. Annemarie wurde nicht müde, die Zusammenstellung der Farben zu überlegen und hübsche Macharten ausfindig zu machen.

Als Schwester Elfriede endlich Nacht machen konnte, da schlief die große, jetzt zehnjährige Annemarie ein wie früher das kleine Annemariechen – ihre Puppe Gerda fest im Arme. Noch im Einschlummern dachte sie dankbar: »Eigentlich war mein Geburtstag auch ohne Kindergesellschaft sehr schön – nur zu Hause bei Mutti möchte ich ihn im nächsten Jahr wieder feiern.«


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