Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5. Kapitel. Ein schwerer Entschluß

Ach – war das schön wieder daheim! Alles erschien Annemarie ganz neu. Ihr Kinderzimmer, das die Brüder mit Pfingstmaien in eine grüne Laube verwandelt hatten, all ihre Bücher und Spiele. Und ihre Lieben selbst, die sie so lange entbehrt hatte. Mutti ging sie in den ersten drei Tagen nicht von der Seite. Es war rührend, das Glück des kleinen Mädchens zu beobachten, wieder von der Mutter geliebkost und gestreichelt zu werden. Fräulein und Hanne lasen ihr jeden Wunsch von den Augen. Hans schenkte ihr Federn und Löschblätter vor Freude, sein kleines Schwesterchen wieder daheim zu haben. Und selbst der wilde Klaus ärgerte sie nicht, wenigstens nicht gleich, weil sie am Ende doch noch zu schwach dazu sein konnte.

Ja, schwach war die Annemarie freilich noch. Mutti war entsetzt als sie ihr Nesthäkchen so verändert wieder sah. Was war aus ihrer blühenden Lotte geworden! Die runden rosigen Grübchenwangen schmal und durchsichtig blaß, die strahlenden Augen matt, und der Körper abgemagert und elend.

Aber »Kinderfleisch wandert nicht weit«, tröstete Großmama, die natürlich bei dem Empfang nicht fehlte. Großmama war eine kluge Frau, aber diesmal irrte sie sich. Annemarie erholte sich schwer. Ihre einst so drallen Beinchen sahen wie Zahnstocher aus. Ob Hanne auch die kräftigsten Happen für »ihr Kind« kochte, ob Mutti sie auch wie einen Säugling mit Milch, die Annemarie nicht mal mochte, päppelte. Die alte Frische wollte nicht wiederkehren.

Die Brüder fanden, daß Annemarie »quarrig« geworden sei. Hans war schon groß genug, um dies auf die überstandene Krankheit zu schieben. Klaus aber, dessen zarte Rücksichtnahme sich bald legte, nannte sie eine »olle Transuse«. Und als sie gar eines Tages verschmähte, mit ihm in die herrliche große Gasröhre, welche Arbeiter vor ihrem Hause liegen gelassen, zu kriechen, da hatte seine einst so getreue Genossin bei allen Streichen ein für allemal bei ihm verspielt. Sie war auch nicht besser wie die anderen zimperlichen Mädel!

In der Schule zeigte es sich ebenfalls, daß Annemarie ihr frisches, lebhaftes Wesen durch die Krankheit eingebüßt hatte. Soweit es sich nur auf ein ruhigeres Verhalten in den Stunden erstreckte, war ja das kein Fehler. Leider war Annemarie aber auch beim Unterricht oft abgespannt und teilnahmslos.

Sie war nun in die neue Klasse gekommen und hatte gleich im Anfang viel versäumt. Fräulein Drehmann, die fremde Klassenlehrerin, kannte sie und ihre früheren Leistungen noch nicht und glaubte, es mit einem unbegabten, unaufmerksamen Kinde zu tun zu haben. Bei der ersten Rangordnung wanderte Annemarie Braun, die einstige Erste, auf die vierte Bank herunter. All ihre Freundinnen, ja, selbst Ruth und Erna Rust saßen jetzt über ihr. Das war eine böse Erfahrung für Annemaries Ehrgeiz.

Margot Thielen, die glücklich war, ihre Annemarie endlich wieder zu haben, tröstete sie, daß sie bald wieder heraufkommen würde. All ihre Hefte lieh sie ihr, daß die Freundin das Versäumte nachholen konnte. Aber das erlaubte Doktor Braun nicht, das geschwächte Kind sollte so viel Zeit wie möglich im Freien zubringen, im Tiergarten oder im Grunewald. Nur die schriftlichen Aufgaben durfte sie zu Haus anfertigen. Alles Mündliche mußte Fräulein beim Spazierengehen mit ihr durchnehmen.

Die Mutter war dafür, ihrer blassen Lotte von Fräulein Hering, die so lieb zu dem Kinde gewesen, einige Nachhilfestunden erteilen zu lassen. Dadurch würde Annemarie leichter in der siebenten Klasse mitkommen und sich weniger anzustrengen brauchen.

Aber auch davon wollte der Arzt nichts wissen.

»Nein, Elsbeth, wir müssen vor allen Dingen dafür Sorge tragen, daß unsere Lotte ihre alten Kräfte zurückerlangt. Wenn sie erst körperlich wieder frisch ist, wird sie die Schulweisheit leicht bewältigen. Wir haben nun schon alles mögliche angewandt: Hämatogen und Sanatogen, Malzextrakt und Kiefernadelbäder, aber ich sehe noch keinen rechten Erfolg. Das richtigste ist, wir schicken die Krabbe an die Nordsee. Grade bei solchen durch überstandene Krankheit erholungsbedürftigen Kindern wirkt sie oft Wunder.«

»Mir soll's recht sein, Edmund. Obwohl ich persönlich lieber ins Gebirge gefahren wäre. Aber wenn du es für notwendig hältst, reisen wir während der großen Ferien mit den Kindern an die Nordsee.«

»Das genügt nicht, mein Herz«, der Arzt zögerte, seiner Frau den Vorschlag zu machen, der ihr, wie er wohl wußte, weh tun würde. »Fünf bis sechs Ferienwochen sind gar nichts für ein Kind, das derart heruntergekommen ist. Das muß mal ein ganzes Jahr lang Nordseeluft schnappen.« Er machte eine Pause und sah seine Frau erwartungsvoll an.

Frau Doktor Braun lachte hell auf.

»Na, da können wir ja alle auf ein Jahr nach Helgoland oder Sylt übersiedeln. Du hängst deine Praxis an den Nagel und gehst auf den Hummerfang, und ich stricke Netze.« Wieder lachte sie.

Annemarie, die im anliegenden Kinderzimmer ihren vierblättrigen Kleetopf von Tante Albertinchen begoß, steckte neugierig den Blondkopf zur Tür herein, was es denn da drin gar so Lustiges gäbe. Aber »wir können dich hier nicht brauchen, Lotte, gehe nur wieder in deine Kinderstube«, rief ihr der Vater zu. Da zog sich das kleine Fräulein beleidigt zurück.

Drinnen im Wohnzimmer jedoch wurde weiter über sein Geschick verhandelt.

»Ich machte keinen Scherz, Elsbeth, es ist mein völliger Ernst. Grade Winterkuren am Meer bewähren sich glänzend. Ich habe verschiedene Kinder in meiner Praxis, die danach erst aufgeblüht sind.«

Die Mutter lachte nicht mehr.

»Ja, aber Edchen, wie denkst du dir das denn eigentlich? Soll ich ein ganzes Jahr lang mit dem Kinde von Hause fort? Wer sollte hier wohl für dich sorgen? Und Klaus möchte ich dann auch nicht sehen, den Banditen, wenn der ein Jahr lang Mutters strenge Zügel entbehren müßte!« Frau Doktor Braun wurde nicht klug aus ihrem Mann.

Aber das sollte schneller geschehen, als ihr lieb war.

»Es gibt genügend Kinderheime in den Nordseebädern, wo erholungsbedürftige Kinder vorzüglich aufgehoben sind. Für Aufsicht, Pflege und guten Schulunterricht wird Sorge getragen und – – –«

»Was! – ein ganzes Jahr lang soll ich mich von meinem Nesthäkchen trennen, das ich kaum erst wieder habe – nein, das ertrage ich nicht! Und du selbst, Edmund, wie würde dir unsere Lotte erst fehlen – sie ist doch unser Sonnenschein!« Frau Doktor Braun rief es in größter Aufregung.

Ihr Mann hatte diese Einwendungen alle vorausgesehen.

»Je mehr uns das Kind ans Herz gewachsen ist, umso weniger dürfen wir an uns selbst denken, sondern nur an sein Heil. Gewiß, Annemarie kann sich auch hier allmählich erholen. Aber sie wird niemals ein so kräftiges Mädchen werden, wie wir vor ihrer Krankheit allen Grund hatten zu hoffen. Sie wird immer ein zartes, anfälliges Pflänzchen bleiben. Überleg' dir's in Ruhe, mein Herz,« fügte Doktor Braun noch liebevoll hinzu, als er sah, wie blaß seine Frau geworden. »Wir müssen ja die Entscheidung nicht gleich fällen.«

Aber gibt es für Mutterliebe noch eine Überlegung, wenn es sich um das Wohl des Kindes handelt? Mutterliebe denkt niemals an sich selbst.

»Dann schon lieber gleich, wenn es sein muß, Edmund. Ich bin eine Doktorfrau und mag eine schmerzhafte Operation nicht lange hinausschieben. Nur eins mußt du mir versprechen: Wenn sich Annemarie dort nicht behagt oder sich gar heim bangt, das bring' ich nicht übers Herz, sie dann trotzdem in der Fremde zu lassen.«

»Sollst du auch nicht, Elsbeth. Aber es wäre das erstemal, daß sich ein Kind in solchem Nordseeheim unter fröhlichen Altersgenossen nicht wohl fühlt. Meistens wollen sie überhaupt nicht wieder nach Haus. Übrigens fährst du natürlich mit ihr und bleibst ein paar Wochen dort, bis sie sich eingelebt hat. Erst wenn du ganz beruhigt sein kannst, läßt du sie allein im Kinderheim.«

Der schwere Entschluß war gefaßt.

»Warum sieht mich Mutti denn bloß so komisch an?« dachte etwa ein Stündchen später Annemarie verwundert.

»Würdest du gern an die Nordsee reisen, Lotte?« fragte da Mutti ganz unvermittelt.

»Au fein!« Annemarie wurde fast so lebhaft wie früher. Auch ihre Augen bekamen den alten Glanz. »Oder lieber noch nach der Ostsee. Margot fährt auch wieder nach Ahlbeck – ach bitte, bitte, liebste, beste Mutti, laß uns doch auch nach Ahlbeck reisen!«

»Nein, Kind, Vater wünscht, daß du Nordseeluft atmest. Da gibt es viele Kinderheime, in denen es höchst lustig zugehen soll – möchtest du wohl auch mal in solcher hübschen Kinderpension sein, Lotte?«

»Nee!« machte Annemarie mit Seelenruhe, und damit war für sie die Sache erledigt.

Ach, wie unsagbar schwer war es doch, das Kind auf die lange Trennung vorzubereiten!

»Es würde dir sicher dort gefallen«, begann die Mutter von neuem. »Denk' nur, mit vielen Kindern zusammen schlafen, essen, lernen, spielen, baden und spazierengehen – findest du das nicht wunderschön?«

»Och ja,« meinte Annemarie etwas zögernd, »aber – aber in unserer Schule ist es auch sehr hübsch.«

»Hier in Berlin hast du doch keine Nordseeluft, Lotte –«

»So können wir ja in den großen Ferien hinreisen,« räumte die Kleine bereitwilligst ein.

»Vater wünscht, daß du ein ganzes Jahr lang an der Nordsee bist – natürlich würde ich die erste Zeit auch dort bleiben, bis du ganz bekannt bist –«

»Und dann?« Nesthäkchens Augen hingen in banger Ahnung an den Lippen der Mutter.

Nein, so schwer hatte sich Frau Doktor Braun das doch nicht gedacht.

»Dann bleibst du dort unter den lustigen Kindern – und wir schreiben uns viele Briefe, und vielleicht besuchen wir dich auch mal.«

»Nee!« Annemarie schüttelte ablehnend ihren Blondkopf. »Nee, ich will nicht! Meine Schulfreundinnen hier sind sicher viel netter als die dort, und Kläuschen ist mir lustig genug. Und wenn ich sechs ganze Wochen lang Nordseeluft atme, das ist reichlich. Mehr kann ich gar nicht atmen!« So entschied das kleine Fräulein, das durch die Krankheit gewöhnt war, daß alles nach seinem Köpfchen ging, höchst energisch.

Aber diesmal kam es damit nicht durch.

»Wir werden uns doch wohl nach Vaters Wünschen richten müssen, Lotte, wenn es uns auch nicht leicht wird. Vater hält es nun mal für nötig –«

»Bin ich denn wieder krank?« erkundigte sich die Kleine, ganz erstaunt, während es um ihre Mundwinkel bereits zu zucken begann.

»Bewahre – aber du bist doch noch immer matt, lange nicht so frisch wie vorher. Und damit du wieder unser lustiger rotbackiger Wildfang wirst, wollen Vater und ich das Opfer bringen und dich an die Nordsee schicken, meine kleine Lotte.« Zärtlich strichen Muttis Finger über Annemaries Locken. Wenn das Kind wüßte, wie weh ihr selbst dabei zumute war, es würde ihr das Schwere nicht noch schwerer machen.

Aber Nesthäkchen ahnte nichts von Mutters Empfindungen. Das war ganz und gar Empörung.

»Dann kann mich Vater ja lieber gleich wieder in die olle Klinik stecken, wenn ihr mich durchaus los sein wollt«, rief es ungezogen. »Vater hat ja auch vorhin erst gesagt, daß er mich nicht gebrauchen kann.« Die Kleine brach in bitterliches Schluchzen aus.

»Du bist ein ganz dummes Mädel!« Vergeblich versuchte Frau Doktor Braun, ihr Nesthäkchen zu beruhigen. Wenn das Kind sich so aufregte, was nützten da alle Kräftigungsmittel und alle Pflege, was nützte selbst die Nordseeluft dann?

Als die Brüder aus der Turnstunde heimkamen, ging Annemarie noch immer mit dick verschwollenen Augen umher.

»Warum haste denn geheult, Annemariechen?« erkundigte sich der gute Bruder Hans mitleidig.

Klaus dagegen führte einen wilden Indianertanz um das Schwesterchen auf, indem er von einem Bein auf das andere sprang, und dabei höchst unmelodisch sang: »Au, du hast Kloppe gekriegt, au, du hast Kloppe gekriegt!«

»Nee, gar nicht, du dummer Junge!« machte Annemarie wütend. Aber sie war so von Schmerz erfüllt, daß sie nicht mal auf ihn los ging, was sie sonst wohl sicher getan hätte.

»Laß unser Kleinchen in Frieden: komm, Annemarie, erzähle mir, warum du so traurig bist.« Hans machte dem Indianertanz des Jüngeren durch seine kräftigen Muskeln ein rasches Ende.

Solch einer liebevollen Anteilnahme konnte sich Annemaries verdüstertes Gemüt nicht verschließen. Doch wenigstens einer, der es noch gut mit ihr meinte!

Sie kletterte auf die Fußbank und flüsterte Bruder Hans ihren schweren Kummer ins Ohr. Etsch – Klaus durfte es zur Strafe nicht hören.

»Vater und Mutti wollen mich los sein – und – und« – Annemarie konnte vor Mitleid mit sich selbst nicht weiter sprechen. Sie begann wieder zu schluchzen.

»Und da schicken sie dich in einen dunklen Wald wie Hänsel und Grete!,« unterbrach sie der große Bruder lachend.

»Nee, aber an die Nordsee, das ist genau ebenso schlimm!« stieß die Kleine empört heraus. Sie dachte nicht mehr daran, daß Klaus es ja nicht hören sollte.

»An die Nordsee sollst du – ach, muß das fein da sein! Und dann weinste noch, du Affenschwanz?« Hans schüttelte verständnislos seinen blonden Schädel.

»Kommen wir auch mit?« Das war für Klaus unbedingt das wichtigste an der ganzen Geschichte.

»Nee,« Annemarie war enttäuscht, bei ihrem Lieblingsbruder so wenig Teilnahme zu finden. »Es ist ja nicht bloß für die Sommerferien – den ganzen langen Winter soll ich da bleiben, weil ich noch immer matt bin – ganz allein – da graule ich mich ja tot!«

Hans machte nun doch ein betroffenes Gesicht. Solange sollte Annemarie diesmal von Hause fort? Trotzdem er über vier Jahre älter war, hatte ihm das muntere Schwesterchen während der Krankheit unglaublich gefehlt.

Und schön konnte er sich das im Winter, wenn die Stürme heulten, auch nicht gerade am Meer denken – nee. ganz und gar nicht!

Klaus war entgegengesetzter Ansicht.

»Annemarie, du bist ein Glücksknopp! Da kannste fein auf der Nordsee Schlittschuh laufen und –«

»Schafsnase – das Meer friert doch niemals zu,« unterbrach der Größere seine schönen Pläne.

»Schadet nichts, famos muß es doch sein! So ähnlich wie auf dem Nordpol. Du, Annemiechen,« Klaus begann plötzlich zärtlich zu werden, ein Zeichen dafür, daß er irgendwas von ihr wollte. »Bitte doch Vater, daß er mich mitschickt. Dann bist du nicht allein dort, und eigentlich sehe ich doch auch ein bißchen angegriffen aus, und in Latein bin ich auch matt, hat unser Ordinarius erst heute gesagt,« setzte er noch überzeugungsvoll hinzu, sich in den Spiegel sehend.

Aber da blickte ihm ein so gesundheitssprühendes, rotwangiges Jungengesicht unter dem braunen Kraushaar entgegen, daß es Klaus doch zweifelhaft erschien, ob Vater es seiner angegriffenen Gesundheit wegen für nötig halten würde, ihn an die Nordsee zu schicken.

Annemarie aber schien der Gedanke durchaus einleuchtend. Mußte sie wirklich fort – und Muttis Bestimmtheit ließ eigentlich keinen Zweifel darüber – dann war es doch immerhin noch besser, mit Klaus zusammen, als allein. Wenn er sie auch oft foppte und reizte.

Beim Nachmittagskaffee, der auf dem Balkon getrunken wurde, erschien der Vater nur auf fünf Minuten aus der Sprechstunde heraus.

»Nanu, Lotte?« Er warf einen erstaunten Blick zu seinem verheulten Nesthäkchen und einen zweiten zu seiner Gattin hinüber. Aha – die Krabbe wußte schon Bescheid.

»Ich habe jetzt keine Zeit für dich, es warten noch eine Menge Leute drin. Aber heute abend haben wir miteinander zu reden, Lotte.« Doktor Braun klopfte seinem Töchterchen aufmunternd die blasse Wange und eilte wieder in sein Untersuchungszimmer.

Eigentlich war es keinem der Braunschen Kinder angenehm, wenn Vater mit einem »reden« wollte. Besonders Klaus, der immer irgend etwas auf dem Gewissen hatte, liebte solche Gespräche unter vier Augen gar nicht. Das Töchterchen, das von jeher vom Vater ein wenig verzogen worden, war eigentlich selten in die Lage gekommen, eine väterliche »Standpauke», wie die Brüder diese Unterredung nannten, zu erhalten. Trotzdem sie ahnte, um was es sich handelte, war es ihr doch unbehaglich zumute, als sie mit Fräulein ihren Nachmittagsspaziergang im Tiergarten machte.

»Du, Fräulein«, Annemarie hatte das »Du« noch aus ihrer Kleinkinderzeit her beibehalten. »Ich habe ein schreckliches Geheimnis.« Fräulein hatte nach Tisch Besorgungen gemacht und ahnte noch nichts von Annemaries Schicksalswendung.

»Du hast gewiß ein schlechtes Diktat geschrieben?« riet Fräulein.

»Ach nee, wenn es das bloß wäre!« Annemarie blickte mit so trostlosen Augen in das lichte Grün der Platanen und Buchen, daß Fräulein wirklich erschrak.

»Noch was Schlimmeres?»

»Viel – viel Schlimmeres!« mit Grabesstimme sprach es der Kindermund. »Ich soll fort von Hause – auf ein ganzes Jahr wollen mich Vati und Mutti an die Nordsee schicken. Und denn sagen sie noch, sie hätten mich lieb!« Es fehlte nicht viel, dann hätte das große zehnjährige Mädchen mitten im Tiergarten angefangen zu weinen. Voll Neid blickte es auf die anderen vorübergehenden Knaben und Mädchen. Die hatten es gut, die durften sicher zu Hause bleiben!

»Meine dumme, kleine Annemarie», Fräulein zog den dünnen Arm des Kindes fest an sich. »Wenn dich deine Eltern nicht so lieb hätten, würden sie wohl kaum das viele Geld für dich ausgeben. Solch langer Aufenthalt an der Nordsee ist teuer. Und meinst du nicht, daß deiner Mutti und deinem Vater die Trennung noch schwerer wird als dir – ich weiß doch, wie Mutti sich nach dir gebangt hat, als du Scharlach hattest.«

Annemarie antwortete nicht. Fräuleins Worte hatten sie tief beschämt. War sie nicht wirklich ein dummes Mädel, daß sie an der Liebe ihrer guten Eltern zweifelte?

»Mir wäre auch geholfen, wenn du in Pension kämst, Annemiechen,« begann Fräulein von neuem. »Meine Mutter schreibt in jedem Brief, sie wäre leidend und möchte mich nach Haus haben.«

Was – Fräulein wollte von ihnen fort? Ihr liebes, goldenes Fräulein, an dem sie fast so hing wie an den Eltern? Ja, war denn heute die ganze Welt verhext?

»Aber wenn das eklige Jahr um ist, mußt du bestimmt wieder zu uns zurückkommen, ja, das versprichst du mir, Fräulein?« so bettelte das kleine Mädchen zärtlich.

Wie gern versprach Fräulein dies, war ihr doch ihre kleine Annemie wie ein eigenes Kind ans Herz gewachsen.

Es dämmerte schon, als Doktor Braun sein Nesthäkchen an den beiden Rattenschwänzchen in sein Sprechzimmer zog, um mit ihr zu »reden«. Da stand nun die Annemarie neben seinem Schreibtisch und begann aus Verlegenheit mit dem Hörrohr und sonstigen Instrumenten zu spielen. Sanft nahm er ihr die Dinge aus der Hand und zog das große Mädchen auf sein Knie.

»Lotte, glaubst du, daß ich dich gern fortgebe?« fragte er bloß.

Ach, wo blieben da all die dummen Gedanken, die das törichte Mädel den ganzen Nachmittag gequält? Es schüttelte den Blondkopf und schmiegte ihn fest an Vaters Brust.

»Na also! Soll ich mich nun auch vielleicht hinsetzen und heulen wie ein gewisses Fräulein heute nachmittag?«

Bei dieser Vorstellung mußte Annemarie lachen – all das, was sie bedrückt, lachte sie sich vom Herzen.

»So ist's recht, Lotte! Wer solche feine Reise machen soll wie du, der kann auch lachen. Der Klaus möchte für sein Leben gern mit. Aber der darf nicht, der Schlingel.«

Wie merkwürdig – Annemarie kam mit einemmal ihre Verbannung gar nicht mehr so fürchterlich vor. Lag das daran, daß sie jetzt einsah, daß Vater und Mutter nur aus Liebe zu ihr in die lange Trennung willigten?

»Du bist doch mein großes, verständiges Mädel,« der Vater hob ihr Gesicht zu sich empor. »Versprich mir, Mutti nicht mehr durch unvernünftige Tränen zu quälen, du tust ihr damit weh.«

Annemarie machte ein bestürztes Gesicht. Wie häßlich von ihr, daß sie nur an ihren eigenen Jammer gedacht hatte!

Sie reichte dem Vater ihr mageres Händchen. So dunkel es auch schon war, er las in den blauen Kinderaugen das feste Versprechen, der Mutter den Abschied nicht mehr zu erschweren.

Noch an demselben Abend schrieb der Vater an ein ihm besonders empfohlenes Kinderheim in Wittdün auf der Nordseeinsel Amrum. Das Schicksal von Doktors Nesthäkchen war damit besiegelt.

Das Versprechen, das Annemarie ihrem Vater gegeben, hielt sie. Es wurde ihr nicht mal schwer, denn allmählich – begann sie sich auf die Reise zu freuen.

In der Schule war sie jetzt wieder der Mittelpunkt der Klasse. Nein, hatte die Annemarie Braun ein Glück! In eine Kinderpension kam sie, und noch dazu an der Nordsee – eine jede hätte sofort mit ihr getauscht.

Nun geht es einem im Leben oft sonderbar. Man findet eine Sache oft erst schön, wenn man von anderen darum beneidet wird. Diese Erfahrung machte auch unsere Annemarie.

Da all ihre Schulfreundinnen sich an ihre Stelle wünschten, war sie sicherlich nicht bemitleidenswürdig. Ja, es machte ihr sogar Spaß, sich mit ihrer Reise ein wenig hervorzutun.

»Auf einem großen Schiff fahren wir von Hamburg aus, hat mir Mutti erzählt. Und ein süßes Reiseköfferchen habe ich bekommen – ganz für mich allein. Und neue Sandalen und einen schwarzen Lackhut und graue Spielhosen. Und Vater sagt, ich darf barfuß laufen. Aber der hellblaue Badeanzug mit dem weißen Anker ist das Allerschönste, den mußt du dir ansehen, Margot.«

Nur zwei gab es, die ganz und gar nicht mit dem langen Aufenthalt des kleinen Mädchens an der Nordsee einverstanden waren. Die eine war Annemaries Großmama und die andere war Köchin Hanne.

Großmama kam aus dem Kopfschütteln nicht heraus. Sie fand sich in der neumodischen Welt nicht mehr zurecht. Ihre Kinder hatten auch Krankheiten durchgemacht, aber deshalb hatte doch kein Mensch daran gedacht, sie auf ein ganzes Jahr von Hause fortzugeben. Denn ein Kind gehört unter die Obhut der Eltern, das war nun mal Großmamas Ansicht. Und noch dazu den ganzen Winter durch an der Nordsee – wie leicht konnte sich ihr Liebling dort erkälten. Und was konnte der Annemarie nicht sonst noch alles am Meer passieren! Großmama durfte gar nicht daran denken. Zum erstenmal war sie mit ihrem Schwiegersohn nicht zufrieden. Aber schließlich, er mußte es als Arzt ja am besten wissen.

Hanne war noch viel entrüsteter über das Anrecht, das die eigenen Eltern »ihrem Kinde« zufügten. Konnte wohl einer noch so für die Annemarie kochen und sie mit lauter Leckerbissen füttern wie ihre alte Hanne? Mußte sie da erst zu fremden Leuten?

Trotzdem das Gesicht der treuen Köchin von Tag zu Tag grimmiger dreinschaute, gingen die Reisevorbereitungen ihren Gang. Denn Frau Doktor Braun wollte schon vierzehn Tage vor Beginn der Ferien mit Annemarie fahren. Der Vater unternahm später mit seinen beiden Jungen eine Gebirgswanderung. So waren auch diese für die Ferien versorgt.

Der Tag vor der Abreise war herangekommen.

Der »süße« Reisekoffer Annemaries stand fix und fertig gepackt. All die schönen neuen Sachen waren darin untergebracht. Das Putzlieschen strahlte, es war ganz und gar mit ihrem Geschick ausgesöhnt. Auch die Schul- und ein Teil ihrer Geschichtsbücher waren mitgewandert, sogar einige Spiele für Regentage.

Nun ging Annemarie noch einmal, Umschau haltend, ob sie auch bloß nichts vergessen hatte, durch ihr Reich. Da fiel ihr Blick auf ihre Puppe Gerda, die steif und stumm in dem kleinen Korbsessel lehnte. All die Kinderzärtlichkeit, die Nesthäkchen einst für seine Puppe empfunden, erwachte durch den bevorstehenden Abschied wieder in seiner Brust.

Sollte sie Gerda mitnehmen? Dann hatte sie doch wenigstens einen von zu Hause bei sich. Aber würden sie die anderen Kinder dort nicht auslachen und für ein Baby halten? Es gab bei ihnen in der siebenten Klasse schon einige Mädchen, welche sich zu groß zur Puppenmutter dünkten.

Annemarie blickte unschlüssig auf ihre Puppe. Irrte sie sich oder sah Gerda sie mit ihren hübschen braunen Glasaugen vorwurfsvoll an, als wollte sie sagen: »Habe ich dir nicht auch getreulich Gesellschaft geleistet, als du krank und allein warst?«

Da war der Kampf in Nesthäkchens Brust entschieden, die falsche Scham besiegt.

»Ja, du sollst mit ins Kinderheim, Gerdachen«, flüsterte sie und begann eifrig den Puppenkoffer zu packen.

Mutti hatte nichts gegen die neue Reisegenossin einzuwenden. Im Gegenteil, sie freute sich, wenn Annemarie recht viel mit Puppen spielte. Und vielleicht half die alte Lieblingspuppe ihrem Herzblatt ein wenig über die Trennung von Haus hinweg.

Großmama, die gekommen war, um ihrem Liebling Lebewohl zu sagen, wollte Nesthäkchen überhaupt nicht wieder aus den Armen lassen. Bis zum letzten Tage hatte sie gehofft, daß sich die »verdrehte Idee« mit dem Winteraufenthalt an der Nordsee nicht verwirklichen würde. Das arme, arme Kind – gewiß war es tiefbetrübt!

Nein, ganz und gar nicht! Mit freudigem Stolz zeigte Annemarie der Großmama ihr Reisegepäck. Und als die gute Großmama ihr gar noch einen Kasten Briefpapier mit Märchenbildern überreichte, damit sie ihr doch wenigstens ab und zu mal ein Briefchen schreiben konnte, war Doktors Nesthäkchen auf dem Gipfel aller Seligkeit. Annemarie fand es höchst angenehm, noch unvermutete Geschenke einzuheimsen. Fräulein hakte ihr in aller Eile noch einen blauen Badeanzug mit weißem Anker für Puppe Gerda genäht, genau solchen, wie Annemarie bekommen. Dazu einen Bademantel mit Kapuze. Hans verehrte ihr seinen alten Tuschkasten, der noch gar nicht sehr abgenutzt war. Und Klaus, der wollte natürlich auch nicht zurückstehen. Von seinen Spielen konnte er nichts verschenken. Die waren alle kurz und klein. Geld, irgend etwas zu kaufen, besaß er nicht. Aber hatte Vater unter all den Probemitteln, die ihm zugesandt wurden, nicht auch ein Schächtelchen mit Pralinés stehen? Klaus, der überall herumschnüffelte, hatte sie vor einigen Tagen entdeckt. Leider war er durch Muttis Eintritt nicht mehr dazu gekommen, eins zu probieren. Denn naschen war seine Lieblingsbeschäftigung.

Jetzt aber erinnerte er sich der Pralinés. Vater dachte sicher gar nicht mehr an das Schächtelchen, und Annemarie würde sich gewiß freuen. Zehn Stücke waren drin, der Schlingel teilte sie redlich zwischen dem Schwesterchen und sich.

»Da, Annemie,« ein Praline nach dem anderen schob er ihr und sich abwechselnd in den Mund, »da, das schenke ich dir zum Abschied.«

Eigentlich mundeten sie Annemarie nicht besonders. Die Schokolade war ja ganz schön, aber die Füllung schmeckte greulich. Doch sie mochte Klaus, der sie ihr verehrt, nicht durch eine Ablehnung beleidigen. So zwang sie sich die fünf Schokoladendinger hinein.

Am nächsten Tage aber befanden sich die beiden Sprößlinge von Doktor Braun in einem bejammernswerten Zustand, denn die Pralinés waren mit – Rizinusöl gefüllt gewesen.

Annemaries Reise mußte um einige Tage verschoben werden und auch die Keile, die Klaus vom Vater für sein Heldenstück versprochen wurde.

Schließlich aber kam doch der Tag, wo Nesthäkchen, mit dem Weinen kämpfend, immer wieder sein Händchen aus dem Eisenbahnfenster heraus dem untenstehenden Vater zum Abschied entgegenstreckte. Wo Doktor Braun, selbst bewegt, seinem Töchterchen liebevoll drohte: »Tapfer sein – ganz tapfer, denke an dein Versprechen, meine Lotte!« Wo der Eisenbahnzug sich so plötzlich und unvermutet in Bewegung setzte, daß Doktors Nesthäkchen nun doch, trotz aller Tapferkeit, in Tränen ausbrach und das Gesicht rasch hinter seiner Puppe verstecken mußte. Nur Gerdas Zelluloidhand winkte dem zurückbleibenden Vater einen Abschiedsgruß zu.


 << zurück weiter >>