Else Ury
Vierzehn Jahr' und sieben Wochen
Else Ury

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Tanzstunde.

Uff – – –!« Leni keuchte förmlich vor Anstrengung.

Wieder begann sie in dem dickleibigen English Dictionary zu blättern. Ach, da standen eine Menge schöner Wörter drin, aber das, was Leni suchte, Gedanken, die fand sie auch dort nicht!

Tiefsinnig begann sie an ihrem Federhalter zu kauen. Dieser verflixte Aufsatz! Wieviel Kopfzerbrechen, ja sogar Tränen, hatte er Leni schon gekostet!

Und gut sollte er werden! Mrs. Smith hatte eine vorteilhafte Meinung von Lenis Leistungen; die durfte sie nicht zuschanden machen. Sie hatte es ja noch viel schwerer als die anderen alle, denn wenn sie auch die englische Umgangssprache beherrschte, in der Schriftsprache haperte es doch noch oft, und vor allem die Orthographie war ihre persönliche Feindin. Als ob alles darauf angelegt sei, ein armes deutsches Backfischchen irre zu führen! Selten schrieb man ein Wort so, wie man es sprach.

Leni beugte sich ergebungsvoll wieder zu ihrem Schmerzenskind hinab.

»Albert Memorial« prangte als Überschrift auf dem großen weißen Bogen. Auch einen ganzen Satz hatte Leni schon über dies ergiebige Thema sich abgerungen; aber nach einer halbstündigen Überlegung war er mittels eines dicken Tintestriches von ihrer Gedankenprüfungskommission abgelehnt worden, und nun war sie gerade so klug wie zuvor!

Wenn sie nur wenigstens erst den Anfang hätte! Der Schlußsatz stand bereits fix und fertig in ihrem heute recht wüsten Kopf; na und die Mitte – ei, die mußte sich doch dann ganz leicht dazwischenfügen lassen!

Dreimal war sie mit ihren Freundinnen im Hydepark gewesen, um Studien zu machen. Aber sie hatten ihre Aufmerksamkeit mehr den vornehmen Ladys zugewandt, die auf der Rotton Row ritten, als den vier steinernen Ladys, die den Sockel des Albertdenkmals schmückten und den eigentlichen Gegenstand des Aufsatzes bildeten; und die Vögel im Hydepark, die so zahm und zutraulich waren, daß sie den jungen Mädchen das Futter aus der Hand pickten, waren ihnen tausendmal more interesting als die symbolischen Ziergestalten, welche den die Erdteile darstellenden Frauenfiguren beigegeben waren.

Ärgerlich warf Leni ihren Federhalter auf den Tisch; er spritzte einen düsteren Tintenregen auf das unschuldig weiße Papier. Was gingen sie denn überhaupt diese fremden Frauenzimmer mit ihren Steintieren an!

Sie verschränkte die Arme auf das Pult, legte ihren gemarterten Kopf darauf und weinte bitterlich.

Kein Mensch, der ihr half! Tante Jane hatte tea at Bondstreet, und Lizzie war mit der Miß spazieren.

Sie schrak wieder empor.

Du meine Güte, sie durfte ja nicht weinen! Heute abend war ja die erste Tanzstunde! Wenn sie da nur nicht verheult aussah! Eilig lief sie zum Spiegel. Richtig, rote Ränder hatte sie schon von den Tränen bekommen! Sie begann eifrig die Augen zu kühlen. Die Tanzstunde war doch wohl ein bißchen wichtiger als dieses Rackertüg von Aufsatz!

Merkwürdig! Jetzt, da sie gar nicht an den Anfang denken wollte, wußte sie ihn plötzlich – oder wirkten die kalten Umschläge wohltuend auf ihren erhitzten Kopf?

Ja, ja, so ging's! Man tau! Mit fliegender Hand ließ Leni die Feder über den Bogen rascheln. Satz reihte sich an Satz. Uje, der letzte, über die vier Tiere, der war aber mal schön! Ohne Pause schrieb Leni, ohne Punkt und Komma. Ihre Wangen glühten, die Augen blitzten, und das Papier knisterte.

Jetzt war sie in den weiten öden Sandwüsten der Sahara; hops, ein Federsprung, da setzte sie über die chinesische Mauer. Flink in ein japanisches Haus hineingelugt, und nun von dem firnschimmernden Himalajagebirge mit einem einzigen Schritt nach Norden in die sibirischen Steppen. Die große Weltreise begann Leni ordentlich Spaß zu machen. Auch Amerika wurde durchstreift. Bloß Europa, Europa! Daß einem das Nächstliegende doch oft die größten Schwierigkeiten macht!

»Der schönste Teil in Europa ist Mecklenburg.« Das prangte als unumstößliche Wahrheit bereits auf dem geduldigen Papier. Aber nun weiter! »Europa ist der zivilisierteste der Erdteile.« Na, das war doch eigentlich was Selbstverständliches; das wußte Mrs. Smith so gut wie sie. Nee, nee, das brauchte sie ihr nicht erst zu erzählen. Europas Zivilisation wurde mit einem Strich vernichtet.

Es half nichts, sie saß fest, mitten in Europa! Der heimatliche Erdteil war »steinpöttig«; der ließ sich nicht so gefügig nach dem Willen eines Backfisches kneten wie die anderen.

Na, denn eben nich! Dann kam er zur Strafe jetzt überhaupt nicht mehr daran. Für heute hatte sie sich doch wirklich genug angestrengt. Sie blätterte die fünf dicht beschriebenen Seiten zurück und erquickte sich noch einmal an ihren Geisteskindern.

Der Rest mochte bleiben; morgen kam auch noch ein Tag. Zudem war es ja allerhöchste Zeit, sich für die Tanzstunde anzukleiden!

Da kam auch die Miß mit Lizzie zurück; die konnten ihr Kammerjungferdienste leisten.

Sie begann ihre Sachen auszulegen. Die neuen Lackschuhe – süß waren die! Wenn sie man bloß nicht drückten! Die durchbrochenen Strümpfe und schließlich das Kleid. Ein häßliches Gefühl wollte sich Lenis bemächtigen. Das »olle weiße Kleid«, nicht mal reinigen hatte es die Tante lassen; nicht mal das hatte sie daran gewendet! Der dumme Bobby; ohne den könnte sie jetzt gerade so ein feines Mullkleid anziehen wie ihre Freundinnen! Hätte sie ihm das Geld doch bloß nicht – – –!

»Pfui, Dirn, nein, was bist du schlecht!« sagte Leni plötzlich laut zu sich selber und errötete heiß über den abscheulichen Gedanken, auf dem sie sich ertappte. Sie war ja auf dem besten Wege dazu, ein Zieraffe zu werden! »Nee, Vating, nee!« Wie beteuernd strich sie über das alte weiße Kleid.

»Ellen, come to dinner, wir essen heute früher,« rief die Miß von unten herauf.

»O, Miß Brown, ich bin gar nicht hungrig! Ich gehe doch zur Tanzstunde; da brauch' ich wirklich nichts zu essen.«

»Aber Ellen, vom Tanzen wird man nicht satt, du silly girl! Komm, Kind, at once!« Miß Brown schlug kraftvoll das Gong. Früher, in Nedderdorf, da hätte der Himmel auf die Erde stürzen können, Leni hätte ihr Mittagbrot trotzdem mit Gemütsruhe vertilgt, und hier? Einer »lumpigen« Tanzstunde wegen würgte sie an jedem Bissen! Sie schalt sich selbst. Daran waren bloß ihre Freundinnen schuld! Die lebten und webten ja jetzt nur noch in den zukünftigen Freuden der dancing-lesson.

Diese fand in der boarding-school von Mrs. Smith statt. Die Schulvorsteherin veranstaltete sie jeden Winter für ihre Pensionärinnen; die Schülerinnen der ersten Klasse durften ebenfalls daran teilnehmen, und auch deren Brüder und Vettern.

Ja, das war der Haken bei der Sache! Leni hätte es viel gemütlicher gefunden, wenn die ollen Jungs nicht dabei gewesen wären. Na, wenigstens hatte Onkel Richard noch erlaubt, daß Bobby sich beteiligen durfte; der würde schon mit ihr tanzen, wenn sie sitzen blieb. Denn daß sie Mauerblümchen spielen würde, stand bombenfest bei Leni – mit dem »ollen weißen Kleid«!

Es ging heute gar nicht so feierlich bei Tische zu wie sonst. Ja, als die Tante nach Hause kam, die erst später speiste, ließ sie sich sogar die Miß herausrufen; und als Miß Brown zurückkehrte, blinzelte Bobby, der am Sonnabend stets beim Dinner zugegen war, ihr verstohlen zu. Was hatte der Junge denn zu plinken? Auch Lizzie »grieflachte« verlegen, als Leni sie darauf aufmerksam machte. »Na, meinetwegen,« dachte Leni, »ich bin kein bißchen neugierig: nur wissen möcht' ich, was sie eigentlich haben!«

»Ellen, there is no time to be lost; du mußt dich jetzt anziehen,« drängte die Miß, als Leni mit tiefsinnigem Gesicht sich noch immer überlegte, was wohl das »Plinken« bedeuten könne.

Leni machte Toilette; sie flatterte vor Geschäftigkeit förmlich im Zimmer umher.

Der Tausend, da riß noch das Unterrockband! Fix zusammengeknotet, ehe die Miß es sah. Mamsell Liederjan hatte den kleinen Schaden schnell ausgebessert.

Die Miß frisierte sie; mattrosa Seidenbänder wand sie in Lenis dunkles Haar.

»O Leni, ich muß dir einen Kuß geben; du wirst sicher die Schönste sein,« jubelte Lizzie.

Leni schien nicht recht davon überzeugt.

»Well, nun drehe dich um, Ellen, daß ich dir das Kleid überwerfen kann.«

Leni machte gehorsam kehrt.

»Leiwer Himmel, was ist denn das?«

Leni fühlte an sich hinunter; sie kniff sich in den Arm, ob es vielleicht nur ein Traum sei. Nein, sie wachte! Das duftigste, zarteste, weiße Mullkleid mit Spitzeneinsätzen, das sie sich jemals ersehnt hatte, umfloß sie; eine breite rosa Schärpe schlang Miß Brown ihr um die Taille. »Ach!« Mit einem hellen Jubellaut fiel sie der Miß um den Hals.

O Leni, du wirst sicher die Schönste sein!

Die aber schob sie zur Tante, die mit Lizzie an der Tür stand, und sich an der gelungenen Überraschung weidete.

»Es ist genau nach dem Kleid deiner Freundin May gearbeitet, Ellen; nun zeige mal, ob die Schneiderin es getroffen hat,« sagte Tante Jane lächelnd.

Leni aber war noch nicht in der Verfassung, sich betrachten zu lassen. Erst mußte sie die Tante in glückseliger Dankbarkeit einige dutzendmal umarmen. Dann kam Lizzie an die Reihe, und schließlich kriegte sie die Miß vor lauter Freude rundum zu fassen und drehte sich mit ihr die Stube auf und ab.

»Ellen, du drückst dein Kleid! Ellen – stop – ich kann nicht mehr!« ächzte die arme Miß; da ließ Leni sie endlich frei.

Nun ging das Bewundern los.

»Dear me; indeed, you look sweet, Leni!« Lizzie drehte sie mit strahlendem Gesicht wie eine Puppe herum.

Auch Leni fand sich »sweet«. Woher mochte die Tante bloß Wind von ihrem Wunsch bekommen haben?

Tante Jane lächelte geheimnisvoll auf alle Fragen Lenis, aber als ihr jetzt unten in der Hall Bobby entgegen kam, und über das ganze sommersprossige Gesicht »griente«, da »markte Leni Müs«, wie man daheim an der Waterkant sagte.

Ja, Bobby hatte sich seiner Mutter anvertraut und seine Schuld gebeichtet, damit Ellen durch ihn nicht um das neue Tanzstundenkleid kommen sollte! Stumm reichte ihm Leni die Hand.

Ordentlich »smuck« sah der Jung heute aus, in dem kurzen schwarzen boy-jacket! Nein, und wie nüdlich er sich die weiße Krawatte geknüpft hatte! Dunnerkiel, jetzt preßte er ja sogar seine großen Tatzen in hellgelbe Glacés! »Oh, my gloves!« rief Leni plötzlich, als sie eben in den Wagen steigen wollte; die Handschuhe hatte sie natürlich vergessen.

Dann saß man endlich zusammengepfercht in dem handsome-cab, obwohl die Miß sehr wenig Platz einnahm und Leni sich ihres neuen Kleides wegen überhaupt nicht hinzusetzen wagte. Aber sie war in fröhlichster Stimmung. Alle Mauerblümchenbedenken waren mit dem Mullkleide gewichen. Wenn sie nur noch blonde Haare gehabt hätte! Sie fand braune schrecklich unfein; das war ihr einziger Kummer.

Aber als sie nun den hellerleuchteten Schulsaal betrat, und auf der einen Seite all die weißgekleideten jungen Mädchen und auf der anderen die sich an der Wand herumdrückenden boys gewahrte, da wurde ihr doch recht feierlich zumute. Auf dem blankgewachsten Fußboden ging sich's wie auf Eiern. Du mein, wenn sie bloß nicht vor allen Leuten hier eine Rutschpartie machte! Denn auch verschiedene Mütter hatten sich eingefunden und blickten angelegentlich herüber, ob ihr Töchterchen auch gerade so fashionable aussah wie die anderen girls.

Erst eine Verbeugung vor Mrs. Smith. Leni klammerte sich aus Angst, dabei auszurutschen, so fest an die Hand, welche die Vorsteherin ihr huldvoll reichte, daß Mrs. Smith die gequetschten Finger erst wieder in Ordnung streichen mußte. Dann wurde sie einem kleinen beweglichen Herrn vorgestellt; das war der dancing-master. Noch eine Verbeugung vor Miß Sorry, dann konnte Leni endlich zwischen ihren Freundinnen Platz nehmen.

Sorgsam, wie sie es von den Landschönen beim Erntefest her kannte, schlug sie den feinen weißen Mullrock hoch, um ihn beim Sitzen nicht zu »verdrücken«.

Die anderen Backfischchen kicherten und steckten die Köpfe zusammen. May und Gerty aber sprangen entsetzt auf und stellten sich als eine undurchsichtige Mauer vor die mit ihrer weißen Mullwolke zwei Stühle einnehmende Leni, die harmlos und vergnügt zu ihnen aufblickte.

»Habt ihr euren Aufsatz schon?« fragte sie nichtsahnend.

»Good gracious, Ellen, tu das Kleid herunter! Man lacht dich aus,« flüsterte May ihr erregt zu.

»Ach nee!« Leni sah sich verwundert um, aber sie tat doch, wie May befahl.

Wie gut, daß die Miß von einer bekannten Dame in ein Gespräch verwickelt worden war! Das hätte erst bloß noch einen »Transch« gegeben.

»Ladies and gentlemen, come along!« ertönte jetzt die Stimme des dancing-master.

Die girls stellten sich in eine Reihe, ihnen gegenüber die boys.

Zu dämlich! Charles Edward Gamble, den Leni seit der Geschichte mit Bobby nicht mehr ausstehen mochte, stand ihr gegenüber. So nett seine Schwester May war, so greulich fand sie den Jungen!

»Attention, ladies

Leni lachte laut auf; der Tanzmeister hatte die langen »Slippen« seines Fracks ergriffen und machte den Backfischchen eine zierliche Verbeugung. Er warf einen etwas erstaunten Blick auf die sich das Taschentuch gegen den Mund pressende Leni; dann begann er zu zählen. Bei »three« versanken die jungen Mädchen. Die Verbeugung gelang glänzend; damit hatte Miß Sorry sie ja in der Graziestunde genugsam gezwiebelt.

Nun kamen die »Herren« heran.

Die stellten sich bedeutend ungeschickter an als die Mädchen, besonders ein Knirps mit einem Babygesicht konnte bei der Verbeugung durchaus nicht das Gleichgewicht behaupten. Die boshaften girls stießen sich heimlich an, Leni aber sah mitleidig zu dem armen verlegenen Kerlchen hinüber. Sie konnte ihm das gut nachfühlen.

»Ladies and gentlemen, Verbeugung!« befahl der dancing-master. Charles Edward ließ den Kneifer von der Nase fallen, schlug die Hacken zusammen und machte Leni seine Verbeugung.

Leni blieb aufrecht stehen und nickte hoheitsvoll. Das sollte ihr fehlen, vor dem Jung da einen Knicks zu machen!

»Miß – Miß – wie heißt denn die junge Miß dort?« Der dancing-master tänzelte zu ihr herüber. »Sie haben die Verbeugung vergessen. Once more

Die Sache begann von neuem. Wieder blieb Leni stocksteif stehen.

»Aber ich muß doch sehr bitten« der kleine Herr geriet in Aufregung – »warum machen Sie keine Verbeugung?«

»No – I don't like it – vor Charles Edward Gamble mache ich keinen Knicks!« Leni trat sogar ein klein wenig mit dem neuen Lackschuh aus.

Der Tanzmeister ließ das Warum unerörtert. Charles Edward, der wütend an dem Vierteldutzend Härchen auf seiner Oberlippe zupfte, bekam eine andere Partnerin, und der Tanzmeister selbst stellte sich Leni gegenüber, die Verbeugungen klappten jetzt tadellos!

Man ging zum Polka- und Walzerschritt über.

Leni begann zu gähnen. Die Geschichte war ja schauderhaft langweilig; sie hatte etwas ganz anderes erwartet. Polka und Walzer, das brauchte sie doch nicht erst zu lernen; den hatte sie als lüttes Gör schon mit der Mamsell, mit Dörthe, Gusting, Körlin und Mining daheim in der großen Küche getanzt, und bei der Aust sogar mit Jürgens! Nee, das war gut für die, welche noch nichts konnten; sie wollte sich die Sache auf eigene Faust man ein »bischen pläsierlicher« gestalten.

Eins – zwei – drei – hatte sie die neben ihr stehende Gerty um die Taille gefaßt und wirbelte mit ihr zur Erheiterung der Zuschauer allein in dem Schulsaal herum.

Miß Sorry bekam sie beim Vorbeitanzen zu fassen.

»Ellen, dear me, hier wird nicht außerhalb der Reihe getanzt! Mädchen, mußt du denn immer etwas Besonderes haben?«

Die Deserteurin wurde wieder eingeliefert und mußte nun gleich den anderen den Walzerschritt scharren.

»Wie unsere Hennen im Geflügelhof,« flüsterte Leni aufgebracht ihrer Freundin zu.

Tanzpause. Die Mädchen hatten sich wieder in eine Ecke zurückgezogen, und die Jungen standen in der entgegengesetzten. Sie wagten sich noch nicht recht näher. Zu spaßig! Da hatten doch die Mecklenburger Jungs viel mehr Courage!

Ziemlich einsilbig machten sie ihrer Torte den Garaus, bis auf Charles Edward; der hatte, trotzdem er zu Hause von jedem Kuchen und jeder Torte naschte, es für unmännlich gehalten, Süßigkeiten wie die anzunehmen. Mit unnachahmlicher Grandezza steckte er sich eine Zigarette zwischen die Lippen und begann keck darauf loszupaffen. Die anderen sahen ihm scheu bewundernd zu.

Aber diesem Genuß, der eigentlich gar keiner für ihn war, wurde ein jähes Ende bereitet. Mrs. Smith trat zu ihm heran und ersuchte ihn, die Zigarette fortzulegen. Galant leistete er Folge.

»Do you mind my smoking?« fragte er wie ein erwachsener Herr.

»Oh yes, indeed!« Mrs. Smiths Stimme klang laut durch den Saal. »Ich glaube, Sie sind noch zu jung zum Rauchen.«

Charles Edward biß sich auf die Lippe. Diese Blamage, und wie die little girls dort drüben lachten!

Ja, die hatten viel zu lachen, zu flüstern und zu kichern. Aber auch ernste Dinge von höchster Wichtigkeit beriet man in der Tanzpause.

May, Gerty, Eveline und Leni, die vier Besitzerinnen der weißen Mullkleider mit rosa Schärpen, gründeten einen circle. Alle Woche sollte er abwechselnd bei den einzelnen tagen. Über den Zweck des Kränzchens wollte man im ersten circle beratschlagen. Ob man lesen, plaudern, Sport oder Handarbeiten treiben würde, darüber konnte man sich vorläufig noch nicht einigen; so viel Köpfe, so viel verschiedene Meinungen. Leni taufte das Kränzchen auf den Namen »Schärpenbund«.

Jedes Mitglied dieses Bundes hatte als stetes Abzeichen ein rosa Schleifchen an sich zu tragen. Aber auch ein geheimes Erkennungszeichen war unbedingt notwendig; ohne dieses konnte der Schärpenbund nicht bestehen.

Die Backfischchen schlichen sich in die Garderobe und begannen dort eifrig zu flüstern. Schließlich einigte man sich. Wollte man dem anderen ein Zeichen geben, so hatte man mit der rechten Hand sein eigenes linkes Ohrläppchen zu ziehen, und wenn ernstliche Gefahr im Anzuge war, sollte ein Vorschlag der etwas überspannten Eveline in Kraft treten: die Hände über die Brust gekreuzt wie ein Muselmann, und dann den Oberkörper dreimal tief nach vorn geneigt! Das war ein in jeder Hinsicht vorzügliches Zeichen. Es sollte natürlich sogleich probiert werden, aber aus dem Nebensaal ertönte die Stimme des Tanzmeisters: »Ladies and gentlemen, come along

Sie mußten wieder hinein. Schnell noch jeder drei Küsse, um die strengste Geheimhaltung zu geloben. Dann nahmen auch die Schärpenbündlerinnen unter Polkaklängen ihren Platz in der Schlachtordnung des dancing-master ein.

Wieder zuerst die langweiligen Schrittproben; dann endlich ging man zum ersten Polkatanz über.

Herzklopfend saßen die girls auf ihren Stühlen. Sitzen bleiben?! Jedes Backfischherz empört sich gegen diesen Gedanken; selbst Leni war ein wenig beklommen zumute.

Charles Edward hatte in seinem Ärger über Leni die Parole ausgegeben, Ellen Sursen nicht aufzufordern, aber die Jungen kehrten sich nicht daran. Ellen Sursen, the pretty girl? Oh no!

Bobby kam als erster, sie zum Tanz zu bitten. Er tanzte gut; nur war er schrecklich lang. Leni mußte sich den Arm ausrecken, um an seine Schulter hinanzureichen; er verlor sie fortwährend beim Tanz. Als er schließlich ihren Arm durch den seinigen zog, um sie zum Platz zurückzugeleiten, riß sie sich hastig von ihm los. Nee, das war denn doch zu albern! Sie konnten doch jedes für sich gehen!

Auch mit seiner Unterhaltungsgabe fand Bobby bei Leni nur geringen Anklang.

»Findest du nicht, Ellen, eine Tanzstunde ist das schönste Ding auf der Welt?«

»Nee,« antwortete Leni lakonisch.

»Charles Edward hat sich doch vorhin mit dem Rauchen like a gentleman benommen, don't you think so

»Wie ein Gernegroß!« erklärte Leni.

Bobby schwieg verstimmt. Dann versuchte er es noch einmal.

»Leni, du bist heute abend die hübscheste von allen!« Er sah durch den Zwicker auf sie hinab.

»Quatsch!« Leni legte den Kopf schief, zog die Stirn kraus und ahmte Bobbys blinzelnden Blick unwiderstehlich komisch nach. Aber Bobby erfaßte nicht den Humor der Sache; mit einer kurzen, etwas grimmigen Verbeugung ließ er sie stehen. Leni lachte hinter ihm her; er würde schon wieder gut werden,

Kaum saß sie, da wurde sie bereits wieder aufgefordert. Diesmal war es ein Gegenstück zu dem langen Bobby; der »Knirps« stand vor ihr, verbeugte sich linkisch und bat stotternd um den Tanz.

Schüchtern legte er den Arm um ihre Taille; er reichte ihr gerade bis zur Schulter. Dann begann er, unbekümmert um die Musik, wilde Sprünge zu vollführen; mit jedem Schritt stießen sie ein anderes Paar an.

Das ging so nicht.

Leni tat das arme Wurm, das sich zum Vergnügen so quälen mußte, herzlich leid. »Wart, mein Jung,« sagte sie. Ehe sich der Kleine versah, hatte seine Tänzerin ihn um die schmächtige Figur gefaßt und tanzte als Herr. Das hatte sie beim Erntefest oftmals getan; es ging famos! Der Knirps paßte sich ihrer Führung an und nahm von seinen tollen Sprüngen Abstand, Leni hopste weltvergessen mit ihrem little boy noch im Saal herum, als die Musik längst verklungen war, und die Paare sich getrennt hatten. Endlich ließ sie das schnaufende Jungchen in einen Stuhl sinken und machte ihm einen tiefen Diener, höchst gentlemanlike!

So gut hatte sie sich den ganzen Abend noch nicht unterhalten!

Der dancing-master machte jetzt seine verbindliche Abschiedsverbeugung in die Runde, der Klavierspieler ging auch, und die Tanzstunde war füglich aus.

Aber die girls bestürmten Ms. Smith, sie doch noch ein bißchen nachtanzen zu lassen – only half an hour – bis sie lächelnd einwilligte. Einer der boys setzte sich ans Klavier; ein lustiger Walzer erklang.

Jetzt wurde es eigentlich erst hübsch. Selbst Leni war ausgesöhnt. Ihr Partner war der beste Tänzer; die anderen boys hopsten greulich bei jedem Walzerschritt.

Leni schwebte graziös dahin. Sie merkte nicht, daß sich ein angeknotetes Rockband meuchlings löste und weiße Stickereizacken neugierig unter dem Mullkleide vorlugten. Sie sah nicht, wie May sich mit der rechten Hand fast das linke Ohrläppchen abriß, wie Eveline und Gerty ihre Tänzer plötzlich stehen ließen, und sich zu deren Erstaunen mit über die Brust gekreuzten Armen orientalisch vor der vorübertanzenden Leni verbeugten. Das Warnungszeichen blieb unbeachtet.

Erst als Leni einen Widerstand an ihren Füßen fühlte und die Lackschuhe sich in einem unbekannten Etwas verhedderten, schielte sie nach unten. O Schrecken! Da lag der schöne weiße Stickereirock – mit einem Seitensprung war Leni aus der seltsamen Fußfalle heraus.

Verwirrt und verlegen nahm sie den Ausreißer auf, während die übrigen Backfische eifrig tuschelten, und die boys angelegentlich die Saaldecke betrachteten.

Glühend, mit niedergeschlagenen Augen, den Rock unter dem Arm zu einem Klumpen geballt, lief sie an den vielen sich auf sie richtenden Lorgnetten vorbei, dem Ausgange zu, ohne Lebewohl; nicht einmal Mrs. Smith bekam eine Abschiedsverbeugung.

Die Miß, die in ihrer unbeschreiblichen Entrüstung gleich Bobby bereits die Tür gewonnen hatte und aufgeregt ihre Arme bewegte, um Leni hinauszuwinken, erwartete das enfant terrible. Stumm nahm sie ihren Pflegling in Empfang, Auch Bobby sprach keinen Ton. Das gab eine schwüle Rückfahrt.

Endlich brach Leni das Schweigen, Scham und Trotz rangen in ihren Worten.

»Ich kann doch nicht dafür, wenn der dumme Unterrock rutscht,« sagte sie weinerlich.

Die Miß würdigte sie keiner Antwort; die Blamage würgte ihr die Kehle zusammen. Sie sparte sich ihre Strafpredigt für den nächsten Tag auf.

Bobby aber, mit dem sie einst Mitleid gehabt hatte, vergalt Gleiches mit Gleichem. Er ergriff Lenis Partei.

»Wirklich, Leni kann nichts dafür! Es war nicht ihre Schuld!« begütigte er.

Leni jedoch wußte sehr wohl, daß es ihre Schuld war, und von diesem denkwürdigen Tage an nähte daher Mamsell Liederjan jedes lose Band, jeden lockeren Knopf sogleich fest. Sie dachte immer an ihre erste Tanzstunde.



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