Else Ury
Vierzehn Jahr' und sieben Wochen
Else Ury

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An der Waterkant.

Sie hatten alle vier auf dem Windmühlenberg Posto gefaßt, Karl Heinz, Hänschen, Fränzchen und Cäsar. Von hier aus überblickte man die Landstraße, die zum Bahnhof führte, am besten.

»Der Affenkasten – endlich – da kommt er!« rief Fränzchen plötzlich siegesgewiß und schwenkte eifrig sein nicht gerade einwandfreies Taschentuch.

Karl Heinz legte die Hände wie ein Fernrohr an die Augen und lugte zu dem dunklen Etwas hinüber, das auf der weißen Landstraße langsam näher kroch.

»Schafskopp,« entschied er nach kurzem Blinzeln, »das ist nicht Vating und die englische Cousine; das ist ein Karren mit Schweinen.« Er warf sich der Länge nach in das Gras und schaute trübselig auf die großen dunklen Mühlenflügel. »Ich wollte, Vating brächte die Leni wieder mit, statt der fremden Dirn, oder wenigstens Säutsnut.« Es kam ihn doch gar zu hart an, zwei Spielkameraden auf einmal zu verlieren.

Cäsars kurzes Gebell rief ihn schnell wieder auf die Beine. Richtig, der Hund irrte sich nicht; da holperte es um die letzte Straßenbiegung. »Sie kommen!« schrie Karl Heinz den Zwillingen zu, die ebenfalls von ihrem Wächteramt ein wenig ausruhten; im Nu raste das Quartett, Cäsar allen voran, dem Hofe zu. An der Kirschenallee, die geradeswegs auf das Gutshaus zuführte, hielt die Kalesche. Jürgens thronte im Vollgefühl seiner wichtigen Persönlichkeit kerzengerade auf dem Bock; aus seinem dicken Flausrock, den er selbst im heißesten Sommer trug, wackelten löffelartige, seidenweiche Ohren. Säutsnut, der Durchgänger, wurde in die Heimat zurückbefördert.

Marys Ankunft in Nedderdorf

Mit einem lauten »Na, Mutting, wie steht's?« sprang der Vater aus dem Affenkasten, schloß erst die Mutter in die Arme, hob dann Hänschen und Fränzchen zu sich empor, drohte Karl Heinz: »Na wart, du Schlingel, wir sprechen uns noch von wegen Säutsnut!« und klopfte den ihn in wilden Freudensätzen umspringenden Cäsar beruhigend auf den Kopf.

Nun erst wandte er sich in die Kalesche zurück.

»Man zu – man zu, Miezeken, willkommen auf Nedderdorf! Na, woran liegt's denn noch?«

Mary zögerte noch immer, auszusteigen. Die kleinen Wegelagerer, die da plötzlich von irgendwoher mit lautem »Hurra« auf den Wagen losgestürmt waren, hatten sie ein wenig eingeschüchtert, und jetzt blickte sie voller Mißtrauen auf den sich wie toll gebärdenden Cäsar.

»Das Hund – das gräßliche Hund –« Mary wies scheu auf den harmlosen Cäsar. Als ob dieser verstanden habe, daß von ihm die Rede sei, schnupperte er aufmunternd in den Affenkasten hinein, um Mary seine freundschaftliche Gesinnung zu beweisen. Das wurde ihm aber falsch ausgelegt. Mary schrie erschreckt auf, und zog ihre in braunen Strümpfen steckenden Beine bis auf das Wagenpolster.

»Es beißt – es will mir beißen – nimm es away,« jammerte sie laut.

Der Vater zog lachend den arg verkannten Cäsar von dem Wagenschlag fort, Karl Heinz brummte seinem Säutsnut »Was 'ne feige Memme!« ins Ohr, und Mutting streckte mitleidig die Arme nach der verängstigten Mary aus.

»Da wärst du ja, mein Mädel! Na, Gott sei Dank, daß ich wieder eine liebe Haustochter bekomme! Ich hätte nie geglaubt, daß mir meine Leni so an allen Ecken und Enden fehlen würde. Willkommen in der neuen Heimat! Soweit es an mir liegt, sollst du dein Elternhaus nicht entbehren, mein liebes Kind.«

Damit zog Frau Lisabeth Sürsen das fremde Mädchen mit mütterlicher Innigkeit an die Brust. Sie merkte bei der eigenen Herzenswärme nicht, daß Mary, steif wie ein Stock, alle Liebkosungen mit einer mißmutigen Falte auf der weißen Stirn über sich ergehen ließ. Jetzt neigte sich das junge Mädchen über der Tante Hand, machte eine regelrechte Verbeugung und sagte höflich: »How do you do, liebe Tante.«

Frau Lisabeth lachte belustigt auf.

»Den Firlefanz kannst du dir für die Stadt aufheben, Mieze; bei uns zu Lande nimmt man es unter Verwandten nicht so förmlich. Hier sind deine drei Vettern, welche die Zeit schon gar nicht mehr erwarten konnten, bis du endlich hier wärst. Karl Heinz, augenblicklich gerade in den Flegeljahren, aber sonst ein braver Jung', und da unsere Zwillinge, einer immer ein wilderer Strick als der andere. Gebt euch nur gleich einen Kuß, und nun gute Kameradschaft gehalten, ihr Gören!«

Hänschen und Fränzchen angelten mit beiden Armen zärtlich an der langen Cousine empor, die sich schließlich dazu bequemte, sich herunterzuneigen und jedem der kaum voneinander zu unterscheidenden Knaben einen flüchtigen Kuß auf die Stirn zu hauchen.

Karl Heinz aber, der nicht kleiner war als Mary, stand der älteren Cousine in jungenhaftem Trotz gegenüber.

»Sie kann mir ja einen Kuß geben,« meinte er heimlich, und als das nicht geschah, denn Mary dachte von ihm genau dasselbe, drehte er dem jungen Mädchen mit einem wenig ritterlichen »Na, denn eben nich!« den Rücken.

Frau Sürsen hatte sich in den Arm ihres Mannes gehängt und erkundigte sich angelegentlich, ob ihrer Ältesten der Abschied auch nicht gar zu hart angekommen sei.

Mary folgte langsam mit den sie wie ein Wundertier betrachtenden Kleinen. Karl Heinz hatte es für interessanter befunden, den weitgereisten Säutsnut seiner Karnickelfamilie wieder zurückzugeben.

Marys junges Gesicht drückte eine Reihe verschiedener Empfindungen aus. In erster Linie war es verletzte Eitelkeit wegen Karl Heinz' ungehörigem Benehmen; dann eine backfischmäßige Empfindlichkeit, daß Onkel und Tante, ohne sich weiter um sie zu kümmern, sie wie selbstverständlich mit den Kleinen hinterher traben ließen; und dann – ja, dann vor allem eine riesige Enttäuschung. Sie war von allem enttäuscht, was sie hier zu sehen bekam! Der Garten, na, der mochte noch allenfalls hingehen, obgleich ihr Garten in London, wenn auch nicht so ausgedehnt, doch entschieden »more fashionable« war. Nicht einmal einen anständigen Tennisrasen sah man hier, und das Haus, oder vielmehr »das Schloß«, womit Mary ihren Freundinnen und Schulkameradinnen gegenüber tüchtig geprahlt hatte, das war nichts weiter als ein grauer, viereckiger Kasten. Greulich! Ach, und wie begeistert hatte Leni von ihrem Turm gesprochen, diesem alten niedrigen Ding da! In London hatte sie viel höhere gesehen! Auch die Verwandten hatte sie sich anders vorgestellt. Der Onkel lachte so schrecklich geräuschvoll und neckte sie in einem fort; und die Tante hatte sogar eine Schürze vorgebunden! O, da war ihre Mama viel vornehmer; die trug nie eine Schürze. Mary fand die Tante Lisabeth gar nicht ladylike.

Aber auch von Mary war jemand auf dem Gutshof arg enttäuscht, und zwar kein anderer als der alte Jürgens. Der striegelte seines Herrn Reitfuchs mit dem tiefsinnigsten Gesicht und stellte dabei philosophische Betrachtungen an.

»Ne, wat de Lüd doch dämlich sünd! Da seggen se nu, der Herr bringt 'ne lütte englische Miß mit, un ick mak ehr ja nu ok 'ne frische Streu in den Futterställen mang de annern Katzen. Aber wie ick mi dat Biest nu neger bekieken will, da is dat denn ja woll en richtig utgewachsenes Frölen, 'n beten gröter as uns' Lening, aber lang nich so fründlich, as de was. Un so 'ne Frauensperson soll 'ne Miß sin!« Jürgens schüttelte sein strähniges Haar, das die gleiche graugrüne Farbe aufwies wie sein Flausrock, rieb die Flanken des Fuchses blitzblank, und trieb ihn mit »Hü« und »Hott« in den Stall zurück. Der Fuchs war gestriegelt, und das schwierige Geschäft des Nachdenkens auch beendet; für diesmal hatte Jürgens seinen Kopf genug angestrengt. – – –

Es war ein warmer, sonniger Maientag. Man hatte den Kaffeetisch in der geräumigen Veranda gedeckt, die den Ausblick in den Obstgarten gewährte.

In ihrer schneeig schimmernden Blütenlast standen die Äpfel- und Kirschbäume; ein Meer von Obstblüten wogte im leisen Lenzwinde.

»O, wie ist das beautiful!« Mary, die viel Sinn für Naturschönheit besaß, lehnte still an der Verandabrüstung. Zum ersten Male fand sie etwas auf Nedderdorf schön.

»Ja – es kann einem schon hier auf dem Lande gefallen, was, Mieze? Nun sollst du auch gleich dein neues Amt als Haustöchterchen antreten. Komm, gieße uns den Kaffee ein! Ihr Gören trinkt Milch; du sollst mir bald eine andere Gesichtsfarbe bekommen, Mädel, bei unserer frischen, guten Milch hier.«

Mary warf den Kopf hintenüber, daß ihr offenes Haar bis über den Gürtel herabfloß; es paßte ihr schon wieder etwas nicht. Sie war doch kein Dienstbote, daß sie den Kaffee einschenken sollte! Widerwillig griff sie zur Kanne; Tante Lisabeth aber tat, als ob sie ihr mürrisches Gesicht nicht sehe.

Unlustig und ungeschickt waltete Mary ihres Amtes.

»Paß auf, Dirn!« rief Onkel Waldemar warnend, denn Mary ließ ihre Augen und ihre Hände verschiedene Wege wandern.

Doch da lief ihm der heiße Trank bereits über die neuen hellkarierten Beinkleider.

»Himmelbombenelement – meine neuen Büxen!«

Er sprang ärgerlich auf. Mit lautem Krach entglitt die schöne Meißner Kanne Marys schlaffen Fingern; in tausend Scherben deckte sie den Steinboden.

Hänschen und Fränzchen panschten sofort selig in dem braunen See herum, der sich auf der Erde gebildet hatte. Klein Suschen, mit der Mary schon Freundschaft geschlossen, weinte erschreckt los; Mutting wußte nicht, was sie zuerst tun sollte, die nasse Kaffeedecke abnehmen, des Vaters Hellkarierte abtupfen, die Zwillinge ins Kinderzimmer weisen oder das Kleinste beruhigen. Nur Mary, das Unglückswurm, das diesen Aufruhr in die friedliche Kaffeestunde gebracht hatte, stand mit Seelenruhe, ohne einen Finger zu rühren, auf dem Schauplatz ihrer Heldentaten.

»Aber Mieze, willst du mir denn nicht ein wenig zur Hand gehen? Muß man das einem so großen Mädchen wirklich erst noch sagen?«

Tante Lisabeth, die bis jetzt kein Wort des Vorwurfs für Mary gefunden hatte, wurde nun doch ein wenig ärgerlich.

»O, I shall rufen die Stubenmädchen.«

Mary sah sich nach einer Klingel um, während der hinzukommende Karl Heinz mit gemütlichem: »Da liegt ja die ganze Pastete!« sofort praktisch eingriff.

»Es wird dir nichts schaden, Mieze, wenn du selbst die Kaffeedecke abnimmst; ein junges Mädchen muß sich nützlich zu machen suchen!«

Frau Sürsen war unmutig über sich selbst, daß sie gleich am ersten Tage so viel an der jungen Hausgenossin herumerzog. Die Dirn mußte ja kopfscheu werden.

Aber Mary schien sich durch Tadel nicht leicht einschüchtern zu lassen. Sie legte die Kaffeedecke ordentlich in die Falten zusammen, daß der nasse Fleck sich auch noch dem bisher verschonten Teile des Gedecks mitteilte, und trat dann mit plötzlichem Entschluß vor die Tante.

»Verzeihung, dear Tante, I would bitten, mir zu rufen Mary. Das ist meine Name und nicht das schrecklich Mieze. Ich will nicht werden geruft Mieze.«

Tante Lisabeth lächelte über Marys drolliges Kauderwelsch. Sie war eine viel zu vernünftige Frau, um nicht die Berechtigung dieses Wunsches anzuerkennen. Das Mädel sollte sich bei ihnen heimisch fühlen; da durfte man den ihr liebgewordenen Namen nicht willkürlich ummodeln.

»Ich werde mir Mühe geben, Mary, es nicht zu vergessen; ich habe eine liebe Schwester, die wir Mieze rufen, und darum ist mir der Name geläufig. Aber nun setze dich endlich her, Kind, und trinke deine Milch; Karl Heinz brennt sicherlich schon darauf, dich durch alle Ställe und Scheunen zu schleppen, und dir jedes Winkelchen hier auf dem Gut zu zeigen.«

Die Ordnung war wieder hergestellt und dem gemütlichen Fortgang der Kaffeestunde hätte nichts im Wege gestanden, wenn Marys hübsches Gesicht nicht schon wieder einen brummigen Ausdruck getragen hätte. Mißmutig rührte sie in ihrer Tasse mit Milch,

»Ich bin Kaiser!« schrie Hänschen und schwenkte die geleerte Tasse zum Zeichen seiner Würde. »Und ich König!« Fränzchen wollte nicht zurückstehen.

Auch Karl Heinz hatte bereits zum zweiten Male seine Tasse gefüllt.

»Na, Mary, und du? Du mußt dich dranhalten, sonst trinken dir die Kleinen noch alles fort; der Pott ist bald leer.« Die Tante faßte freundlich nach dem umfangreichen Milchtopf, um Mary die Tasse aufs neue zu füllen.

Mary zog das Näschen kraus.

»Ich kann nicht drink das Milk; es schmeckt so – so nach Kuh.« Sie schnitt eine Grimasse.

»Wonach soll sie denn sonst schmecken, Dirn?« Der Gutsbesitzer lachte dröhnend. »Man zu! Hier heißt es stramm folgen, wie beim Militär! Also: Gewehr an« – die Kinder führten sämtlich ihre Tassen zum Mund – »ganzes Bataillon los!« – man hörte eifriges Schlürfen und Schlucken – »Gewehr ab!« – klirrend standen die Tassen wieder in Reih' und Glied wie die Soldaten.

Nur Marys Tasse blieb unberührt.

»Miezeken, da soll doch aber gleich . . . der Arzt hat dir Landluft und frische Milch verordnet! Das bißchen Luftschnappen tut's nicht allein; also sei eine verständige Dirn und trink das Zeug herunter. Oder soll ich erst anders mit dir verfahren? Ich vertrete jetzt Vaterstelle an dir, also –«

Der Onkel hatte in lustig polterndem Tone gesprochen; jetzt griff er Mary in den blonden Schopf und schüttelte sie scherzhaft.

Aber Mary verstand keinen Spaß. Ihre blauen Augen begannen sich langsam mit Tränen zu füllen.

»O – o – laß los – es tut mich weh, you make mich Schmerz!« Unwirsch löste sie ihren Kopf aus des Onkels kräftiger Hand.

»Marzipanjungfer!« Der Onkel besah sie sich von allen Seiten. »Ist das ein zerbrechliches Ding, das Mädel! Nun bitte ich aber ganz ernstlich, daß die Milch getrunken wird; ich bin gewöhnt, daß meine Gören aufs Wort gehorchen.«

»Sonst wirst du in den Holzstall gesperrt, du,« fügte Hänschen mit großem Selbstbewußtsein hinzu, da er heute ausnahmsweise artig gewesen war.

»Und dann fressen dich die Ratten!« Fränzchen mußte auch seine Ansicht kund geben.

Mutting machte den Erziehungsplänen ihrer hoffnungsvollen Sprößlinge ein rasches Ende.

»Habt ihr ausgetrunken? So, dann marsch in den Garten mit euch, Lüttzeug! Karl Heinz, sieh doch mal eben nach, ob Marys Koffer abgeladen und auf das Zimmer gebracht ist. Und du, Waldemar« – sie blinzelte ihrem Manne zu – »der Erbpächter Clausen hat vorhin nach dir gefragt; vielleicht siehst du dich mal nach ihm um.«

Schwerfällig erhob sich der Gutsbesitzer, kniff Frau Lisabeth, deren Kriegsplan er durchschaute, pfiffig ins Ohrläppchen und schritt davon.

»So, Mary, nun ist die Luft rein.« Frau Sürsen atmete auf. »Nun komm mal her zu mir, meine liebe Dirn.«

Mary stellte sich mit unnahbarem Gesicht drei Schritte von der Tante entfernt auf. Aber Tante Lisabeth zog sie zu sich heran und auf ihren Schoß nieder.

»Mary, ich will dir mal etwas erzählen, Kind. Als ich meine Leni hergeben mußte, da war mir recht traurig zumute. Aber dann dachte ich, ach, du bekommst ja dafür ein neues Töchterchen ins Haus, das dich gerade so lieb haben wird. Die Mary ist doch kein Gör mehr; die wird dir schon wie eine Freundin zur Seite stehen und dir bei der Erziehung der Kleinen helfen. Sag, Mary, hab' ich mich getäuscht, oder soll ich eine gute Tochter an dir haben?« Liebevoll streichelte sie Marys seidenweiches Haar.

Mary wußte nicht, wie ihr geschah. Daheim, in England, war man nicht sehr für Zärtlichkeiten. Mama hielt alle wärmeren Gefühlsäußerungen für wenig vornehm, mit Lizzie hatte sie sich in einem fort gezankt, und der Vater weilte den ganzen Tag über in der City; wenn er auch ab und zu mal Marys Wange klopfte, so warm und lieb sprach niemand mit ihr. Aber mit Trotz stemmte sie sich gegen das, was ihr jetzt heiß ans Herz griff. Wieder erschien die böse Falte auf der weißen Mädchenstirn.

Tante Lisabeth war Marys veränderter Gesichtsausdruck nicht entgangen. Sie ließ sie mit einem unhörbaren Seufzer aus den Armen.

»So, Kind, ich habe noch im Hause zu schaffen; nun denke mal nach über das, was ich dir gesagt habe. Und wenn ich zurückkomme, dann ist der Milchpott leer, was, mein' Dirn?«

Mary war allein; sie sah der kraftvoll schlanken Gestalt der Tante nach.

Einen Augenblick zögerte sie noch. Dann faßte sie mit plötzlichem Entschluß die Tasse, hielt scheu Umschau – niemand war zu sehen – und goß in weitem Bogen die gute fette Milch in das Goldregengesträuch, das die Veranda umbuschte. Nochmals lugte sie vorsichtig um das Rankenwerk, dann folgte auch noch der Rest der Milch. Der Topf war leer.

Beinahe aber wäre es ihm ergangen, wie vorhin der Kaffeekanne; es fehlte nicht viel, so hätte ihn Mary ebenfalls auf die Erde geworfen. Denn aus den Spargelbeeten, die sich längs des Obstgartens hinzogen, hob sich plötzlich ein dünner, grauer Haarzopf, und darunter tauchte das faltige Gesicht einer alten Frau auf. Es war Dörthe, die dort Spargel stach. Sie legte die Hand über die Augen, weil die Nachmittagssonne blendete, sah zu Mary herüber und kam dann langsam näher. Mary rührte sich nicht; mit Herzklopfen blickte sie auf die sauber gekleidete Alte. Hatte die gesehen, wo ihre Milch geblieben war?

Mit schlürfenden Schritten stieg Dörthe die Verandastufen empor, reinigte sich, oben angelangt, umständlich die Hände an der blauen Drellschürze und streckte dann Mary treuherzig die Rechte entgegen.

»Gu'n Dag ok, lütt Frölen!«

Damit war das Gespräch eröffnet,

Mary tat, als ob sie Dörthes Hand nicht sehe; herablassend nickte sie mit dem Kopf. Das sollte ihr fehlen, so einer armen Frau die Hand zu geben!

Dörthe zog langsam ihre Rechte zurück und wickelte sie verlegen in die Schürze.

»Sei sünd doch das lütte Frölen Miß und haben unser Lening unnerwegs gesprochen,« begann Dörthe nach einer Pause aufs neue, eifrig bemüht, hochdeutsch zu sprechen, »Ick wollt' man fragen, wo dat unser lütt Dirn gehen tut in Amerika?«

Eigentlich hielt Mary es unter ihrer Würde zu antworten, aber dann sagte sie doch: »Es geht sie well – gut, aber sie ist in London, not Amerika,«

»Dat kummt ja ganz up datsülwige rut.«

Dörthe stemmte die Hände in die Seiten und hatte nicht übel Lust, mit dem fremden Fräulein einen gemütlichen Snak zu beginnen.

Aber Mary teilte ihre Wünsche nicht; mit ärmlich gekleideten Leuten zu sprechen, das war ganz und gar nicht schicklich.

Sie wandte sich der Verandabrüstung zu und tat so, als ob sie in den Garten hinausblicke.

Dörthe dagegen hatte ihr Lebtag noch nicht gefühlt, wenn sie überlästig war; vertraulich stellte sie sich vielmehr an Marys Seite und fuhr mit der schwieligen Hand durch die gleißenden Goldregenblüten.

»Dat wird nich mehr lang dauern, dann bläuhen auch de Rosen; große Knuppen haben se all, da wird dat Frölen Miß mal Augen machen. Aber dat mit Melk gießen, dat helpt nich vor; Water is besser.«

Mary wurde glühend rot; das Milchgespräch war ihr höchst unlieb, und aufatmend begrüßte sie Karl Heinz, der sie zu einem Streifzug über den Gutshof abholen kam.

Karl Heinz strahlte, der jungen Fremden alles zeigen und erklären zu können. Er hatte ganz vergessen, daß er noch vor kurzem mit der »klöhnpötrigen Dirn« nichts hatte zu tun haben wollen.

Aber das Stadtkind teilte die Begeisterung des Vetters nicht sonderlich. In den Pferdeställen, Jürgens Stolz, hielt sie sich entsetzt die Nase zu; kräftige Ackergäule waren ihr ebenso uninteressant wie schöne Reitpferde. Nur das Füllen, das Karl Heinz Zucker aus der Hand fraß, fand sie »sweet«.

Und nun erst im Kuhstall! Sie blieb am Eingang stehen und blickte unbehaglich auf die friedlich wiederkäuenden Vierfüßler, die mit melancholischem Gebrumm hin und wieder eine aufdringliche Fliege mittels der Schwanzquaste fortjagten.

»Komm doch rein!« Karl Heinz zog sie einen Schritt näher. »Sieh nur, es wird gerade gemolken! möchtest du es auch mal versuchen? Ich kann's!«

Mary sah den Jungen so verächtlich an, als ob er ihr den Vorschlag gemacht hätte, an der senkrechten Wand des Hauses emporzuklettern.

»Komm out!« Sie zog ihn an seinem Jackenzipfel ängstlich zur Stalltür zurück. »Das Bull kann werden wild; ich habe eine roter Band.«

»Du bist ja 'n Happen hä, Dirn!« Karl Heinz hatte sich seiner Schwester Leni gegenüber niemals allzu großer Höflichkeit befleißigt und war auch jetzt gegen Mary nicht von der Notwendigkeit einer solchen überzeugt. »Der Stier weidet doch auf eingezäuntem Land; der richtet kein Unheil an.« Er sah fast mitleidig auf die unwissende Mary.

Die fett gemästeten Schweine, die mit ihren Rüsseln die Erde aufwühlten, fand Mary dreadful; behutsam hielt sie ihr kurzes Kleid zusammen, daß es nur nirgends an einen Schweinekoben anstreifte. Selbst im Kaninchenverschlage war die Freude über die lustigen Sprünge, in denen Säutsnut es allen voran tat, nicht vollständig; Mary hatte nun mal ein eingefleischtes Mißtrauen gegen alles, was nicht aufrecht auf zwei Beinen einherging. Sogar die Zweifüßler flößten ihr noch Schrecken ein. Den Truthahn, der in aufgeblähtem Selbstgefühl seinen breiten Federfächer in der Sonne spielen ließ, jagte sie mit Steinwürfen davon, und als eine glucksende Henne erschrocken neben ihr aufflatterte, sprang sie mit einem gellenden Angstschrei nach der anderen Seite.

Beim Komposthaufen, wo Müll und Küchenabfälle abgeladen wurden, stieß man auf Hänschen und Fränzchen, die jenes nicht gerade saubere Erdenfleckchen zu ihrem Lieblingsplatz erkoren hatten. Sie waren eben eifrig bemüht, die abgeknabberten Gebeine der zu Mittag verspeisten Hühner in leeren Konservenbüchsen zur letzten Ruhe zu bestatten. Aber als sie Marys ansichtig wurden, ließen sie die Knöchelchen im Stich und schlossen sich auf der Wanderung an.

»Biste wieder artig?« erkundigte sich Hänschen, das enfant terrible, und »Haste auch deine Milch ausgetrunken?« wollte Fränzchen durchaus noch wissen.

Marys blasses Gesicht erglühte; sie nickte schnell mit dem Kopf.

»Du, lauf nicht ins Korn,« befahl der eine kleine Frechdachs, als Mary sich leuchtende Blumen pflücken wollte, »sonst kriegste kein Brot, und alle armen Leute müssen hungern!«

Karl Heinz zog einen Halm aus.

»Kiek eins, was das Korn dies Jahr schwer ist; das gibt 'ne feine Ernte!« Mit dem Blick des künftigen Herrn überschaute er den Roggenstand.

Hier draußen auf den freien Äckern gefiel es Mary tausendmal besser als in den dunstigen Stallungen. Wenn sie nur die ungalanten Jungen nicht auf Schritt und Tritt ausgelacht hätten!

Sie zeigte nämlich den verschiedenen Getreidearten gegenüber die Unbefangenheit eines neugeborenen Kindes; selbst die Kleinen wußten schon besser Bescheid. Grünen Weizen hielt sie für Hafer, da sie mal irgend was von seiner graugrünen Farbe hatte läuten hören, und Kartoffeln für Unkraut.

Am Abend des Tages, da Mary ihren Einzug auf Nedderdorf gehalten hatte, war man allenthalben auf dem Gutshof mit dem Urteil über sie fertig.

»Der Kern in ihr ist gut,« sagte Frau Lisabeth frohlockend zu ihrem Gatten, als die Gören alle im Bette lagen und für sie die Feierabendstunde gekommen war, in der sie miteinander alles besprachen, was die Tage Gutes und Böses brachten. »Kaum hatte ich den Rücken gewandt, hat die Dirn doch die Milch rein ausgetrunken. Jede Pflanze bedarf eben einer besonderen Pflege; die eine verlangt fettes Erdreich, die andere trockenes. Sonnenschein aber brauchen sie alle zum Gedeihen, Pflanze wie Mensch, und daran soll es der Dirn bei uns nicht fehlen, nicht wahr, Waldemar?«

»So nett wie meine Leni ist sie lang nicht, aber sie hätte ja auch leicht noch schlimmer sein können,« dachte Karl Heinz und gähnte ergebungsvoll dazu. »Eine mächtige Bangbüchs ist sie, und nicht die Spur Schneid hat sie im Leib, und denn, so 'n Stadtmädel ist doch eigentlich 'n oller Döskopp!« Damit schnarchte er bereits.

In der Leutestube, wo Dörthe den Vorsitz führte, drehte sich das Gespräch ebenfalls um das »Frölen Miß«.

»Ick bün ehr ja woll nich gaud genug, dat se mi die Hand nich gewen dauht,« sagte Dörthe nachdenklich und besah angelegentlich ihre Rechte, die viele Jahre schon auf dem Hofe geschafft hatte. »Kiekt, Kinnings, dat lütte Frölen Miß hat 'n Sparren im Kopp; dat is ut 'n ganz annerm Holz makt, as uns' Lening. Sei geiht so uprecht und stiw, akkerat wie uns' Truthenne; je, dat is 'ne Stadtmamsell, de paßt nich up't Land, 'n Goldregen gießt sei ja woll mit Melk, und 'n Herz vor de Viecher het sei ok nich. Un ick sag' ümmer, wer tau dat leiwe Vieh nich gaud is, de het ok nichts for de Minschen üwrig.« Dörthe erging sich noch des weiteren in ihren Betrachtungen über Mensch und Vieh.

Cäsar lag in seiner Hundehütte und heulte verschlafen. Er träumte.

»Dat lütt Frölen verstaht doch würklich nich Spaß, denn dat seiht doch 'n Blinner, dat ick dat nur gaud mit ehr meinen dauh. Sei is woll 'n bischen dämlich!«

Ungefähr mit diesen Worten jaulte Cäsar den Mond auf plattdütsch an, denn er war geborener Mecklenburger.



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