Else Ury
Vierzehn Jahr' und sieben Wochen
Else Ury

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Genesung.

Laue Luftwellen der warmen Sommernacht fluteten durch das weit geöffnete Fenster. Sie mischten sich mit dem scharfen Medizingeruch und durchdringenden Lysoldunst, der durch die Türspalte aus dem Kinderzimmer hereindrang. Tiefe Stille herrschte. Nur das ruckweise Atmen der schlafenden Miß, das leise Rauschen und Flüstern in den Zweigen des Akazienbaumes draußen ließ sich vernehmen.

Leni lauschte mit verhaltenem Atmen. Alles still und friedlich; selbst das todkranke Kind nebenan schien ruhiger geworden zu sein. Der heiße Kopf warf sich nicht mehr unstet hin und her; das wilde, zusammenhanglose Phantasieren war verstummt.

Dennoch fand Leni keinen Schlaf. Mit weitgeöffneten Augen starrte sie in das Dunkel der Nacht. So lag sie schon stundenlang. Morgen sollte es sich entscheiden – endlich!

Tag für Tag hatte Lenis Auge mit banger Frage an den ernsten Zügen des Arztes gehangen; ein Achselzucken war meist die Antwort, die ihr zu teil wurde. Heute hatte der verzweifelte Vater wieder drei der berühmtesten Ärzte an das Lager seines Lieblings berufen. Sie taten alle den gleichen Ausspruch: »Die Krisis abwarten! Sie wird voraussichtlich morgen eintreten, und von ihr allein wird Leben oder Tod abhängen!«

Onkel Richard war, trotzdem der alte Hausarzt ihm sagte, daß ein Professor der Chirurgie bei dieser Krankheit gar nichts tun könne, doch noch zu dem bekannten Mr. William Humpty gefahren, von dem man sich wahre Wunderkuren erzählte.

Auch er wollte am nächsten Morgen eine Untersuchung vornehmen, und wenn dann alle diese Ärzte der Kleinen nicht zu helfen wußten, dann –

Leni vermochte den Gedanken nicht zu Ende zu führen. Es wurde ihr plötzlich angst und heiß auf ihrem Lager; sie schlug die Decke zurück und fuhr in die Schlafschuhe.

Unhörbar glitt sie durch das Zimmer; noch einmal lauschte sie zur Kinderstube nebenan. Alles blieb ruhig wie zuvor.

Schwer lehnte sie das müde Haupt gegen die Fensterbrüstung. Der blaßgrünliche Zitterschein der dünnen Mondsichel huschte über ihr Gesicht. Es war in den acht Tagen der qualvollen Sorge und zagen Hoffnung schmal und bleich geworden.

Leni hatte sich nicht in ein anderes Stockwerk betten lassen, sondern gebeten und gefleht, bei ihrer Lizzie bleiben zu dürfen, so daß man schließlich ihre Schlafstätte im Nebenraum, dem Zimmer der Miß, aufschlug. Und es war gut, daß sie Tag und Nacht in der Nähe war. Das schwer fiebernde Kind verlangte unausgesetzt nach Leni; oft hatte nur ihre Stimme die Macht, die erregte Kranke zu beruhigen. Wenn Leni mit weicher Hand über die glühende Kinderstirn fuhr und mit tränenerstickter Stimme flüsterte: »Min Dirn, min oll leiw Dirn, bleib man ruhig, sweig man rein still; das wird ja allens wieder gut, mein Lüttes!«, dann ließ das krampfartige Zucken und Arbeiten der Gesichtsmuskeln sofort nach. Die Hände griffen nicht mehr so angstvoll in die leere Luft, und die wirren Reden, bei denen Leni fast das Herz vor Entsetzen stillstand, wurden leiser. Mit Gewalt schickten der Onkel und die nurse, die sich in die Nachtwache teilten, sie des Abends ins Bett; aber nur selten kam ihren heißen, brennenden Augen der erlösende Schlaf.

Leni erschauerte in dem linden Hauche der Nacht. Wie schwarz und gespensterhaft sich die Baumschatten dort unten dehnten! Sie, die niemals Furcht gekannt hatte und als kleines Kind ohne jede Angst in dem dunkelsten Stall und dem finstersten Bodenraum herumgekrochen war, konnte plötzlich ein unheimliches Gefühl nicht unterdrücken. Leni graulte sich; und als jetzt von dem Lager der Miß her ein seltsames Fauchen, Pfeifen und Prusten herüberdrang, riß sie ihre Blauaugen entsetzt auf.

Was war das? Scheu blickte sie in dem vom bleichen Schein des Mondes matt belichteten Raum umher. Das harmlose Schnarchen der Miß erklang ihrer überreizten Phantasie wie das Fauchen eines Raubtieres, das seine Krallen nach ihrer lieben Lizzie spreizte. Beide Hände preßte sie gegen das laut schlagende Herz.

Da – eine Sternschnuppe! Im silberigen Bogen schoß das glitzernde Licht durch die dämmerige Nacht. Drüben am Ende der hohen Pappelallee zuckte es verlöschend zur Erde.

Ach, hätte sie sich doch nur etwas gewünscht! Die alte Dörthe daheim, die voll Waldsagen und wundersamer Märlein steckte, hatte ihr einst erzählt, auf jeder Sternschnuppe reite ein Engel zur Erde hernieder, und wenn ein gutes Kind im selben Augenblick einen Wunsch ausspreche, erfülle er ihn. Von jetzt an wollte sie aber besser achtgeben! Die nächste Sternschnuppe – da –

»Mach Lizzie gesund!« stießen Lenis Lippen bebend hervor, denn ein flammender Stern war durch das lautlose Dunkel wieder zur Erde geglitten.

Gleich darauf aber schlug das junge Mädchen beide Hände vor das Gesicht.

Was Vating wohl dazu sagen würde, ihr kluger Vater, der jeden Aberglauben haßte, der seinen Kindern nicht früh genug die wunderbaren Naturerscheinungen erklären und ihrem Verständnis zugänglich machen konnte! Es war Leni, als ob seine liebe grollende Stimme durch den Frieden der Nacht zu ihr drang: »Leni, Dirn, Kopf hoch! Bist etwa eine zimpferliche Stadtjungfer geworden? Mein frisches, wildes Mädel kannte weder Furcht noch Aberglauben! Ich sollte doch denken, ich hätt' mein Töchting so erzogen, daß es allerwärts, wo immer es ist, den Lehren seines Vaters eingedenk bleibt!«

Und die Mutter?

»Ach, Mutting, liebes, liebes Mutting!«

Lenis Augen suchten voll Sehnsucht die schwarze Ferne. Nie hatte sie solche Bangigkeit nach der Heimat gespürt, nie so den heißen Wunsch gehegt, nur ein einziges Mal wieder den Kopf an der treuen Mutterbrust bergen zu dürfen. Dann wäre ja alles gut – das wußte sie – wenn Muttings weiche Hand ihr das Haar streichen, und ihre beruhigende Stimme zärtliche Worte sprechen könnte. Aber sie war allein in der Fremde, mit ihrem jungen, angstvollen Herzen auf sich selbst angewiesen. Allein?

Sie blickte zu der mit Milliarden von funkelnden Sternen besäten schwarzblauen Himmelskuppel empor. Trostverheißend und friedenatmend sandten die Sternlein da oben ihren milden Schein zu dem jungen, zagenden Erdenkind hernieder. Und plötzlich wußte Leni auch, wie Mutting zu ihr sprechen, sie auf den verweisen würde, der immer und überall mit uns weilt. Hatte sie denn zu ihm schon recht innig gebetet? Hatte sie den lieben Gott schon richtig um Lizzies Leben angefleht?

Eine rasche Blutwelle jagte über Lenis Gesicht.

Ach, sie hatte hier in dem lauten Getriebe der Millionenstadt, bei den stets wechselnden, sich jagenden neuen Eindrücken ihren alten innigen Kinderglauben überhaupt ganz vergessen. Sie hatte keine Zeit gefunden, morgens und abends zu beten, wie sie es von daheim gewöhnt war. Sie war des Sonntags wohl mit den anderen zur Kirche gegangen, aber die Gotteshäuser waren hier so riesengroß. Da gab es viele schön geputzte Menschen; man sang in einer fremden Sprache fremde Lieder. Es war ganz anders wie daheim in ihrem schlichten kleinen Dorfkirchlein an der Waterkant.

So fest, daß es sie schmerzte, preßte Leni die pochenden Schläfen gegen das kühle Fensterkreuz. Aber jäh hob sie mit einer schnellen Bewegung das Haupt. Wieder suchten ihre Augen die Sterne dort oben. Ihre Hände falteten sich, die Lippen bewegten sich lautlos; ein stummes Gebet rang sich aus der jungen Mädchenseele zum Allvater empor.

Ruhiger und stiller wurde es in ihr; mit dem alten frommen Glauben zog auch der alte Frieden und die feste Zuversicht auf den Helfer in der Not wieder in ihr stürmisch erregtes Gemüt. Sie fühlte plötzlich eine schwere, wohltuende Müdigkeit in ihren Gliedern; langsam wandte sie sich ins Zimmer zurück.

Ihr Fuß stockte. Hatte da nicht eine Tür leise in der Angel geknarrt?

Durch die schmale Spalte konnte sie gerade die Zimmerecke nebenan überschauen, in der Lizzies Kinderbett stand. Das trübselig flackernde Nachtlämpchen malte seltsame Schatten auf das weiße Kissen und die wirren blonden Kinderlocken. Der Kopf der übermüdeten Pflegerin war schwer nach vornüber gesunken; sie schien eingeschlummert.

Leni hielt den Atem an; sie rührte sich nicht.

Ein scheuer Fuß nahte sich behutsam dem Lager der jungen Kranken; eine helle schlanke Gestalt mit flatterndem Haar wurde sichtbar. Es war Lizzies Mutter, die tagsüber nur für Minuten am Bett ihres kranken Kindes zu verweilen pflegte. »Ihre zarten Nerven vertragen den Karbolgeruch nicht,« hatte der Onkel mit einem herzzerreißenden Lächeln gemeint.

Und jetzt? Leni sah, wie die Tante die emporfahrende Pflegerin zur Ruhe schickte und selbst den Platz an dem Kinderbett einnahm.

Lenis Herz schlug so laut, daß sie meinte, es müsse der Tante die Lauscherin verraten; sie wagte nicht, sich zu bewegen.

Die Tante war an Lizzies Bett niedergesunken; ihr blonder Kopf ruhte an der kalten Messingstange. Eine starke Erschütterung schien ihren Körper zu durchbeben.

Was war das? Tante Jane, die kühle und stets gemessene lady, war einer tiefen Empfindung fähig? Sie, die sich die ganze Zeit nur so wenig um ihr Kind gekümmert hatte? Wie oft hatte Leni an ihr Mutting denken müssen, die nicht vom Bett eines Kindes wich, selbst wenn nur eine leichte Kinderkrankheit die Kleinen ans Lager fesselte. Fühlte auch Lizzies Mutter heute den düsteren Flügelschlag des finsteren Todesengels, der seine Kreise enger und enger um dieses Haus zog?

Leises, unterdrücktes Weinen rang sich von den Lippen der Tante, fast unhörbar. Leni fühlte, wie es auch ihr heiß in die Augen stieg. Ihrem feinen Empfinden widerstrebte es unbewußt, hier den großen, geheimen Schmerz einer Mutter zu belauschen. Geräuschlos tastete sie sich zu ihrem Lager zurück.

Da hielt sie aufs neue inne. Wieder hörte man die Tür gehen. Die schweren Tritte mit rührender Sorgfalt dämpfend, trat der Onkel ins Nebenzimmer, um die nurse in der Nachtwache abzulösen.

War es der fahle Schein des knisternden Nachtlichtes, der Onkel Richards Züge so grau und verstört erscheinen ließ, oder die heiße Angst um seinen todkranken Liebling? Oder waren die häufigen, erregten Besuche seines alten Buchhalters daran schuld?

Überrascht hemmte der Onkel den Schritt und beschattete die Augen mit der Rechten. Nein, es war kein Trugbild, kein Hirngespinst. Dort am Bettchen kniete Jane, seine Jane; die Mutter kam endlich zu ihrem Kinde.

Schwer legte sich seine Hand auf die Schulter der Zusammenzuckenden.

»Jane – du – du?« Mehr vermochte er nicht hervorzubringen.

Es blieb lange still in dem Kinderzimmer.

Leni zitterte an allen Gliedern. Mit beiden Händen hielt sie den Metallpfosten ihres Bettes umklammert. Sie getraute sich kaum noch zu atmen.

Wieder drang des Onkels Stimme ihr ans Ohr. Sie klang heiser; die Worte lösten sich nur schwer von seinen Lippen.

»Jane, daß du doch gekommen bist – wie danke ich dir, Jane!«

Leni konnte die Zimmerecke nebenan nicht mehr überblicken, aber an den riesenhaft verzerrten Schatten, die an der Wand hin und her zuckten, erkannte sie, wie der Onkel die Hand seiner Frau an die Lippen zog. Dann sah sie, wie Tante Jane sich erhob; bis ins Unendliche wuchs ihr Schatten und verschmolz mit dem breiteren, plumperen des Onkels. Tante Jane hatte den Kopf an Onkel Richards Brust geborgen. Eine seltsam geformte Riesenhand schien über den Frauenkopf zu streichen.

»Dick – ich wäre auch heute noch nicht gekommen, wenn –«

Der Schatten bewegte sich zitternd auf und nieder, und immer leiser wurde das Flüstern im Nebengemach.

Leni wollte nicht horchen, aber ihre Gehörnerven waren in der tiefen Stille der Nacht, in der sie fast das Gleiten der dahinfliehenden Sekunden zu hören vermeinte, bis aufs äußerste gespannt. Ein jeder Laut drang bis zu ihr.

»Ich bin schlecht, Dick! Ich habe mich vor der Krankheit und dem Sterben gefürchtet; es ist so häßlich, und du hattest mich wie selbstverständlich ausgeschaltet, hast alles mit der nurse allein besorgt. Im innersten Herzen war es mir recht so. ›Ihr macht das ja tausendmal besser!‹ Damit versuchte ich, mein Gewissen zu betäuben, das sich manchmal nicht zum Schweigen bringen ließ. Lizzie war immer ein störrisches Kind. Ihre Augen hatten immer etwas unbequem Fragendes, ihr Wesen war mir immer fremd geblieben. Aber heute nacht, da wurde es mir offenbar! Da hat Gott es mich fühlen lassen, daß es mein Kind ist, das da mit dem Tode ringt, mein Fleisch und Blut – o, dieser Traum, dieser schreckliche Traum!«

Wieder strich die riesige Schattenhand beruhigend das lange, gelöste Frauenhaar.

»Jene anklagenden Kinderaugen – o, sie darf nicht sterben, Dick! Keine ruhige Minute könnte ich mein ganzes Leben lang mehr haben!«

Wildes Entsetzen schien Tante Janes Gestalt zu schütteln, aber die Männerhand legte sich ihr weich und fest auf die zuckenden Lippen.

»Still, Kind, still!« flüsterte er sanft beschwichtigend. »Nicht mehr daran denken! Du hast den richtigen Weg ja nun mit Gottes Hilfe gefunden. Nun wollen wir gemeinsam gehen, Hand in Hand, und miteinander versuchen, dem schwarzen Würger unser Kind abzuringen!«

Er trat an den Eisbehälter und erneuerte die Eisfüllung für die glühende Stirn der Kranken. Als er zum Kinderbett zurücktrat, streckte ihm Tante Jane beide Hände entgegen.

»Ja, Dick, wir wollen zusammengehen, miteinander – wie ganz zuerst! Ich weiß, du hast auch sonst Sorgen – ich weiß es, Dick,« fügte sie mit festerer Stimme hinzu, als Onkel Richard müde das Haupt schüttelte.

»Nichts heute davon, Jane! Das ist ja alles gleichgültig, klein und nichtig diesem Einen, Großen gegenüber.«

Aufs neue schlang er den Arm um sie.

»Ich habe dich heute wiedergefunden. Gott gebe, daß ich auch mein Kind behalten darf! Dann will ich allem anderen mutig entgegentreten.«

Sie verstummten wieder. Nur das Knistern und Knacken des Öllämpchens ließ sich hören, das seltsame tickende Geräusch der dahineilenden Zeit. Hand in Hand wachten die Eltern am Bette ihres Kindes.

Im Nebenzimmer aber drückte ein Backfischchen das tränenüberströmte Gesicht in das Kissen. Dann verlangte die Natur auch hier ihre Rechte; Leni weinte sich allmählich in den Schlaf.

Als sie aus unruhigem Schlummer wieder emporfuhr, stand die Sonne schon hoch.

Das Bett der Miß war bereits leer, die Tür zum Krankenzimmer geschlossen. Die Augenlider wollten Leni noch nicht gehorchen; sie konnte sich nicht gleich in der blendenden Tageshelle zurechtfinden. Was für ein wüster Traum war das doch heute nacht gewesen? Nein, es war ja Wahrheit! Lizzie war sterbenskrank; heute sollte die Krisis eintreten!

Mit einem Satz fuhr Leni aus dem Bette. Ach, wie gut tat das kalte Wasser den brennenden, übernächtigen Augen und der schmerzenden Stirn! Immer wieder preßte Leni den Schwamm mit dem erfrischenden Naß über das bleiche Gesicht.

Horch – sang da nicht jemand? Leise und wehmütig klangen die Töne aus dem Nebenzimmer herein; es war Lizzies dünnes Stimmchen:

»Wenn ich ein Vöglein wär',
Und auch zwei Flüglein hätt' – – –«

Klagend und sehnsüchtig zogen die Töne des deutschen Liedes, das Leni sie gelehrt hatte, durch den stillen Morgen.

Mit fliegender Hast warf das junge Mädchen die Kleider über. Lizzie sang! Ging es ihr besser, war die Krisis gekommen?

Leni breitete die Arme aus; sie hätte im Überschwang der Gefühle die ganze Welt umarmen mögen.

Wie die Blumenkinder sind die jungen Menschenkinder! Eines Sonnenstrahls nur bedarf es, und die Blütenköpfchen, die noch eben kleinmütig zu Boden hingen, richten sich empor, um beim nächsten Windstoß wieder zagend das Haupt zur Erde sinken zu lassen. Erstarke, Leni! In dir selbst mußt du den festen Halt finden, daß Wind und Wetter dir nichts mehr anhaben können. Sturm und Regen bleiben keinem Leben erspart.

Es ging nicht besser mit Lizzie! Das Fieber stieg immer mehr. Sie sang, lachte, schlug um sich; böse Fiebergebilde ängstigten die arme Kranke. An ihrem Bett saß noch immer regungslos die Mutter; kaum hatte Onkel Richard sie dazu gebracht, einen Schluck Tee zu nehmen. Sie hielt die brennende kleine Hand in ihren kühlen Fingern und sah mit großen, tiefumschatteten Augen auf das zuckende Gesicht.

»Ist die Krisis noch immer nicht da?« Wie ein Hauch wagte Leni es der Krankenpflegerin zuzuflüstern.

Wieder nur ein ernstes Kopfschütteln.

Das Thermometer in der Hand trat die nurse an die Fiebertabelle, um das Ergebnis der eben stattgefundenen Messung aufzuschreiben. Leni lugte ihr über die Schulter. Himmel – über vierzig Grad! Seit einer Stunde war das Fieber wieder um fast fünf Striche gestiegen!

Scheu schlich Leni sich aus dem Zimmer Sie hielt es dort oben nicht aus; ihr war so eng, so angst, die Brust so eingepreßt – ach – einmal nur den herben kräftigen Meereshauch wieder einatmen können, wie er daheim von der Waterkant her über den Windmühlenberg wehte!

Es war still im Hause. Onkel Richard hatte sich auf eine halbe Stunde hingelegt, den Bitten seiner Frau nachgebend, trotzdem er wußte, daß er keinen Schlaf finden würde. Sie selbst war nicht zur Ruhe zu bewegen.

Auch Bobby schien noch zu schlafen. Leni hatte ihn die Zeit über nur zu den Mahlzeiten zu Gesicht bekommen. Er steckte den ganzen Tag mit seinen Freunden, die natürlich gleich nach Ausbruch der Krankheit ihren Besuch auf eine gelegenere Zeit verschoben hatten, in den Sportparks. Er ritt auf Puck, Charles Edwards neuem Pony, genau so einem, wie er es sich brennend wünschte, schoß mit dem Rohr nach den Spatzen und fand es im übrigen von Lizzie unverantwortlich rücksichtslos, gerade in der Ferienzeit krank zu werden.

Das Breakfast stand bereit, bestehend aus Tee, Brot, Butter, Marmeladen, dem geräucherten Fisch, der nie fehlen durfte, und kaltem Fleisch. Leni nahm einige Bissen; sie würgten sie im Halse.

Unter des Onkels Briefschaften lagen zwei Karten an sie. Die eine, von einer unfertigen Knabenhand an »Fräulein Leni Sürsen« adressiert, wurde zuerst gelesen. Aber selbst die frischen, lustigen Zeilen ihres leiwen Karling vermochten Leni heute kein Interesse abzugewinnen. Die Nachricht, daß Säutsnut Mutter von sechs prächtigen Karnickelbabys geworden sei, und Jürgens sich einen grasgrünen Kragen auf seinen Flausrock habe nähen lassen, ließ das junge Mädchen ganz teilnahmlos. Auch die an »Miß Ellen Sursen« gerichtete Ansichtskarte aus den Scottish Highlands, die von ihrer Schulfreundin Gerty Newton herrührte, wurde schnell beiseite gelegt. Die Schule – ach, wie weit lag das alles zurück! Es schien Leni, als ob sie in dieser einen Woche um Jahre älter geworden sei.

Sie trat an das Fenster und schob die Scheibe in die Höhe.

Auch draußen im Garten kein erfrischender Hauch; eine seltsam drückende Schwere schien alles zu umhüllen. Einförmig grauer Dunst lag über Busch und Gras. Kein Blättchen erzitterte, keine Blüte wiegte sich auf schlankem Stengel. Nur ein blendendes Luftgeflimmer zeigte, daß die Sonne noch hinter dem dicken Gewölk verborgen war, bereit, durch den kleinsten Wolkenriß ihre tröstenden Strahlen zur Erde zu entsenden. Draußen gerade so schwül wie drinnen!

Der Türklopfer schallte hart und laut durch das stille Haus. Leni zuckte zusammen. Mit langen Schritten durchquerte sie die hall und öffnete.

Es war die Gemüsefrau. Margaret verhandelte bereits durch das Küchenfenster im Unterstock eifrig mit ihr wegen der Äpfel zum applepie und frischen Eiern. Als sie Lenis ansichtig wurde, erkundigte sie sich angelegentlich bei der jungen Miß, was die Herrschaften heute speisen wollten, ob spinage oder cabbage. Leni vergaß zu antworten. Es war doch völlig gleichgültig, ob sie Spinat oder Kohl aßen!

Sie stand an der hohen, eisernen Gartentür.

Wie war es nur möglich, daß da draußen in der Welt alles ruhig seinen alten Gang ging, daß lachende, geputzte Menschen schwatzend an ihr vorüber zur Stadt zogen, ohne etwas von der düsteren Sorge zu wissen, welche die blumenumrankte freundliche Cottage, die Lizzies Namen trug, in graue Schleier eingesponnen hatte!

Vergeblich spähte Leni die Pappelallee entlang. Der Professor ließ sie im Stich – Lizzie mußte sterben!

Blitzschnell drehten sich die Gedanken in Lenis Kopf. Ob sie Mr. William Humpty aufsuchen und herbeiholen sollte? Ja, das wollte sie tun; sie hatte seine Adresse behalten. Ohne weiter zu überlegen eilte sie zurück zur hall, um ihre Leinenmütze vom Haken zu reißen.

Ein seltsamer Anblick hemmte für eine Sekunde ihren raschen Schritt. Die offene Tür zum smoking-room war mit einem Plättbrett versperrt; darüber setzten im wilden Sprunge Bobbys lange großkarrierte Beine, und dahinter in plumpen, ungeschickten Sätzen ein weißes Etwas mit schwarzen Flecken am Schnäuzchen und einem kurzen Stummelschweif.

»Bobby, ums Himmels willen, was treibst du denn da?« rief entsetzt Leni, die nicht anders glaubte, als der Vetter habe seinen Verstand verloren.

»O, ich dressiere Fox. Look that sweet little dog! Ich habe ihn Charles Edward abgekauft.«

Lenis Nasenflügel bebten vor Empörung.

»Schämst du dich denn gar nicht? Deine Schwester ist sterbenskrank, und du hast Sinn für solche Allotria? Hast du denn gar kein Herz?«

Ohne dem verlegen murmelnden Vetter auch nur einen Blick noch zu schenken, drückte sie sich die Mütze aufs Haar und schritt mit festem Entschluß der Straße zu. Sie wollte ihr möglichstes tun, um Lizzie zu retten!

Die lange Pappelallee, die zur town führte, lief sie im Galopptempo hinunter. Manch erstaunter Blick folgte dem hübschen, großen Mädel mit den fliegenden Haaren, das so wenig ladylike vorüberraste. Jetzt war sie in der Stadt, mittendrin in dem Gewühl, Getriebe und Gejage, in der unendlich großen Stadt, die sie noch niemals ohne Begleitung betreten hatte. Es schwindelte Leni; ein beklemmender Druck legte sich wieder um ihr eben noch mutig pochendes Herz. Sollte sie umkehren?

Nein – Lizzie mußte gerettet werden!

Es war wohl auch nur die Schwüle, die hier in den staubigen, stickigen Straßen noch schwerer lastete als draußen in der Vorstadt. Leni trocknete sich die heiße Stirn und verlangsamte den Schritt. Vorläufig wußte sie hier noch Bescheid; es war ja ihr täglicher Schulweg, den sie stets in Gesellschaft von Miß Brown zurücklegte. Ja, dies hier war die Bond-Street, in der es die herrlichen Geschäfte gab. Herrje, so ein Gewühl! Richtig, es war ja Fryday heute, an dem die vornehmen Ladys ihren shopping-day hatten. Leni wäre auch gern vor den verlockenden Auslagen der glänzenden Magazine stehen geblieben. Aber der Gedanke an ihre arme kleine Lizzie trieb sie vorwärts.

Dort in der Regent-Street befand sich das gebogene Riesenhaus mit den siebzig Fenstern Front, das so merkwürdig in der Rundung gebaut war; Miß Brown hatte es ihr oft gezeigt.

Wie aber kam sie nun in das Stadtviertel, in dem Mr. William Humpty wohnte? Zum Gehen war es sicherlich zu weit, auch kannte sie die Richtung gar nicht. Eile tat aber not, das fühlte sie; wenn Lizzie nicht bald geholfen wurde – das Fieber stieg ja mit erschreckender Schnelligkeit!

Sie blieb stehen, um zu überlegen. Aber der Menschenstrom riß sie unbarmherzig mit fort. Leni fühlte sich plötzlich vorwärts gedrängt, geschoben und gestoßen, sie wußte nicht wohin. Ob sie mit der »Tube« fahren sollte? Ach, dann mußte sie erst mittels des Lifts in die Erde hinunter, und außerdem – Miß Brown hatte ihr erzählt, daß die teilweise unter der Themse entlang geleitet sei. Das Landkind vermochte sich noch immer nicht des unheimlichen Gefühles zu erwehren, daß die Wasser der Themse plötzlich die Erdschicht durchbrechen und sich auf die Bahn herabstürzen könnten. Nein, sie fuhr lieber mit dem bus, oder besser noch mit dem autobus; das ging herrlich schnell. Nur erst eine Haltestelle finden!

Vergebens drehte Leni den Kopf nach allen Seiten. Sie war in eine der verkehrsreichsten Adern Londons geraten. Dem Backfischchen war es unmöglich, über das Menschengewühl ringsum zu blicken, trotzdem es doch in England schon ein beträchtliches Stück gewachsen war.

Halt, hier an dem großen Platz war ja eine Hauptstation für die Omnibusse! Sie lief die Stufen zu dem Passantentunnel hinab, der unterhalb der Straße zur anderen Seite hinüberführte, weil der Wagenverkehr oben zu gefährlich war. Hier unten konnten ihr die rasselnden Lastkarren, die zierlichen handsome-cabs und knatternden Automobile nichts anhaben.

Jetzt war Leni bei den Omnibussen angelangt, die zu Dutzenden nebeneinander standen. Welches mochte nun der richtige sein? Gar lustig sahen die Omnibusse aus; von oben bis unten waren sie mit bunten Reklameschildern geschmückt, aber keine Tafel zeigte den Namen ihres Endziels an. Daß dieser längs des Geländers angebracht war, das sich um die kleine gewundene Treppe zu den Deckplätzen hinaufschlang, wußte das junge Mädchen nicht. Aber die Kutscher riefen ja mit lauter Stimme die Straßen ab, die sie auf der Fahrt berührten, freilich mit rasender Geschwindigkeit; Lenis noch ungeübtes Ohr versuchte vergeblich den gewünschten Namen herauszuhören.

Sie faßte sich endlich ein Herz und fragte mit leiser Stimme einen Schaffner. Einen Augenblick später saß sie hoch oben auf dem Deck und sah mit leuchtenden Augen auf die durcheinander hastenden Menschen herab. Das war doch ein viel vergnüglicheres Stück, hier allein auf eigene Faust in die Welt hineinzugondeln, als immer nur mit der Miß zur Seite. Zeitweise vergaß Leni über all dem Neuen, das auf sie einstürmte, ganz den traurigen Zweck ihrer Fahrt.

Aber dann kam es wie ein plötzliches Erwachen über sie. Der Wagen kroch ja förmlich! »Fixing – man bloß fixing tau!« murmelten ihre Lippen.

Der Schaffner kam, um das Fahrgeld einzustreichen. Leni fuhr in die Tasche – ihr Herz setzte vor Schreck aus. Sie hatte ja in der Eile vergessen, das Geldtäschchen einzustecken! Was nun? Hilflos sah sie sich um, und vor ihr stand ungeduldig der Mann mit den tickets.

»Wie weit fahren Sie?« fragte er nun schon zum dritten Male.

»Ich – ich – ich bin in einem falschen Wagen,« stotterte Leni, dunkelrot vor Verlegenheit.

»Sie haben ja vorher noch gefragt,« gab der Schaffner unhöflich zurück. »Das Billett ist jetzt abgerissen; das müssen Sie bezahlen.«

Leni wurde es schwarz vor den Augen.

Da war gerade der Tower, das uralte Londoner Gefängnis; düster und unheimlich groß, wie ein kauerndes Ungeheuer, lag es vor ihr. Würde man sie jetzt gleich dort hineinschleppen?

»Ich habe kein Geld – ich habe mein Geldtäschchen vergessen,« stieß sie mit zuckenden Lippen hervor.

»Ist mir ganz gleichgültig! Wer fährt, muß auch bezahlen,« war die wenig höfliche Antwort; der Mann sah sie an, als ob sie eine Betrügerin sei.

Sie fühlte die Blicke aller Mitfahrenden auf sich gerichtet. So sehr sie sich auch dagegen wehrte, die Tränen stiegen ihr heiß in die Augen. Ach, wäre sie doch niemals nach London gekommen, sondern daheim geblieben an der Waterkant, bei Vating und Mutting, bei den Brüdern und dem lütten Schwesting!

Da – was war das – hatte eine gütige Fee sie in die Heimat zurückgezaubert? Deutsche Laute trafen plötzlich ihr Ohr.

»Sollte man es für möglich halten? Das sind nun die gepriesenen höflichen Schaffner in London!« sagte ein blondbärtiger Herr ihr gegenüber, mit dem roten Bädeker in der Hand. »Hier haben Sie das Geld für die junge Miß, und kein Wort weiter, verstanden!«

Er händigte dem immer noch brummenden Manne ein Geldstück ein und reichte dem armen, verängstigten Backfisch den Fahrschein.

Leni hob die schwimmenden Augen zu ihrem Retter empor. Heißer Dank stand darin zu lesen.

Endlich fand sie auch wieder Worte.

»Ich danke Ihnen – tausend Dank!« sagte sie aus tiefstem Herzen in deutscher Sprache.

»Ah sieh da!« Der Herr blickte überrascht auf. »Eine junge Landsmännin! Nun freut es mich doppelt, mein Fräulein, daß ich Ihnen behilflich sein konnte.«

Leni war wie erlöst, aber plötzlich kam ihr ein neuer Gedanke.

Sie konnte doch nicht von einem Fremden Geld annehmen!

»Darf ich – darf ich« – die sonst ziemlich dreiste Leni war durch das Erlebnis völlig eingeschüchtert – »vielleicht um Ihren Namen und die Adresse bitten, damit ich Ihnen das Geld wieder zustellen kann?«

Ob der Herr ihre Frage auch nicht zudringlich fand?

Er lächelte ein wenig.

»Ich werde es mir lieber von Ihnen abholen lassen, Fräulein. Wie heißen Sie denn?«

»Leni – Leni Sürsen« – das Backfischchen dachte gar nicht mehr daran, daß es ja seit drei Monaten »Ellen« hieß.

Da rief der Schaffner mit schallender Stimme die Station, an der sie aussteigen mußte.

Leni sprang erschreckt auf. Noch ein herzliches »Vielen Dank«, und dann winkte der Fremde freundlich der ziemlich unschlüssig in der Straße Umschau haltenden jungen Deutschen ein Lebewohl zu. Der bus ratterte davon.

Ach du lieber Himmel – Leni wollte hinter dem Wagen her – sie hatte ja ihre Adresse nicht angegeben, nur ihren Namen genannt! Das fiel ihr jetzt erst ein. Aber der Autobus war längst um die Ecke verschwunden.

Sie empfand ein beschämendes Gefühl. Ob jeder selbständige Schritt in die Welt mit einer solchen Niederlage verknüpft war?

Aber schließlich war es doch ein Erlebnis, ein richtiges Abenteuer. Wenn sie das Lizzie erzählte – lieber Himmel, Lizzie!

Leni war sich noch nie so schlecht vorgekommen wie in diesem Augenblicke. Wie war es nur möglich, daß sie das Furchtbare, wenn auch nur auf Minuten, vergessen konnte!

Da, das große Schild an dem breiten Torweg trug den Namen des berühmten Arztes, den sie suchte. Sie riß an der Haustürklingel, und mit eiligen Sätzen sprang sie die Treppe zu der Wohnung empor. Es war das erste Mal, daß Leni solch ein Miethaus betrat; ihre Freundinnen wohnten alle in Landhäusern. Ein sauberes Stubenmädchen öffnete.

»Ich möchte Mr. Humpty sprechen,« sagte Leni, sich in die Höhe reckend, mit möglichst ruhiger Stimme.

»Ich bedaure, es ist keine Sprechstunde mehr,« erwiderte das Mädchen freundlich.

Leni war's, als ob sich ein schweres Eisengewicht an ihr eben noch hoffnungsvoll schlagendes Herz hänge.

»Ich muß ihn sprechen – ich muß,« stieß sie erregt aus, »Lizzie« – es kam ihr zum Bewußtsein, daß das Mädchen unmöglich wissen konnte, wer Lizzie sei – »das Kind muß sonst sterben!«

Das einfache Mädchen empfand die Seelenangst, die aus Lenis Worten sprach.

»Mr. Humpty ist in seiner Klinik; das ist weit von hier, aber ich will ihn telephonisch anrufen,« setzte sie gutherzig hinzu.

Leni atmete auf und trat in den Vorraum.

Ach, dauerte das eine Ewigkeit vom ersten Anruf bis zum Schlußzeichen.

»Er ist bereits wieder unterwegs und macht Besuche,« lautete endlich der wenig tröstliche Bescheid.

Langsam und schwerfällig schlich Leni die Treppe hinab, die sie noch vor kurzem leichtfüßig emporgesprungen war. Also hatte sie den weiten Weg umsonst gemacht! Wenn der Arzt nicht von selbst kam, half niemand Lizzie!

Es mußte stark auf Mittag gehen. Die Schwüle in den Straßen hatte sich fast bis ins Unerträgliche gesteigert.

Wie kam sie nun wieder nach Haus? Geld zum Fahren hatte sie ja nicht; sie mußte versuchen, immer den Omnibussen nachzugehen. Das war eine schwierige Sache.

Der Magen, der am Morgen nicht sein Recht bekommen hatte, begann nun auch knurrend sich zu melden. Ach, wenn sie doch nur ein paar Pence bei sich gehabt hätte! Da waren die Lyons, hier die A B C, wo es leckere Brötchen gab. Und ob es auch tausendmal shocking war, dort allein hineinzugehen, Hunger tat weh. Aber sie hatte ja keinen Penny!

Wie lange war sie denn wohl schon gegangen? Es fehlte ihr jede Zeitbestimmung. Zu Hause saßen sie sicher schon beim Lunch.

Leni fühlte plötzlich einen Stich durchs Herz. Man würde sie vermissen! Kein Mensch wußte, wo sie geblieben war; zu der einen schweren Sorge hatte sie leichtsinnig noch eine neue gehäuft!

Ihr erster selbständiger Schritt erschien ihr mit einem Male in einem ganz anderen Licht, gar nicht mehr harmlos. Sie begann zu laufen, bis Füße und Lungen den Dienst versagten.

Jetzt stand sie an der Towerbrücke. O weh, diese war aufgezogen; hohe Schiffe fuhren gerade hindurch. Das bewegte Treiben auf dem breiten Flusse, das sie sonst stets mit Entzücken beobachtet hatte, sah sie heute nicht; sie starrte in die graugelben Fluten. Wie zähes Blei wälzte der Strom sein Wasser langsam dahin.

Sie wußte nicht, wie sie schließlich nach langem Kreuz- und Querirren, nach vielem Hin- und Herfragen wieder in die bekannte Pappelallee gekommen war. Die starke Erregung der Nacht, die Übermüdung, der Hunger und die drückende Temperatur hatten sie ganz stumpf und gleichgültig gemacht. Sie fürchtete sich nicht einmal mehr vor dem Heimkommen.

Am Gartentor standen der Onkel, die Miß, Bobby und Fox. Laut kläffend sprang der kleine Terrier ihr entgegen. Die Miß empfing sie mit einer berechtigten Strafrede. Bobby fletschte lachend seine großen Zähne und brummte etwas von »ausreißen« und »anbinden«. Onkel Richard aber zog sie wortlos in die Arme. Ganz still lag Lenis Kopf an seiner Schulter; sie wagte nicht, die Frage nach Lizzie zu tun.

Da berührte plötzlich ein seltsamer Laut ihr Ohr. War es ein Lachen, ein Schluchzen, oder beides zugleich?

Zum erstenmal zog die Tante ihre Nichte liebevoll ans Herz.

»Lizzie lebt – Lizzie wird gesund, ganz gesund, Kind!« Des Onkels Augen schimmerten feucht.

Leni hatte noch nie einen Mann weinen sehen. Dieser Anblick griff ihr gewaltig an das Herz. Die jähe Freudenbotschaft, dazu ihre körperliche und seelische Abspannung, alles das löste sich in einem heißen Tränenstrom aus.

Endlich hob sich ihr wirrer Kopf wieder von des Onkels Brust.

»Vor zwei Stunden etwa« – Onkel Richard führte Leni sorgsam zärtlich wie ein Baby ins Haus – »ist die Krisis eingetreten, und mit ihr das Fieber gleich um mehrere Grade gesunken. Ach, diese Stunden, diese Stunden!« Es ging wie ein Ruck durch die kraftvolle Männergestalt. »Dann kam Mr. Humpty; er hat das Kind eingehend untersucht. Die Kraft der Krankheit sei nun gebrochen, die Gefahr vorüber, meinte er, und das Knieleiden – ach Kind, ich wage es gar nicht zu hoffen – das sei heilbar, sagte er! Er habe schon mehrere solche günstig verlaufenden Fälle gehabt. Lizzie soll später in seiner Klinik eine leichte Operation durchmachen; sie wird richtig gehen lernen wie andere Kinder. O, mein Himmel, es ist ja zuviel des Glücks!«

Leni schritt wie im Taumel dahin; eine nie gekannte Seligkeit sprengte ihr fast die Brust. Dreimal mußte Onkel Richard fragen, wo sie denn gewesen sei.

»Ich war bei Mr. Humpty; er kam ja gar nicht, und – ich wollte Lizzie retten.« Ein wenig unsicher sah Leni zum Onkel auf.

Der aber klopfte ihr gerührt die Wange. »Du liebes, böses Kind, wie habe ich mich um dein Ausbleiben gesorgt!«

Da fühlte sich Leni plötzlich von weichen Armen fest umfangen; sie blickte in Tante Janes leuchtende Augen.

»Das hast du getan, Kind, für Lizzie? O my dear little one!«

Zum ersten Male zog die Tante ihre Nichte ans Herz.



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