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Schwere Tage

Das Befinden der kleinen Hella bereitete Pucki immer neue Sorgen. Wenn nur erst die Krise vorüber wäre! Aber damit war nicht vor mehreren Tagen zu rechnen. Doktor Gregor tat alles, was in seinen Kräften stand. Wenn ihn Pucki dann aber gar so angstvoll anschaute, hielt er ihren Blick nicht aus.

Sie besuchte häufig ihre kleine Nichte, da sie wußte, daß sich Hella über ihre Anwesenheit freute. Der Ausdruck des Kindergesichtes war viel glücklicher, wenn Tante Pucki am Bett saß, als wenn die eigene Mutter diesen Platz einnahm.

Hinter Pucki lag eine unruhige Nacht. Einmal war Mabel erwacht; sie hatte wieder von den Eltern geträumt und bitterlich geweint, so daß Pucki das Kind in ihr Bett nahm. Erst der tröstliche Zuspruch, daß Mabel ihr viertes Kind sei und sie alle ihre Kinder, wenn ihnen weh ums Herz war, in ihr Bett genommen und getröstet habe, ließ Mabels Tränen versiegen. Aber Pucki selbst hatte nach dem Einschlafen der Kleinen unruhige Träume.

So begab sie sich zeitig am Morgen hinüber in die Klinik, um behutsam nach Hella zu sehen. Da Claus zur Zeit in der Klinik schlief, sah ihn Pucki häufig erst in den späten Vormittagsstunden, wenn sie ihn aufsuchte, um wichtige Angelegenheiten mit ihm zu besprechen.

Sehr vorsichtig drückte sie die Klinke nieder, um ins Zimmer zu gehen, in dem Hella und ein anderes kleines Mädchen lagen. Noch schliefen beide, und so entfernte sich Pucki wieder geräuschlos. Sie ging den langen Flur entlang und blieb plötzlich stehen. Das war doch die Stimme ihres Mannes? Doch er sprach heute nicht in seinem gewohnten gütigen Tone, seine Stimme klang hart und streng.

Pucki lauschte. Claus war im Zimmer Nummer 2, in einem der am besten eingerichteten Räume, die die Klinik aufwies. Sie wußte nicht, wer in diesem Zimmer lag, aber sie hörte aufs neue die erregte Stimme des Gatten.

»Ich untersage Ihnen die ständige Klingelei während der Nacht. Es wird alles getan, was wir für Sie tun können. Nehmen Sie doch endlich Rücksicht auf die anderen Patienten und auf die Schwestern. Wenn Sie die Nachtschwester in der kommenden Nacht wieder sechsmal herausklingeln, werde ich Ihre Glocke nachts abstellen lassen.«

»Das wäre ja noch besser! Sie scheinen zu vergessen, daß ich ein kranker Mann bin. Man hat Ihre Klinik sehr gelobt, aber so etwas ist mir noch nirgendwo geboten worden.«

»Seien Sie zufrieden und glücklich, daß Sie die schwere Operation so gut überstanden haben und sich auf dem Wege der Genesung befinden, Herr Walzenhorn. Und nun gedulden Sie sich, bis das Frühstück kommt. Es dauert nur noch eine Viertelstunde.«

Anscheinend näherte sich Doktor Gregor der Tür. Pucki hörte die erregte Stimme des Kranken. »Weglaufen wollen Sie, wo ich noch so viel zu fragen habe?«

»Ich habe keine Zeit mehr für Sie!«

Pucki verkrampfte erschrocken die Hände. Ihr Claus hatte keine Zeit für einen Patienten? Ihr guter, langmütiger Claus, der sonst niemals die Geduld verlor, der immer von gleichbleibender Freundlichkeit war, den man in der ganzen Gegend den liebevollsten und geduldigsten Arzt nannte, hatte heute keine Zeit? Pucki hörte die mit schriller Stimme gesprochenen Worte des Patienten, der ständig wiederholte:

»Das ist ja eine schöne Wirtschaft! – Und solch eine Klinik hat man mir empfohlen? Ich werde die Schwester herbeiklingeln, denn ich kann nicht länger warten.«

»Die Schwester kommt in einer Viertelstunde mit dem Frühstück, bis dahin gedulden Sie sich.«

»Ich habe ein Anrecht auf gute und rücksichtsvolle Behandlung, ich werde nicht warten! Ich werde so lange klingeln, bis man mich bedient.«

Pucki fürchtete einen neuen Zornesausbruch ihres Gatten, aber dessen Stimme klang plötzlich ganz ruhig. Sie hörte wieder seinen warmen, zu Herzen gehenden Ton:

»Herr Walzenhorn, ich bitte Sie noch einmal, denken Sie an den schweren Beruf einer Krankenschwester. Ich weiß sehr wohl, daß Sie überaus nervös sind, aber ein wenig müssen Sie trotzdem Rücksicht nehmen. Wir tun alles, um die Patienten zu befriedigen und zu erfreuen. Wenn Sie mit mir nicht zufrieden sind, so zeigen Sie wenigstens den Schwestern, daß Sie ein vernünftiger Mann sind und Verständnis für die Angestellten meiner Klinik haben. Sie werden sich das überlegen und ein Weilchen warten.«

»Ich werde nicht warten!«

»Das Frühstück kommt in einer knappen Viertelstunde. Alles Klingeln wird Ihnen nichts mehr nützen, denn ich lasse die Klingel abstellen, da ich sehe, daß Sie absichtlich Unruhe stiften wollen. Meine anderen Patienten haben ein Recht auf Ruhe.«

Pucki hörte den Schritt des Gatten näherkommen und entfernte sich ein wenig von der Tür. Da wurde sie geöffnet und deutlich vernahm Pucki wieder das laute Zetern des Patienten. Rasch warf sie einen Blick auf den Gatten, der sie noch nicht bemerkt hatte. Mehrmals strich er sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er dadurch seinen Ärger verscheuchen.

»Ach du, Pucki«, sagte er. »Hast du nach Hella gesehen?«

»Ja, sie schläft noch.«

»Das Kind hat eine unruhige Nacht gehabt. Ich werde die kleine Irene in ein anderes Zimmer betten lassen. Sie wurde nachts mehrmals durch Hella gestört. Das darf nicht sein.«

»Hast du schon gefrühstückt? Hast du ein wenig Zeit für mich?«

»Ich glaube, in meinem Zimmer steht das Frühstück.«

Pucki hängte sich in den Arm des Gatten, der mit ihr in sein Sprechzimmer ging. Dort war gerade eine der Schwestern dabei, dem Arzt das Frühstück zu richten.

»Wenn Nummer 2 in der nächsten Viertelstunde klingelt, braucht niemand hineinzugehen«, sagte Doktor Gregor hart. »Herr Walzenhorn kann seine Wünsche anbringen, wenn er sein Frühstück bekommt. Nicht eher!«

Als die Schwester gegangen war, fragte Pucki nach dem Patienten von Nummer 2. Claus zwang sich zu einem ärgerlichen Lachen.

»Ein sehr schwieriger Patient! Er hat eine schwere Operation hinter sich, ist jetzt aber außer Gefahr und macht sich unleidlich.«

»Ich hörte, wie du ihn gescholten hast.«

»Ja, ja, Pucki«, lachte Claus, »das kommt auch vor. Selten, aber doch! Und hier ging es nicht anders. Er läßt die Schwestern Tag und Nacht nicht in Ruhe, er klingelt beständig. Hörst du das andauernde Schnurren der Glocke? Das ist er schon wieder.«

»Du hast mir noch nichts von diesem Patienten erzählt.«

»Liebe Pucki, hast du nicht genügend eigene Sorgen? Du trägst tapfer die deinen, ich trage die, die mir mein Beruf bringt.«

»Wir gehören doch zusammen, Claus.«

»Freilich, Pucki. In einer guten Ehe, wie wir sie führen, würde ich jeden Kummer, jedes Leid, das uns gemeinsam betrifft, mit dir teilen. Aber die Klinik braucht dich nicht auch noch zu bekümmern.«

»Ach, Claus, ich dachte, bei dir geht jetzt alles glatt. Jeder liebt dich, jeder schätzt dein Können, überall behauptet man, es gäbe keinen besseren Arzt als dich. Was will dieser unleidliche Mensch von dir?«

»Seine Brieftasche!«

»Hast du diese Brieftasche? So gib sie ihm doch, damit er stille ist.«

Claus umfaßte seine Frau zärtlich. »Er bekommt sie jeden Tag aufs neue.«

»Ich würde ihm die Brieftasche belassen. Vielleicht hat er eine größere Summe darin und ist in Sorge um diesen Betrag.«

»Wenn das so einfach wäre! Dieser Herr Walzenhorn gab mir, ehe er sich der Operation unterzog, seine Brieftasche. Nachdem dann die ersten schlimmen Tage vorüber waren, verlangte er sie zurück und legte sie unter sein Kopfkissen. Nachts wälzt er sich herum; natürlich rutscht die Brieftasche tiefer oder fällt gar aus dem Bett heraus, und er findet sie nicht an derselben Stelle. Anstatt aber erst einmal gründlich nachzusehen, klingelt er wie ein Besessener, weil er glaubt, jemand habe ihm während des Schlafes die Brieftasche entwendet. Die Gallenblase habe ich ihm herausoperiert; ich wünschte, ich könnte ihm auch den Brieftaschenfimmel gründlich herausschneiden.«

»So soll er sich die Brieftasche an einem Bande um den Hals hängen, dann braucht er sich nicht mehr unnötig aufzuregen.«

»Der Mann ist krankhaft nervös, und die Brieftasche ist sein besonderer Fimmel. Ich habe schon mehrmals energisch mit ihm geredet, aber weder im Guten noch im Schlimmen ist mit diesem Manne etwas anzufangen.«

»Ja, Claus, ich hörte, daß du sehr streng mit ihm sprachst.«

»Er ist glücklicherweise außer Gefahr. Aus diesem Grunde habe ich ihm auch das fortwährende Klingeln untersagt. – Aber lassen wir den unleidlichen Mann. In zehn Tagen ist er so weit, daß ich ihn entlassen kann. Das wird ein Freudentag für die ganze Klinik sein.«

»Dabei hast du ihm das beste Zimmer gegeben.«

»Er hat es verlangt.«

»Ist in der Brieftasche viel Geld? Vielleicht sorgt er sich um den Betrag.«

»Freilich ist viel Geld in seiner Brieftasche. Es ist furchtbar leichtsinnig von ihm, diesen riesigen Betrag mit sich herumzutragen. Aber er will mir das Geld nicht anvertrauen, er will es bei Tage und bei Nacht behalten.«

»Erinnerst du dich daran, Claus, daß in Zimmer 2, unserem schönsten Zimmer, schon einmal ein Patient lag, der dir auch sehr viel zu schaffen machte?«

»Freilich, Pucki! Es war unser allererster Patient; es war dein Freund, Herr Wallner, der am Blinddarm operiert wurde und der dir in Eisenach, als du zum ersten Male hinaus in die Fremde gingst, so viel Ärger bereitete. An ihn denke ich noch sehr oft. Nun ist der alte Herr längst tot, aber ein liebes Gedenken bewahren wir ihm heute noch, zumal er sich in den letzten Jahren seines Lebens änderte.«

»Ja, Claus, er hat mir zwar manche schwere Stunde bereitet, aber so schlimm war er scheinbar nicht wie dieser Herr Walzenhorn, mit dem du dich jetzt herumärgern mußt.«

»Eine gewisse Ähnlichkeit habe ich zwischen den beiden Männern auch schon feststellen können.«

»Wallner – Walzenhorn – das sind zwei böse W's. Du wirst keinen Kranken mehr nach Zimmer 2 legen dürfen.«

Claus lachte. »Ich bin nicht abergläubisch. In Nummer 2 haben schon sehr viele nette Menschen gelegen.«

»Hoffen wir, Claus, daß der nächste alles wieder gutmacht, was dieser garstige Mann an Ärger gebracht hat.«

»Kleine, liebe Frau, mach dir darum keine Sorgen!«

»Es tut mir trotzdem sehr leid, Claus, daß du Ärger hast!«

Doktor Gregor sprang hastig auf. »Was willst du?« fragte Pucki.

»Etwas Watte zwischen das Klingelbrett und den Stöpsel stecken. Wenn auch die Klingelanlage nur leise schnurrt, mich macht dieses Geräusch doch langsam nervös. – Hörst du es nicht? Seit unserer Unterhaltung klingelt Nummer 2 dauernd.«

»Vielleicht will er durchaus etwas haben. Soll ich einmal zu ihm gehen?«

»Pucki, ich warne dich! Ich möchte nicht, daß auch du noch verärgert wirst. Herr Walzenhorn bekommt in wenigen Minuten sein Frühstück. Dann wird er sich schon beruhigen.« Da betrat Krankenschwester Maria das Zimmer, um Doktor Gregor zu einer Patientin zu rufen. Rasch trank Claus seinen Kaffee aus, drückte Pucki die Hand und eilte davon.

Pucki hielt die Schwester zurück. Es wollte ihr scheinen, als habe Schwester Maria verweinte Augen. Oder hatte sie Nachtwache gehabt und war nur übermüdet?

»Es gibt wohl viel Arbeit in der Klinik?« fragte Pucki freundlich.

»Glücklicherweise ja, Frau Gregor. Bis auf ein Zimmer ist alles belegt.«

»Haben Sie auch mit Nummer 2 zu tun, Schwester Maria?«

Über das Gesicht der Pflegerin lief ein Zucken. »Ein sehr schwieriger Herr!«

»Mein Mann hat den Patienten soeben gründlich ausgescholten.«

»Man soll nicht klagen, Frau Gregor, aber mitunter ist es fast unerträglich. Heute früh um sechs Uhr hat Herr Walzenhorn verlangt, ich solle die Polizei holen, weil ich ihm die Brieftasche entwendet hätte. Als ich ihm die Kisten aufschüttelte, fand sich natürlich die Brieftasche. Aber der Patient behauptet nach wie vor, daß ich sie gehabt und erst auf seine Drohung hin wieder ins Bett gelegt hätte.«

»Darüber brauchen Sie sich aber doch nicht zu ärgern, Schwester Maria.«

»Herr Walzenhorn darf seit gestern aufstehen. Er wird mit anderen Patienten zusammenkommen und von dem angeblichen Diebstahl erzählen. Ich kenne ihn.«

»Mein Mann kennt Sie genau, Schwester Maria. Grämen Sie sich nicht. Auch dieser schwierige Patient geht einmal fort.«

»Noch zehn Tage«, seufzte die Schwester. »Wenn sie doch erst vorüber wären!« –

Gedankenvoll kehrte Pucki in ihre Wohnung zurück. Es gab wohl kein Leben, das nur lauter Sonnenschein war. Wenn man mit vielen Menschen zusammenkam, hörte man überall von Leid und Kummer. Mancher ertrug es still, mancher machte viel Aufhebens davon.

»Wie glücklich, wie dankbar muß ich sein«, dachte Pucki, »daß ich, seit ich im Sommer meines Lebens stehe, von allzuschweren Schicksalsschlägen verschont geblieben bin. Zwar habe ich sie auch schon kennengelernt. Eberhard und Mary hätten so jung nicht zu sterben brauchen! Aber ich will an das schöne Wort denken: ›Wollest mit Freuden, wollest mit Leiden mich nicht überschütten, doch in der Mitten liegt stilles Bescheiden.‹ So will ich es halten«, sagte Pucki leise, »so soll es auch in Zukunft sein. Ich habe meinen lieben Mann, habe drei gute Kinder: es wäre schlecht von mir, wenn ich klagen wollte!«

Kurz nach dem Mittagessen kam Agnes. Pucki wurde das Herz wieder recht schwer, als ihr Agnes einen neuen Hut zeigte, den sie sich aus Rotenburg mitgebracht hatte.

»Meine Freundin sagte, ich könnte den vorjährigen unmöglich noch tragen. – Wie geht es Hella?«

Pucki empfand es bitter, daß die Schwester zunächst an den neuen Hut und dann erst an ihr krankes Kind dachte. Sie gingen hinüber in die Klinik. Dort spielte Agnes allerdings die zärtliche Mutter. Wahrscheinlich kam ihr die Sorge um das Kind sogar von Herzen, denn immer wieder bat sie die Schwester, alles zu tun, damit Hella bald wieder gesund würde.

»Den ungezogenen Bengel, den Magnus, möchte ich heute mitnehmen. Aber wenn ich etwas davon sage, versteckt er sich wieder«, sagte Agnes.

»Laß ihn mir noch bis morgen«, bat Pucki. »Ich habe eindringlich mit dem Knaben gesprochen, und ich glaube, daß er morgen freiwillig mit dir geht.«

»Eigentlich müßte ich eifersüchtig auf dich sein, Pucki.«

»Sei ihm eine gute Mutter, liebe Agnes, und sein Herz wird zuerst dir gehören.«

Agnes entfernte sich bald wieder. Es war ihr peinlich, wenn die Schwester Fragen nach dem Gatten und ihrem Hauswesen stellte.

»Helfen kann ich hier doch nichts, morgen komme ich wieder«, sagte Agnes. »Macht mir nur meine Hella bald wieder gesund!«

Dann war Agnes gegangen; sie hatte mit Magnus nur wenige Worte gewechselt. Um so länger sprach Pucki mit dem Knaben. Sie versuchte, das Verhalten seiner Mutter in ein möglichst günstiges Licht zu stellen. Pucki erklärte ihm, daß eine Gutsfrau sich um viele Dinge zu kümmern hätte und unmöglich so viel mit ihren Kindern spielen könne wie eine andere Mutter.

»Zu dir darf man aber immer kommen, Tante Pucki, du hast immer Zeit.«

»Ich bin ja auch keine Gutsfrau«, erwiderte Pucki, schlug aber bei diesen Worten die Augen nieder. Sie dachte daran, daß auf ihr augenblicklich viel mehr Arbeit und Verantwortung lasteten als auf Agnes, die ihren Haushalt nicht in Ordnung hatte. Pucki versuchte dem Knaben einzureden, daß es in Zukunft zu Hause viel schöner sein werde als bisher, weil die Mutti so viele Sorgen um Hella ausgestanden hätte und nun ihre Kinder doppelt liebhaben würde. So erklärte sich Magnus schweren Herzens bereit, am morgigen Tage von Tante Pucki zu scheiden, um wieder ins Elternhaus zurückzukehren.

»Auch dein Vati hat Sehnsucht nach dir, Magnus! Du hast jetzt Ferien und kannst mit ihm durch die Felder gehen. Das wird dir viel Freude machen.«

Magnus sah zwar nicht recht froh aus, aber Tante Pucki wünschte, daß er wieder heimging. Also blieb ihm nichts anderes übrig.

»Wenn ich aber auch einmal so krank werde wie Hella, darf ich dann wiederkommen? – Ach, das wäre schön!«

»Magnus, man wünscht sich keine Krankheiten! Ich hoffe, daß du recht gesund bleibst. Ihr kommt ja öfters zu uns, und zu Hause wird es auch sehr schön werden.« – –

Am nächsten Tage war man in der Klinik in großer Unruhe und Sorge. Hellas Befinden hatte sich von Stunde zu Stunde verschlimmert. Doktor Gregor hielt es für angebracht, die Eltern zu benachrichtigen. Sie kamen beide und machten einen niedergeschlagenen Eindruck. Besonders Walter war sehr besorgt. Ob er sich sagte, daß seine Frau eine Mitschuld an der schweren Erkrankung Hellas trug? Agnes weinte am Bett ihres Kindes, das in schwerem Fieber lag und die Eltern nicht erkannte.

»Ach, Pucki«, sagte Agnes später schluchzend, »es kann doch nicht möglich sein, daß mir Hella genommen wird. – Es wäre meine Schuld! – Nur das nicht! Ich könnte Walter nicht mehr in die Augen sehen!«

»Walter macht dir keine Vorwürfe«, tröstete Pucki.

»Nein«, sagte Agnes zögernd, »er ist ja gut zu mir; er merkt wohl, in welcher Unruhe ich lebe. – Aber es ist doch nun einmal meine Schuld.«

»Ja, Agnes, es ist leider deine Schuld! Ich hoffe aber, daß die Strafe für dein unüberlegtes Verhalten nicht zu schwer wird.«

»Pucki, ach Pucki – ich bin furchtbar unglücklich! Glaube mir, ich habe meine Kinder lieb. Wenn Magnus heute mit uns kommt, will ich geduldig und freundlich mit ihm sein.«

»Ja, Agnes, der Knabe braucht viel Liebe!«

Magnus wurde von den Eltern mit nach Hause genommen. Er unterdrückte tapfer die aufsteigenden Tränen, als er von Tante Pucki Abschied nahm. Scheu blickte er zur Mutter auf, die heute herzliche Worte für ihn fand.

Gegen Abend saß Doktor Gregor am Bett der kleinen Hella; dann rief er erneut auf dem Gute an. Es ginge noch immer sehr schlecht, er wisse nicht, was die Nacht bringen werde, berichtete er. Pucki kam, als sie die Kinder zu Bett gebracht hatte, nochmals in die Klinik. Ihre Augen füllten sich beim Anblick der kleinen Hella mit Tränen.

»Werden wir sie verlieren, Claus?«

»Das wird der morgige Tag zeigen.«

»Soll ich hierbleiben?«

»Nein, Pucki, Schwester Charlotte wird die Nacht über wachen, und ich bin ja auch da.«

Auch in dieser Nacht schlief Pucki sehr unruhig. Am frühen Morgen rief Claus an, daß der Zustand noch unverändert sei. Die Nacht wäre unruhig verlaufen. Die nächsten Stunden würden die Entscheidung bringen. Pucki gab der Schwester Bescheid. Agnes wollte sofort kommen.

Aber kurz vor ihrem Fortfahren fand sich ihre Freundin, Frau Wieland aus Rotenburg, ein, die mit Agnes eine Autofahrt für den kommenden Tag verabreden wollte. Agnes lehnte ab: Sie habe ein krankes Kind und müsse nach Rahnsburg. Die Freundin meinte zwar, daß das Kind ja in den allerbesten Händen sei, aber Agnes ließ sich dieses Mal nicht umstimmen. Die Ermahnungen Puckis waren schließlich doch auf einen fruchtbaren Boden gefallen.

Noch während Agnes mit ihrer Freundin Frau Wieland sprach, betrat das Hausmädchen das Zimmer mit dem Bemerken, daß Magnus in einen der hohen Lindenbäume, die hinter dem Gutshause ständen, gestiegen und von dort heruntergestürzt sei. Ein morscher Ast habe das Unglück wohl verschuldet.

»Ist etwas geschehen?« fragte die Mutter angstvoll.

»Der Knabe weint furchtbar.«

»Ach, Agnes, was hast du für Unruhe mit deinen schrecklichen Kindern«, sagte Frau Wieland ärgerlich über die Störung. »Man muß Kinder nicht so verziehen. Man hat doch ein Recht an sich selbst und kann nicht nur für die Kinder da sein.«

»Entschuldige mich, ich muß hinaus.« Agnes ließ die Freundin stehen, die verärgert heimging. Sie eilte rasch zu dem Knaben, der entsetzlich stöhnte. Er schrie laut auf, als man ihn vom Boden aufhob. Fuß und Knie bereiteten ihm unsägliche Schmerzen.

»Wo tut es dir weh? Hast du dir das Bein gebrochen?« fragte Agnes den Knaben.

Da hörte das Stöhnen ganz plötzlich auf. Ein gespannter Ausdruck trat in die Augen des Knaben. »Hier tut es weh«, sagte er und wies auf den Fuß. »Ich bin krank. – Komme ich nun zu Onkel Claus und zur guten Tante Pucki? Kann ich für lange Zeit bei Tante Pucki bleiben?«

Agnes hatte ein Gefühl, als träfe sie ein Peitschenschlag.

»Ach, wäre das schön«, sagte Magnus erneut, während er krampfhaft die Tränen verbiß. »Bringe mich doch zu Onkel Claus, dann soll Tante Pucki kommen, sie wird an meinem Bett sitzen und mich pflegen.«

Agnes wandte sich ab. Der Knabe durfte die Tränen nicht sehen, die ihr in die Augen traten. Puckis Worte waren in ihrem Gedächtnis geblieben, sie litt innere Qualen, wenn sie an die schwerkranke Hella dachte, aber der Ausdruck im Gesicht ihres Knaben, der ihr mit aller Deutlichkeit sagte, daß Gregors den ersten Platz in seinem Herzen einnahmen, wirkte geradezu vernichtend auf sie.

Was mußte sie für eine schlechte Mutter sein, daß ein Kind trotz heftigster Schmerzen nur den einen Wunsch hatte, zu anderen Menschen zu kommen, die seinem Herzen näher standen als die eigene Mutter.

Agnes rief sofort in Rahnsburg an. Der Krankenwagen wurde geschickt, ein Wärter holte Magnus ab, und seine Mutter begleitete ihn.

Claus stellte sehr rasch einen Bruch des Knöchels und eine Kniescheibenverletzung fest.

»Es tut wohl ein bißchen weh«, sagte er zu Magnus, »aber dich werden wir schon wieder gesund machen.«

»Dauert es lange, Onkel Claus?«

»Nun, ein ganzes Weilchen mußt du schon bei uns bleiben. Das kommt vom Klettern.«

»Ach, Onkel Claus, ich weine ja nicht mehr, ich bin ja so froh, Onkel Claus. – Kommt Tante Pucki nun auch bald zu mir?«

Als Claus in das glückliche Kindergesicht sah, ahnte er, was in der Seele dieses Knaben vorging. – –

Frau Niepel weilte nur einige Augenblicke bei Hella, dann suchte sie Pucki auf. Schluchzend umfaßte sie die Schwester.

»Pucki – das ist zuviel für mich! – Das ertrage ich nicht! – Pucki, was habe ich denn getan, daß ich so furchtbar gestraft werde?«

»Ich glaube, dein Gewissen wird dir diese Frage beantworten. Du fühlst es in dieser traurigen Stunde selbst, liebe Agnes, daß du bisher keine gute Mutter gewesen bist. Auch sonst hast du deine Pflichten nicht erfüllt. Aber du bist ja noch jung, du kannst alles ändern.«

»Nein, Pucki, es ist zu spät! Ich habe die rechte Zeit versäumt. Eine innere Stimme sagt mir, daß ich Hella verlieren werde.«

»Claus hofft, das Kind am Leben zu erhalten.«

Aber Agnes ließ sich nicht so rasch trösten. Immer wieder machte sie sich die heftigsten Selbstvorwürfe. Die Tränen, die sie vergoß, waren echte Tränen der Reue. So hatte Pucki die Hoffnung, daß die schwere Prüfung, die Agnes jetzt durchmachen mußte, dazu beitragen werde, die Schwester zur Besinnung zu bringen, damit ihr Leben an der Seite ihres Mannes eine glückliche Zukunft erhoffen ließ.

Agnes wollte den heutigen Tag über im Doktorhause verbringen, um dauernd über das Befinden Hellas Bescheid zu haben. »Rufe Walter an«, bat sie, »es ist mir jetzt unmöglich, heimzufahren. Behalte mich bei dir, du kannst so gut trösten, Pucki. Möge mir der liebe Gott meine Hella erhalten, dann soll alles anders werden, das verspreche ich dir.«

»Mach dir nicht gar so schlimme Gedanken, Agnes, der liebe Gott ist barmherzig. Wenn er deine ehrliche Reue sieht, wird er dir dein Kind lassen.«

»Pucki, gehe hinüber und frage, wie es mit Hella steht.«

Pucki erfüllte der Schwester den Wunsch. Sie fand den Gatten im Zimmer des kranken Kindes. Noch konnte er seiner Frau keinen bestimmten Bescheid geben, aber weil auch er das Schlimmste befürchtete, benachrichtigte er Walter Niepel, der sofort in die Klinik kommen sollte.

Bange Stunden vergingen. Pucki und Agnes waren viel bei Magnus, der tapfer alle seine großen Schmerzen ertrug und immer glücklich seine geliebte Tante Pucki anlächelte.

»Ich bin so froh, daß ich bei dir sein kann; ich bleibe jetzt sehr lange bei euch!«

Dann kam endlich die Stunde, die Erlösung aus allen Zweifeln brachte. Agnes war vor Ermüdung in einen leichten Schlaf gefallen. Man ließ sie schlummern, niemand wollte sie wecken. Als dann aber aus der Klinik die Botschaft kam, daß Hella in einen ruhigen und erquickenden Schlaf gesunken sei, so daß man hoffen könne, das zarte Leben zu erhalten, weckte Pucki die Schwester.

»Du darfst hoffen, Agnes, ich glaube, das Schwerste ist nun überstanden.«

Agnes drückte das Gesicht in ihre Hände. »Pucki«, sagte sie unter Tränen, »wenn mir Hella erhalten bleibt, wenn auch Magnus keinen Schaden davonträgt, will ich anders werden. Eine andere Frau, eine andere Mutter! Von dir will ich lernen! Du sollst immer vor mir stehen als leuchtendes Beispiel! Ich habe endlich erkannt, was ich versäumte. Pucki, ach Pucki, hilf mir, daß ich die Liebe meiner Kinder wieder erringe. Sage es auch Walter, daß er mir vergeben möge.«

»Sprich dich mit ihm aus, Agnes! Vertrauen in der Ehe ist die Hauptsache! Auch ich habe seinerzeit zu Claus vollstes Vertrauen gehabt, ich habe ihm alle meine Fehler ehrlich bekannt, und das wurde der Grundstein unseres Glückes. – Mache es ebenso! Laß allen falschen Stolz beiseite, sage ihm, wie es dir ums Herz ist, dann kommt auch zu euch das Glück, das du so lange entbehrt hast.«

Agnes hielt die Schwester umschlungen. »Sprich weiter zu mir«, bat sie leise, »sage mir, wie du bist, damit ich werde wie du!«

Pucki wehrte ab. »Meinst du, ich hätte keine Fehler und Schwächen? Aber ich habe einen große, heilige Liebe zu meinem Manne und zu meinen Kindern. Eine Liebe, die bereit ist, jedes Opfer zu bringen und das eigene Ich hintan zu stellen.«

»Ja, Pucki, ich will es auch lernen!« – –

Als Walter kam, ließ Pucki die beiden Eheleute allein. Sie wußte nicht, was zwischen ihnen gesprochen wurde, wollte es auch nicht wissen, aber an ihren glücklichen Augen sah sie später, daß sich die beiden endlich gefunden hatten.

Hella schlief der Gesundung entgegen. Noch mußte man sie in strengster Obhut haben, denn die geringste Nachlässigkeit konnte die furchtbarsten Folgen haben. Aber Claus und die tüchtigen Pflegeschwestern sorgten dafür, daß nichts versäumt wurde.

Als Hella zum ersten Male der Mutter entgegenlächelte, war es Agnes, als öffne sich ihr ein neuer Himmel. Das kleine Mädchen schien aufzuhorchen, als die Mutter mit ihm sprach. Wie anders klangen heute ihre Worte als früher.

Auch Magnus verlangte hin und wieder nach der Mutter. Er, der Zehnjährige, überlegte schon, warum die Mutter plötzlich ganz anders geworden sei. Einmal äußerte er sogar, er wolle nun bald gesund sein, um mit der Mutti heimzugehen. Da schmiegte sich Agnes fest in den Arm ihres Mannes und sagte glücklich:

»Ich glaube, nun wird alles wieder gut werden. Hilf mir, Walter!«

*

Hellas Zustand besserte sich von Tag zu Tag. Auch bei Magnus verlief die Heilung normal, so daß man damit rechnen konnte, daß beide Kinder noch mit Ablauf des Monats ins Elternhaus zurückkehren konnten. Agnes hatte eine längere Unterredung mit Claus. Niemals verriet er seiner Frau, was zwischen ihnen gesprochen worden war; er zeigte nur ein recht zufriedenes Gesicht, und als Pucki einmal die Rede auf die Schwester brachte, klopfte er Pucki auf die Wange und sagte:

»Du hast es wieder einmal geschafft! Es ist erfreulich, daß es noch Menschen gibt, die solch guten Einfluß auf andere haben. Was du anpackst, Pucki, das gedeiht.«

Wenige Tage später kamen auch Waltraut und ihr Gatte von der Reise zurück und holten ihre drei Kinder ab.

»Ich habe dir viel zu danken, Pucki! Wie glücklich, wie gesund sehen meine drei Kinder aus. Du hast sicherlich viel Mühe und Arbeit mit ihnen gehabt, aber du bist ja ein so selbstloses Geschöpf, das nie an sich selber denkt, sondern nur darauf sinnt, anderen das Leben glücklich zu machen.«

Die drei O's kehrten freudig ins Elternhaus zurück, obwohl sie der Mutter sagten, daß es bei Tante Pucki sehr schön gewesen sei und sie in Zukunft recht oft wiederkommen wollten.

Es dauerte auch nicht mehr lange, da begann die Schule wieder, und alles kam ins alte Geleise zurück. Nur Mabel und Regine wurden für dauernd in das Gregorsche Hauswesen eingereiht. Claus und Pucki hatten sich vorgenommen, Ende August für wenige Tage nach Bremen zu fahren, damit auch dort alles in Ordnung käme. Die Möbel mußten untergebracht werden, denn die Villa stand zum Verkauf. Man hoffte in Kürze zum Abschluß zu kommen. Claus hatte viele Besprechungen mit den Anwälten, denn das riesige Vermögen, das den beiden Kindern zufiel, mußte zum Teil neu angelegt werden. Als Vormund wurde er selbst eingesetzt, wie das Eberhard und Mary seinerzeit gewünscht hatten. Noch bereitete es Schwierigkeiten, die beiden Mädchen an die neue Umgebung zu gewöhnen. Sie waren an die Großstadt gewöhnt und fühlten sich in dem kleinen Rahnsburg nicht wohl. Aber Claus hoffte zuversichtlich, daß es Pucki auch hier wieder gelingen werde, alle Sehnsüchte zum Schweigen zu bringen und den beiden Kindern die neue Heimat lieb und wert zu machen.

Für die Klinik war es ein Freudentag, als auch der unleidliche und nervöse Patient Walzenhorn das Haus verließ. Man hörte später, daß er sich dennoch sehr anerkennend über die Behandlung ausgesprochen habe; er lobte auch die Ruhe des Arztes und seine Gewissenhaftigkeit.

Claus und Pucki lachten nur dazu. Beide hatten ein gutes Gewissen, beide wußten, daß sie in nichts ihre Pflicht versäumt hatten.


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