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Dr. Gregors rechte Hand

Wie ein schöner Traum lag die Hochzeitsreise hinter den jungen Eheleuten. Das Zusammensein mit Herrn Wallner hatte Pucki überwunden, zumal Claus immer dafür gesorgt hatte, daß ihre frohe Laune erhalten blieb. Wenn sich Wolken des Unmutes auf ihrer Stirn zeigten, sagte er scherzend:

»Denke an die Patienten, wir dürfen uns keinen einzigen verscherzen.«

Sogar der Besuch in Eisenach hatte in Pucki keine Mißstimmung hervorgerufen. Die Erinnerung an das Einst schwand, als sie mit Claus durch den herrlichen alten Schloßbau ging. Nur Freude und Glück erfüllten sie.

Auf der Heimkehr leuchteten ihre Augen nicht minder hell, denn jetzt ging es ans Arbeiten und an die Erfüllung der Pflichten. Die guten Eltern hatten inzwischen das junge Heim warm eingerichtet; eine hübsche Wohnung erwartete das junge Paar. Pucki konnte es nur schwer fassen, daß sie von nun an in demselben Arzthause wohnen sollte, das sie als Kind so oft betreten hatte, um den lieben Onkel Doktor Kolbe zu besuchen.

Eine Arztfrau! – Wenn sich auch die Patienten nicht direkt an sie wandten, so kam es doch oft vor, daß die junge Frau in Abwesenheit des Arztes Auskunft geben und Trost zusprechen mußte. Daneben galt es auch zu helfen, vor allem aber dem Gatten wertvollen Beistand zu leisten.

Wenn sie daran dachte, überkam sie ein wenig Angst. Schon während der Heimfahrt schmiegte sie sich, einem verängstigten Vöglein gleich, an ihren Claus.

»Nehmen wir an, lieber Mann, es hat sich in Rahnsburg ein Autounglück ereignet und mit zerschmettertem Kopf wird uns der Chauffeur ins Haus getragen. Die Insassen haben Quetschungen und Knochenbrüche erlitten, du aber bist nicht zu Hause. – Da stehen nun die Leute im Flur, auf den Tragbahren die jammernden Verletzten. Ich laufe an den Fernsprecher und suche dich zu erreichen. – Inzwischen soll ich verbinden, Glieder schienen oder sonst etwas. Ach, Claus, was tue ich? Ich werde mir in solchen Fällen ganz bestimmt nicht zu helfen wissen, obwohl ich deine rechte Hand sein will.«

»Wir wollen hoffen, daß sich in Rahnsburg derartige schwere Unfälle nicht ereignen.«

»In der Waldstraße werden jetzt neue Häuser erbaut. Ziegel fallen vom Dach und verletzen die Straßengänger. – Schwerverletzt und zusammengebrochen werden mir die Leute ins Haus gebracht, und du bist nicht da. – Was tue ich, Claus?«

Lachend zog er seine erregte kleine Frau am Ohr. »Mache dir dein Köpfchen nicht heiß mit Dingen, die du dir ausdenkst. Warum sollte ich nicht zu Hause sein? Warum sollte so viel Unglück in Rahnsburg geschehen?«

»Du mußt in die umliegenden Ortschaften fahren, das weiß ich von Doktor Kolbe. Tagsüber werden wir nicht viel zu tun haben, aber nachts. Kaum legst du dich von anstrengender Arbeit nieder, – –«

»Da ich tagsüber nichts zu tun habe, bin ich auch nicht angestrengt, kleine Pucki.«

»Ach, Claus, ich hoffe, das Schicksal wird mit uns im Bunde sein. Ich werde zu den Rahnsburgern sehr liebenswürdig sein, damit sie gern zu uns kommen. Wir müssen versuchen, die Leute zu uns heranzuziehen.« –

»Nun, Pucki, da ich der einzige Arzt im Orte bin, bleibt ihnen ja nichts anderes übrig.«

»Oh, doch! Wenn ich einen Arzt nicht leiden könnte, würde ich bestimmt nach Kolkow oder nach Meidenburg fahren. – Na, wir werden es schon schaffen!«

Dann waren sie endlich im eigenen Heim! – Das Haus, das das junge Paar bewohnte, war alt, es wies daher keine neuzeitlichen Bequemlichkeiten auf. Aber Frau Sandler hatte im Verein mit Gregors die Wohnung des jungen Paares so traulich hergerichtet, daß Pucki auf ihr neues Heim sehr stolz war. Das schönste Zimmer war als Sprechzimmer ausgewählt worden, daneben lag ein Wartezimmer, in das Pucki vom Flur aus hineingehen konnte. Da die Küche gerade gegenüberlag, beschloß sie, ständig zwischen Küche und Wartezimmer hin und her zu eilen, damit sie die ankommenden Patienten im Auge behalten und die Ungeduldigen beruhigen konnte.

»An Tagen, an denen du viel zu tun hast, lieber Claus, koche ich etwas besonders Gutes, denn das sind für uns Feiertage. Außerdem mußt du gut essen, um bei Kräften zu bleiben. Es wird manch Aufregendes an dich herantreten, aber du hast mich, und ich bin deine rechte Hand.«

Anfangs hielt es Pucki für überflüssig, für ihren Haushalt ein junges Mädchen anzunehmen. Sie behauptete, es mache ihr zuviel Freude, alles selbst zu tun. Als ihr Claus jedoch klarmachte, daß gerade ein Arzthaushalt außerordentlich viele Anforderungen stelle, gab Pucki nach. In der siebzehnjährigen Emilie Enderling fand sie ein anstelliges junges Ding, das sich von Pucki gern und willig anlernen ließ.

»Es ist gut«, sagte die junge Hausfrau schon in der ersten Woche, »daß wir unsere Emilie haben, denn ich werde mich mehr den Patienten widmen können.«

Mit Feuereifer stürzte sie sich in diese Arbeit. Sobald zwei Wartende im Zimmer saßen, gesellte sie sich zu ihnen. Sie hielt es für ihre Pflicht, die Leute zu unterhalten.

Da war eine junge Frau, die über alles mögliche klagte.

»Ach, das alles ist gar nicht so schlimm«, sagte Pucki. »Mitunter bildet man sich nur etwas ein. Man muß den Schmerzen nicht immer nachgeben.«

Doch schon im nächsten Augenblick fiel ihr ein, daß solche Rede nicht richtig sei, zumal sie merkte, daß auch die Patientin ihre Worte mißbilligend aufnahm.

»Das ist natürlich bei Ihnen anders«, ergänzte sie rasch. »Solche Leiden, wie Sie haben, können mitunter ernst werden, wenn man nicht beizeiten zum Arzt geht. Es sind Fälle vorgekommen, da verschlimmerte sich das Leiden derart, daß – –« Wieder hielt Pucki im Sprechen inne, denn die Patientin begann heftig zu weinen.

»Glauben Sie wirklich, daß es bei mir so schlimm ist?«

Wieder mußte Pucki einsehen, daß sie durch ihr voreiliges Geschwätz mehr Schaden als Nutzen angerichtet hatte. Vielleicht hatte Claus doch recht, wenn er meinte, es sei richtiger, daß seine rechte Hand gemeinsam mit der Linken in der Küche tätig wäre und erst dann käme, wenn er sie riefe.

So verschwand Pucki auch heute wieder aus dem Wartezimmer, um beim Mittagessen Claus zu fragen, ob ihr Trost falsch oder richtig gewesen sei.

»Meine rechte Hand hat mir die Arbeit an dieser Patientin diesmal nicht erleichtert«, sagte er lächelnd. »Es ist besser, meine liebe kleine Pucki, du lernst erst eine rechte Arztfrau zu werden und hältst dich zunächst dem Wartezimmer fern. Was willst du auch dort? Die Patienten sind vollauf mit sich selbst beschäftigt oder sprechen miteinander. Außerdem liegen genügend Zeitungen und Zeitschriften aus. Also, bleibe in deiner Wohnung. Sollte ich dich einmal brauchen, so rufe ich nach dir.«

»Ich möchte dir doch so furchtbar gern helfen, Claus. Ich habe es mir wunderschön gedacht, dir beizustehen.«

»Das wird alles noch kommen, kleine Frau. Vorläufig machst du den Haushalt recht behaglich, damit ich«, fügte er scherzhaft hinzu, »nicht von Kräften komme.«

In der Wirtschaft gab sich Pucki die größte Mühe. Da die Wohnung vollkommen neu hergerichtet war und die Möbel gerade vom Tischler kamen, sah alles blitzblank aus. Die größten Schwierigkeiten bereitete ihr das Sprechzimmer des Gatten. Claus mußte seine junge Frau erst anlernen, damit sie ihm die Instrumente nicht in Unordnung brachte. Sie staunte über die vielen Zangen, Spritzen und die vielen anderen unerklärlichen Dinge. Immer wieder fragte sie, was dieses oder jenes Stück zu bedeuten habe.

»Ich muß alles genau wissen, lieber Claus, denn ich will dir doch helfen und dir eine Stütze sein. Wenn du mir eines Tages zurufst, ich soll dieses oder jenes Instrument holen, muß ich mit sicherer Hand das richtige greifen können. Ebenso muß ich die lateinischen Namen aller wichtigsten Krankheiten wissen, damit wir vor den Patienten den Namen der Krankheit nicht auszusprechen brauchen.«

Wieder lachte er belustigt, lobte aber den Eifer seiner jungen Frau und meinte, sie solle nichts unnötig beschleunigen. Im Laufe der Jahre komme ihr diese Wissenschaft von selbst.

Hin und wieder ging Pucki hinaus zu den Eltern ins Forsthaus. Sandlers freuten sich über das Glück ihrer Tochter, aber auch über die verständige junge Frau, die sich bemühte, ihren Pflichten gerecht zu werden.

»Nur vor einem ist mir bange«, sagte Pucki, »wenn nur kein Unglück geschieht und ich allein im Hause bin. Einen blutenden Mann oder eine blutende Frau – das kann ich nicht sehen. Ich weiß, ich falle sofort in Ohnmacht.«

Die Zeit verrann gar schnell. Pucki stellte fest, daß sie heute, am 19. Oktober, genau einen Monat verheiratet waren. Das mußte natürlich besonders festlich gefeiert werden! Schon am frühen Morgen ging die Geheimniskrämerei los. Der Frühstückstisch sollte festlich geschmückt sein. Sie wollte mittags ihre Kochkünste zeigen und wählte als Gericht einen Filetbraten.

Ein saftiges, gut gebratenes Filet war immerhin schon ein Beweis, daß man etwas von der Kochkunst verstand. Sie mußte gut aufpassen, damit es wirklich gelang, denn heute sollte ihr Claus den Beweis erhalten, daß sie in der Küche etwas Gutes leistete.

Die Sprechstunden am Vormittag waren um elf Uhr beendet, dann machte Claus einige Besuche bei Patienten, und um ein Uhr war das Mittagessen angesetzt. Kurz vor elf Uhr schaute Pucki ins Wartezimmer. Da saßen noch zwei Männer. Heute mußte Claus seine Besuche so einrichten, daß er ganz pünktlich um ein Uhr das Eßzimmer betrat, denn das Filet konnte unter keinen Umständen stehen, weil es sonst zähe wurde. Pucki wollte ihrem Manne für heute ganz besondere Pünktlichkeit einschärfen, und Claus konnte es gewiß so einrichten, daß er sie nicht warten ließ.

Kurz nach elf waren die beiden Männer abgefertigt. Claus betrat die Diele, um sich zum Ausgehen anzukleiden.

»Ich bitte dich dringend, am heutigen Tage ganz pünktlich heimzukommen. Heute! – Weißt du, was heute ist?«

»Natürlich weiß ich das, Pucki, der festlich geschmückte Kaffeetisch hat es mir verraten. Außerdem habe ich selbst schon daran gedacht.«

»Es kommen noch weitere Überraschungen. Bitte, finde dich ganz pünktlich um ein Uhr zum Essen ein. Du kannst einige Besuche, falls es ihrer zu viele sind, auf den Nachmittag verlegen. – Bleibst du in Rahnsburg, oder mußt du über Land?«

»Erst nachmittags, liebe Pucki.«

Pucki seufzte. »Wenn wir doch erst ein eigenes Auto hätten, Claus! Das Fahren mit dem Motorrad strengt dich an. Aber zu Weihnachten bekommen wir eins. Die Eltern legen zusammen. Wir haben auch schon Rücklagen gemacht, und dann – kaufen wir einen Wagen.«

»Gewiß, Pucki, wir fangen mit einem kleinen Wagen an, mit einem, der nicht viel kostet. Anfangs genügt ein Dreisitzer.«

»Was? – – Einer, der hinten so eine schreckliche Klappe hat?«

»Vielleicht!«

Pucki hob entsetzt die Hände. »Solch ein Wagen kommt nie in unser Haus – nie, Claus! Ich habe als Kind einmal eingesperrt in so einer Klappe gesessen.«

»Wie hast du denn das angestellt, Pucki?«

»Es sind mehr als fünfzehn Jahre her, trotzdem bleibt es unvergessen. Genau solch ein schrecklicher Wagen fuhr einmal bei Niepels vor. Fritz, du weißt, einer der Niepelschen Drillinge beschaute mit mir den Wagen. Schließlich krochen wir in die hintere Klappe. Inzwischen kam der Besitzer des Wagens, stieg ein und fuhr mit uns ab. – Wir beiden wagten nicht, uns bemerkbar zu machen. So fuhr er uns schließlich in eine Garage. Dort saßen wir die ganze Nacht über. Eine Flasche mit Himbeersaft hatten wir außerdem noch zerbrochen und waren über und über mit dem Saft beschmutzt. Nein, Claus, solch einen Wagen hasse ich!«

»Richtig, ich erinnere mich daran. Du hast mir des öfteren von der schlimmen Fahrt im Wagen des Getreidehändlers Herrschel erzählt. Nun gut, so kaufen wir, wenn ich bis dahin genügend verdient habe, einen Viersitzer.«

Pucki umarmte ihren geliebten Claus stürmisch. »Ein hellblaues Auto muß es sein. Die Farbe ist herrlich! – Hellblau mit Silber. Ich werde es auch täglich waschen – –«

»Na, na, kleine Frau!«

»Welche Marke wollen wir nehmen?«

»Ich halte es für richtiger, zunächst meine Krankenbesuche zu machen, sonst bin ich um ein Uhr nicht wieder bei dir und die Überraschungen mißglücken.«

»Du mußt um ein Uhr hier sein, Claus! Du mußt es unbedingt so einrichten. Vielleicht schon zehn Minuten vor eins, damit ich sicher weiß, daß du da bist.«

»Gut, liebe Frau! Da wir heute einen Monat verheiratet sind, will ich mich genau nach deinen Wünschen richten.«

Pucki schaute, nachdem Claus gegangen war, nochmals ins Kochbuch. Das Filet hatte noch lange Zeit. Sie konnte erst anderen Arbeiten nachgehen. Zunächst mußte noch ein wenig Ordnung im Sprechzimmer gemacht werden.

Wie glücklich war sie doch! Sie packte noch die letzten Instrumente zusammen, da ertönte draußen die Glocke. Pucki eilte zur Tür, da Emilie mit grober Arbeit beschäftigt war. Ein großer Rosenstrauß wurde für Frau Doktor Gregor abgegeben. Der war von ihrem lieben guten Claus, der ihr heute dieses schöne Geschenk machte. Ein ganzes Weilchen saß die junge Frau im Wohnzimmer bei den herrlichen Rosen und betrachtete sie voll dankbarer Innigkeit. Sah nicht alles aus, als sei das Leben ein einziger Glückstag? Claus war ein beliebter Arzt, ein tüchtiger Mensch und ein prächtiger Ehemann. – Ob sie mit Hans Rogaten, dem Jugendfreunde, auch so glücklich geworden wäre? Hans Rogaten war lustiger als ihr Claus, nahm alles leichter und hätte ihr wahrscheinlich nicht mitunter sanfte Vorwürfe gemacht wie Claus. Aber gerade diese Vorwürfe hatten dazu beigetragen, sie ernster und überlegter zu machen. Vielleicht würde sie sich an Hans Rogatens Seite anders entwickelt haben.

»Ich muß ein medizinisches Buch zur Hand nehmen und mich belehren. Wenn es nur nicht so schwierig wäre. Ich verstehe von allem so wenig. Im Seminar habe ich auch allerlei Handgriffe gelernt, aber als Arztfrau muß ich noch viel mehr wissen.«

Pucki setzte die Rosen in ihre schönste Vase, schmückte dann den Mittagstisch mit grünen Ranken, steckte in Clausens Serviette eine rote Rose und ging schließlich hinaus in die Küche, da es an der Zeit war, mit den Vorbereitungen zu beginnen.

Ein viertel vor ein Uhr erschien pünktlich Claus. Mit hochroten Wangen stand Pucki in der Küche und beobachtete den Braten. Ein Meisterwerk sollte er werden.

»Hm«, sagte Claus, der in die Küchentür trat. »Ich ahnte, daß es heute ein Festessen gibt. – Na, Pucki, bist du zufrieden mit meiner Pünktlichkeit?«

Ihre gespannte Aufmerksamkeit galt dem Braten. Nur noch wenige Minuten, dann war das Werk gelungen. Da klingelte es. Pucki schreckte zusammen.

»Claus, wir essen in drei Minuten. Mach mal auf, doch schick die Leute fort.«

Schon war er an der Tür. Pucki hörte ihn kurze Worte sprechen und vernahm eine erregte Frauenstimme. Dann wurde die Tür wieder geschlossen, Claus stand vor seiner Frau.

»Ich muß sogleich fort: ein Schlaganfall.«

»Ach, Claus! – –« Weiter sagte sie nichts. Ihr Mann war Arzt, erst kamen die Pflichten – dann das Filet.

Er hatte bereits den Hut aufgesetzt und den Mantel angezogen. Dann eilte er noch einmal ins Sprechzimmer, holte die Tasche, die er stets bei Krankenbesuchen mitführte, rief Pucki noch einen Gruß zu – dann war er fort.

Pucki starrte auf das Filet in der Pfanne. Tücke des Schicksals, daß gerade heute etwas dazwischenkommen mußte! Filet durfte nicht stehen, es wurde sonst zähe. Der Festbraten für den einmonatigen Hochzeitstag war verdorben.

Die junge Frau dachte nicht daran, allein zu essen. Tränen waren ihr nahe. Plötzlich warf sie den Kopf energisch in den Nacken. »Albern bin ich! – Eine Arztfrau muß auf Überraschungen gefaßt sein. Erst die Patienten! – Wenn ich nur wüßte, wann Claus heimkommt? – Ach, das schöne Filet, es war mir so gut gelungen!«

Da stand sie nun in der Küche und überlegte, was sie wohl beginnen könne, um den Braten schmackhaft zu halten. In demselben Augenblick schlug die Glocke wieder an. Wenige Augenblicke später kam Emilie erregt in die Küche gelaufen.

»Kommen Sie schnell, Frau Gregor, die Frau fällt sonst um!«

Im Flur war lautes Weinen zu hören, ein Kind begann zu schreien, ein anderes beschwichtigte. Da trat Pucki hinaus auf die Diele und blickte ins Wartezimmer. Dort saß eine Frau, über und über mit Blut beschmutzt. Neben ihr stand ein achtjähriger Knabe, und hinter ihm drängte ein zwölfjähriges Mädchen ins Zimmer, einen Säugling auf dem Arm, der heftig schrie.

»Die Mutter hat sich tief in den Finger geschnitten.«

Der Knabe weinte erneut. Pucki sah die matte Frau, die einen weißen Lappen um die Hand gewunden hatte, aus dem rotes Blut tropfte.

Blut! – Blut auf der Schürze der Frau, Blut am Ärmel, Blut, das noch immer hervorrann, dazu die erregten Kinder. Denn auch die Zwölfjährige begann nun zu jammern.

»Schnell den Arzt«, rief die Frau matt.

Um Pucki wirbelte es. Es wurde ihr schwarz vor den Augen. Blut konnte sie nun einmal nicht sehen. Und Claus war fort. – Jetzt wickelte die Frau das blutbefleckte Tuch ab. Ein tiefer Schnitt unterhalb des Daumens wurde sichtbar.

»Emilie, gehen Sie hinauf zu Doktor Kolbe, er möchte rasch herunterkommen. – Nein, ich gehe selbst. – Nein, ach nein, ich muß ja hierbleiben, man muß doch das Blut stillen.«

Pucki schloß die Augen und griff nach dem Arm der Verletzten. »Halten Sie den Arm hoch!« Als sie jedoch in das Blut griff, ließ sie den Arm sofort wieder los.

»Ich kann nicht«, stöhnte sie.

Hinauslaufen? – Die Kinder schrien durcheinander. Das war nicht zu ertragen! Auf dem Teppich lagen Blutstropfen.

»Helfen Sie mir doch«, jammerte die Frau.

»Halten Sie den Arm hoch.« Pucki hatte die Augen fest geschlossen. Wenn sie noch weiter auf das Blut starrte, würde sie bestimmt umfallen.

Emilie kam atemlos ins Zimmer gestürzt: »Bei Doktor Kolbe ist niemand da.«

Ein Zittern überlief Puckis Körper. Ein wenig öffnete sie die Augen. Sie sah, wie sich die Frau verfärbte. Natürlich, der große Blutverlust! – Die Frau verblutete, wenn sie nicht rasch half.

Helfen! – Ja, wie denn? –

»Ich kann nicht«, jammerte sie, »ich kann nicht!«

Eine Arztfrau wollte sie sein, eine tüchtige Arztfrau, die dem Gatten half und ihm treu zur Seite stand. Hier war nun eine um Hilfe bittende Frau.

Pucki biß die Zähne zusammen, öffnete weit die Augen und starrte auf das Blut. Was hatte man ihr im Seminar gesagt? Die Gedanken zusammennehmen, nachdenken – nur das eine Ziel vor Augen haben. Jetzt stark und überlegt sein, denn es galt zu helfen!

Was hatte sie gelernt? »Bei Schlagaderblutung ist das Blut von hellroter Farbe, spritzt stoßweise, entsprechend der Bewegung des Herzens, aus der Wunde heraus. Bei Schlagaderblutung tritt infolge des großen Blutverlustes schnell große Körperschwäche ein, der meistens eine Ohnmacht folgt.«

Sie sah wieder die Frau, deren Gesichtsfarbe sich bereits veränderte. Wenn nur die schreienden Kinder nicht wären!

»Emilie bringen Sie die Kinder aus dem Zimmer«, sagte Pucki plötzlich ganz ruhig. Riesengroß stand die Aufgabe vor ihr, hier helfend einzugreifen. Noch fühlte sie das Zittern im Körper, dann kehrte ihr die Ruhe zurück. Es mußte ein Verband angelegt werden, ein pressender Knebelverband, der verhinderte, daß das Blut noch weiter ausströmte. Ein Gummischlauch, so hatte sie gelernt, war das beste Hilfsmittel, ein Gummischlauch oder auch ein Handtuch oder eine Serviette. Im Nebenzimmer hing ein Handtuch.

Die Kinder waren aus dem Zimmer entfernt. Pucki hörte hinter der Tür ihr Schreien und Weinen. – Nun ging sie ans Werk. Sie umschnürte den Arm, zog den Verband fester und immer fester, und drehte einen Stab ein, um dadurch das Handtuch noch pressender um den Arm zu winden. Sie hielt dabei den verletzten Arm hoch, und obwohl ihr der rote Lebenssaft über die Hand floß, obwohl ihr Kleid befleckt wurde, erledigte sie ruhig und gewissenhaft ihre Aufgabe.

Je mehr sie sich mit der Patientin beschäftigte, um so sicherer wurde ihr Tun. Das Blut hatte im Augenblick für sie nichts Erschreckendes mehr. Langsam gelang es Pucki, den Ausfluß zu verringern. Mit Kölnischem Wasser rieb sie der ermatteten Frau die Schläfen ein, dann ging sie daran, den Arm zu säubern. Aber immer wieder brauchte sie all ihre Kraft, um durchzuhalten.

Auf einmal, sie wußte nicht, wie lange sie sich mit der Erkrankten beschäftigt hatte, stand Doktor Kolbe vor ihr, noch in Hut und Mantel. Eiligst zog er die Handschuhe ab, und plötzlich verursachte das rote Blut Pucki wieder Grauen und Entsetzen. Sie wußte die Frau nun in guter Hut. Da wankte sie durch die Tür, hinaus ins Sprechzimmer des Gatten, und legte sich auf den Diwan nieder, weil sie plötzlich das Empfinden hatte, als versinke sie in ein tiefes, schwarzes Loch.

Als sie wieder zu sich kam, stand Doktor Kolbe vor ihr und hielt ihr eine Flasche mit einer Flüssigkeit unter die Nase. Ein gütiges Lächeln stand auf seinem Gesicht.

»Liebe Frau Pucki, es war wohl etwas viel von Ihnen verlangt, aber leidlich gut haben Sie alles gemacht. Für eine Anfängerin allerhand.«

»Was ist denn mit mir?«

»Sie sind ein bißchen ohnmächtig geworden, liebe, kleine Frau. Sie haben sich zu sehr verausgabt. Zuviel Kraftaufwand. Das wirkt nach.«

»Wie geht es der Verletzten?«

»Alles in bester Ordnung. – Aber nun will ich mich mal ein wenig mit Ihnen beschäftigen.« Doktor Kolbe wusch das Blut von Puckis Händen ab, denn er fürchtete, daß sie erneut von Entsetzen erfaßt werden würde, wenn sie es sah. Pucki ließ alles ruhig mit sich geschehen, denn wieder überkam sie heftiges Zittern. Dann füllten sich ihre Augen mit Tränen.

»Ach, Herr Doktor, ich bin so unglücklich!«

»Ja, was ist denn los? Sie und unglücklich nach vierwöchiger Ehe?«

»Ich habe mich entsetzlich dumm benommen. – Ich will die rechte Hand meines Mannes werden und falle ohnmächtig zusammen, wenn sich eine Frau in die Hand schneidet.«

»Das zweitemal geht es schon besser«, tröstete Doktor Kolbe, »doch zu Ihrer Beruhigung will ich Ihnen verraten, kleine Frau, daß bei uns so manches Studentlein ohnmächtig wird, wenn es zum ersten Male einer Operation zusieht. Wir haben sogar ganz hervorragende Ärzte, die lange Zeit kein Blut sehen konnten, berühmte Ärzte, die sich zusammenreißen mußten, wenn sie in den Operationssaal gingen.«

»Ist das wirklich so?«

»Alles will gelernt sein, liebe, kleine Frau. Also machen Sie sich keine Gedanken darüber. Ihr Mann wird sehr zufrieden mit Ihnen sein, denn Sie haben sich heute sehr tapfer gezeigt.« »Ach, Herr Doktor, wie sind Sie gut zu mir!«

»Können wir uns wieder auf den Beinen halten? Unser guter Claus würde heftig erschrecken, wenn er Sie hier vorfände.«

Mit einem Ruck richtete sich Pucki auf. »Sie haben recht, Herr Doktor, ich will mich nicht schwach zeigen. – Es geht schon wieder vorüber. Beim nächsten Male mache ich es bestimmt besser.«

Aber der Vorfall wirkte noch längere Zeit in Pucki nach. Als Claus nach Verlauf einer halben Stunde kam, sah er sogleich, daß seine Frau innerlich erregt war.

»Ärgerlich – weil das Filet hart wurde?«

Da erst fiel Pucki ein, daß sie nicht mehr an das Mittagessen gedacht hatte, und heute sollte es doch einen besonderen Festbraten geben.

Sie erzählte ihrem Mann, was sich während seiner Abwesenheit ereignet hatte. Gerührt schloß Claus seine junge Frau in die Arme.

»Recht, daß du dich tapfer gezeigt hast, Pucki. Es wird schon werden.«

»Claus, nun haben wir nichts zu essen.«

»Was – nichts zu essen? Beide haben wir mächtig gearbeitet, und nun soll es kein Essen geben? Ganz ausgeschlossen!«

Er legte den Arm um Puckis Schulter und zog sie hinaus in die Küche, schaute in die Töpfe, in den Bratofen, stach mit der Gabel ins Filet und lachte belustigt.

»Emilie, nun tragen Sie mal auf, ich finde, es erwartet uns ein fabelhaftes Essen.«

Pucki machte einen kläglichen Eindruck. Der geschmückte Tisch, der herrliche Rosenstrauß, die kalten Kartoffeln und der zähe Braten. Claus entkorkte eine Flasche Rüdesheimer.

»Laß es dir gut schmecken, liebe kleine Frau. – Auf unsere einmonatige Ehe und auf deine erste ärztliche Hilfeleistung.«

Claus sprach dem Essen wacker zu. Es schnitt Pucki tief ins Herz, als sie sah, daß er sich mit dem Braten Mühe geben mußte, denn das schöne Filet war zähe und trocken geworden. Sie selber aß nur ein kleines Häppchen. Nach all dem Vorgefallenen hatte sie keinen Appetit, aber die Gläser klangen aneinander, und zwei Augenpaare sahen sich glücklich an.

»Dein Wohl, liebe Frau!«

Pucki barg den Kopf an des Gatten Brust.


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