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Tausend Freunde

Hedi, die achtjährige Tochter des Försters Sandler, die man weit und breit nur als Pucki Sandler kannte, stand auf einem Stuhl und betrachtete mit nachdenklicher Miene den dicken Abreißkalender, der im Wohnzimmer an der Wand hing. Ihr um vier Jahre jüngeres Schwesterchen Waltraut blickte ebenfalls voller Erwartung zu den Blättchen auf, die Pucki durch die Finger gleiten ließ.

»Es dauert noch lange, bis wir den Kuchen bekommen.«

»Wie lange noch?« fragte Waltraut.

Pucki suchte im Abreißkalender und behielt ein ganzes Päckchen Blätter zwischen den Fingern.

»Diese Blättchen müssen alle erst abgerissen sein, dann hat der Vati Geburtstag, dann kommt der große Freund, und dann gibt es endlich den Kuchen mit den vielen Rosinen. – Ach, der schmeckt so gut!«

»Och«, sagte Waltraut betrübt, »noch so viele Blättchen! – Wollen wir nicht machen, daß wir schneller den Kuchen bekommen?«

Pucki tippte mit dem Fingerchen auf den 24. Mai. »Hier gibt es Kuchen, bis dahin müssen wir noch furchtbar lange leben. Jedes Blatt ist ein Tag. – Ach, sieh mal, Waldi, so oft müssen wir noch schlafen gehen!«

Waldi bemühte sich ebenfalls, auf den Stuhl zu steigen, doch gelang es der Vierjährigen nicht.

»Waldi will auch sehen, wann es Kuchen gibt!«

Pucki nahm den Kalender von der Wand, legte ihn auf den Stuhl, und dann beugten sich die beiden Kinder interessiert über die Blätter.

»Wo gibt's Kuchen?« fragte Waldi noch einmal.

Abermals suchte Pucki im Kalender, bis sie den 24. Mai gefunden hatte.

Da lachte Waltraut lustig auf. Ihre kleinen Hände ergriffen mehrere Blättchen und rissen sie ab. Pucki legte beide Hände auf den Rücken und schaute wortlos dem Treiben der kleinen Schwester zu. Als der Fußboden mit zahlreichen Zetteln besät war, sagte Pucki nachdenklich:

»Es wird uns nichts nützen, wir werden was auf die Finger bekommen, aber keinen Kuchen.«

Waltraut hingegen jubelte hell auf und meinte, man brauche nun nicht mehr so oft schlafen zu gehen, und der Kuchen mit den vielen Rosinen müsse bald gebacken werden. Sie war gerade im Begriff, nach der Küche zu eilen, um die Mutti an diese wichtige Arbeit zu erinnern, als die Försterin ins Zimmer trat.

»Was ist denn hier geschehen?«

Pucki stand noch immer unbeweglich da, während Waltraut strahlend auf den Kalender wies: »Waldi hat gemacht, daß der Vati jetzt Geburtstag hat! Bäckst du nun den Kuchen?«

»Wer hat euch erlaubt, den Kalender von der Wand zu nehmen und die Blätter abzureißen?«

»Es hat so furchtbar lange gedauert, Mutti, bis der Vati Geburtstag hat«, erklärte Pucki. »Wir haben uns den Kalender immerfort angesehen.«

Die Folge war, daß die beiden Kinder einige Klapse auf die Finger bekamen und die Blätter zusammensuchen mußten.

»Für dich wäre es besonders schlimm, Pucki, wenn der Vater heute Geburtstag hätte, denn dein Geschenk ist noch lange nicht fertig. Oder hast du heute schon an dem Lesezeichen gestickt?«

»Nein«, sagte Pucki kleinlaut, »ich hatte so viel anderes zu tun, Mutti!«

»Dann geh sofort an die Arbeit. – Wie steht es mit den Schularbeiten? Bist du damit fertig?«

»Ich hatte doch so viel anderes zu tun, Mutti, und nachher kommt der Fritz Niepel, der hilft mir. Dann geht es viel schneller, dann brauche ich nicht erst zu rechnen.«

»Schämst du dich nicht, Pucki, so was zu sagen? Fritz darf dir bei den Schularbeiten nicht helfen. Willst du denn ein dummes Mädchen bleiben? Was wird Vatis Freund sagen, der zu Pfingsten zu uns kommen will? Er ist ein netter Lehrer, der dich gewiß fragen wird.«

Pucki machte große Augen. »Noch ein Lehrer? – Ach, Mutti, wir haben in der Schule genug Lehrer! – Wenn er ein Lehrer ist, soll er lieber nicht herkommen.«

»Das war wieder recht unartig, mein Kind. Onkel Strenke ist Vaters guter Freund, den kennt er schon seit seiner Kindheit. Der Vater freut sich darauf, seinen früheren Schulkameraden wiederzusehen. Und da willst du sagen, er soll nicht kommen?«

»Wenn es doch lieber ein Forstmann wäre, Mutti, dann könnte er kommen und lange, lange hierbleiben. An Vatis Geburtstag haben wir doch gerade Ferien, was soll denn dann ein Lehrer bei uns?«

»Du hörtest, daß Onkel Strenke Vaters Freund ist, Vatis einziger Freund.«

»O je, warum hat er nicht viele Freunde?«

»Weil er nicht mit jedem Menschen Freundschaft schließt.«

»Aber ich habe doch so viele Freunde, Mutti.«

»Dummerchen, du weißt gar nicht, was Freundschaft ist, dazu bist du noch viel zu klein.«

»Oh, Mutti, ich weiß, was Freundschaft ist! Wenn man jemanden sehr lieb hat und ihm immerfort eine Freude machen möchte. Wenn man immerfort mit ihm spielen möchte. – Der Harras ist mein Freund!«

»Der Harras ist doch ein Hund, Pucki.«

»Man kann doch auch einen Hund zum Freund haben! Der Onkel Oberförster hat neulich gesagt, der Greif sei sein bester Freund. Der Greif ist doch auch ein Hund.«

»Gewiß, mein Kind, man kann auch mit Tieren Freundschaft schließen.«

»Und Peter, unser lieber Kater, ist auch mein Freund, und die süßen Zicklein und das rosa Schweinchen und dann alle die Piepvöglein im Walde auch. Du, Mutti, die kennen mich, sie wissen ganz genau, daß sie meine Freunde sind.«

»Gewiß, Pucki, so lange du noch ein kleines Mädchen bist, ist es lieb von dir, alle Tiere zu guten Freunden zu haben. Doch wenn du groß geworden bist, sind die Tiere alle längst gestorben, oder du denkst nicht mehr an sie. Eine Freundschaft soll aber das ganze Leben hindurch dauern. Freunde sollen bis ins hohe Alter zusammenhalten, sollen Freud und Leid miteinander teilen, sollen sich beistehen – –«

»So mache ich das auch mit Harras.«

»Gewiß, mein Kind, doch wenn man von Freundschaft spricht, denkt man zuerst an die Menschen.«

»Ach, da habe ich noch viel mehr Freunde! Der Paul, der Walter und der Fritz Niepel. – Den Paul kann ich freilich nicht recht leiden, er ist zu frech!«

»Dann ist er auch nicht dein Freund. Freunde hat man sehr gern.«

»Na, dann ist der Paul eben nicht mein Freund, aber die Rose Scheele und der Oberförster Gregor und sein Junge, der große Claus! Ach, Mutti, der ist mein allerbester Freund, mit dem will ich auch Not teilen, wie du eben gesagt hast. – Ach ja«, sagte sie nachdenklich, »der große Claus ist mein allerbester Freund. – Sag mal, Mutti, hast du auch einen Freund?«

»Einen Freund habe ich nicht, Pucki, aber eine sehr liebe Freundin, mit der deine Mutti regelmäßig Briefe wechselt. Alles, was sie erlebt, erfahre ich, und sie weiß wieder, was im Forsthause vorgeht. Wir haben uns schon in der Schule sehr lieb gehabt.«

»Und jetzt ist sie alt?«

»Genau so alt wie deine Mutti.«

Pucki legte die Arme um den Hals der Försterin. »Mutti, hast du die Freundin lieber als mich?«

»Kleines Schäfchen, du bist doch mein Töchterchen, eine Mutti hat zu allererst ihre Kinder lieb.«

»Hast du mich auch lieb?« fragte Waltraut, kam angelaufen und stieß Pucki ziemlich unsanft zur Seite.

»Gehste weg!« schrie Pucki. »Du kannst ja noch nicht mal lesen und schreiben. Ich bin auch schon viel länger bei der Mutti als du! – Nicht wahr, Mutti, deswegen hast du mich auch lieber?«

»Nein, Pucki, ich habe euch alle drei ganz gleich lieb.«

Pucki zog die Nase kraus. »Auch den kleinen Knubbel, der im Wagen liegt und immer schreit?«

»Ja, Pucki! Ihr seid meine drei lieben Mädchen. Alle drei sind mir ganz gleich lieb, das merke dir.«

»Ich bin aber schon am längsten bei dir, Mutti. Und wenn du uns jeden Tag lieb hast, habe ich die meisten Tage deine Liebe bekommen! Ätsch, Waltraut, mich hat die Mutti doch lieber!«

Der Streit, der wieder auszubrechen drohte, wurde von Frau Sandler rasch geschlichtet. Sie wußte, ihre beiden Kinder waren recht lebhafte Mädchen, die sich jedoch herzlich liebten. Vor drei Monaten war noch ein drittes Mädchen ins Sandlersche Haus gekommen, das den Namen Agnes erhalten hatte.

»Ist gut so«, sagte Pucki, »bei Niepels sind ja auch drei Jungen, da hat jetzt jeder eine Freundin.«

Die Drillinge von dem Gut, das kaum zwanzig Minuten von dem Forsthause entfernt war, weilten oft auf Besuch bei Sandlers, und ebenso oft waren Hedi und Waltraut dort eingeladen. Die Drillinge waren zwar zwei Jahre älter als die Sandlersche Älteste, doch die beiden kleinen Mädchen fanden, daß es sehr fröhlich war, mit ihnen zu spielen, in den Ställen herumzulaufen oder auf dem Gutshofe allerlei lustige Spiele zu treiben. –

Lange dauerte die friedliche Stimmung zwischen den beiden Schwestern aber nicht.

»Ich habe viel mehr Freunde als du«, sagte Pucki zu Waldi. »Ich habe noch den Fritz Lange, den Georg Rabe und den Kuno Meister. Ach nein, den mag ich nicht leiden, aber die Thusnelda, die Marie, die Grete und alle anderen aus der Schule, alle sind meine Freunde. – Ätsch, so viele hast du nicht!«

»Die Waldi hat auch viele Freunde!« meinte die kleine Schwester dagegen.

»Aber ich habe tausend!«

»Und ich habe sieben!«

»Hahaha«, lachte Pucki und spreizte die Fingerchen. »Sieh mal, das sind sieben! Aber tausend! Tausend ist so groß wie die ganze Welt!« Sie umschrieb mit beiden Armen einen Kreis. »Das sind tausend Freunde. Aber du – o je, nur sieben! Das ist ja nur bis zu meinem Zeigefinger von der anderen Hand.«

»Sieben ist viel mehr als tausend«, stritt Waldi.

Pucki schrie fast vor Lachen. »Komm du nur erst in die Schule, dann wird man dir schon sagen, was tausend ist! – Na, ich habe eben tausend Freunde!«

»Du sollst nicht so übertreiben«, mahnte die Mutter. »Tausend Löcher hat dir die Mutti schon gestopft, die du in die Strümpfe gerissen hast. – Tausend Freunde hat kein Mensch, Pucki.«

»Du auch nicht, Mutti?«

»Nein, mein Kind, ich sagte dir schon, daß ich nur noch eine einzige Freundin habe. Sie ist mir daher sehr ans Herz gewachsen. Alle anderen Freundschaften aus der Schulzeit sind entschwunden. Und doch haben wir uns damals in allen Klassen ewige Freundschaft zugeschworen. Deine Mutti hat sogar noch ein Poesiealbum mit vielen Versen von Liebe und Freundschaft.«

»Was ist das für ein Album, Mutti?«

»Wenn du erst größer geworden bist, mein Kind, bekommst du auch solch ein Album. Es ist später eine sehr liebe Erinnerung an die Schulkameradinnen.«

»Ach, Mutti, ich möchte gern mal das Album sehen!«

»Pucki, denke an deine Schularbeiten und an das Lesezeichen für den Vater.«

Hedi sprang auf den Schoß der Mutter, legte schmeichelnd ihren Kopf an deren Schultern und sah sie mit ihren blauen Augen so bittend an, daß Frau Sandler lächeln mußte.

»Mutti, nachher sticke ich auch so schnell wie die Minna, ach, noch viel schneller! Ich werde mir auch vom Fritz beim Rechnen nicht helfen lassen, aber – zeige mir das Album.«

»Dann komm, Pucki.«

Frau Sandler ging zum Schreibtisch, schloß einen der Schübe auf und entnahm ihm ein kleines braunes Buch, das auf dem Deckel in großen goldenen Buchstaben das Wort »Poesiealbum« trug. Pucki buchstabierte angestrengt an diesem Wort herum.

»Ein schönes Buch – aber ein schweres Wort. – Mutti, was steht nun drin?«

Frau Sandler schlug die Seiten auf. Überall waren Verse niedergeschrieben, auf den gegenüberliegenden Seiten klebten bunte Bilder.

»Ist das eine schöne Poesie!«

»Das sind Verse von Mädchen, die einst mit mir in die Schule gingen«, erklärte Frau Sandler. »Sie wünschten mir Gutes fürs spätere Leben. Sieh her, Pucki, dieser Vers stammt von meiner Freundin Erika, an die ich heute noch Briefe schreibe.«

»Lies mal, Mutti!«

»Nein, Pucki, sei nicht so bequem, lies doch selbst.«

»Sehr hübsch, sehr hübsch«, sagte Pucki und schlug das Blatt um. »Ach, guck, Mutti, das hübsche Bild!«

»Ich denke, du wolltest die Verse lesen?«

Pucki lief zu einem Sessel, setzte sich hinein, verschränkte die Arme über der Brust und sagte schmeichelnd: »Nun lies mal, Muttilein!«

Frau Sandler klappte das Album wieder zu und wollte es im Schreibtisch verschließen. Da war Pucki mit wenigen Sprüngen an ihrer Seite. »Na, dann mal los. – Wo ist der Vers von der Erika?«

Die Försterin schlug wieder das Album auf, Pucki tippte mit dem Fingerchen auf den kurzen Vers und begann zu lesen:

»Kennst du das Blümchen am – am – –

Mutti, das haben wir noch nicht gehabt, das ist so schwer.«

Frau Sandler half lächelnd nach. »Am moosigen Quell.«

»Moosigen Quell«, wiederholte Pucki.

»Es leuchtet in deinem Leben so hell,
Blau ist die Farbe, strahlend sein Licht,
Die Freundschaft nennt es: Vergißmeinnicht.

Dies schrieb in herzlicher Freundschaft Deine Freundin
Erika Ranft.«

»Diese Freundschaft ist geblieben, Pucki. – Ich habe Erika nie vergessen. – Und hier, lies einmal diesen Vers, der von einer anderen Schulkameradin stammt. Wir beide sind sehr bald auseinandergekommen.«

»Mutti, jetzt bist du dran zu lesen.«

»Rosen, Tulpen, Nelken,
Diese Blumen welken,
Eisen, Stein und Marmor bricht,
Aber unsere Freundschaft nicht.«

»Oh, der ist schön«, jubelte Pucki. »Jetzt frage ich den großen Claus, ob er auch so ein Buch hat. Dann schreibe ich ihm das in sein Buch. – Mutti, ich muß auch so ein Buch haben, dann laß ich meine tausend Freunde einschreiben. Alle müssen mir aber auch so ein hübsches Bild einkleben, denn das ist noch viel schöner als der Vers.«

»Solch ein Album ist eine liebe Erinnerung. Wenn du erst älter geworden bist, darfst du dir eines wünschen.«

»Kann ich es mir nicht gleich wünschen, Mutti, weil es so schön ist?«

»Man muß nicht alles sofort haben wollen, mein liebes Kind.«

Frau Sandler wollte das Poesiealbum wieder einschließen, da fand Pucki ein zweites Buch, das dem Album ganz ähnlich sah. Schon hielt sie es in den Händen und blickte fragend zur Mutter.

»Ist das auch so ein Buch, wo die große Freundschaft eingeschrieben wird?«

»Nein, Pucki, das ist Muttis Tagebuch.«

»Tagebuch?« wiederholte das Kind gedehnt. »Was steht denn in dem Tagebuch?«

»Alles das, was deine Mutti an jedem Tag erlebte, was sie freute oder was ihr weh tat.«

Pucki überlegte ein Weilchen. »Mach doch mal auf, Mutti!«

Frau Sandler schlug das Buch auf.

»Oh – –« stammelte Pucki, »hat dir so oft was wehgetan, daß so viele Seiten vollgeschrieben sind?«

»Nein, Pucki, so ist das nicht gemeint. Alle wichtigen Ereignisse meines Lebens sind hier niedergeschrieben. An jedem Tage, an dem etwas geschah, was nicht alltäglich ist, schrieb die Mutti es in das Buch.«

»Was haste denn da alles geschrieben?«

»Als du in unser Haus kamst, wurde es vermerkt, auch als Waldi kam.«

»Und als Agnes kam?«

»Das steht auch hier, mein Kind.«

»Nein, Mutti, soviel Arbeit würde ich mir nicht machen! Ich muß schon so viel für die Schule schreiben.«

»Ein Tagebuch ist auch nur für Erwachsene.«

»Ob der Claus auch so ein Tagebuch hat?«

»Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall ist solch ein Tagebuch etwas sehr Schönes.«

»Warum schließt du es denn wieder ein?«

»Weil niemand zu wissen braucht, was ich in dieses Buch geschrieben habe.«

»Na, dann brauchst du es doch gar nicht erst aufzuschreiben. – Hast du niemals in solch ein Buch von anderen hineingesehen?«

»Ja, Pucki, einmal habe ich es getan.«

»Mutti«, flüsterte Pucki am Ohr der Förstersfrau, »da bist du aber neugierig gewesen, hast das Buch aufgeschlagen und ein bißchen reingeguckt?«

»Nein, mein Kind, neugierig bin ich damals nicht gewesen, es kam ganz durch Zufall. Doch das ist eine lange, traurige aber wunderschöne Geschichte.«

»Au, dann erzähle mal!«

»Eine Geschichte der Freundschaft.«

»Die muß ich hören, liebe, liebe Mutti, weil ich doch so viele Freunde habe. Mit der Rose Scheele, die schon zweimal im Sommer bei uns war, habe ich auch Freundschaft geschlossen und mit dem Fritz Niepel auch.«

»Dabei zankst du dich beständig mit dem Fritz. – Nein, Pucki, das ist noch keine Freundschaft. Freundschaft muß Opfer bringen können.«

»Nun erzähle rasch mal von dem Opfer und der Freundschaft!«

»Vielleicht wirst du es noch nicht ganz verstehen, mein Kind, trotzdem werde ich es dir erzählen. Ich möchte wünschen, daß diese Geschichte für dich unvergessen bleibt. Du kannst daraus ersehen, was Freundschaft vermag.«

»Nu erzähle doch, Mutti!«

»Die Freundin, von der ich sprechen werde, ist dieselbe, die mir in mein Album jenen Vers schrieb, den du vorhin gelesen hast.«

»Die Erika?«

»Ja, die Erika. – Sie war ein Jahr älter als ich, ein sehr fleißiges und tüchtiges Mädchen. Sie verließ ein Jahr früher als ich die Schule und nahm sehr bald eine Stellung als Kinderfräulein an. Deine Mutti wollte gern Säuglingsschwester werden. Das sind junge Mädchen, die die ganz kleinen Kinder bewachen und betreuen müssen.«

»So wie du es jetzt mit der Agnes machst?«

»So ähnlich, Pucki. Deine Mutti hatte leider kein Geld, um diesen Beruf zu erlernen.«

»Hat dir Vati denn nichts gegeben?«

»Den kannte ich damals noch nicht.«

»Was – den Vati hast du nicht gekannt?«

»Sei doch endlich still! Du sollst mich nicht immer unterbrechen.«

»Jetzt bin ich ganz still, Mutti. Bitte, bitte, erzähle weiter, wie du das kleine Kindchen behüten wolltest.«

»Deine Mutti wußte nun gar nicht, was sie beginnen sollte. Sie wollte etwas lernen und hatte kein Geld dazu. Da schrieb mir eines Tages meine Freundin Erika, ich möchte mich ruhig als Säuglingsschwester anmelden, denn die Ausbildung koste nicht so viel, wie ich anfangs glaubte. Deine Mutti bekam auch bald den Bescheid, daß man sie für wenig Geld annehmen wolle. So wurde es mir möglich, meine Ausbildung als Schwester zu beginnen. Ich war sehr erfreut darüber, daß man von mir viel weniger Geld verlangte als von meinen Mitschülerinnen, doch konnte ich mir das nicht erklären. Ich machte das Examen, nahm eine Stellung an und habe dann bald geheiratet.«

Pucki blickte die Mutter verständnislos an.

»Als ich verlobt war, suchte ich meine Freundin Erika auf. Sie hatte eine Stellung als Stütze bei einer Hausfrau angenommen, eine schwere Stellung. Sie mußte von früh bis spät arbeiten und hatte kaum eine freie Stunde. Erika sah sehr abgearbeitet und elend aus. Ich stand in ihrem Stübchen und erwartete sie, weil sie von der Hausfrau gerufen worden war. Da sah ich ein Buch auf dem Tisch liegen, das ich aufschlug. Es war Erikas Tagebuch.«

»Da haste rasch ein bißchen gelesen?«

»Ich hätte es nicht tun dürfen, Pucki. Meine Augen fielen gerade auf meinen Namen. Da las ich, daß Erika fast meine gesamte Ausbildung bezahlt hatte. Sie selbst gönnte sich während meiner Ausbildungszeit kein Vergnügen. Jeden Pfennig sparte sie für mich, weil sie wußte, daß ich nichts besaß und das Examen machen wollte. In dem Buch stand, daß sie sich gern einmal ein Vergnügen gegönnt hätte. Doch es ging ja nicht, weil sie für mich alles hingab.«

»Mutti, hat sie sich nicht mal ein Stückchen Schokolade gekauft?«

»Nein, mein Kind, nicht die kleinste Leckerei konnte sie kaufen. Sie hatte ihre leichte Stelle aufgegeben und eine viel schwerere angenommen, weil sie dort besser bezahlt wurde. Sie brauchte mehr Geld, weil meine Ausbildung immer teurer wurde. Ich habe nichts davon geahnt und freute mich nur, daß ich so vieles lernen konnte. Niemals habe ich daran gedacht, daß Erika meinetwegen entbehren mußte. – Siehst du, das geschah aus Liebe, aus treuer Freundschaft zu mir. Sie hat es gern getan. – Und nun wirst du begreifen, meine kleine Pucki, was Freundschaft ist.«

»Nicht mal ein Stückchen Schokolade! – Ist sie auch nicht ins Kasperletheater gegangen oder Karussell gefahren?«

»Alles Geld, das sie verdiente, hob sie für mich auf.«

»Mutti«, sagte Pucki kleinlaut, »muß man das immer so machen, wenn man Freunde hat?«

»Man muß stets daran denken, dem anderen etwas Liebes zu erweisen. Doch vorläufig bist du noch viel zu klein, um den wahren Sinn der Freundschaft zu erfassen. Später wirst du es lernen.«

»Ich möchte es aber bald lernen, Mutti, denn ich will recht viele Freunde haben. – Mutti, es muß schön sein, viele Freunde zu haben.«

»Ja, Pucki, Freundschaft macht sehr glücklich.«

»Steht nun in deinem Tagebuch auch so was Schönes drin?«

»Gewiß, Pucki, liebe und traurige Erinnerungen.«

»Weißt du, Mutti, ich möchte auch ein Tagebuch haben! Ich habe doch auch traurige Erinnerungen. – Weißt du noch, wie der Paul vom Baum gefallen ist? Und wie sich der liebe Harras den Schwanz einklemmte, und wie die alte Schmanzgroßmutter gestorben ist?«

»Das brauchst du vorläufig noch nicht niederzuschreiben, mein Kind.«

»Na, ich wünsche mir zu meinem Geburtstag auch so ein Tagebuch, dort schreibe ich alles rein. Und wenn es mir mal irgendwo weh tut, schreibe ich es auch auf.«

In diesem Augenblick ertönte aus dem Garten lautes Schreien. Waltraut lag auf der Nase und hatte sich beide Knie blutig geschlagen. Harras, der Jagdhund, stand neben ihr und rieb seinen braunen Kopf an Waldis Rücken, als wolle er die Weinende trösten.

»Lauf rasch, Pucki, hole Waltraut herein, damit wir ihr die Knie abwaschen.«

»Ach ja«, seufzte Pucki und lief schnell aus dem Zimmer.

Draußen schrie sie Waltraut an: »Fall doch nicht immerzu hin! Wenn du noch nicht richtig laufen kannst, bleibe hübsch sitzen!«

Waltraut lief schluchzend ins Haus. Pucki nahm Harras um den Hals und sagte zärtlich: »Nicht wahr, lieber Harras, wir beide sind zusammen gute Freunde. Wenn ich erst mal Geld verdiene, spare ich für dich und kaufe dir eine große Wurst. – Hast du mich auch lieb, Harras? Bist du auch mein großer Freund?«

Da setzte sich Harras auf die Hinterbeine und reichte Pucki beide Vorderpfoten, als wolle er dadurch seine große Freundschaft bekräftigen.


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