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7. Kapitel
Pommerle und seine kleinen Gäste

Wie ein schöner Traum lag die Ostseereise hinter Pommerle. Die diesjährige Sehnsucht nach dem geliebten Wasser war ein wenig gestillt. Professor Bender hatte seine Reise nach Schweden angetreten, tags darauf war die Kinderschar aus Breslau eingetroffen, um in den verschiedenen Familien, die sich dieser wohltätigen Aktion zur Verfügung gestellt hatten, untergebracht zu werden.

Meister Reichart bekam einen zehnjährigen Knaben, während Benders, auf besonderen Wunsch, zwei Mädchen erhielten, zwei Schwestern im Alter von acht und neun Jahren.

Mit prüfenden Blicken hatte Pommerle die Ankommenden betrachtet und festgestellt, daß Ida und Karoline für ihr Alter sehr klein und dünn waren, daß sie keine dicken Backen hatten und auch nicht so frisch und rot aussahen wie Sabine, Eva oder Jule. Es war aber auch noch manches andere, was Pommerle an den beiden Kindern nicht gefiel. Trotzdem versuchte das Kind die Altersgenossinnen durch gemeinsames Spielen zu erfreuen. Es zeigte ihnen die Puppen, ging mit den Kindern durch den Garten, erzählte von Blumen und Vögeln, ließ sie auf das Zwitschern der gefiederten Sänger lauschen, doch weder Ida noch Karoline schienen an diesen Dingen Interesse zu haben. Die beiden Mädchen hockten meistens zusammen, sprachen kein Wort, ließen Pommerle allein spielen und wußten mit all den schönen Dingen, die Pommerle vor ihnen ausbreitete, nichts anzufangen.

Schon drei Tage später klagte Pommerle der Mutter sein Leid.

»Da wär's doch besser gewesen, wir wären in das schöne Schweden gefahren. Sie gefallen mir nicht, Mutti. Sie beißen an den Fingern, Karoline steckt sogar die Hand in den Mund, sie sitzen da und glotzen vor sich hin. Sie wischen sich auch nicht die Füße ab, wenn sie ins Haus gehen. Wenn ich ihnen etwas gebe, sagen sie nicht mal danke oder bitte, und vorhin ist die Ida direkt über das Beet gelaufen und hat die süßen Blümchen zertreten. Sie sind nicht gut, Mutti.«

»Sie sind noch scheu, mein Kind, sie sind gewiß gut, sie freuen sich, daß sie hier sind.«

»Nein, Mutti, sie freuen sich gar nicht. Sie hören nicht mal zu, wenn ich ihnen von Blumen und Vögeln erzähle. Und dann hat die eine so olle dicke Strümpfe an, wie im Winter. – Mutti, sie gefallen mir nicht!«

»Mein liebes Pommerle, du bist doch sonst ein sehr liebes und vernünftiges Mädchen, ich finde es nicht schön von dir, wenn du so über die armen Kinder sprichst.«

»Ich habe ihnen meine Puppe gegeben, meine gute Puppe, aber sie haben sie nicht mal richtig angefaßt.«

»Hast du nicht selbst gesagt, mein Kind, daß die beiden Mädchen aus einem finsteren Kellerloch kommen? Ich will dir einmal erzählen, wie es bei diesen Kindern daheim aussieht. Sieben Geschwister wohnen in einer einzigen Stube. Die Mutter geht früh auf Arbeit und kann sich den ganzen Tag nicht um die Kinder kümmern. Die Kleinen haben keinen Garten, hören nichts von Vogelsang, eines muß auf die anderen aufpassen, denn die Kleinsten wollen besorgt sein. So haben Ida und Karoline nur Arbeit und Mühe gehabt. Von all der Not, die in solchen Familien herrscht, weißt du noch nichts, mein Pommerle. Nun ist es den Kindern, als wären sie plötzlich in einer anderen Welt; daher sind sie so scheu, wagen nichts anzufassen, nichts zu sagen, haben vielleicht auch Sehnsucht nach daheim.«

Pommerle war nachdenklich geworden.

»Aber sie beißen doch an den Fingern, sie zertreten die Blumen. Karoline macht immer ein böses Gesicht.«

»Unser Pommerle hat des öfteren schon bewiesen, daß es ein gutes Herz hat. Du wolltest überall Not lindern, aber nicht nur wenn die Menschen hungern, zeigt sich die Not, die Kinder wissen von den Freuden, die uns Gottes herrliche Natur schenkt, gar nichts. Das müssen sie erst langsam lernen. Nun zeige, mein liebes Kind, daß du Geduld hast, bemühe dich um Ida und Karoline, du mußt sie eben ein wenig erziehen, doch alles in Liebe und Güte. In acht Tagen werden die beiden Mädchen bestimmt Vertrauen zu dir haben und gern mit dir spielen.«

»Nun ja«, meinte Pommerle nachdenklich, »wenn sie immerzu im Keller sind, wissen sie freilich nichts von Blumen und Vögeln. – Mutti, da habe ich es doch viel besser. Auch früher, bei meinem Ostseevater, habe ich immer das schöne Wasser und den Strand gehabt. Ich will noch mal mit ihnen spielen, ich will versuchen, lieb zu ihnen zu sein.«

»Das mußt du auch. Solch kleine Mädchen brauchen viel Liebe. Du mußt dir nur immer vorstellen, du hast zwei Blümchen vor dir, die keine Sonne bekommen, die im Schatten wachsen, nicht begossen werden, langsam hinwelken und sterben müssen. Das sind die beiden Mädchen. Sie haben keine Sonne, nicht genug Lebensnahrung. Darum sind sie nun in das Helle verpflanzt worden. Nun müssen sie sehr gehegt und gepflegt werden, damit sie das Umpflanzen vertragen. Verstehst du das?«

»Freilich, Mutti. Ich hab' doch auch die Lilie im Garten verpflanzt, die ganz hinten in der Ecke herauskam.«

»Und weil du sie so schön gepflegt hast, ist sie auch angewachsen und blüht. Sieh, Pommerle, es ist nicht genug, wenn man diese Kinder nur zu sich ins Haus nimmt und ihnen gut zu essen gibt, man muß sie auch liebhaben, denn nur dann hat es wirklichen Wert, sich an dem großen Liebeswerk des Reiches zu beteiligen.«

Von nun an gab Pommerle sich doppelte Mühe, das Vertrauen der kleinen Gäste zu erringen. Nicht mehr betrachtete es die scheuen Mädchen mit ärgerlichen Blicken, wenn auf alle Aufforderungen keine Antwort kam. Es dachte immer an die verpflanzte Lilie, die man begießen mußte, damit sie blühe. Und als es einmal bei Ida ein großes Loch im Strumpf bemerkte, sagte Pommerle sanft:

»Weißt du, Ida, ich möchte dir das Loch zustopfen. Ich mache es mit Liebe. Sehr gut kann ich es nicht, aber Mutti hat es mir schon gezeigt, und deine Mutti muß ja den ganzen Tag in der Fabrik sitzen und arbeiten. Nu zieh mal den Strumpf aus und gib ihn her.«

Erst wollte Ida nicht, doch als Pommerle energisch wurde, zog sie den Wollstrumpf aus.

Das Kind betrachtete ihn kritisch. Da waren Stopfen in allen Farben. Ob die nicht drückten? Und bei der Hitze so schwere Strümpfe!

»Hast du keine anderen?«

Ida schüttelte den Kopf.

»Ich habe viele Strümpfe, ich gebe dir welche.«

Das war für Pommerle eine ganz neue Idee. Die beiden Kinder waren mit einem kleinen Pappkarton angekommen, schienen also sehr wenig Sachen zu haben. Freilich, wenn Idas Mutter sieben Kinder hatte, konnte nicht jedes so viele Kleidchen besitzen, wie sie ihr eigen nannte. Ob sie wohl eines davon der Ida schenken durfte?

Man hatte neulich Geld gesammelt, um den Hungernden zu helfen. Wenn man nun auch noch Kleider und Strümpfe sammelte, damit alle die Kinder sich hübsch anziehen konnten, die nichts hatten, würde man vielleicht auch etwas Gutes leisten. Die Schulkameradinnen hatten oftmals andere Kleider an. Wenn jede eines hergab, konnten sich alle armen Kinder schön kleiden.

»Wartet mal einen Augenblick«, meinte Pommerle, »ich muß erst mal einen schönen Gedanken der Mutti sagen. Das wird ihr ganz was Neues sein.« Und schon sprang das Kind davon und berichtete der Mutter von der geplanten Sammlung.

»Ist das nicht 'ne feine Idee? Jeder in Hirschberg muß ein Kleid und Strümpfe geben.«

Frau Bender lachte. »Du hast wohl heute früh in den Zeitungen gelesen, daß im ganzen Reich eine Kleidersammlung vorgenommen wird? Jeder soll seine Schränke durchsehen und hergeben, was er nicht braucht, damit die Armen im Winter nicht zu frieren brauchen.«

»Das haben sie geschrieben?« Pommerle zog die Stirn kraus.

»Ja, mein Kind, gerade heute ist vom Reich der große Aufruf in der Zeitung erschienen. In Kürze fahren Wagen durch die Stadt, dann wird eingesammelt.«

Pommerles kleine Faust fiel kräftig auf den Tisch. »Das habe ich mir doch ausgedacht und nicht das Reich. Alles müssen sie mir nachmachen. Erst hat der Jule sein Geld für die Armen hergegeben, und dann hat uns das Reich das auch nachgemacht. – Nein, Mutti, ehe das Reich kommt mit seinem Wagen, wollen wir sammeln. Dann wird der Bürgermeister wieder sagen, ich habe etwas Wohltätiges gemacht. – Das war schön.«

»Du kleines, dummes Pommerle! Die Ideen, die du hast, haben andere schon lange vor dir gehabt.«

»Warum haben sie denn nicht schon lange gesammelt und der Ida dünne Strümpfe gegeben, die nicht so häßlich gestopft sind? – Ach, Mutti, im braunen Strumpf ist ein blauer Faden. Wenn ich nur gedurft hätte, dann hätte ich fürchterlich gelacht.«

»Nein, mein Kind, darüber darfst du nicht lachen. Vielleicht hat Idas Mutter keinen braunen Faden zum Stopfen gehabt und auch kein Geld, um passende Wolle zu kaufen. So hat sie Blau nehmen müssen. Doch wir wollen der Ida ein Paar Strümpfe von dir schenken.«

»Siehst du, das habe ich auch schon gesagt! Mutti, ich bin noch schneller als das Reich! Wir werden sammeln, und dann setzen wir auf den kleinen Wagen die Ida und die Karoline, dann schreien wir an allen Straßenecken, daß wir für die armen Kinder was brauchen.«

»Das geht nicht, Pommerle, das würde die kleinen Mädchen beschämen. Ganz still und heimlich muß man den Kindern die Sachen schenken, damit sie nicht gekränkt werden. Was würdest du sagen, wenn man dich auf den kleinen Wagen setzte, wenn der Jule nebenher ginge und riefe: ›Schenkt doch dem Pommerle ein Paar Strümpfe, es kann sich keine kaufen.‹ Du würdest dich sicherlich schämen.«

»Na und ob, ich haute dem Jule kräftig eine 'runter!«

»Die beiden Schwertfeger-Mädchen würden sich auch schämen.«

»Wie heißen die?«

»Ida Schwertfeger und Karoline Schwertfeger.«

Pommerle lachte aus vollem Halse. »Schwertfeger! – – Fegt der Mann Schwerter? Oder was macht er?«

»Das ist ein alter Name, mein Kind, der schon vor vielen Jahrhunderten war. Die Schwertfeger waren in früheren Zeiten angesehene Männer, die die Schwerter blank putzten und in richtige Form brachten. Der Name hat sich durch Jahrhunderte vererbt. Dabei ist doch nichts zu lachen.«

»Ich möchte nicht Schwertfeger heißen, Mutti. Ströde ist doch viel schöner und Bender auch. Oder Kretschmar, wie der Jule. Das ist ganz besonders schön.«

»Wenn du erst älter bist, Kleinchen, wirst du dich für solche Namen interessieren. Es macht viel Freude, sich mit der Herkunft alter Namen zu beschäftigen. Doch dazu bist du heute noch zu klein.«

Als Pommerle wieder mit den beiden Mädchen spielte, hielt es ganz plötzlich inne und fragte:

»Warum habt ihr denn so einen komischen Namen? Hat euer Vater wirklich die Schwerter zusammengefegt?«

Doch weder Ida noch Karoline konnten Pommerle darauf eine Antwort geben. Sie wußten nicht, was der Vater getan hatte, er war den ganzen Tag über fort gewesen.

»Manchmal ist er mit dem Besen herumgegangen«, meinte Ida schließlich.

In Pommerles Köpfchen spukte noch lange dieser seltsame Name. Vielleicht konnte Sabine nähere Auskunft geben. Aber Sabine hatte jetzt auch viel zu tun, denn bei Meister Reichart war der zehnjährige Rudolf eingetroffen, der ebenso scheu und still war wie Ida und Karoline. Und so kam Pommerle zu der Überzeugung, daß eben alle Kinder, die in finsteren Wohnungen lebten, erst gepflegt und mit Liebe begossen werden müßten, wenn man sie in Licht und Sonne verpflanzte, ehe sie wieder aufblühten.

Trotz aller Freundlichkeiten, die den beiden Mädchen von seiten Frau Benders und Pommerles zuteil wurden, blieben sie scheu. Um ihnen nun eine besondere Freude zu bereiten, beschloß man im Benderschen Hause, am kommenden Sonntag einen Ausflug nach dem Kynast und der alten Burgruine zu machen. Vom Turm aus sollten die Kleinen zum ersten Male in ihrem Leben einen Blick über das schlesische Gebirge haben. Es würde für sie etwas Neues sein und den Mädchen eine schöne Erinnerung bleiben, für die spätere Zeit. Wenn sie vielleicht auch hier, bei fremden Leuten, alles schweigsam hinnahmen, würden sie sicherlich im vertrauten Kreise von alledem erzählen, was sie erschaut hatten. Der Ausflug nach dem Kynast sollte ein Sonnenblick in dem traurigen Leben der Kinder werden.

Pommerle freute sich riesig auf den Ausflug und bedrängte die Mutter, auch Jule mitzunehmen, denn der wisse gar schöne Geschichten von den Bergen. Er könne den fremden Kindern vieles erzählen.

»So will ich zu Meister Reichart gehen und ihn fragen, ob er uns auch seinen Schützling, den Rudolf, mitgibt. Er wird sicherlich noch nicht auf dem Kynast gewesen sein.«

Pommerle sprang jubelnd im Zimmer umher. »Fein, dann sind wir eine große Familie, und ich erzähle von der Kunigunde, die auf dem Kynast gelebt hat!«

So wurde beschlossen, bei gutem Wetter am nächsten Sonntag den gemeinsamen Ausflug zu unternehmen. Pommerle schwärmte seinen beiden Gästen von der alten Burg vor, erzählte vom Höllengrund, in dem der Teufel und der Rübezahl lebten. Dort hätten sich beide mal fürchterlich gezankt.

»Ganz grausig ist es dort. Dicke Buchen, und der Jule meint, manchmal steht der Rübezahl hinter so 'ner dicken Buche und beguckt sich die Leute, die durch den Höllengrund herunterklettern. Aber Angst braucht ihr nicht zu haben. Der Rübezahl ist kein richtiger Mensch, nur ein Geist, und ich glaube nicht, daß er heute noch durch das Riesengebirge geht. – Früher, ja, da ist er dem Kilian und anderen Männern erschienen, er hat auch armen Kindern geholfen. Aber jetzt kommt er nicht mehr.«

Ganz besondere Freude hatte Pommerle noch dadurch, daß man Ida und Karoline nette Sommerkleider anzog, die aus dem Vorrat des kleinen Mädchens stammten. Frau Bender hatte mit geschickter Hand die Kleider passend gemacht, und Ida und Karoline betrachteten mit glänzenden Augen den neuen Staat. Zum ersten Male seit ihrem Hiersein sah man in zwei glückliche Kindergesichter.

»Sie machen es wie meine Lilie«, flüsterte Pommerle der Mutter zu, »sie fangen nun an zu blühen.«

Am Sonntagmittag fand sich Jule mit dem zehnjährigen Rudolf ein. Pommerle stellte fest, daß auch dieser Knabe erst noch kräftig begossen und gepflegt werden müsse.

»Richtig verhungert sieht er aus, Jule. Ihr müßt ihn gut füttern.«

»Das tut die Meisterin. Er kriegt immer was mehr als ich.«

»Das macht nichts, Jule. Wir haben immer gut zu essen, und die armen Kinder müssen dann doch wieder immerzu olles fettes Schweinefleisch essen, was gar nicht schmeckt.«

»Quatsch, die essen überhaupt kein Fleisch.«

»Du mußt das nicht so laut sagen, Jule, sonst sind sie beschämt, geradeso, als wenn wir sie auf 'nem Wagen durch die Stadt fahren. Das dürfen wir nicht. Aber sammeln tun wir, Jule, alle Kleider von ganz Hirschberg! Und wenn dann das Reich kommt, wollen wir schon einen großen Haufen haben. Dann sagt der Bürgermeister wieder, wir sind wie ein leuchtendes Beispiel vorangegangen.«

Schließlich brach man auf. Zunächst ging es mit der Talbahn bis nach Hermsdorf. Von dort aus begann die Wanderung zum Kynast. Es war ein herrlicher Sonntagnachmittag. Die Breslauer Kinder rissen die Augen weit auf, denn die prachtvolle Natur machte auch auf sie gebührenden Eindruck. Manchmal blieb Ida stehen und sagte leise: »Das riecht so schön.«

»Ja, das ist die Heimatluft«, meinte Pommerle altklug. »Bei euch in Breslau riecht es eben anders nach Heimat. Aber weil wir hier so 'ne schöne Heimat haben, riecht es besonders schön.«

Oben, in der Ruine angekommen, gab es für die Kinder viel Neues. Man trank Kaffee, alle griffen wacker zu, es mundete prächtig. Aber plötzlich hielt der Jule im Kauen inne. Man sah es ihm an, wie ihn der Schreck erfaßte. Seine Augen gingen ängstlich nach rechts und links, suchten in den Baumkronen, schweiften besorgt hinüber zur Ruine, so daß Pommerle aufmerksam wurde.

»Gehen wir – – gehen wir durch den Höllengrund zurück?«

»Jawohl, Jule.«

»Heute?«

»Natürlich, Jule.«

Der Knabe schwieg; er hätte Frau Bender gern gewarnt, doch wagte er es nicht. Zu oft schon hatte man ihn ausgelacht, wenn er davon sprach, daß jeder Dreizehnte im Monat ein Unglückstag sei. Und heute war doch der dreizehnte Juli, der Tag, an dem Rübezahl vor wenigen Jahren einem Wanderburschen erschienen war und ihn in eine Wurzel verzaubert hatte. Der Jule wußte es genau, daß der Rübezahl an jedem Dreizehnten durch seine Berge streifte und die Leute foppte.

»Ich finde den anderen Weg besser und bequemer. Was haben wir denn im Höllengrund? Der Rudolf kann auch nicht so gut klettern.«

Aber es nützte dem Jule nichts, es war beschlossen, durch den Höllengrund zu gehen. So mußte er sich fügen.

Selbstverständlich wurde der Turm der Ruine bestiegen, um den Breslauer Kindern den Ausblick über ihr Heimatgebirge zu geben. In stummem Staunen standen sie da. Etwas Neues, niemals Geahntes umfaßte ihr Blick.

»Seht, wie schön eure Heimat ist! Behaltet sie allezeit lieb, tragt sie im Herzen, kränkt sie nicht, indem ihr euch ihrer unwert zeigt.«

Jule war auf dem Turm recht lebhaft geworden. Er, der von klein an im Riesengebirge umhergewandert war, kannte die Namen der Berge genau. Die drei Breslauer Kinder hatten für seine Erklärungen wenig Interesse, doch Pommerle konnte nicht genug hören. Schließlich mußte Frau Bender an den Aufbruch mahnen, denn die Wanderung durch das Höllental erforderte noch einige Zeit. Frau Bender hatte auf dem Kynast Bekannte getroffen, die sich beim Abstieg durchs Höllental ihnen anschlossen. Jule blieb als letzter zurück. Aber nicht zu weit. Er hatte nun einmal ein unbehagliches Gefühl, er bildete sich ein, Rübezahl habe ein Auge auf ihn geworfen.

Pommerle gesellte sich bald zu ihm.

»Jule, warum bist du denn heute so ängstlich? Hast du was verbockt?«

»Nun ja, – ich habe die Meisterin beschwindelt. Nu ist doch heute der dreizehnte. Ich hätte lieber nicht schwindeln sollen.«

»Was haste denn getan?«

»Der Meister hat mir die Stullen fürs Abendbrot eingepackt, und dann kam die Meisterin und fragte, ob ich schon Abendbrot hätte. Da habe ich gesagt, sie soll mir das Abendbrot einpacken. Nu hab' ich es doch doppelt. Wenn ich halt immer so großen Hunger habe –«

»Na, Julchen, das ist doch nicht so schlimm. Da gibst du eben dem Rudolf was ab, dann beruhigt sich dein schlechtes Gewissen. Ich habe der Ida und der Karoline auch ein Kleid gegeben. Weißt du, ich hab' nämlich neulich mein gutes blaues Kleid zerrissen, – leider weiß es die Mutti noch nicht. Aber wenn ich viel wohltue und mit leuchtendem Beispiel vorangehe, wie damals beim Bürgermeister, wird die Mutti nicht ärgerlich sein. – Jule, wir wollen zusammen tüchtig Kleider für die armen Leute sammeln. Vor einigen Tagen sagte das Reich, es will alle alten Kleider haben. Einen Wagen schickt es durch Hirschberg. Doch zuerst holen wir die alten Kleider zusammen. Und wenn wir zuviel haben, geben wir es dem Reich ab.«

»Haste nicht was gehört, Pommerle? Es hat dort drüben so komisch geknackt.«

Pommerle lachte übermütig. »Ätsch, Jule, das macht nur, weil du doppeltes Abendbrot mitgenommen hast. Wenn das der Rübezahl wüßte, holte er dir das Abendessen weg!«

»Schrei doch nicht so laut!«

Doch in dem kleinen Mädchen lebte heute eine übermütige Freude. »Rübezahl!« rief es mit heller Stimme. »Der Jule hat seinen Meister beschwindelt!«

»Bist du still!«

»Ach, Julchen, hab' nur keine Angst, der Rübezahl ist doch nur ein Geist, nur so ein Stück aus einer Sage. Er kann gar nicht kommen und dich ängstigen, auch wenn ich noch so sehr schreie. – Rübezahl! – Rübezahl, ich möchte dich mal sehen!«

»Wer ruft mich?«

Aus dem Dickicht der Bäume trat ein junger Mann. Ein grünes Hütchen, geschmückt mit einer Feder, saß auf einem fröhlich lachenden Gesicht, in dem ein kleines Schnurrbärtchen sproßte.

Pommerle klammerte sich mit beiden Händen an Jule, der wie ein Taschenmesser zusammenknickte. Der junge Mann sah freilich dem Rübezahl gar nicht ähnlich, und Pommerle wurde schon wieder kritisch.

»Du bist ja nicht der Rübezahl«, sagte es mutig. »Nicht wahr, Jule, der Rübezahl sieht anders aus.«

Jule war fast grau geworden vor Angst. Er wußte, daß sich der mächtige Berggeist den Menschen in den verschiedensten Gestalten zeigte. Nicht immer kam er in seinem langen, grünen Mantel und dem großen Schlapphut, o nein, bald hatte er die Gestalt eines alten Weibleins, dann wieder die eines jungen Wunderburschen, eines Jägers oder eines Ritters. Heute zeigte er sich als ein schlichter Tourist.

»Was hat der Jule getan? – Jule, Jule, kennst du mich nicht?«
Rübezahl erhob drohend den Stock.

»Was hat der Jule getan? – Jule, Jule, kennst du mich nicht?« Rübezahl erhob drohend den Stock.

»Ich – – ich – – will's nicht wieder tun! – Ich will – – dem Rudolf mein Abendbrot geben oder – – ich bringe es dem Meister zurück – – hab' Erbarmen, Rübezahl!«

»Bist du wirklich der Rübezahl?« fragte Pommerle mit verhaltener Stimme. Noch immer klammerte es sich an Jule. Warum war man so weit zurückgeblieben? Die anderen stiegen rasch bergab. Fortlaufen durfte man nicht, denn der Rübezahl hatte lange Beine. Außerdem konnte er auf seinem Mantel fliegen.

»Ich hab's gehört, wie du deinen Meister beschwindelt hast, Jule. Ich höre alles!«

»Ich will's nicht wieder tun«, stammelte der Jule. Dann zog er die beiden Pakete mit Brot aus der Tasche und hielt sie dem Rübezahl hin. »Wenn du sie haben willst, für hungrige Kinder – ich geb' sie dir.«

»Oh, die kann ich gut brauchen«, sagte der Rübezahl mit frohem Lachen, »die nehme ich gerne. Ich habe auch entsetzlichen Hunger, und Geld ist knapp.«

»Rübezahl, – du mächtiger Berggeist, der du thronst auf der Schneekoppe, tu' mir nichts! Ich muß morgen wieder an der Hobelbank stehen. Wir haben noch die Möbel für den Doktor Lenz fertigzumachen. Er wartet schon darauf.«

Der Berggeist beugte sich nieder, hob ein Steinchen auf und reichte es dem Jule. »Das kannst du mitnehmen zur Erinnerung an den mächtigen Rübezahl, der dir verbietet, den Meister zu beschwindeln. Tust du das noch einmal, dann fliegt dir dieser Stein an die Nase. Wo du auch bist! Und wenn du ihn fortwirfst, er kommt immer wieder zu dir zurück. Schließlich bleibt er an deiner Nase hängen. – So, nun weißt du es. Aber zur Strafe für dein Schwindeln behalte ich dein Abendbrot.«

Der Berggeist steckte die beiden großen Schnittenpakete zu sich, dann wandte er sich an Pommerle.

»Nun, und du, Kleine? Bist du immer brav?«

»Nicht immer, verehrter Herr Berggeist, aber – kannst du wirklich hexen?«

»Freilich kann ich das.«

»Kannst du dich verzaubern?«

»Natürlich.«

»Ach, lieber Berggeist, dann verhexe dich doch mal in ein kleines weißes Mäuschen. Ich möchte so gerne ein weißes Mäuschen sehen. Ich habe mal eines gesehen, das war so niedlich!«

»Nein, der mächtige Berggeist hat anderes zu tun, er muß hinauf zum Kynast.«

»Lieber Berggeist, der Jule sagt, du kannst aus Steinen Gold machen, du hast in deinen Bergen mehr als tausend Mark liegen. Die Ida ist doch so arm, die Mutter muß den ganzen Tag in der Fabrik sein. Und noch viele andere Kinder sind arm. Könntest du mir nicht 'ne Handvoll Goldstücke schenken?«

Wieder griff der Berggeist auf die Erde und hob einen zweiten Stein auf.

»Steine werden zu Gold, wenn ich es will. Behalte den Stein zum Andenken.«

»Wird er auch Gold?«

»Wenn du sehr artig bist, wird er zu Gold.«

Pommerle betrachtete prüfend den Stein. Dann sah es den vermeintlichen Rübezahl ein wenig mißtrauisch an. »Bist du auch wirklich der Rübezahl?«

Jule war mit langen Sätzen davongesprungen. Ihm war es in der Nähe des Berggeistes unbehaglich. So sah sich Pommerle allein und wurde ein wenig von der Angst erfaßt.

»Mutti, – Mutti, – Jule, – – Ida!«

»Hab mal keine Angst«, sagte der Berggeist, »ich tu' dir nichts. Nun mach, daß du fortkommst, ich will hinauf zum Kynast. Morgen muß ich auch wieder an der Arbeit sein.«

Pommerle machte dem Berggeist einen artigen Knicks, dann lief es eiligst den Vorausgehenden nach. Im Herzen hatte es freilich die größten Zweifel über den Berggeist, auch über den Stein, der zu Gold werden sollte. So recht glaubte es nicht daran, zumal die Eltern immer wieder davon gesprochen hatten, daß der Rübezahl ja nur eine Sage sei. Und eine Sage sah nicht aus wie ein Mensch.

Ganz anders der Jule. Der war seit dem Zusammentreffen mit dem harmlosen Touristen, der aus Lähn herübergekommen war, um dem Kynast einen Besuch abzustatten, gänzlich verstört. Er glaubte felsenfest daran, daß es Rübezahl gewesen war, daß er von dem Stein, den er erhalten hatte, noch manche unangenehme Stunde zu erwarten haben würde. Häufig rutschte ihm eine Unwahrheit über die Lippen. Wenn dann jedesmal der Stein geflogen kam, – – das konnte eine nette Geschichte werden.

Pommerle berichtete von dem Rübezahl, von dem Geschenk, wurde aber von der Mutter und dem Ehepaar, das sich ihnen angeschlossen hatte, ausgelacht. Der Jule grollte. Wie konnte man über den Berggeist lachen; die Strafe würde nicht ausbleiben.

»Das alles ist ja Quatsch, Jule. Wir wollen es mal versuchen. Wir schwindeln dem Rudolf was vor.«

»Nein, Pommerle, beileibe nicht«, rief der Jule und hielt sich die Hand vor die Nase. »Du bist kein Schlesier, du bist ein Pommer, du kennst eben den Berggeist nicht. Ich aber kenne ihn genau!«

Doch das kleine Mädchen war neugierig und schwindelte noch am gleichen Abend ein wenig.

»Siehst du, Jule«, rief es triumphierend, »dein Stein fliegt mir nicht an die Nase. Dein Rübezahl ist eben doch nur eine Sage!«

Bei der Rast, die man machte, um das Abendessen einzunehmen, saß der Jule mit leeren Händen da. Pommerle erzählte, daß der Jule sein Abendbrot dem Rübezahl gegeben habe und nun hungern müsse.

»Mutti, das Reich hat doch gesagt, es soll keiner mehr hungern, auch der liebe Jule nicht. Wir müssen ihm was abgeben.«

»Das hast du von deiner Torheit, mein Junge. Jener junge Mann, ich habe ihn auch gesehen, ist irgendein harmloser Handwerker oder Angestellter gewesen, der mit wenig Geld einen Sonntagsausflug machte. Da hat er sich den Spaß gemacht, dir dein Abendbrot abzuschwatzen. Dem schmeckt es jetzt gewiß, und du mußt leer ausgehen.«

»Es war doch der Rübezahl«, grollte Jule.

»Du müßtest mit deinen sechzehn Jahren schon klüger sein. Die Sage von Rübezahl ist gewiß etwas sehr Hübsches. Fast in jeder Gegend gibt es etwas Ähnliches. Doch der Rübezahl erscheint keinem Menschen. Wenn du diesen Aberglauben nicht ablegst, Jule, wirst du noch manchen Schaden erleiden. In Zukunft behalte dein Abendbrot und glaube nicht jedem, der sich einen Spaß mit dir macht und die Rolle des Rübezahl spielt.«

Jule schwieg dazu. Er war nun einmal nicht davon zu überzeugen, daß der mächtige Berggeist nur in der Erzählung lebte. Es würde einmal der Tag kommen, an dem er allen Zweiflern beweisen würde, daß es wirklich einen Rübezahl gäbe.

»Hab' Dank, mächtiger Berggeist, der du meinem knurrenden Magen geholfen hast.«

Auf der Ruine Kynast saß ein junger Wanderbursche; der packte mit strahlendem Gesicht die beiden Pakete mit den Butterbroten aus. Geld, um sich solch leckeres Abendessen zu kaufen, hatte der angehende Klempner nicht. Die Liebe zu den Bergen hatte ihn an diesem Sonntag hinausgetrieben.

»Hab Dank, mächtiger Berggeist, der du meinem knurrenden Magen geholfen hast. Es schmeckt mir prächtig!« Herzhaft biß er in die Brote hinein.


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