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5. Kapitel
I. K. 37 985

Das konnte der Jule freilich nicht fassen. Er sollte im Auto mit Pommerle an die Ostsee. Wie oft hatte er verächtlich geäußert, daß er die Ostsee gar nicht sehen wolle. Wenn er an einem Tümpel stehe, sei das so gut wie die Ostsee. Daß aber schon lange das Verlangen in ihm brannte, ein einzigesmal Pommerles Heimat kennenzulernen, verschwieg Jule eigensinnig, weil es ihm schier undenkbar dünkte, jemals eine so weite Reise zu machen.

Er hatte Pommerle schelten wollen, weil sie den vielen Menschen verraten, daß er sein verdientes Geld für arme Leute hergab. Doch nun kam die Belohnung. Als Dank für diese Handlung sollte er an die Ostsee. Zuerst hatte der Jule seine kleine Freundin heftig angefahren, sie solle nicht schwindeln; doch langsam wurde es ihm klar, daß es eine feststehende Tatsache war. Schließlich kam sogar der Meister und die blinde Sabine. Beide sprachen von der bevorstehenden Reise, die Jule machen werde.

»Siehst du, Jule«, so hatte der Meister gesagt, »so wird jede gute Tat belohnt. Das hast du dir nicht träumen lassen.«

Da war es dem Jule erst wirklich klargeworden, daß er an die Ostsee sollte. Heiß stieg es ihm ins Gesicht. Rasch schlug er einige Purzelbäume, so wild, so heftig, daß der Meister rasch ausweichen mußte, um mit Julens langen Beinen nicht Bekanntschaft zu machen.

»Jule, – an den Strand, an die blaue Ostsee. Dort können wir Steine ins Wasser werfen, werden alle wiedersehen. – Ach, meine liebe, liebe See!«

Als der Jule am nächsten Sonntag bei Benders war, preßte er die Hand des Professors so leidenschaftlich, daß dieser schmerzhaft das Gesicht verzog.

»Ich versprech' Ihnen auch, Herr Professor, ich bringe Ihnen 'nen Haufen Steine mit. Das ganze Auto lade ich voll.«

Er träumte in jeder Nacht von der Reise, er konnte es nicht begreifen, daß die Fahrt an die Ostsee wirklich möglich sei.

Und Pommerle kam öfter denn bisher in die Werkstatt, erzählte dem Jule von all den Schönheiten der See und meinte schließlich:

»Jule, heute abend gehen wir zur Spinnerei. In einem Schuppen steht das Auto, mit dem wir fahren. Blau ist es angestrichen, und innen ist es auch blau. Oh, es ist, als ob wir schon in der blauen Ostsee sind. Jule, in dem schönen Wagen werden wir viele Stunden fahren. Auf den weichen Polstern werden wir sitzen. Darauf hopst man so lustig!«

»Darf ich denn auch auf den Polstern sitzen?«

»Natürlich, immer neben mir!«

»Ist's auch wirklich wahr, Pommerle?«

Nach Feierabend gingen Jule und Pommerle hinaus zur Spinnerei. Die Kleine machte einen artigen Knicks vor dem Pförtner.

»Na, kleines Mädchen, bist du wieder da?«

»Bitte, ich möchte halt noch mal den schönen Wagen sehen, in dem wir an die Ostsee fahren.«

»Den hast du ja schon fünfmal gesehen.«

Pommerle wies mit dem Daumen auf Jule. »Der Junge möchte ihn auch sehen.«

»Ich fahre auch mit zur Ostsee«, meinte Jule.

Der Pförtner wies die beiden lachend zur Garage. Dort stand der Chauffeur, der gerade den Wagen für die Abfahrt des Fabrikherrn fertigmachte.

Jule preßte beide Hände vor den aufgerissenen Mund, um einen Freudenschrei zu unterdrücken. Wie oft schon hatte er neugierig in solch einen Wagen geschaut. Nun sollte ihm das große Glück zuteil werden, auf den blauen Polstern zu sitzen. Wenn es nur der Meister sehen könnte.

Andächtig standen die beiden Kinder vor dem Wagen. Der Chauffeur forderte sie lachend auf, einzusteigen, er werde sie einmal im Fabrikhof herumfahren. Pommerle kroch sogleich in den Wagen und wippte auf den Polstern, doch der Jule wagte es nicht.

»Ich steig' vorne drauf.«

»Komm doch!« meinte Pommerle und zog mit energischem Ruck den Knaben hinein.

Keines der beiden sprach ein Wort, als man im Fabrikhof herumfuhr, als der Chauffeur hinaus auf die Straße lenkte und ein Stück mit ihnen davonfuhr. Einige Leute gingen vorüber. Da beugte sich der Jule aus dem Fenster. Man sollte ihn sehen! Er, der Tischlerlehrling, Jule Kretschmar, fuhr in einem wunderschönen blauen Auto, saß auf blauen Polstern.

Jule wurde immer erregter. »Fahren Sie doch recht langsam«, bat er schließlich.

»Hast wohl Angst?« meinte der Chauffeur.

»Aber – – aber – –« Ach nein, er wollte es lieber nicht sagen, daß er recht oft gesehen werden wollte. Wie würden ihn die Leute beneiden, die zu Fuß gehen mußten! Einen halben Wochenlohn hätte er freudig hingegeben, wenn er jetzt seinen Meister getroffen hätte.

Schließlich ging es zur Fabrik zurück. Die Kinder stiegen aus und liefen Hand in Hand heim.

»Fahren wir viele Stunden bis an deine Ostsee?«

»Ja, der Vati meinte, fast einen ganzen Tag.«

»Wenn er nur recht langsam fahren wollte. Ich ziehe den guten blauen Anzug an, für unseren Wagen müssen wir uns feinmachen.«

Schon am nächsten Tag berichtete der Jule, wie es sich in einem Polsterauto fahre. Sabine mußte sich einen stundenlangen Bericht anhören. Sie tat es geduldig, sie freute sich mit Jule und gönnte ihm von Herzen diese Abwechslung.

Das sagte der Jule freilich nicht, daß er fast allabendlich hinaus zur Spinnerei lief und so lange dort wartete, bis Fabrikbesitzer Stadler an ihm vorüberfuhr. Sein Herz pochte stürmisch. Genau so würde er in Kürze an vielen Leuten vorüberfahren, und alle würden auf das Auto sehen, in dem der Jule an die Ostsee fuhr.

»Vielleicht denkt man«, die Stimme verschlug ihm vor Freude, »daß dieser Wagen mir gehört. Das Auto I. K. 37 985.«

Eine Hörnerschlittenfahrt war freilich auch nicht zu verachten. Jule hatte sich niemals nach einer Autofahrt gesehnt. Für ihn war der Hörnerschlitten der Inbegriff alles Schönen. Doch jetzt, da die Möglichkeit winkte, in einem Auto zu fahren, jetzt stellte er das Auto an die Seite seines geliebten Hörnerschlittens.

Der Meister schüttelte manchmal den Kopf. Fragte er nach einem Maß, nach Länge und Breite der Bretter, klang ihm oftmals die Antwort entgegen:

»Jawohl, Meister! I. K. 37 985!«

Pommerle hatte die Nummer des Wagens auch sehr bald behalten. Die ganze Nachbarschaft hörte das helle Jauchzen: »Ich fahre in I. K. 37 985! Wenn's doch erst so weit wäre!«

Am letzten Sonntag vor der Reise kamen Fabrikbesitzer Stadler und seine Frau zu Benders, um noch einiges zu besprechen. Jule, der auch anwesend war, verhielt sich sehr schweigsam. Er starrte mit verzückten Augen den Fabrikbesitzer an, dem der blaue Wagen I. K. 37 985 gehörte.

»Also am Mittwoch, früh um neun Uhr, seid ihr bei uns, alle beide. Jeder packt in seinen Koffer, was er für die drei Tage braucht. Vergeßt auch nicht das Badezeug, denn baden wollt ihr doch auch? Nun, Jule, freust du dich?«

»Ja, – ja!«

»Jede gute Tat muß belohnt werden.«

»Wenn's eine Belohnung ist«, stammelte der Jule und wurde rot, »hätte ich noch eine ergebene Bitte.«

»Nu mal los!«

»Wenn wir doch nach Görlitz fahren, dann könnten wir doch auch durch die Talstraße fahren und am Hause des Meisters vorbei kommen.«

»Nein, Jule, das wäre ein Umweg.«

»Schade, – zu schade!«

»In Stettin machen wir Station. Ihr fahrt am nächsten Morgen mit Tante Marie weiter nach Neuendorf. Ich habe geschäftlich in Stettin zu tun, komme erst am übernächsten Tage nach dort, um euch wieder abzuholen.«

Es wurde noch mancherlei besprochen. Pommerle hatte hundert Fragen auf dem Herzen, doch der Jule hörte kaum, was gesagt wurde. Er trat von einem Bein aufs andere, ging mehrmals zum Abreißkalender und betrachtete die Blätter. – Wenn es erst nur so weit wäre!

Aber auch der Mittwoch kam heran. Der Meister und die Meisterin hatten schweren Stand mit dem Jule, der bereits um drei Uhr aufgestanden war, damit er ja nicht zu spät in die Stadlersche Villa käme. Im Morgengrauen lief er zum Hause des Professors, pfiff dort längere Zeit, doch Pommerle schlief noch fest. Da rannte er weiter, hin zur Stadlerschen Villa. Ob das Auto schon dastand, oder ob es niederträchtige Menschen in dieser Nacht gestohlen hatten, daß man nicht fahren konnte?

Gegen sechs Uhr kam er zurück zum Meister. Der ging im Hof umher und brach in lautes Lachen aus, als er den Jule erblickte.

»Willst du so fahren? Sieh dich doch erst mal im Spiegel an! Du hast ja vergessen, den Schlips zu knoten.«

Der Jule ging in sein Kämmerchen zurück. Das Schlipsbinden war heut eine schwere Arbeit, denn die Hände zitterten.

»Ich muß nun gehen«, meinte er.

»Unsinn, Jule, erst wird gefrühstückt.«

»Ich bin ganz voll, ich kann nichts essen.«

»Hast du im Koffer auch Kamm und Zahnbürste und ein Nachthemd? Alles andere hat dir die Meisterin eingepackt.«

Jule wurde rot und lief davon. An Kamm und Zahnbürste hatte er nicht gedacht. Schließlich kam er mit dem Koffer, um im Beisein der Meisterfamilie zu frühstücken. Er würgte die Semmeln herunter.

»Ich muß gehen, sonst komme ich zu spät.«

»Du bleibst noch hier, Junge. Was willst du so früh bei Herrn Stadler? Du störst nur.«

»Dann will ich schnell mal zu Benders laufen. Vielleicht schläft das Pommerle noch.« Und weg war er.

Bei Benders sah es ähnlich aus. Pommerle sprang wie ein Fröschlein umher und hatte schon allerlei Schaden angerichtet. Das Wasser war, statt in die Waschschüssel, vor Aufregung auf den Erdboden geschüttet worden, in die Strümpfe war ein Loch gerissen, weil das Kind sie gar zu heftig über die Füße zerrte. Dann war die Kaffeetasse beim Frühstücken umgestoßen worden. Ihr Inhalt hatte sich nicht nur über das Tischtuch, nein, auch noch über das Kleid ergossen, so daß sich Frau Bender genötigt sah, die Kleine umzuziehen.

»Wirste denn nu auch fertig?« drängte der Jule. »Es ist die höchste Zeit! I. K. 37 985 wartet nicht!«

»Mutti, Mutti, laß mich in dem Kleide fahren, ich muß doch fort!«

»Kinder, macht mich nicht nervös. Geh jetzt heim, Jule, du störst. Um neun Uhr bei Stadlers!«

Jule eilte heim. Nun war es endlich Zeit, daß er gehen konnte. Er wollte sich sehr kurz vom Meister verabschieden, mußte jedoch noch Ermahnungen über sich ergehen lassen. Er wollte zuhören, doch in seinem Hirn spukte ein blauer Wagen, eine stundenlange Fahrt, Zahlen wirbelten durch seinen Kopf, es war unmöglich, auf die Worte des Meisters zu lauschen.

Und nun kam auch noch die Meisterin. Schließlich Sabine. Alle hatten gute Ratschläge, und Jule stand wie auf glühenden Kohlen. In einer Viertelstunde war es neun. Welch ein Glück, daß Meister und Meisterin abgerufen wurden.

Mit langen Sätzen jagte der Jule davon, auf halbem Wege fiel ihm ein, daß er den Hut im Vorgarten auf der Bank liegengelassen hatte. Er hetzte zurück, setzte den Koffer nieder, wischte die Tropfen von der Stirn, griff nach dem Hut und eilte wieder davon.

Das Auto stand bereits vor der Tür, im Parterrezimmer war Professor Bender mit seiner Frau und Pommerle. Pommerle empfing Jule mit einem Freudenschrei, fiel ihm um den Hals und jauchzte:

»Jetzt geht es zur Ostsee!«

Nun ging es ans Einsteigen. Der Chauffeur nahm das Köfferchen von Pommerle und schob es hinten in einen großen Kasten. Neugierig standen die beiden Kinder neben ihm.

»Und Ihr Koffer, junger Mann?«

Jule wurde erst blaß, dann krebsrot. Die Glieder wurden ihm schwer.

Nun war alles aus! Als er den vergessenen Hut holte, hatte er den Koffer im Vorgarten stehen lassen. Zu Wasser die große Freude, zu Wasser die schöne Reise, man würde ihn nicht mitnehmen, weil er seinen Koffer vergessen hatte.

»Nun, junger Mann, haben Sie keine Sachen mitgenommen?«

Jule warf einen verlöschenden Blick auf Pommerle.

»Hast du keinen Koffer?«

»Er steht im Garten, – ich habe ihn vergessen«, hauchte Jule.

»Oh, – – lauf rasch und hole ihn!«

»Es ist doch neun«, klang es so todtraurig zurück, als wäre alles für den Jule zusammengebrochen und vernichtet.

Der Professor hatte den kurzen Wortwechsel mit angehört. »Jule, Jule, was bist du für ein Faselfritze. Ohne Koffer kannst du natürlich nicht fahren. Wenn du dich beeilst – –«

Schon wollte der Jule fortstürmen, da hielt Stadler den erregten Knaben fest. »Wir werden den Koffer holen. Wir fahren bei deinem Meister vor. Wir haben Zeit genug.«

Alles Leid wandelte sich in diesem Augenblick bei Jule in übergroße Seligkeit. I. K. 37 985 würde beim Meister Vorfahren. Die Meisterin würde den seinen blauen Wagen sehen, Jule saß auf Polstern und fuhr in die weite Welt hinaus, und der Meister hobelte vielleicht oder leimte.

»Wir fahren vor – –« stieß er zitternd heraus. »Beim Meister! Ach, – das ist die Belohnung für die gute Tat!«

»Nun einsteigen!«

Stadler und Frau nahmen die beiden hinteren Plätze ein, der Chauffeur klappte die beiden Polsterstühle auf, Pommerle sprang in den Wagen – Stadler stieß einen Schmerzensschrei aus.

»Pommerle, meine Füße!«

Endlich saß das Kind, und nun fiel etwas Langes, Dünnes in den Wagen hinein. Es war Jule, der in seiner Erregung übersehen hatte, daß er hochsteigen mußte. Aber im selben Augenblick stellte auch Pommerle fest, daß es dem Vati noch einen Abschiedskuß geben müsse. Die Kleine war aufgestanden und purzelte auf den Jule.

»Kinder, Kinder, das kann ja nett werden«, lachte Stadler. »Sucht erst mal eure Knochen zusammen und setzt euch hin.«

Jule hielt sich den Kopf. Er hatte sich ziemlich stark geschlagen.

»Ich muß noch mal 'raus«, zeterte Pommerle.

»Ihr bleibt jetzt sitzen«, entschied Frau Bender. »Du hast dem Vater schon einen Abschiedskuß gegeben. – Aber willst du nicht endlich aufstehen, Jule?«

Doch der Jule war so ungeschickt, daß er beim Aufstehen den Klappsessel wieder umklappte und sich beinahe auf den Fußboden des Wagens gesetzt hätte, wenn nicht der Chauffeur hilfreiche Hand geleistet hätte.

Endlich war es soweit, das Auto setzte sich in Bewegung, Pommerle wirtschaftete, nach rückwärts Grüße sendend, derartig im Wagen herum, daß der kleine Sessel krachte. Jule dagegen saß steif und still da, reckte sich höher und immer höher, drückte schließlich sein Gesicht an die Scheibe; man sollte sehen, daß er, der Lehrling, in I. K. 37 985 fuhr.

Vor Meister Reicharts Haus wurde angehalten.

»Wenn ich bitten dürfte«, sagte Jule, »machen Sie mal mit der Tute tüchtig Krach. Bitte, bitte!«

»Willst du nicht aussteigen und den Koffer holen?« sagte Frau Stadler.

»Bitte, zuerst mal kräftig tuten!«

Der Chauffeur hupte, dann stieg Jule aus. Aber er ging nicht nur in den Vorgarten, um den dort stehenden Koffer zu holen, er rief laut nach dem Meister und der Meisterin, nach Sabine, nach dem Gesellen und dem jüngsten Lehrling. Alle kamen herbei. Jule stand wie ein Herrscher unter ihnen und sagte herablassend:

»Draußen steht unser Wagen, mit dem fahren wir nu weiter.«

»Was willst du denn noch hier, Jule? Hast du vielleicht noch was vergessen?«

Da steckte der Lehrling den Kopf zwischen die Schultern, griff nach dem Koffer und sagte kleinlaut: »Ich wollte nur sagen, daß wir jetzt fahren.«

Doch die Meisterin wußte sofort, was geschehen war, als der Chauffeur nach Jules Koffer griff, um auch ihn in den rückwärtigen Kofferkasten zu legen.

»Vergiß nur den Kopf nicht, Jule«, lachte sie. »Und nun gute Fahrt und recht viel Vergnügen!« –

Unterwegs belustigten sich Stadlers heimlich über die beiden Kinder, die ihre Freude so verschieden zum Ausdruck brachten. Während Pommerle von Zeit zu Zeit die Arme ausbreitete und von der Ostsee zu schwärmen begann, während sie sich von Zeit zu Zeit umwandte und Stadlers Kußhände zuwarf, saß der Jule kerzengerade auf seinem Platz, machte das Fenster auf und wieder zu; er schien vor Stolz platzen zu wollen, daß er im Auto fahren konnte. Von Zeit zu Zeit machte er die kleine Scheibe auf, die ihn vom Chauffeur trennte, und flüsterte ihm zu:

»Wir bitten etwas langsamer zu fahren, man kann uns sonst nicht erkennen.«

Schließlich wurde Station gemacht. Der Jule war nicht zu bewegen, mit ins Hotel zu kommen.

»Ich möchte lieber bei unserem Wagen bleiben.«

Wie würde man ihn anstaunen! Jeder mußte denken, daß es sein Wagen sei, wenn er daneben stehe.

Aber er mußte doch mitkommen, um einen Imbiß einzunehmen, lief aber sehr bald wieder davon und stand neben dem Wagen. Er gab sich den Anschein, als betrachte er das Auto mit Kennerblicken. Und als nun gar ein Herr zu ihm trat und den schönen Wagen lobte, warf sich der Jule stolz in die Brust:

»Ja, wir haben sehr gut daran gekauft. Er fährt famos!«

»Sechs Zylinder?«

Das war für den Jule ganz etwas Neues. Er verstand die Frage nicht.

»Oder sind es mehr?«

»Viel mehr!«

Schließlich fuhr man weiter. Jule stolperte beim Einsteigen abermals, denn noch immer war seine Erregung nicht abgeebbt. Jedesmal, wenn man durch eine Ortschaft fuhr, fühlte er sich reicher als ein Millionär, und der Gedanke, daß man in Stettin in einem Hotel absteigen und schlafen werde, daß wieder Kellner um ihn herumspringen würden, wie das damals im Riesengebirge der Fall gewesen war, trieb seinen Stolz auf die Spitze.

Pommerle plapperte viel von der Ostsee, von den Spielkameradinnen, von den Freunden des Vaters und hoffte auf das Wiedersehen mit allen.

»Der Gemeindevorsteher hat mich damals gelobt, er schenkte mir eine Puppe. – Soll ich dir davon erzählen, Onkel Stadler?«

Die Erzählungen wurden gar oft von anderen Eindrücken unterbrochen. Es gab für Pommerle so viel zu sehen, daß es all das Neue kaum in sich aufnehmen konnte. Je näher man Stettin kam, um so größer wurde die Sehnsucht des Kindes nach der Ostsee, und schließlich konnte es die Stunde kaum noch erwarten, daß die pommersche Hauptstadt erreicht sei.

Nun war man in Stettin angekommen. Jule trug die Nase sehr hoch, und die Folge davon war, daß er wieder, als er ins Hotel kam, über die Schwelle stolperte und der Länge nach auf dem Teppich lag. Es war ihm nicht möglich, in seiner Erregung auf die vielen Kleinigkeiten zu achten. Beim Abendessen passierten ihm allerlei kleine Mißgeschicke. Bald fiel die Gabel, dann das Messer auf den Fußboden. So wurde er schließlich ganz kleinlaut und meinte jämmerlich:

»Sie hätten mich besser daheim lassen sollen, Herr Stadler. Ich bin eben nur ein Tischlerlehrling, Sie sind ein Fabrikherr.«

»Ich bin auch einmal Lehrling gewesen, Jule. Hoffentlich bringst du es zum Meister, hoffentlich hast du auch einmal eine geachtete Tischlerei und bildest selbst Lehrlinge aus. Wir alle müssen erst durch eine Lehrzeit gehen. Meinst du, daß ich dich darum weniger achte?«

»O nein, Jule«, fiel Pommerle ein, »wir achten dich alle sehr. Ein Lehrling ist etwas Schönes.«

»Auch ein Tischlerlehrling?« fragte der Jule kleinlaut.

»Selbstverständlich, mein Junge, Handwerk ist etwas Prächtiges. Vor unseren Handwerkern, die ihren Mann stehen, zieht ein jeder den Hut. Ich habe auch klein angefangen, mit viel Sorgen und Mühen, ich habe kein Auto gehabt wie heute. Doch hinter mir liegt ein Leben emsiger Arbeit. Sei fleißig, Jule, strebsam, dann wirst du –«

»– – auch mal ein Auto haben«, vollendete Jule mit leuchtenden Augen. »Im Sommer fahre ich Auto, im Winter Hörnerschlitten!«

»Na also, Junge, aber, wie ich dir sagte, fleißig arbeiten! Wer faul auf der Bärenhaut liegt, sich gegen seinen Meister auflehnt, nicht hören will, wenn er tadelt, der bringt es im Leben zu nichts. Ich denke, daß dir die kleine Reise eine Freude und ein Ansporn sein wird. Und nun greif zu, Junge, ziere dich nicht, Autofahren macht Hunger.«

Da faßte der Jule Mut und fühlte sich durch die freundlichen Worte Stadlers beruhigter.

Am nächsten Morgen ging die Fahrt weiter. Fabrikbesitzer Stadler blieb in Stettin, um seine Geschäfte zu erledigen. Die anderen fuhren der Ostsee entgegen.

Von nun an änderte sich das Betragen der Kinder. Jule war ein wenig vorlaut, Pommerle dagegen immer stiller. Nur von Zeit zu Zeit wandte es sich an Frau Stadler mit der bangen Frage:

»Wie lange dauert es noch, bis ich das Wasser sehe?«

Die Insel Wollin war erreicht, man hatte zum ersten Male den Ausblick aufs Haff. Pommerle saß mit verkrampften Händen im Wagen, es drückte sich fast die kleine Nase an der Scheibe breit. Jule wies auf den Silberstreifen, der sich ihm zeigte.

»Dort ist die Ostsee.«

»Nein, Jule«, sagte das Kind, und Erregung klang durch seine Stimme, »die liebe, liebe Ostsee kommt noch.«

Schließlich war man in Neuendorf. Vor dem Kurhaus hielt der Wagen. Pommerle umklammerte den Arm Frau Stadlers.

»Zum Strand, nur rasch mal zum Strand«, bat es zitternd, »nur ein bißchen zur lieben Ostsee.«

»Aber Kind, wir müssen doch erst in unsere Zimmer.«

»Bitte, liebe Tante, ihr habt doch gesagt, ich habe vielen Menschen eine Freude gemacht, ach, zur See, zur lieben Ostsee! Tante, sie rauscht schon, sie ruft mich, ich rieche sie! – Ach, Tante, bitte, bitte!«

Pommerles blaue Augen waren groß geworden. Flehende Angst stand darin, daß man ihm die geliebte See nur für Minuten vorenthalten könne.

»Findest du denn zurück, mein Kind?«

»Ja, ja, Tante, höre doch, die See ruft mich!«

»So lauf, doch sei bald zurück.«

»Ich will mit«, sagte Jule.

Zum ersten Male achtete Pommerle nicht auf den Freund. Wie gejagt lief es davon, hin zum Strand, grüßte jubelnd das blaue Meer, stand dann in stummer Ergriffenheit, das Wiedersehen mit der eigensten Heimat wirkte auch heute wieder geradezu überwältigend auf das Kind ein.

Doch auch der Jule starrte hinaus aus das Meer, auf die Wellen, die sich langsam, in ewigem Einerlei, gegen den Strand wälzten, stand, starrte wortlos die unendliche Wasserfläche an, die kein Ende hatte. So hatte er sich das Meer nicht vorgestellt. Und all sein Staunen wurde in die wenigen Worte zusammengefaßt:

»Potz Rübezahl, so viel Wasser!«

Pommerle ging langsam bis ans Wasser heran. Es beugte sich nieder, streckte beide Hände aus und ließ sie von den Wellen bespülen. Das war die heißgeliebte Ostsee, es war heute wie einst, wenn Pommerle mit den Freundinnen spielte. Alles hier war ihm lieb und vertraut, es war ihm, als wäre es nie von hier geschieden.

Doch auch die Erinnerung an all das Schwere, was es in seinem jungen Leben durchgemacht hatte, zog durch seine Gedanken.

»Vater, – du liegst noch immer im tiefen Wasser, ich bin wieder hier. – Hörst du mich?«

Jule wollte etwas sagen, er unterließ es. Er sah Pommerle nur an und empfand unbewußt, daß in der Seele des Kindes Freude und Leid lebten, daß er die Freundin jetzt nicht stören durfte. Und doch hätte der Jule so gern dem Pommerle die Hand gereicht, damit es nicht noch dichter an das große Wasser gehe und vielleicht auch darin ertrank, wie sein erster Vater von der Ostsee.

Dem pommerschen Fischerkinde erzählten die Wellen auch heute wieder von der Heimat, und Pommerle verstand die Sprache. – –

Schließlich erinnerte sich Jule seiner Beschützerpflichten. Frau Stadler hatte die Kinder ermahnt, nicht zu lange am Wasser zu bleiben. Jule nahm sich fest vor, recht folgsam zu sein, damit man ihn nicht zu tadeln brauche. Er wollte sich Stadlers gegenüber dankbar zeigen, weil sie ihm die große Freude der Autofahrt bereitet hatten. Wohl fand auch er das Meer sehr schön, aber seine Berge waren ihm lieber. Ja, wenn mitten aus dem großen Wasser die Schneekoppe aufgestiegen wäre, von der aus man noch weiter gesehen hätte, vielleicht bis nach Schweden, dann hätte ihm solch Ausblick viel Spaß gemacht. Er begriff nicht recht, daß Pommerle noch immer verzückt auf die weite Wasserfläche schaute.

»Du –, du machst dir die Füße naß, – nu komm endlich!«

Doch Pommerle schien noch immer auf das Plätschern der Wellen zu hören.

»Die Tante sagte, wir sollen bald zurück sein. Ich habe auch mächtigen Hunger. Nach dem Essen gehen wir wieder herunter.«

Der Jule mußte noch dreimal mahnen, ehe sich das Kind umwandte. Helles Leuchten stand in seinen Augen.

»Komm!« knurrte Jule.

»Ist sie nicht wunderschön, meine liebe Ostsee?«

»Hinten wie ein Tisch und so blank wie poliert. Aber vorne hat sich die Politur geworfen.«

»Und wie schön sie riecht, wie schöne nasse Blumen!«

»Komm nu, ich habe Hunger!«

»Heute nachmittag baden wir, Jule!«

»In dem großen Wasser?«

»Fein ist es drin, Jule!«

»Wenn du darin ertrinkst?«

»Ach, Jule, meine liebe Ostsee, ich möchte noch hierbleiben, ich möchte gar nicht essen gehen.«

Energisch packte Jule sein Pommerle am Arm. »Vom Wasser werden wir nicht satt. Ich habe mächtigen Hunger. Nu komm, sonst zankt die Tante. Zu mir hat deine Mutter auch gesagt, wir sollen folgen. Komm!«

Aber Pommerle warf erst noch einen langen Blick auf das Wasser.

»Du willst wohltätig sein?« grollte Jule. »Der Chauffeur hat den ganzen Tag an der Arbeit gesessen, hat gut aufpassen müssen an allen Ecken, der hat auch großen Hunger. Aber an den denkst du nicht. – Nu komm, der will doch auch essen, und ehe wir nicht essen, bekommt er auch nichts.«

Das leuchtete Pommerle ein. Wenn der Chauffeur so großen Hunger hatte, mußte man heimgehen. Aber dann, wenn der Mann abgefuttert war, ging es wieder hierher, an den Strand, damit man keine Minute von dem köstlichen Wiedersehen einzubüßen brauchte.


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