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2. Kapitel
Der Jubiläumsgeburtstag

Professor Bender und seine Frau fuhren aus dem Schlaf empor. Der Wecker schrillte. Der Professor schaute auf die Uhr, die vierte Morgenstunde kam heran. Da hörte er auch schon aus dem Nebenzimmer trippelnde Füße; Pommerle hatte sich rasch ermuntert, helles Lachen klang zu den Eltern herüber, und im nächsten Augenblick stand ein kleiner Hemdenmatz am Bett des Professors, schlang beide Arme um den Hals des Vaters und jaulte:

»Ich gratuliere dir zum Geburtstag, zu deinem Jubiläumsgeburtstag! Und nun höre zu, was ich dir noch extra schenke.«

»Kleiner Irrwisch, hast du den Wecker gestellt? Hast du uns so zeitig aus dem Schlaf geweckt?«

»Weißt du, Vati, heute kommen doch gar so viele Leute, da haben wir noch viel zu tun. Und der Jule wird auch gleich hier sein. Er sagte, er fährt heute früh um drei Uhr mit dem Rade, um Blumen für dich' zu holen, weil er nachher wieder feste arbeiten muß. Der arme Jule, er hat keine Zeit, um am Vormittag mit dir den Wein zu trinken, wie die anderen Leute. Und dein armes Pommerle hat auch keine Zeit, weil es in die Schule muß. Ich gratuliere dir, Vati, so sehr, so furchtbar sehr, und nu paß gut auf.«

Professor Bender richtete sich im Bett auf und schaute beglückt auf das kleine Mädchen, das so viel Sonne in sein Leben trug. Noch zu keiner Stunde hatte er es bereut, das Kind der Fischerleute adoptiert zu haben. Pommerle war sein Sonnenschein, er konnte sich sein Leben ohne dieses unverdorbene Kind nicht denken. – Erwartungsvoll blickte er auf sein Töchterchen, das noch einige Male tief atmete und dann mit heller Stimme begann:

»Das Hauptgestein des Riesengebirges ist Granit, welcher aus der Tiefe des Hirschberger Tales bis auf den Rücken der böhmischen Kämme reicht. Am übrigen Südgehänge herrscht Christinens Schiefergebirge vorzugsweise Glimmerschiefer. Das gratinische Terrain ist mit Granitblöcken bedeckt und reicht an pitoske Einzelfelsen. Der Granit wird von Papiergängen durchsetzt.«

»Was, Pommerle – was?«

»Von einzelnen Papiergängen durchsetzt. Auch Asphalt tritt – –«

»Aber Pommerle!«

»Vati, bitte, sei mal noch ein bißchen stille, sonst komm ich 'raus. Es ist nämlich furchtbar schwer, was ich gelernt habe, aus dem dicken Buch. Und nun tritt der Asphalt auf den Kynast auf. Bergbau wird nur im Riesengrund betrieben, zahlreich sind die vielen Erzwesten auf der schlesischen und auf der böhmischen Seite. – So, und nun wünsche ich dir, daß du auch so viel Gelehrtes den fremden Leuten aus aller Welt erzählen kannst, wie heute dein Pommerle aus Liebe zu seinem guten Vati gelernt hat. – War's schön?«

Frau Bender hatte sich abgewandt, sie wollte nicht lachen. Zu drollig hatte Pommerle die gelehrten Worte verdreht. Freilich, die Kleine konnte den Sinn der Schilderung noch nicht erfassen. Der Professor dagegen zog sein kleines Töchterchen ins Bett, küßte Pommerle stürmisch ab und lachte herzhaft.

»Das hast du wirklich fein gemacht, mein liebes Pommerle. Die vielen Erzwesten auf der schlesischen Seite freuen mich sehr, und nach Christinens Schiefergebirge fahren wir auch zusammen. Dann will ich dir zeigen, was das für Papiergänge sind, die den Granit durchziehen.«

»Ist es dir lieb, daß ich das auswendig gelernt habe?«

»Du hast deinem Vater damit eine sehr große Freude gemacht, mein Kleines, weil er sieht, daß sein Töchterchen Interesse für des Vaters Arbeiten hat. Wenn ich könnte, würde ich mir heute, zu meinem Festtage, solch eine Erzweste anziehen.«

»Kannst du das nicht?«

Nun vermochte sich Frau Bender nicht länger zu halten. Sie lachte schallend. »Pommerle, woher hast du denn diese Weisheit?«

Das kleine Mädchen gab keine Antwort, kroch eiligst aus des Vaters Bett, eilte ins Nebenzimmer, stieg auf den Stuhl und legte nach wenigen Augenblicken dem Vater einen Band des Konversationslexikons auf die Decke.

»Da steht es drin!«

Während sich Professor Bender noch eingehend über die ihm bereitete Geburtstagsfreude unterhielt, las Frau Bender mit unterdrücktem Lachen die Schilderung des Gesteins im Riesengebirge. Aus dem kristallinischen Schiefergebirge hatte Pommerle Christinens Schiefergebirge gemacht, aus der Erzwäsche war eine Erzweste geworden, und der von Porphyrgängen durchsetzte Granit war zu Papiergängen geworden. Auch die pittoresken Einzelfelsen waren von Pommerle umgedichtet worden, so daß dieses liebliche Kauderwelsch herausgekommen war.

»Und dann habe ich dir auch noch was gestrickt, Vati, ein dickes, wollnes Halstuch. Wenn du wirklich mal mit uns im Winter Hörnerschlitten fährst, bindest du das Tuch um, dann kann dir nichts passieren. Genau mußt du dir das Tuch aber nicht ansehen; ich habe ein bißchen geprudelt, aber das macht doch nichts, Vati. Weißt du – –«

Von unten herauf ertönte ein schriller Pfiff.

»Der Jule, der Jule«, schrie Pommerle, riß die Vorhänge auseinander und öffnete das Fenster weit. »Komm 'rauf, Jule, der Vati ist schon munter!«

»Aber Pommerle, wir liegen doch noch in den Betten, es ist ja kaum vier Uhr.«

»Der Jule hat Blumen in der Hand – der Jule bringt dir die Fauna und die Flora des Riesengebirges – Vati, der Jule hat doch nachher keine Zeit. – Jule, Jule, komm rasch 'rauf!«

»Die Haustür ist noch zu!«

»Ich komm gleich 'runter!«

»Nein, Pommerle«, sagte Frau Bender. »Einmal wirst du doch nicht im Hemd hinunterlaufen und den Jule empfangen, außerdem ist der Vati noch nicht angezogen.«

»Goldenes Vätichen«, sagte Pommerle und streichelte ihm die Wange, »zieh dich doch schnell an, der Jule ist unten mit Blumen. Ganz heiß hat er sich geradelt. Hier Vati, hast du den Schlafrock. – Nun komm und mach die Haustür auf.«

Darauf eilte die Kleine wieder ans Fenster und rief hinunter:

»Jule, warte nur noch ein bißchen, der Vati kommt gleich und macht auf.«

Der Professor tat dem Kinde den Willen. Lachend wandte er sich an seine Frau. »Es wird heute doch ein unruhiger Tag. Daß ich allerdings schon um vier Uhr geweckt werde, habe ich mir nicht träumen lassen.«

Pommerle blinzelte den Vater gar listig an und wies mit dem Finger auf den Wandspruch: »Guck mal dorthin, Vati! Morgenstunde hat Gold im Munde. Wenn halt der Jule unten wartet! – Du, Vati, ich hab's gewußt, und darum habe ich gestern abend ein bißchen an der Uhr 'rumgedreht.«

Während sich Pommerle durchs Fenster vom ersten Stockwerk herab unterhielt, kleidete sich der Professor rasch an. Es war von Jule gut gemeint, daß er zu so früher Stunde hinausradelte, um seinem Vormund Blumen zu bringen. Der Jule wäre sicherlich sehr traurig gewesen, wenn er ihm die Blumen nicht abgenommen hätte.

»Zieh dir etwas an, Pommerle. So darfst du nicht zum Jule gehen.«

Blitzschnell schlüpfte das Kind ins Kleid, dann gingen beide die Treppe hinunter, um Jule herein zu lassen.

Wortlos streckte der Tischlerlehrling Professor Bender die Hand hin, die einen großen Strauß Wiesenblumen hielt. An diesem Strauß hing an blauem Faden ein Zettel. Jule hatte sich bemüht sehr schön zu schreiben, doch ohne einige Tintenflecke war es nicht abgegangen. Bender las:

»Es grießt dich fiele tausendmal,
Der Herr der Berge, Rübezahl.«

Bender nahm den Strauß und schaute wartend auf Jule. Endlich sagte er:

»Nun, Jule, hast du keinen Glückwunsch für mich? Es ist sehr nett von dir, in früher Morgenstunde Blumen für mich zu pflücken, doch ein paar herzliche Worte möchte ich noch von dir hören.«

»Dann wünsche ich Ihnen, daß Sie nicht zu lange mit dem Pommerle in Schweden bleiben und noch dieses Jahr gesund bleiben mögen. – Und wenn ich wieder Steine bringe, daß ich dann auch wieder mal – – wissen Sie noch, Herr Professor, einmal haben Sie mir sogar eine ganze Mark dafür gegeben.«

»Jule, Jule, du bist noch immer der alte. Doch nun komm, mein Junge, einen väterlichen Dankeskuß will ich dir doch auf deine schmutzige Stirn geben. Dann gehst du heim und wäscht dich, ehe du mit der Arbeit beginnst.«

»Das ist noch nicht alles, Herr Professor, das große Geschenk kommt erst heute abend. Das bringe ich selber hergeschleppt.«

»Und wenn du kommst, Jule, kriegst du von der Torte mit dem grünen Zuckerkranz. – Vati, das weißt du noch gar nicht, daß du heute eine schöne Torte kriegst. Aber ich darf dir noch nichts Näheres darüber sagen.«

»Meister Reichart hat mir versprochen, dich heute schon um vier Uhr gehen zu lassen. Also um halb fünf Uhr bist du bei uns zu Kaffee und Kuchen. Ich denke, daß auch Sabine kommt.«

Jule wollte sich nicht länger aufhalten. Er hatte stets, wenn er bei Professor Bender war, ein bedrückendes Gefühl. Verstohlen machte er Pommerle ein Zeichen, sie solle ihn begleiten, aber der Professor hielt sein Töchterchen fest. Einmal sollte das Kind nicht frühmorgens um vier Uhr durch Hirschberg laufen, zum anderen war Pommerle nur so notdürftig angekleidet, daß es sich bei der frischen Morgenluft eine Erkältung holen konnte. Jule ließ die Unterlippe hängen, als er sah, daß seine heimlichen Bemühungen vergeblich waren.

»Na, dann komme ich eben heute nachmittag. Also, auf Wiedersehen. Lassen Sie es sich heute recht gut gehen, Herr Professor.«

»Danke, Jule, du hast mich mit den Blumen recht erfreut, ich sehe daraus, daß du mir auch ein wenig gut bist. – Stimmt's?«

Darauf hatte der Jule nur ein Knurren. Er zeigte niemals gern, wie es in seinem Inneren aussah. Und einem Menschen etwas Liebes sagen, solche Worte wollten ihm nicht über die Zunge. Als aber Professor Bender und Pommerle ins Haus gegangen waren, als sich die Haustür hinter beiden geschlossen hatte, stand Jule noch längere Zeit in dem kleinen Vorgarten und murmelte mit finsterem Gesicht:

»Nun, Jule, hast du keinen Glückwunsch für mich?«

»Freilich habe ich dich gern, immer bist du gut zu mir gewesen; aber ausgezankt hast du mich auch, und Hörnerschlitten bist du mit uns nicht gefahren.«

Dann erst ging er davon.

Obwohl Frau Bender Pommerle riet, wieder ins Bett zu gehen und noch einige Stunden zu schlafen, schlossen sich die Augen des Kindes nicht mehr. In freudiger Erwartung sah es dem heutigen Tage entgegen. Pommerle wußte, daß sich heute früh so mancherlei ereignen würde. Lief es doch seit Tagen in Hirschberg umher und teilte jedem mit, daß der Vater Jubiläumsgeburtstag habe. Kapellmeister Weise hatte ihm außerdem verraten, daß heute früh die Stadtkapelle komme, um dem Vater ein Ständchen zu bringen. Darauf wartete das kleine Mädchen. Wenn nur der Vati diesen Festakt nicht verschlafen wollte. So ertönte von Zeit zu Zeit ein feines Stimmchen:

»Vati, ich wollte nur mal fragen, ob du wieder eingeschlafen bist?«

Der Professor, der tatsächlich wieder am Einschlafen gewesen war, wurde erneut wach. Schließlich holte er das Kind zu sich ins Bett, und dann tuschelten Vater und Tochter ganz leise von den Freuden und Überraschungen, die der heutige Tag bringen würde.

»Weißt du, Vati, manches verstehe ich ja nicht, aber komisch ist es doch, daß du, weil du Steine klaubst, so ein berühmter Mann geworden bist. Wenn der Jule nun ganz berühmte Tische macht, bekommt er auch mal ein Ständchen?«

»Was – – bekomme ich etwa ein Ständchen?«

»Pst, Vati, das ist ein Geheimnis, darüber darfst du nicht reden.«

Bender schaute nach der Uhr. »Frauchen, ich glaube, es ist das Beste, wir stehen auf. Wenn die Kapelle kommt, will sie doch ein Glas Wein haben. Ich kenne meine lieben Hirschberger, die rücken früh um sechs Uhr an. Schüttel nur ab den Schlummer, geliebte Ehehälfte, denn bald kommt die Musik.«

»Will mal nachgucken!« Und schon war das Kind am Fenster. Es war noch nichts zu sehen.

»So, mein liebes Kind, nun geh hinüber in dein Stübchen und ziehe dich ordentlich an. Auch wir werden aufstehen.«

»Vati, soll ich die Anna wecken? Sie muß doch auch hören, was sie blasen.«

»Zieh dich nur an, Pommerle, Anna steht von allein auf, wenn es Zeit ist.«

»Der Jule hätte auch hierbleiben können. Nun hört er die schöne Blasmusik nicht.«

Aufgeregt kleidete sich das kleine Mädchen an. Frau Bender mußte heute mehrmals tadeln, denn Pommerle war viel zu erregt, um alles richtig zu machen. Mehrfach eilte es ans Fenster, doch noch immer war die Kapelle nicht zu sehen.

Endlich war es so weit! Die feierlichen Klänge eines Chorals klangen in den Morgen hinein. Zwölf Mann der Stadtkapelle, angeführt von ihrem Dirigenten, brachten Professor Bender ein Ständchen. Pommerle war ganz Verzückung. Vati stand im Parterrezimmer am geöffneten Fenster, neben ihm die Mutti. Pommerle war hinaus in den Vorgarten geeilt und schaute unverwandt den Kapellmeister an. Dann wieder gingen die Augen hin zum Vater. Es sprang vor Lust von einem Bein auf das andere und stieß von Zeit zu Zeit den Dirigenten in die Seite:

»Immer noch ein bißchen doller und recht lange. Vati freut sich!«

Schließlich schlug auch für Pommerle die Stunde, daß es zur Schule mußte. Vergeblich hatte es die Eltern gebeten, am heutigen Tage daheim bleiben zu dürfen, aber die Mutter meinte, Pommerle wäre am Nachmittag frei, das genüge.

»Ein Glück, daß wir heute schon um zwölf Uhr fertig sind. Ich möchte doch so gern dabei sein, wenn die vielen Leute gratulieren.«

In der Schule war Pommerle nicht aufmerksam. Es fühlte sich heute als Hauptperson. Malchen Kade, die Gärtnerstochter, tuschelte ihm zu, daß der Vater schon den vierten großen Blumenkorb für Professor Bender herrichte. Daß außerdem noch zahlreiche Blumensträuße bestellt wären, die alle heute früh in die Bendersche Villa geschickt würden.

»Und mein Vater«, sagte Lenchen Ortel, »hat gestern den Zylinderhut herausgenommen. Mit dem Zylinderhut geht er heute zu deinem Vati, mit noch vielen anderen Leuten vom Bürgermeisteramt.«

Pommerle verschlang die Hände. »Und alles das nur wegen die Steiner – zu komisch!«

Es gab gar viel zu erzählen, vom Jule, der in frühester Morgenstunde Blumen gebracht hatte, von der Kapelle und dem Ständchen.

»Wollen wir deinem Vater nicht auch eins singen?« meinte eine der Schülerinnen. »Vielleicht um zehn, wenn wir Pause haben. Dann laufen wir rasch hin und singen ihm eins.«

»Oh!« jauchzte Pommerle.

Dieser Vorschlag fand allgemeine Begeisterung. Man war einverstanden. Bis zur Benderschen Villa war es nicht weit. Wenn man furchtbar schnell rannte, war man in drei Minuten dort. Die Pause dauerte eine volle Viertelstunde.

»Er würde sich furchtbar freuen«, meinte Pommerle. »Den ganzen Tag wird er heute geehrt. Da können wir ihn um zehn Uhr auch mal ehren!«

Während der Diktatstunde steckten die kleinen Mädchen die Köpfe zusammen, eine flüsterte es der anderen zu, daß man in der großen Pause zu Benders laufen wolle, ganz heimlich, damit es auch wirklich eine Überraschung werde.

»Was singen wir?«

Ein Zettel, der diese Frage enthielt, wurde Pommerle zugeschoben. Die Kleine überlegte einige Augenblicke, dann stand mit großen, steilen Buchstaben auf dem Papier:

»Der Mai ist gekommen.«

Diesmal leerte sich die Klasse überraschend schnell. Dann stürzte eine Horde von etwa zwanzig Mädchen die Straße hinunter, versammelte sich atemlos vor der Benderschen Villa. Pommerle hielt in der erhobenen Rechten ein abgebrochenes Zweiglein und gab im Flüsterton die Anordnungen.

»Wenn ich dreimal tüchtig durch die Luft geschlagen habe, fangt ihr mit Singen an.«

Neun verschiedene Töne klangen durch den Morgen. Erschrocken hielten die Kinder wieder inne. Darauf noch einmal:

»Der Mai ist gekommen –«

Wieder tiefe Stille, denn noch immer war der rechte Ton nicht gefunden. Vor dem Hause entstand ein lebhafter Streit. Schließlich ließ eines der Mädchen den Anfangston laut durch den Garten schallen, und zum dritten Male ertönte es:

»Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus.«

Doch der Ton, den Lotte angegeben hatte, war viel zu hoch gewesen, der Gesang wurde dünner und immer dünner, und als man beim himmlischen Zelt angekommen war, konnte keine der Sängerinnen mehr hinauf.

»Halt«, schrie Pommerle, »wir müssen viel tiefer anfangen.«

Nun ging es endlich. Als der Professor am Fenster erschien, mit lächelndem Staunen die kleine Sängerschar musterte, sangen alle aus voller Kehle.

Das Lied war beendet.

»Nu rasch noch eins«, rief Pommerle erregt und machte einen Luftsprung nach dem anderen. »Was denn nun? Schnell, schnell, der Vati wartet.«

»Guter Mond, du gehst so stille«, rief Lenchen. Man hatte das Lied erst kürzlich gelernt.

Der Chor setzte ein. Anfangs klappte es wieder nicht recht, doch schließlich fand man sich doch in einer Tonart zusammen. Man sang das Lied.

Professor Bender war aus dem Haus gekommen, wollte grade einige Worte des Dankes an die Kleinen richten, da begann eine zu singen:

»Morgen muß ich fort von hier und muß Abschied nehmen.«

Vergessen war die Pause von fünfzehn Minuten, vergessen, daß eine Lehrerin bereits im Klassenzimmer stand und auf die Kinder wartete. Ein Lied nach dem anderen erklang, alles bunt durcheinander, was man in letzter Zeit gelernt hatte. Ein Schlaflied, ein Lied an den Winter, ein Choral – bis schließlich Professor Bender energisch abwinkte.

»Habt ihr denn heute frei, Kinder? Dürft ihr herkommen? Ich danke euch herzlich für diese schöne Überraschung.«

»Hast du große Freude gehabt, Vati?«

»Gewiß, ihr habt mich sehr erfreut.«

»Vati – wir konnten alle das Frühstück nicht essen, weil wir so rasch herlaufen und singen mußten. – Ob du uns wohl ein Stück Torte schenkst?«

»Wie lange habt ihr denn noch Zeit? Es ist gleich halb elf Uhr.«

»Halb elf!« tönte es vielstimmig, »was wird Fräulein Meersmann sagen, au je!«

»Habt ihr denn nicht frei bekommen? Seid ihr etwa einfach fortgelaufen?«

Aus dem Vorgarten eilte eine Kette Kinder, eines hinter dem anderen, als letztes Pommerle, laut rufend:

»O je, o je, wenn es halb elf ist, dann kommen wir ja zu spät!«

Ehe der Professor noch wußte, was eigentlich vorging, stand er allein im Garten. Betrübt betrachtete er das Blumenbeet. Dort hatten eifrige Kinderfüße so manches Blümchen zertreten. Doch es war gut gemeint, und wenn auch die kleinen Sänger vom Winter und vom Mond gesungen hatten, für Bender war es ein Beweis, daß man ihm und seinem kleinen Pommerle Freude bereiten wollte. Morgen würde er der braven Sängerschar in die Schulpause eine Torte schicken, als Belohnung für die heutige Überraschung.

Vor der Klassentür sammelte sich die Schar. Es wurde beängstigend still. Die kleinen Plappermäulchen verstummten.

»Mach doch mal die Tür ein Ritzchen auf, ob Fräulein schon da ist.«

»Pommerle, du mußt zuerst hineingehen.«

»Wenn uns der Vati nur ein Stückchen Torte gegeben hätte, würde ich es jetzt Fräulein schenken.«

Schließlich wurde die Tür des Klassenzimmers ein wenig geöffnet, doch sogleich wieder zugeschlagen.

»Sie sitzt auf dem Katheder!«

»Was machen wir nun?«

Doch ehe die Kinder zu einem Entschluß gekommen waren, wurde die Tür von innen geöffnet, Fräulein Meersmann stand vor den Kindern, die die Köpfe tief senkten.

»Wo seid ihr gewesen?«

Pommerle wurde von allen Seiten gestoßen, es sollte reden. Schuldbeladen hob das Kind den Kopf.

»Wir wollten wirklich nur in der großen Pause ein bißchen beim Vati singen. Und dann hat er sich so gefreut, da haben wir halt noch ein bißchen gesungen, immer mehr, und dann ist es so spät geworden. Nun sind wir wieder hier.«

»Ihr habt also die Stunde darüber vergessen?«

»Bitte, Fräulein, sein Sie uns nicht böse. Aber der Vati hat sich doch so gefreut.«

»Ja, er hat sich furchtbar gefreut, er hat gelacht«, rief eine zweite.

»Mein Vater ist heute bei ihm blasen gewesen!«

»Und meiner geht heute mittag zu ihm mit dem Zylinderhut.«

Pommerles Augen ruhten mit rührendem Flehen auf dem Gesicht der Lehrerin.

»Es ist doch heute sein Jubiläumsgeburtstag, da wollten wir ihn auch ein bißchen ehren, weil doch Leute bis aus Schweden kommen.«

Die Lehrerin konnte nicht länger widerstehen. Ihre vorwurfsvollen Worte fielen sehr milde aus, und erleichtert nahmen die Kinder ihre Plätze wieder ein. Pommerle sah noch immer das glückliche Gesicht des Vaters. Und als die Stunde beendet war, sagte es, indem es der Lehrerin zum Abschied die Hand reichte:

»Wir haben wirklich sehr schön gesungen, es hat den Vati wirklich sehr gefreut.« – –

Im Benderschen Hause ging es heute recht unruhig zu. Blumenspenden wurden in Mengen abgegeben, Gratulanten kamen und gingen, auch eine Deputation von der Stadt Hirschberg stellte sich ein, schließlich kamen die Herren von der Geologischen Gesellschaft.

Professor Bender fühlte sich durch die zahlreichen Ehrungen, die ihm heute zuteil wurden, hochbeglückt. Daß sein eifriges Forschen bis weit hinaus über Deutschlands Grenzen anerkannt wurde, befriedigte ihn. Mit vielen Entbehrungen, unter großen Mühsalen, hatte er einst studiert, von dem festen Willen beseelt, das gesteckte Ziel zu erreichen. Aus eigener Kraft war er heute auf dem wissenschaftlichen Gebiet eine Größe geworden, das machte ihn glücklich und stolz. Von Schweden und Norwegen aus bot man ihm an, im Sommer Vorträge zu halten, man lud nicht nur Professor Bender, sondern auch seine Familie ein, mehrere Wochen in den nordischen Ländern zu verbringen. Den Lehrstuhl, den man ihm anbot, lehnte Bender dankend ab. Immer wieder erklärte er, daß er sich in einem anderen Lande nicht wohlfühlen könne, daß es in seiner deutschen Heimat noch genug zu erforschen gäbe, daß er aber sehr gern für einige Zeit nach Schweden kommen werde, um das gegenseitige Wissen auszutauschen.

Man saß gemütlich zusammen, Wein wurde getrunken, Reden gehalten, der norwegische Professor, Herr Ole Daae, stieß auf die Familie des Gelehrten an und wies dabei auf das süße Kinderbild an der Wand, das Pommerle darstellte.

»Den kleinen Blondkopf hätte ich gern einmal gesehen.«

»Der Wunsch wird Ihnen bald in Erfüllung gehen, Herr Kollege. Unser Pommerle wird in wenigen Minuten hier sein. Die Kleine mag dann ihren Geburtstagswunsch wiederholen, den sie mir heute früh um vier Uhr sagte.«

Als Pommerle erschien, wurde es sehr verhätschelt. Das Kind mit den großen Blauaugen, mit dem offenen Blick, schmeichelte sich sogleich in die Herzen aller. Und als es nun gar von dem Hauptgestein des Riesengebirges sprach, hob Professor Daae die Kleine begeistert auf seine Knie.

»Dich nehme ich mit heim, du mußt zu meinen Enkelkindern kommen! Du bist ja ein prachtvolles Mädchen!«

»Nein, nein«, wehrte Professor Halvorsen, »zunächst wurde uns der Besuch zugesagt. Nicht wahr, kleines Pommerle, du kommst gern nach Schweden?«

»O ja –«

»Du wirst dort viel Wasser sehen, freilich nicht solche Berge wie hier. Hast du überhaupt schon einmal die große See erschaut?«

Die blauen Augen des Kindes verdunkelten sich. »Die See, die liebe, liebe Ostsee«, klang es leise. »Ich bin doch aus Pommern. Mein erster Vater ist in der See ertrunken – dann bin ich hierher in die Berge gekommen.«

Professor Bender sorgte dafür, daß das traurige Erinnern in seinem Kinde bald wieder verwischt wurde. Er schenkte dem Kinde ein kleines Gläschen Wein ein, und voller Entzücken schlürfte die Kleine den süßen Trank.

»Wir lassen dich gar nicht wieder fort«, lachte Professor Daae. »Bist du erst einmal in unserem schönen Norwegen, wird es dir so gut gefallen, daß du gar nicht mehr ins Riesengebirge zurück willst. Und der Vati muß schließlich auch dableiben. Wir holen uns den Vati, die Mutti, alles kommt zu uns.«

Pommerle rutschte hastig von den Knien des Professors hinab. »Das hat der Jule auch gesagt. Holt ihr auch die Kirche Wang?«

»Wenn du es willst, holen wir sie auch.«

»Das läßt der Jule aber nicht zu, es ist unsere Kirche, sie ist doch gekauft worden.«

Es dauerte ein Weilchen, ehe sich der norwegische Professor das Vertrauen Pommerles wieder erworben hatte. Und als er erneut von der Reise nach Norwegen sprach, schüttelte das Kind das Köpfchen und meinte:

»Ich bleibe doch lieber für immer in meinem Deutschland. Hier habe ich auch Wasser und hohe Berge, Wasser bei meinem ersten Vater und Berge bei meinem Vati. Deutschland ist überhaupt viel schöner als Norwegen. Das ist doch nur der Buckel der Katze, und wir sind ein fester Klumpen. So ein bißchen mal nach Schweden gucken, das machen wir schon, aber dann kommen wir bald wieder nach Deutschland zurück. Der Jule meint, es gibt nirgendswo solch schönes Land wie Hirschberg und das Riesengebirge. Und die Sabine meint, in keinem anderen Lande riecht es so schön nach Heimatluft, wie in unserem Deutschland.«

»So lieb hast du dein Vaterland?«

»Ja, ich habe es sehr lieb. Alle sagen, ich kann stolz sein, daß ich ein deutsches Mädchen bin. Und ich bin auch stolz.«

»Unsere norwegischen Mädchen sind auch stolz, daß sie Norwegerinnen sind, kleines Pommerle. Jeder muß sein Vaterland lieben, so ist es gut und richtig.«

»Ja – aber ich weiß etwas ganz besonders schönes über Deutschland und seine Kinder.«

»Was weißt du denn?«

Da stellte sich das kleine Mädchen mit halbgeschlossenen Augen hin und sagte innig:

»Ich bin ein deutsches Mädchen,
Und glücklich, daß ich's bin,
Ich hab' ein fröhlich Herze,
Und aufrecht ist mein Sinn.
Bin stolz, daß mein ich nenne
Solch schönes Vaterland,
Ihm will ich immer dienen
Getreu mit Herz und Hand.
Das Vaterland braucht Frauen,
Frohmütig, herzensstark,
So eine will ich werden,
Will wahr sein bis ins Mark.«

Frau Bender strich zärtlich über das Blondhaar ihres Töchterchens. Die Kleine hatte ihr aus der Seele gesprochen. Dieses Kind, das von Pommern nach Schlesien verpflanzt war, empfand vielleicht stärker als mancher Erwachsene, was es hieß, deutsch zu sein, deutsch bleiben zu dürfen. In diesem Kinderherzen wohnte keine Sehnsucht nach Fremdartigem, ihr Pommerle wurzelte fest in deutschem Boden. Niemals hatte es vieler Worte gebraucht, um das kleine Mädchen darauf hinzuweisen, was es als deutsches Mädchen für Pflichten, für Aufgaben zu erfüllen hatte. Das fühlte die kleine Neunjährige schon heute.

Man brauchte um Pommerle nicht zu bangen. Immer inniger würde sich das Kind an die Heimat anschließen, sich einstmals einreihen in die Front derer, die es sich zur heiligen Aufgabe gesetzt hatten, gute deutsche Mütter zu sein. Heute wollte sie ihrem Kinde nach Möglichkeit den kindlichen Sinn erhalten, heute wollte sie sich nur erfreuen an diesem reinen, unverdorbenen deutschen Mädchen.

Und die Herren aus dem Auslande, die schweigend auf die Kleine blickten, empfanden in diesem Augenblick auch, was dieses Haus für einen kostbaren Schatz barg.

»Glückliches Deutschland«, murmelte der Schwede, »das solche Kinder aufzuweisen hat.« – –

»Glückliches Deutschland«, murmelte der Schwede, »das solche Kinder aufzuweisen hat.«

Am Nachmittag waren Pommerle und einige seiner besten Freundinnen mit Jule und Sabine sehr fröhlich zusammen. Sabine hatte gebeten, bei Pommerle bleiben zu dürfen, und wenn auch Jule keinen besonderen Gefallen an den anderen Mädchen fand, fühlte er sich doch beglückt, in der Nähe seiner Freundin verweilen zu dürfen. Er aß mit sichtlichem Behagen und größtem Appetit ein Tortenstück nach dem anderen und wünschte, daß Professor Bender noch oft einen Jubiläumsgeburtstag habe.

Nur ein einziger bitterer Tropfen war in seine Freude gefallen. Er glaubte, daß Professor Bender über den großen alten Stuhl, den er zusammengeflickt hatte, Freude empfinden würde. Diesen alten Stuhl hatte sich Jule von einer bekannten Familie schenken lassen, die ihn wegen Brüchigkeit ausrangierte. Er hatte den Stuhl repariert, doch nicht sorgfältig. Trotzdem meinte er, daß das große und schwere Stück dem Vormund imponieren würde. Was hatte ihm der Professor gesagt?

»Viel Lust hast du zu der Arbeit nicht gehabt, Jule, das sieht man. Darum sind mir die Blumen, die du mir brachtest, für die du den Morgenschlummer opfertest, wertvoller als dieser Stuhl. Da wolltest du nur nach außen hin zeigen, daß du mir etwas großes schenken willst. Also nur um ein wenig zu protzen, lieber Jule. Wenn du mir im nächsten Jahre wieder Blumen bringst, wenn mir Rübezahl wieder Grüße schickt, hoffe ich, daß der große Berggeist richtig schreiben gelernt hat. Das sollst du ihm sagen.«

Jule war beschämt und bekam einen roten Kopf. Es war wohl doch nötig, daß er, wie auch Sabine schon gesagt hatte, der Schreibkunst größere Sorgfalt schenkte. Wenn er einmal Meister werden wollte, mußte er fehlerlos schreiben können.

Da jedoch Professor Bender und seine Gattin dem Jule am heutigen Tage noch viel Liebe zeigten, war sein Kummer bald wieder vergessen, und noch lange war für alle Beteiligten der Jubiläumsgeburtstag des Professors eine schöne Erinnerung.


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