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6. Kapitel
Heimatzauber

Die Kunde, daß Hanna Ströde nach Neuendorf gekommen sei, verbreitete sich rasch durch den ganzen Ort. Man wußte sogar, daß das einstige Fischerkind in einem feinen Wagen zugereist sei und im Kurhaus wohne. Die Folge war, daß sich sofort einige der früheren Spielkameradinnen und auch einige Fischer aufmachten, um nachzuforschen, ob die kleine Hanna wirklich gekommen wäre. Bereits während des Mittagessens drängte sich ein blondlockiges Mädchen verlegen in den Speisesaal; es war Grete Bauer, Pommerles liebste Kameradin von der Ostsee.

Das Wiedersehen war stürmisch. Grete lief wieder hinaus, teilte es den draußen Wartenden mit, daß Hanna Ströde wirklich angekommen sei, und während Pommerle hastig das Mittagessen verschlang, warteten draußen zahlreiche Kinder, aber auch mehrere Erwachsene.

Pommerle wurde von allen stürmisch begrüßt. Fuhrmann Will hob die Kleine empor und schwenkte sie durch die Luft.

»Kennst du uns noch, Hanna?«

Pommerle kannte alle. Kaum ein Jahr war es her, daß es in Neuendorf geweilt hatte, und vor zwei Jahren war das große Unglück geschehen, da war ihm der Vater ertrunken.

»Spielst du noch mit uns?« fragte Elli Gotsch, die in ihrem zerflickten Kleidchen nicht gerade sauber aussah. »Du bist jetzt reich und fein geworden, Hanna, hast sogar einen schönen Wagen. Wir alle sind arm.«

Pommerle drückte Elli heftig an sich. »Ich habe euch alle, alle sehr lieb, und fein bin ich nicht, ich bin genau wie ihr. Mein Vati aus Hirschberg sagt, es ist alles einerlei, ob einer ein graues oder ein goldenes Kleid anhat. Nur wie der Mensch inwendig ist, darauf kommt es an. Und das hier ist der Jule aus Hirschberg, den heirate ich einmal. Ihr müßt auch sehr lieb zu ihm sein, denn er ist ein sehr guter Junge. Jetzt ist er noch ein Lehrling, aber bald ist er ein Meister, und dann hat er eine große Tischlerei, weil er immer sehr fleißig ist.«

Jule wußte mit den Fischerkindern nichts anzufangen. Da er im Verkehr mit Menschen recht scheu war, stand er verlegen daneben. Es war ihm geradezu eine Pein, die neugierigen Blicke der Kinder über sich ergehen zu lassen. Am liebsten wäre er mit Pommerle allein gewesen, doch immer mehr Menschen begrüßten das Kind, ein jeder schien sich der kleinen Waise zu erinnern.

Pommerle zog es wieder zum Strande hinunter. Es wollte aber auch dem Jule das Haus zeigen, in dem es früher gewohnt hatte.

»Dort wohnt jetzt die Tante Pust, und der Bello muß auch noch dort sein. Er kennt mich genau. Wir wollen zu Onkel und Tante Pust gehen.«

»Kommst du dann baden?« fragten die Kinder.

»Ja, doch zuerst gehen wir zu Tante Pust.«

Jules schlechte Laune stieg. Auch jetzt war er mit Pommerle nicht allein, denn die Fischerkinder schlossen sich den beiden an. Jedes einzelne hatte Fragen an Pommerle zu stellen. Bei dieser Strandwanderung traf man auf zahlreiche Fischer, die mit dem Säubern der Netze beschäftigt waren. Das war dem Jule etwas ganz Neues. Am liebsten wäre er bei den Männern stehengeblieben und hätte zugesehen, wie sie alles für den nächsten Fischfang vorbereiteten. Doch Pommerle rief nach dem Gefährten, er mußte ihr Geburtshaus sehen.

Auch diesmal überkam das Kind wieder ein wehmütiges Gefühl, als es das kleine Haus betrat. Und noch schmerzlicher schlug ihm das kleine Herz, als es bei Pusts Onkel Ehmke sah, jenen Fischer, der fast täglich mit dem Vater auf See hinausgerudert war. Obwohl man sich bemühte, von Hanna alle traurigen Erinnerungen fernzuhalten, kam die Rede immer wieder auf den toten Vater und auf die noch früher verstorbene Mutter.

»Ich habe noch ein Bild von deiner Mutter, als sie so ein kleines Mädchen war, wie du heute bist«, sagte Fischer Ehmke, »das will ich dir schenken, Hanna. Du hast deine Mutter kaum gekannt, und jedes Kind muß doch ein Andenken an seine Eltern haben.«

»Oh, das Bild möchte ich wohl haben.«

»Und ein Bild von deinem Großvater habe ich auch.«

»Habe ich denn auch einen Großvater? Wo ist er?«

»Der ist schon lange tot, Pommerle, aber der Bruder von deinem Großvater lebt noch. Das weißt du wohl gar nicht, daß Onkel Will mit dir verwandt ist?«

Das wußte Pommerle nun freilich nicht und horchte erstaunt auf, als Fischer Ehmke ihm Mitteilungen von seinen Großeltern machte, die auch in Neuendorf gelebt hatten.

»Deine Großeltern und deren Eltern haben alle in diesem Orte gewohnt. Schon vor zweihundert Jahren hat es einen Fischer gegeben, der Ströde hieß. Wenn du erst groß bist, Hanna, mußt du dir alles das einmal nachlesen, das ist sehr interessant. Schließlich muß doch ein jedes Kind von seiner Heimat wissen, wie sie früher aussah und was im Laufe der Jahre aus ihr geworden ist.«

»Wenn du einmal länger hier bist«, fiel Fischer Pust ein, »führe ich dich in die Umgegend von Neuendorf, dann fahren wir mal durch die ganze Insel. Du kennst deine Heimat ja noch gar nicht, und dabei ist sie so schön.«

»Aber Hirschberg ist noch viel schöner«, klang es aus der Zimmerecke herüber. Es war Jule, der durchaus bei jeder Gelegenheit seiner schlesischen Heimat Lob singen mußte.

»Ich kenne Hirschberg nicht«, sagte Pust, »aber unsere Insel kenne ich genau, und die ist sehr schön.«

»Wir haben breite Straßen, wir haben Denkmäler, wir haben ganz in der Nähe hohe Berge, und darin gibt es viele schöne Steine So schöne Steine, daß der Vater vom Pommerle darüber Bücher schreibt.«

»Solche Denkmäler und solche Steine, wie ihr sie habt, haben wir natürlich nicht, aber wir haben dafür uralte Bäume und alte Steine, die aus der frühesten Zeit stammen. Ihr habt jetzt leider keine Zeit, sonst müßtet ihr mal zum Hexenstein oder zum Otternstein gehen, der Herr Professor aus Hirschberg würde Augen machen.«

Jule horchte auf.

Wenn man hier so berühmte Steine hatte, wollte er einen davon seinem Vormund mitbringen. Bender würde sich sehr freuen, wenn er in seine Steinsammlung den Hexenstein bekäme. Er fragte den Fischer genauer aus, der ihm immer mehr von den eigenartigen Steinen und Bäumen der Insel Wollin erzählte. So sollte der Heidenstein etwas ganz besonders Schönes sein, zu dem viele Spaziergänger wanderten.

»Den Heidenstein nehme ich mit«, murmelte Jule. Es galt jetzt nur noch, Herrn Stadler zu bewegen, daß er bei der Heimfahrt zum Heidenstein fuhr, daß man ihn ins Auto laden könne. Pust behauptete zwar, der Stein sei ein Riese, doch der Knabe glaubte seinen Worten nicht.

Pommerle hatte der Erzählung aufmerksam gelauscht. Es war ihm etwas ganz Neues, daß in seiner Heimat interessante Bäume standen, daß einzelne dieser Bäume mehr als dreihundert Jahre zählten und manche sogar Namen hatten.

»Ich möchte alles das einmal sehen.«

»Das ist recht, Pommerle. Man muß seine engste Heimat ganz genau kennen, denn dann erst empfindet man die rechte Liebe zu ihr. Es ist schade, daß der gelehrte Herr Zöllner augenblicklich nicht hier ist, der würde euch in den Wäldern der Insel umherführen und euch alle die alten Bäume, die interessanten Steine zeigen. Der kennt die Insel. Aber vielleicht im nächsten Jahre, wenn du wieder länger hier bist, trifft es sich so, daß du mit dem guten Onkel August deine Heimatwälder durchstreifen kannst.«

Jule taute langsam etwas mehr auf. Er meinte, er kenne das Hirschberger Tal genau, wisse die Geschichte eines jeden Berges im Riesengebirge. Und als Pust davon berichtete, daß die schönen Bäume vor dem Umschlagen geschützt wären, daß kein Bewohner der Insel das Recht habe, diese Bäume zu beschädigen, lachte der Jule verächtlich auf.

»Das sollte bei uns mal einer wagen! Mit Donnergepolter käme der Rübezahl herbei und schlüge den Kerl kurz und klein. Keinen Stein darf man aus seinem Gebirge holen, ohne ihn zu fragen. Aber ich bin gut Freund mit dem Rübezahl, mir tut er nichts.«

»Jule«, meinte Pommerle, »dann wirst du hier den Heidenstein auch nicht mitnehmen dürfen.«

Pommerle, die den Spielgefährten genau kannte, hatte die Gedanken Jules längst erraten. Er stieß das kleine Mädchen unsanft in die Seite und machte ihm ein Zeichen, zu schweigen.

Pust lachte. »Den Heidenstein und den Hexenstein wird uns keiner nehmen. Er hat einen Umfang von fast vier Meter. Ich möchte mal den sehen, der ihn fortschleppt!«

Während Pommerle aufmerksam den Erzählungen der Fischer lauschte, wurde es draußen vor dem Hause unruhig. Man rief laut nach Hanna Ströde, denn man wollte die Freundin nicht länger missen. Schließlich kamen die Kinder ins Zimmer gelaufen und zerrten Hanna gewaltsam aus dem Haus. Sehr einfaches Spielzeug brachten sie an, Spielzeug, das Pommerle an einst erinnerte. Gewaltsam unterdrückte es die traurige Regung, die in ihm aufstieg. Es wollte mit den Freundinnen lustig sein und sich mit ihnen freuen.

Da die Sonne so herrlich lockte, schlug eines der Mädchen vor, ein wenig ins Wasser zu gehen. Pommerle warf das Bündel mit dem Badezeug jauchzend in die Luft. Endlich, endlich würde es wieder einmal in der geliebten See baden.

»Jule, wir baden! Jule, du mußt mitkommen. Wir fassen uns an den Händen und tanzen mit den Wellen um die Wette.«

Jule stand stocksteif am Strande. Von jeher war er kein Freund des Wassers gewesen. Bis auf den heutigen Tag tadelte der Meister, daß er so wenig Wasser zum Waschen des Gesichtes verwende. Baden war ihm etwas Schreckliches. Ja, wenn man in der Wanne im warmen Wasser saß, das ließ er sich wohl gefallen, aber ins kalte Wasser gehen, – nein, darum drückte er sich immer. Er hatte schwimmen lernen sollen, doch war er über die Anfänge nicht hinausgekommen. Und jetzt verlangte man von ihm, daß er in dieses riesige Meer hineinwaten sollte, in das kalte Wasser, das sich bewegte, dann überschlug und unheimlich aussah. Er hörte deutlich, wie ständig jemand murmelte. Das war gewiß solch eine Wasserfrau oder ein böser Wassergeist, der nur darauf wartete, den Jule an den nackten Füßen in die Tiefe zu ziehen.

»Wir wollen lieber heimgehen«, sagte er mürrisch.

»Nein, Jule, du kommst mit, wir wollen zusammen baden!«

»Ich habe Kratzen in der Kehle, dann ist Baden nicht gesund.«

Die Kinder brachen in helles Lachen aus, schon waren einige im Wasser und spritzten zu Jule hinüber.

»Komm doch«, bat Pommerle, »ich halte dich fest an der Hand. – Hast du Angst?«

»Wer redet denn immerzu im Wasser?«

»Die Wasserfeen«, sagte Pommerle. »Es sind wunderschöne Frauen.«

Jule blickte mißtrauisch ins klare Wasser. Jetzt sah er auch tatsächlich, daß sich unten etwas bewegte. Frauenhaare?

»Was ist denn das?« fragte er und wies auf das Seegras, das im Wasser hin und her schwankte.

»Der Jule hat Angst, er will nicht ins Wasser«, lachten die Kinder.

Pommerle stand an der Seite des Freundes, versuchte ihn durch kosende Worte umzustimmen, mit ihm ins Wasser zu gehen. Als aber der Jule immer energischer den Kopf schüttelte, lief Pommerle allein ins Meer.

»Pommerle, Pommerle!« Jule schrie angstvoll auf. Das Wasser ging seiner geliebten Spielgefährtin schon bis an die Hüften, und immer weiter lief es in die riesengroße Wasserflut hinein. »Komm endlich zurück, Pommerle! – Pommerle – Pommerle!«

Schließlich brachen dem Jule Schweißtropfen aus. Er wagte sich bis dicht ans Wasser, es umspülte seine Füße, die in den neuen Schuhen steckten, doch achtete er nicht darauf. Er wollte Pommerle möglichst nahe sein. Die Wasserfrauen würden das Kind herunterziehen. Dann ertrank es, wie sein Vater.

»Komm zurück«, rief er immer jämmerlicher. Wäre man im Gebirge gewesen, er hätte Rübezahl um Hilfe angegangen. Doch hier an dem großen Wasser hatte der mächtige Berggeist keine Macht.

Ein Sprühregen überschüttete den Jule, ein Dutzend Kinderhände klatschten auf die Wasserfläche. Jule taumelte zurück.

»Eine Wut habe ich im Leibe auf euch alle, eine Wut! Wenn wir nur erst im Wagen säßen und heimführen.«

Wenn ihm doch etwas einfallen wollte, um Pommerle aus dem Wasser zu rufen! Und endlich glaubte er das Richtige gefunden zu haben. Er streckte den Arm nach rückwärts aus.

»Dort – – dort – – Pommerle, sieh nur, dort kommt ein Löwe, er rennt direkt aufs Wasser zu. – Komm schnell heraus. – Und dort kommt ein Wolf und hinterher der Rübezahl. Komm schnell, komm!«

Es war nicht die Angst, die Pommerle aus dem Wasser trieb, sondern die Neugier, wo wohl der Löwe sein könnte. Kaum hatte es den Fuß auf den Sand gesetzt, als Jule das nasse Kind nicht gerade sanft packte und es gewaltsam über den Strand zog.

»Wenn ich dich mal heiraten soll«, schrie er Pommerle an, »hast du mir zu folgen. Das Weib soll dem Manne untertan sein! Du willst wohl auch ertrinken? – So, und jetzt bleibste hier! Eine Wut habe ich im Leibe! – –«

»Aber Jule«, sagte Pommerle erschrocken, »warum bist du plötzlich so böse?«

»Wasser ist nichts für kleine Mädchen. Tausend Leute sind schon darin ertrunken. – So, nu gehen wir heim.«

»Ich ertrinke nicht, Jule, und gleich heimgehen können wir auch nicht, ich bin doch ganz naß.«

»Das macht nichts. Du gehst nicht wieder ins Wasser.«

»Ich muß mir doch meine Kleider holen.«

»Die Mutter ist mir schon gestorben und der Vater auch, und dir auch der Vater – – wenn du nu auch stirbst, dann habe ich keinen mehr. Ich will nicht, daß du wieder ins Wasser gehst.«

»Jule, hast du Angst um mich?«

»Natürlich habe ich Angst um dich. – Nu komm!«

»Angst sollst du nicht haben, du kleiner, lieber Jule«, meinte das Kind mütterlich. »Ich hole mir rasch die Sachen, dann setzen wir uns zusammen an den Strand und werfen Steine ins Wasser. – Du armer Jule, jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben.«

»So komm doch!« lockten die Badenden.

»Nein«, erwiderte Pommerle, »der Jule will nicht, daß ich im Wasser bin. Ich ziehe mich jetzt an.«

Doch ehe das kleine Mädchen die Kleider erreicht hatte, waren einige der badenden Kinder aus dem Wasser gekommen, hatten Pommerles Sachen genommen und liefen davon. Jule nahm die Verfolgung sogleich auf, doch die Kleinen eilten behende ins Wasser, die Kleider Pommerles in den erhobenen Händen haltend.

»Ihr Rasselbande, gebt die Sachen her! Wenn man naß ist, erkältet man sich und muß sterben. – Ihr sollt die Sachen hergeben!«

»Der Jule hat Angst, – der Jule hat Angst!«

Da griff der erregte Jule in den Sand und warf mit vollen Händen nach den Badenden. Die Kinder vergaßen, daß sie Pommerles Kleider hielten, wollten Jule bespritzen, und im nächsten Augenblick schwammen ein Kleid, ein Unterröckchen, Schuhe und Strümpfe auf der weiten Wasserfläche. Helles Gelächter brach los. Den Fischerkindern war es nichts Neues, daß die Sachen durchnäßten. Eines der größeren Mädchen schwamm den Kleidungsstücken nach, brachte sie glücklich wieder zurück und schleuderte die nassen Stücke Pommerle zu.

Triumphierend ergriff sie Jule. »So«, sagte er verbissen, »nun müssen wir heimgehen.«

Pommerle trippelte an der Seite des Freundes dahin. Es zog die Sachen nicht erst an. Es war schon so oft im Badeanzug heimgelaufen, daß ihm auch heute der Aufzug nicht komisch erschien. Frau Stadler war ein wenig entsetzt, als sie das durchnäßte Mädchen kommen sah. Pommerle wollte nicht zu Bett, es meinte, es sei gar nicht kalt, es wolle sich rasch umziehen und wieder hinunter ans Wasser gehen.

Jule konnte während des ganzen Nachmittags ein Gefühl der Beschämung nicht loswerden. Die Fischerkinder, die sich später wieder einstellten, betrachteten Jule mit spöttischen Blicken. Besonders Herbert Affmann, der auch hinzugekommen war, um Pommerle zu begrüßen, sagte wegwerfend:

»Ich bin noch nicht mal Lehrling, und du bist schon einer, aber vor dem Wasser habe ich mich nie gefürchtet.«

Diese Reden veranlaßten Jule am anderen Morgen, energisch zu erklären, daß er mit Frau Stadler, Pommerle und zwei Fischern in einem Boot hinausfahren wolle, um zuzusehen, wie die Netze ausgelegt werden. Er hatte sich den großen Kahn bereits genau besehen und stellte fest, daß vielleicht doch die Möglichkeit bestehe, wieder heil an Land zurückzukommen. Freilich, der Gedanke, daß Pommerles Vater auch in solch einem großen Kahn ertrunken sei, daß er einfach umgeschlagen war, beunruhigte den Knaben recht sehr. Trotzdem kämpfte er tapfer die bange Stimmung nieder, die ihn überkam, als man einsteigen sollte.

»Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns mal die Naturdenkmäler auf der Insel besehen wollten, von denen gestern gesprochen wurde. Für Professor Bender ist es sicher interessanter, zu erfahren, wie der Hexenstein aussieht. Das Wasser kennt er doch genau, aber den Hexenstein kennt er nicht. – Wenn Sie erlauben, Frau Stadler, suche ich nach dem Hexenstein.«

»Ich denke, wir wollen mit den Fischern hinausfahren?«

»Gewiß, das wäre auch interessant, aber – der Hexenstein ist doch viel interessanter.«

Pommerle schmiegte sich an den Freund. Ganz leise flüsterte es ihm zu: »Jule, haste vielleicht wieder Angst vor dem Wasser?«

»Ach was«, sagte er und warf sich in die Brust, »ich habe überhaupt keine Angst. Aber Netze auslegen und die armen Fische fangen, man soll doch kein Tier quälen, man sollte die Fische lieber leben lassen.«

»Man quält sie doch nicht, Jule, man zieht sie 'raus, und schwupp, schon sind sie tot.«

»Und dann klopft man sie ganz breit. – Ich glaube, das ist 'ne schöne Quälerei, bis aus 'nem Hering eine Flunder wird.«

»Jule, stell' dich doch nicht gar so dumm! Und nu steig' rasch ein!«

»Ist das dort hinten nicht eine Sturmwolke? Ich glaube, wir bekommen bald ein Gewitter. Die Sabine meinte, das Wasser zieht das Gewitter an, und der Blitz schlägt gern in was Hohes. Wenn wir dann mit dem Kahn und dem hohen Segel mitten auf dem Meer sind, kommt der Blitz, und dann – krach, der Donner, der schmeißt den Kahn um, und wir müssen ertrinken. – Ich möchte halt gar gern den Hexenstein sehen.«

»Trödle nicht solange, Jule«, meinte Frau Stadler, »die Fischer warten.«

»Wenn aber der Herr Professor den Hexenstein gern sehen möchte!«

»Komm nun endlich, Jule!«

Er stieg in den Kahn, doch wagte er nicht niederzusitzen. Erst als ihn Pommerle auf die schmale Holzbank niederzog, nahm er zögernd darauf Platz. Als dann der Kahn vom Lande abstieß, als er in der Brandung heftig schwankte, wurden Jules Augen groß und starr, krampfhaft hielt er sich an der Bank fest.

»Haben Sie auch Rettungswesten mit?« fragte er leise einen der Fischer.

Doch nur ein Lachen wurde ihm zur Antwort.

Während der Fahrt hatte der Jule keinen Genuß. Pommerle hingegen interessierte sich für jeden Handgriff der Fischer. Auch Frau Stadler war das Auslegen der Netze etwas Neues. Jule hielt meistens die Augen fest geschlossen. Nur wenn das Boot einmal zu sehr schwankte, riß er erschrocken den Kopf hoch, und über seine blassen Lippen kam ein kurzes Stoßgebet: »Rübezahl, hilf uns!«

Je mehr man sich vom Ufer entfernte, um so unbehaglicher fühlte sich der arme Jule. Seine sonst so laute Stimme wurde immer leiser. Von Zeit zu Zeit wandte er sich an Pommerle: »Haben die Fischmörder noch nicht genug Beute?«

»Aber Jule, Fische schmecken dir doch so gut. Onkel Will tut den Fischen kein Leid an.«

»Ich glaube, ich erkälte mich auf dem Wasser, ich friere schon. Fühle mal meine Hände an, sie sind ganz kalt. Die Seeluft hat solch ungesunden Geruch, davon bekommt man Husten. Na, überhaupt – – ich wollte, ich wäre wieder in meinen Bergen.«

Während Pommerle am liebsten noch weiter in See hinausgefahren wäre, litt der Jule Höllenqualen. Nein, niemals wieder fuhr er mit an die Ostsee, auch dann nicht, wenn I. K. 37 985 noch so lockte und rief. Er wollte lieber auf die stolze Fahrt verzichten, ehe er erneut einen Kahn bestieg.

»Nun, Jule, ist dir das alles nicht ganz etwas Neues? Warum bist du denn gar so still?«

»Ich kann es nicht leiden, wenn man Fische tötet. Ich möchte zurück.«

Er war während der Fahrt recht unliebenswürdig, brummte schließlich unverständliche Worte vor sich hin, saß aber doch mäuschenstill, weil er längst bemerkt hatte, daß bei jedem Aufstehen das Boot schwankte.

Endlich ging es heimwärts! Jule starrte unverwandt aufs Ufer. Je näher man ihm kam, um so leichter wurde sein Herz. Als er dann wieder festes Land unter den Füßen hatte, machte sich sein Groll Luft.

»Wenn hier nichts anderes zu sehen ist als Wasser, komme ich nicht mehr mit! Und nicht mal den Stein sehe ich. Wie soll der Herr Professor Reden in Schweden halten, wenn ich ihm den Hexenstein nicht mal beschreiben kann? Und alles das nur, weil du zu den dummen Fischen willst. Nur deshalb muß ich mit. – Ich heirate dich nicht, ich heirate lieber die Sabine, die will nicht ans Wasser.«

Pommerle war tief betrübt, daß ihr lieber Jule gar nichts für die heißgeliebte See empfand. All seine Versuche, den Spielgefährten von der Schönheit seiner Heimat zu überzeugen, schlugen fehl.

»Ich wünschte«, sagte Pommerle, »daß all die Millionen Menschen, die auf der Erde leben, nach Neuendorf kommen könnten, um zu sehen, wie schön es hier ist.«

»Sollen sie kommen!« erwiderte Jule. »Ja, sie sollen ruhig kommen und sich an den Strand legen und den Leib voll Wasser trinken. Dann wird die See wenigstens leer, und man braucht sich nicht zu ängstigen.«

»Dann wünsche ich«, entgegnete das kleine Mädchen erregt, »daß alle Leute von deiner Schneekoppe Steine abbrechen. Dann ist sie auch bald weg. Wenn du gar so eklig bist, Jule, heirate ich einen Fischer.«

Zum ersten Male seit zwei Jahren hatten die beiden Kinder einen ernsten Streit zusammen. Auf dem Heimwege zum Hotel sprachen sie kein Wort zusammen, sie schauten sich nur verstohlen an. Pommerle tat das Herzchen weh, daß der Jule so häßlich war, und Jule grämte sich, daß Pommerle ihm zürnte.

Beim Abendessen schob Pommerle dem Jule eine Scheibe Wurst zu. Jule wurde krebsrot und schob sie wieder zurück. Das Essen wollte beiden nicht munden, bis schließlich Frau Stadler fragte, was das alles zu bedeuten habe. Die Kinder schwiegen, und als Frau Stadler energisch in sie drang, sagte Pommerle gedrückt:

»Ihm gefällt doch die liebe Ostsee nicht.«

»Dir gefällt auch mein Riesengebirge nicht!«

»Doch, aber die Ostsee ist viel schöner.«

»Und deswegen streitet ihr euch? Zwei gute Freunde schauen sich nicht mehr an, weil jeder sein Heimatland lobt?«

»Der Jule will die Ostsee austrinken lassen, daß sie wegkommt.«

»Macht nur wieder Frieden, Kinder. Denke doch daran, Jule, wie sehr du dich auf diese Reise gefreut hast. Warum willst du Pommerle absichtlich kränken? Ist es nicht richtig, daß Hannchen jenes Fleckchen Erde am meisten liebt, auf dem es geboren wurde? Geht es dir nicht ebenso, Jule? Das mußt du doch verstehen, mein Junge. Hier hat Pommerle seine ersten, schönen Kindheitserinnerungen, hier ist es geboren, nach diesem Fleck Erde sehnt man sich sein Leben lang zurück. Hört, Kinder, ich habe als kleines Mädchen mit meinen Eltern am schönen deutschen Rhein gelebt, dorthin zieht es mich auch jetzt noch. Und wenn ich in jene Gegend komme, weht mich Heimatluft an. Das ist bei jedem Menschen so, und das ist gut und richtig. Der liebe Gott hat das sehr klug und weise eingerichtet, daß man niemals seine Heimat vergessen kann. Wenn später das Leben die einzelnen Menschen bunt durcheinanderwirbelt, wenn die vom Osten nach dem Westen, die vom Norden nach dem Süden kommen, haben sie doch immer die Liebe zu ihrer engsten Heimat behalten. Sie suchen sich gern die Leute aus, die aus dem gleichen Ort, der gleichen Provinz sind. Das ist dann wie eine große Familie. Stelle du, mein liebes Pommerle, deine Ostsee ruhig an erste Stelle in deinem Herzen, wie du, Jule, dein Schlesierland bevorzugen darfst. Geht niemals davon ab, auch wenn ihr später in einem anderen Lande leben solltet. So etwas kann passieren. Und nun reicht euch brav die Hände, ihr seid zwei gute deutsche Kinder, gehört zu einem Volk, seid daher froh und glücklich, daß die deutsche Heimat so herrliche Gegenden hat. Nun gebt euch die Hände und macht wieder Frieden.«

Jule schob Pommerle unter dem Tisch die Hand hin, die Pommerle sogleich ergriff und herzlich schüttelte.

»Nun bin ich wieder froh, Jule, und daß du es weißt, Schlesien ist sehr schön, ich hab' ja auch gesungen: O Schlesien, du geliebtes Land.«

»Und die Ostsee ist ja auch schön, ja, sie ist wirklich schön. Solche Flundern wie hier haben wir nicht im Riesengebirge. Ja, Pommerle, es ist wirklich sehr schön, – wahrhaftig!«

»Jule, du süßer, guter Jule!« Pommerle umhalste den Freund und drückte ihm einen stürmischen Kuß auf die Wange.


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