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Jungfer Allwissend

»So, – Onkel Kuno, jetzt bin ich in deiner Apotheke, und jetzt lasse ich mir alles zeigen, damit ich alles weiß.«

»Willst du nicht lieber mit deiner neuesten Freundin, der kleinen Helga Petermann, spielen?«

»Bei der Helga war ich gestern nachmittag. Dort hat mich der Opa hingebracht, und dann hat der Herr Petermann vom Opa und von mir ein Bild gemacht, weil der Opa durchaus mich immer haben will, auch wenn ich wieder fort bin.«

»Gewiß, Herr Petermann ist der beste Photograph am Ort.«

»Ich habe mir dort auch alles angesehen. – Weißt du, Onkel Kuno, ich kenne doch ein photographisches Atelier, weil meine Mutti auch mal eins gehabt hat. Ich hab' ihm auch manchen guten Rat gegeben.«

»Du? – So eine kleine Krabbe?«

»Nu, ich weiß doch vieles von der Mutti her.«

»Einem erfahrenen Photographen kannst du doch keinen Rat geben, Erna. Sei nicht immer so vorlaut.«

»Ach – du lieber Onkel Kuno, ich bin nicht vorlaut, ich mache nur, was mir der Väti gesagt hat. Ich soll mich überall umsehen, damit ich was lerne. Und nun will ich mich heute in deiner Apotheke umsehen, damit ich auch hier recht viel weiß.«

»Na, Jungfer Allwissend, was möchtest du also hören?«

»Jungfer Allwissend! – Hahaha, Onkel Kuno, bin ich das?«

»Natürlich, wenn du dir einbildest, in alles deine kleine Nase stecken zu können, wenn du glaubst, jedem gute Ratschläge geben zu können, wird man dir sehr bald den Spottnamen ›Jungfer Allwissend‹ geben.«

»Ist das ein Spottname?«

»Für ein kleines Mädchen von noch nicht acht Jahren ganz gewiß!«

»Dann bin ich eben nicht Jungfer Allwissend, sondern Klein-Goldköpfchen, und so sollst du mich auch nennen.«

»Das wird darauf ankommen!«

»Was machst du denn da, Onkel Kuno?«

»Ein Rezept.«

»Oh, ich weiß schon, da rührst du viele Sachen zusammen, tust alles in eine Flasche, und dann kriegt es der Kranke. – Kann ich dir nicht ein bißchen helfen?«

»Davon verstehst du gar nichts, Jungfer Allwissend!«

»Doch, Onkel Kuno, ein bißchen verstehe ich auch davon.«

»Bitte schön«, sagte der junge Apotheker und reichte seiner kleinen Nichte ein Rezept. »Lies das mal vor. Der Mann kommt in einer Viertelstunde und holt es ab.«

Erna nahm den länglichen Zettel, sah oben den gedruckten Namen eines Arztes und dann lauter Worte, die sie gar nicht lesen, deren Buchstaben sie nicht einmal entziffern konnte.

»Hm –«, machte sie altklug, »man könnte dem Mann etwas Pfefferminztee geben. – Onkel Kuno, das hier lies mal alleine!«

»Ich denke, du willst mir helfen?«

»Will ich auch«, sagte Erna mit leichtem Trotz.

»Gut, so reiche mir alle Zutaten her, zusammenrühren werde ich sie allein.«

Wieder nahm Erna den länglichen Zettel und fing an zu buchstabieren. Dann hob sie den Kopf und betrachtete genau die vielen weißen und gelben Gläser und Büchsen, die in den Fächern der Schränke standen.

»Adeps – Pasta Zinei – Terebinthina – Ungt. molle –, was das alles für komisches Zeug ist!«

»Da siehst du nun, Jungfer Allwissend, daß du wieder mal einen viel zu großen Mund gehabt hast. – Gar nichts weißt du! Mit dem Zettel verstehst du nichts anzufangen.«

»Nein, Onkel Kuno, das stimmt schon, aber ich habe jetzt ja auch noch nichts von dir gelernt. Du hast immer keine Zeit für mich! Was ist denn das da oben, das Adeps?«

»Das dort oben sind alles Bestandteile für Medizinen, die man den Kranken zurechtmachen muß.«

»Und was hast du dort in den vielen Kästen?«

»Dort sind allerlei Teesorten.«

»Oh – das weiß ich! Pfefferminztee, – Baldriantee, Kamillentee – Onkel Kuno, wenn jetzt einer nach so 'nem Tee kommt, laß mich verkaufen. Ich weiß ganz genau, wie der Pfefferminztee riecht.«

»In einer Apotheke darf ein kleines Mädchen nicht verkaufen.«

»Wenn ich doch aber alle Tees ganz genau kenne?«

Onkel Kuno zog eine der Schubladen auf. »Was ist das, Jungfer Allwissend?«

Erna neigte sich über den Kasten und zog die Nase kraus. »Ein Stinktee!«

»Welchen Namen hat er?«

»Den Tee kenne ich nun gerade nicht, Onkel Kuno, du hast mir gleich das schwerste Rätsel aufgegeben. Alle anderen kenne ich!«

Der Apotheker zog einen zweiten Kasten auf. »Wenn du alle anderen Sorten kennst, bitte, – was ist das hier?«

»Ach – den kenne ich auch nicht. – Das wird wohl so ein Tee sein, der von Afrika oder noch von viel weiter herkommt. Ich kenne nur die, die überall auf den Wiesen wachsen, aber die kenn' ich alle!«

Eine dritte Schublade wurde aufgezogen. »Na, was ist das, du Naseweis?«

»Das ist auch so 'n Rätseltee.«

»Nein, der wächst auf der Wiese. Du hast diese Pflanze schon oft blühen sehen.«

»Ach, Onkel Kuno, du gibst mir immer nur so was Schweres auf.«

»Gar nichts Schweres, du sagtest mir doch, du kennst alle Teearten unseres Landes. – Das hier ist Schafgarbentee, die Pflanze mit der weißen Blüte hast du schon häufig gesehen.«

»Schafgarbe kenne ich ganz genau. – Na, Onkel Kuno, ich werde das alles schon noch lernen. Du mußt mir nur Gelegenheit geben, oft hier zu sein, dann weiß ich auch, was der Adeps und der Ungt. molle ist.« Erna wies auf zwei weiße Porzellanbehälter, die in dem obersten Fach standen. Die Worte waren mit schwarzer Schrift aufgedruckt.

»Das brauchst du nicht zu wissen, aber ich werde dir jetzt einmal einen kleinen Spruch sagen, den werden wir gemeinsam lernen. Und wenn du wieder einmal bei dem Photographen Petermann oder bei mir in der Apotheke bist, erinnere dich des kleinen Verses.«

»Na, das wird wohl kein schöner Vers sein.«

»O doch, sogar ein sehr schöner Vers, Jungfer Allwissend. – Nun höre gut zu:

›Zwei Augen hab' ich, um alles zu sehen,
Zwei Füße, um überall hinzugehen,
Zwei Hände, um beide fleißig zu rühren
Und Speis' und Trank in den Mund zu führen.
Doch hab' ich nur einen einzigen Mund,
Damit ich nicht esse mehr als gesund,
Und nur eine einzige Nase auch,
Die ich nicht in alles stecken brauch'.‹«

Erna zog die Unterlippe herab. »Weiß schon, warum du mir das sagst, Onkel Kuno. – Wenn aber der Spruch meint, daß ich zwei Augen habe, um alles zu sehen, so muß ich mir doch ansehen, was in so einer Apotheke ist. Es gibt auch Frauen, die sind in einer Apotheke, und vielleicht werde ich auch mal so eine Frau, die in einer Apotheke verkauft. – Meine Mutti sagt immer, man soll schon frühzeitig alles lernen.«

»Wenn du deiner Mutti in der Wirtschaft hilfst, beim Ordnungmachen und Staubwischen, wenn du kleine Handarbeiten machst, ist das sehr lobenswert, wenn du aber deine Nase in alles steckst, was dich gar nichts angeht, wird man dich bald nicht mehr leiden können.«

»Na, da will ich mal lieber zu Herrn Petermann gehen und zur Helga. Du willst mir doch nicht alles zeigen.«

»Ja, ja, gehe nur zur Helga. Außerdem wirst du heute noch die kleine Tochter von unserem Rechtsanwalt Arbert kennenlernen. Suse ist ein sehr verständiges Mädchen.«

»Wo wohnt sie?«

»Ihr Vater hat sein Haus um die zweite Ecke herum. Hast du das große Schild noch nicht gesehen? Du machst doch sonst die Augen sehr weit auf.«

»Ich geh' jetzt zur Helga.« Mit diesen Worten verschwand Erna aus der Apotheke. Der Spruch des Onkels gefiel ihr gar nicht, auch hörte sie den Spottnamen »Jungfer Allwissend« gar nicht gern. Es klang viel schöner, wenn sie vom Opa »Klein-Goldköpfchen« genannt wurde.

Mit den Händen auf dem Rücken schlenderte sie um das Haus herum, hörte im Hofe etwas klappern, kam näher und sah den Hausdiener Adrian, der in zwei großen Wannen Gläser wusch.

»Immerfort haste zu waschen, Baldrian. Macht ihr denn so viele Gläser dreckig?«

»Ja, immerfort!«

Onkel Kuno war verstimmt, das hatte Erna wohl gemerkt. So wollte sie ihn wieder versöhnen und ihm beweisen, daß sie sich auch nützlich machen könne. Eben erst hatte er gemeint, daß sie, statt neugierig in der Apotheke umherzuschauen, im Haushalt helfen könne.

»Du, Baldrian, ich kann das hier machen, geh weg, ich mache das!«

»Nein, Klein-Goldköpfchen, das kannst du nicht.«

»Baldrian, ich hab' noch 'ne Zigarette! Ach, bitte, lieber Baldrian, laß mich doch die Gläser waschen. Ich kann auch mit dem Pinsel drin herumfahren. Gib mir doch mal das Ding her!«

»Manches sind Giftgläser«, sagte Adrian, um das Kind abzuwehren.

»Oh – – Giftgläser? – Sind sie so giftig, daß das Wasser dann auch giftig ist?«

»In manchen ist eine scharfe Säure gewesen, die beißt.«

»Baldrian, darf ich mal meinen Finger ins Wasser stecken, ob es beißt?«

»Laß nur, Klein-Goldköpfchen, es sind Gläser dabei, die dürfen nicht zerschlagen werden.«

Der gutmütige Hausdiener wies auf einige Gläser. »Dort war Gift drin.«

»Ich hab' mir in der Apotheke oben alles genau angesehen, aber den Ort, wo das viele Gift steht, habe ich nicht gesehen. – Du, ist vielleicht der Adeps, der ganz oben steht, Gift?«

»Nein, das Gift steht verschlossen in einem Schrank. Dort darf niemand heran.«

»Wo ist denn der Schrank? In der Apotheke is' ein großer Schrank, dahinter standen viele Schachteln.«

»Nein, der Schrank ist in dem anderen Raum, hinter der Apotheke.«

»Ach, komm mit, Baldrian, wir gehen durch die Hintertür in die hintere Apotheke, dann zeigst du mir den Giftschrank. – Ich helf' dir schnell.« Schon hatte Erna die Händchen ins Wasser getaucht, nahm ein Glas und den im Wasser schwimmenden Pinsel und begann eifrig zu bürsten. Adrian stand neben ihr und lachte.

»Du wirst mal eine gute Hausfrau werden, Klein-Goldköpfchen. Wer dich heiratet, der hat es gut!«

»Ja, – das glaube ich auch. – Du, ich kann schon alles! Ich kann nähen, abtrocknen, ich arbeite furchtbar viel für meine Puppenkinder, und den kleinen schreienden Bengel, den Harald, kann ich spazierenfahren. – Na, und dann sollste mal sehen, wenn ich zu Hause bin! Ich brauche nur mit dem Finger zu drohen, da sind alle meine Bengel und alle meine Mädel furchtbar artig. – Na, die hab' ich in der Gewalt und – – aber Baldrian, das darfst du keinem sagen. Mein Vati macht auch immer, was ich will. Nur die Mutti will nicht so. Trotzdem ist die Mutti sooo lieb!«

Erna nahm ein großes Glas aus der Wanne, da rutschte es auch schon aus ihren Händen, fiel auf das Steinpflaster und zerbrach. Sie wurde blaß vor Schreck.

»Ist das ein teures Giftglas?«

»Es ist immerhin ein ziemlich wertvolles Glas. Laß es nur sein, ich werde die Arbeit lieber allein machen. Es ist nicht gut, wenn man überall seine Nase – –«

»Ich weiß schon«, Erna begann zu weinen, »du kennst den Spruch vom Onkel Kuno auch. – Ich wollte dir doch nur zeigen, daß ich auch zwei Hände hab', die ich fleißig rühre.«

»Weine mal nicht«, tröstete der weichherzige Adrian, »es ist ja nicht so schlimm. Wir haben genug Gläser, manchmal geht eins kaputt.«

»Ist es wirklich nicht so schlimm?«

»Nein, Klein-Goldköpfchen. Nachher zeige ich dir den Giftschrank.«

Geduldig stand das Kind neben Adrian, bis er seine Arbeit beendet hatte. Sie wollte ihm sogar helfen, einige der gesäuberten Gläser in die Apotheke zu tragen, doch Adrian wehrte ab.

»Das mache ich lieber allein.«

»Geh aber ganz leise, damit uns Onkel Kuno nicht hört, sonst schmeißt er uns wieder raus und sagt, ich stecke meine Nase überall hin, – auch in den Giftschrank.«

Der Giftschrank enttäuschte Erna gewaltig. Es war ein kleiner Schrank mit einer festen Tür, durch die sie nicht sehen konnte.

»Baldrian, kannst du ihn nicht ein ganz kleines bißchen aufmachen?«

»O nein, den Schlüssel hat nur der Onkel Apotheker.«

»Und hier dahinter ist ein furchtbares Gift?«

»Ein ganz schreckliches Gift.«

»Ach, da wollen wir lieber wieder weggehen!« sagte das Kind ein wenig ängstlich.

So begab sich Erna zurück in den Hof. Sollte sie die Großeltern um Erlaubnis fragen, zu Helga Petermann gehen zu dürfen? Oder sollte sie sich erst einmal das große Schild ansehen, von dem Onkel Kuno gesprochen hatte? Im nächsten Augenblick war Erna aus dem Hofe gehuscht, bog in die nächste Querstraße ein und stand bald vor einem hübschen Hause mit einem großen Porzellanschild, »Dr. Arbert, Rechtsanwalt und Notar.«

»Notar, – Notar – –« lachte sie hell auf, »das ist doch der urkundige Beamte aus meinem Kreuzworträtsel. – Oh, jetzt habe ich wieder was zugelernt. Wenn ich heute das kleine Mädchen von ihm kennenlerne, werde ich sie genau ausfragen, was das für ein kundiger Beamter ist.«

Sie kehrte wieder in die Apotheke zurück, um sich die Erlaubnis zu holen, Helga Petermann besuchen zu dürfen und mit ihr zu spielen. Es war wohl besser, wenn sie sich an den Opa wandte, der würde ihr nichts abschlagen.

Im Flur traf sie mit Rosine, dem Hausmädchen, zusammen. »Wo ist denn mein Opa, du Rosinenkuchen!«

»Er ist eben in den Keller gegangen, ich habe gesehen, wie er über den Hof ging.«

Blitzschnell wandte sich Erna um. Wenn der Großvater in den Keller ging, mußte sie dabei sein. Er ging sicher wieder zu den Fässern mit dem schönen süßen Wein. Die Kellertür war nur angelehnt, Erna huschte hinein und stieg, da alles hell erleuchtet war, die zehn Stufen hinunter. Sie hörte den Großvater mit Adrian reden.

»Zehn Flaschen Sauerbrunnen, Herr Wagner. Soll ich nicht auch noch den Sprudel mit hinaufnehmen? Heute kommt doch Frau Triesen, die ihn braucht.«

»Ja, Adrian, nehmen Sie gleich einige Flaschen Sprudel mit hinauf.«

Erna ging nicht in den hinteren Keller, sie faßte nach der Klinke jener Tür, hinter der die Fäßchen mit dem süßen Wein waren. Die Tür war nicht verschlossen, der Schlüssel steckte im Schloß. Anscheinend war der Großvater schon hier gewesen und wollte nochmals zurückkehren.

»Jetzt mache ich den Teufel«, lachte Erna in sich hinein, »ich verstecke mich hinter ein Faß. – Au, das macht Spaß!«

Sie ging in den Raum hinein, zog die Tür hinter sich zu und kroch in dem nur wenig erhellten Raume in die hinterste Ecke. Dort kauerte sie mäuschenstill hinter einem Mauervorsprung und wartete auf das Eintreten des Opas. Sie zog das Schürzchen über den Kopf, der Großvater sollte sie nicht sogleich erkennen.

»Hu – hu –« brummte sie leise, »ich bin der Teufel, – gib mir ein Gläschen von dem süßen Wein, – hu – hu, ich bin der Teufel.«

Dort drüben, das kleine Fäßchen enthielt das süße Getränk. Ob sie an dem Hahn mal ein bißchen drehen sollte? Noch saß Erna artig in der Ecke; sie wußte genau, daß dieses Drehen ein Unrecht war. Der Wein gehörte dem Großvater, sie durfte davon nichts nehmen.

Die Zeit verrann. Allmählich wurde es dem Kinde langweilig, es kam aus der Ecke hervor, schritt zur Tür und klinkte daran, – doch die Tür ließ sich nicht öffnen.

»Opa – –!« Die Stimme Ernas hallte laut in dem Gewölbe wider. »Opa, – mach doch auf! – Opa! – – Baldrian! – – Oma! – – Onkel Kuno! – – Opa – – Opa! – –«

Niemand schien ihr Rufen zu hören.

»Ich fürchte mich nicht«, sagte sie laut, »der Opa wird gleich wiederkommen und mich holen. – Hier ist kein Teufel, hier ist nur der gute Wein.«

Mit den Händchen strich sie über eines der Fäßchen.

»Du bist der gute Wein. Weil ich so alleine bin, kannst du mal ein ganz kleines bißchen tropfen.«

Es war ein Leichtes, den Hahn zu erreichen.

»Opa, komm doch, oder ich hole mir ein ganz kleines bißchen Wein.« Nochmals versuchte Erna, die Tür zu öffnen, trommelte mit beiden Fäusten gegen das Holz, aber Wagner und Adrian hatten längst den Keller wieder verlassen. Sie wußten ja nicht, daß ihnen das kleine Mädchen gefolgt war.

»Du wirst schon kommen«, sagte Erna, sich künstlich beruhigend, »bis dahin laß ich mir den Finger betropfen.« Sie drehte den Hahn auf. Im nächsten Augenblick schoß ein Strahl des süßen Tokaiers auf die Erde. Erna hatte viel zu hastig gedreht. Rasch machte sie den Hahn wieder zu, dann tauchte sie das Fingerchen in die Pfütze, die auf dem Boden entstanden war und führte es zum Munde.

»Hm – das schmeckt aber gut!«

Der Wein versickerte rasch zwischen den Ziegelsteinen, mit denen der Keller gepflastert war. So gab es bald nichts mehr zu lecken. Da mußte sie den Hahn ganz behutsam nochmals aufdrehen. Das gelang den geschickten Fingern des Kindes. Tropfenweise kam der Wein aus dem Faß heraus. Mit der hohlen Hand fing Erna die Tropfen auf, schleckte immer wieder die Hand leer und fand es herrlich, ungestört die süße Flüssigkeit trinken zu dürfen.

»Wollen mal sehen, was in den anderen Fäßchen ist.«

Dort drüben war ein ganz großes Faß. Auch dessen Hahn war zu erreichen. Wieder drehte Erna behutsam den Hahn um, und wieder fielen Tropfen in die hohle Hand.

»Ätsch, pfui Teufel!« Daß Essig in dem großen Faß war, hatte die Kleine nicht gewußt. Sie rieb die feuchte Hand an der Schürze ab und kehrte zu dem Fäßchen mit dem schönen süßen Wein zurück, um erneut einige Tropfen zu schlürfen.

»Opa – – Opa – – komm doch!«

Der süße Wein schmeckte plötzlich nicht mehr. Erna stand an der Tür. Da war es ihr, als vernehme sie in dem fast dunklen Raume leises Knistern.

»Opa«, rief sie ängstlich, »hier ist was! – Opa, so komm doch!«

Noch immer kam niemand, sie zu befreien. Da füllten sich die Kinderaugen mit Tränen. Außerdem war ihr plötzlich so komisch. Der für ein Kind zu reichlich genossene süße Wein machte sich bemerkbar, vielleicht war es auch die immer größere Angst, die sich schwer auf ihr Herz legte.

»Opa! – –«

Erna schlug so hart gegen die Tür, daß ihr die Händchen weh taten. Aber es war unmöglich, das Kind zu hören, da der Keller auf der anderen Seite des Hofes lag und tief in die Erde gegraben war.

Oben in der Apotheke vermißte zunächst niemand das kleine Mädchen. Man glaubte, sie sei mit der Tante Karla im Stadtpark oder bei Helga Petermann. Als es Mittag wurde, als Karla erklärte, sie habe Klein-Goldköpfchen nicht gesehen, ging Wagner besorgt zu dem Photographen, aber auch dort wurde ihm die Auskunft, daß Erna nicht hier gewesen sei.

Unruhig lief man durch das große Haus, fragte sogar die Nachbarn, aber keiner vermochte Auskunft über Erna zu geben. Der gegenüberwohnende Kaufmann sagte, er habe die kleine Erna fortgehen sehen, doch sei sie gegen elf Uhr wieder zurückgekommen. Das Hausmädchen Rosine bestätigte, daß Erna gegen elf Uhr im Hause gewesen und nach dem Großvater verlangt habe.

Man lief in den Garten, in den Hof, öffnete die Tür der Garage, stieg hinauf in die kleine Oberwohnung, von dem Kinde war nichts zu sehen. Großpapa Wagner war in größter Aufregung. Sein Liebling war verloren gegangen. War der Kleinen ein Unglück zugestoßen? Laut rufend ging er nochmals durch Haus und Garten. Eine Antwort kam nicht. An das Mittagessen dachte er nicht, er hätte vor Angst und Aufregung auch keinen Bissen herunterbringen können.

»Ich gehe rasch zur Polizei, um nachzufragen.«

Auf der Polizei ließ man sich alles erzählen, gab auch die Versicherung ab, daß man nach dem Kinde suchen werde; trotzdem kehrte Wagner voller Unruhe heim.

Da kam gegen zwei Uhr eine Kundin in die Apotheke, die einige Flaschen Helenenquelle kaufen wollte.

»Ich gehe rasch hinunter in den Keller«, sagte Kuno. Er schloß den Keller auf und holte die Flaschen. Kuno wußte selbst nicht, warum er plötzlich laut und deutlich den Namen der kleinen Erna rief. Hier unten konnte sie unmöglich sein.

»Erna, – Erna – –«

Das erwachende Kind rieb sich die Augen. – Wo war sie nur? Das war doch nicht das weiche Bett in Heidenau?

»Mutti – –« rief sie schlaftrunken, »Mutti!« Wo war sie nur?

»Erna, – Erna«, klang es da wieder.

»Väti – – Väti – –«

Kuno horchte auf. Welch klagender Ton schlug an sein Ohr? Das Wimmern kam aus dem vorderen Keller, in dem die Weinfässer lagerten.

»Opa – – Opa – –«

Es war dem erwachenden Mädchen inzwischen zum Bewußtsein gekommen, daß es im Keller eingeschlossen war. Erna war von dem Lecken des Süßweines plötzlich müde geworden und eingeschlafen. Auf den harten Ziegeln lag sie lang ausgestreckt. Jetzt richtete sie sich empor und ließ erneut ihre lauten Rufe ertönen: »Opa – Opa – –«

Kuno zog den anderen Schlüssel hervor, öffnete die Tür. Da taumelte ihm die kleine Erna entgegen, das Gesicht überronnen von Tränen.

»Opa, – – Onkel Kuno – – die Tür war zu!«

»Ach, du armes, liebes Ding«, sagte der Onkel voller Mitleid, »wie lange bist du denn hier unten eingeschlossen?«

»Furchtbar lange, – ach, Onkel Kuno!« Erna schluchzte herzbrechend. Tränen strömten aus ihren Augen, der kleine Körper bebte vor Erregung.

»Komm, mein kleiner Liebling, wie bist du denn in den Keller geraten?«

Aber Erna vermochte setzt keine Auskunft zu geben. Sie schluchzte immer lauter, und Kuno wischte ihr die unsauberen Wangen mit seinem Taschentuche ab.

»Sie ist wieder da, ich habe sie gefunden«, rief er, ins Wohnzimmer tretend.

Da waren schon der Großvater, die Großmutter, Tante Karla, der Adrian und die Rosine. Ein jeder sagte dem Kinde Liebes und Freundliches, jeder tröstete, so gut er konnte. Erna aber weinte noch immer, sie konnte sich gar nicht beruhigen. Erst als man viel später erfuhr, daß sie den Hahn des Weinfasses geöffnet, an dem Tokaier geleckt und dadurch sehr müde geworden war, sagte die Großmutter sanft:

»Da hast du gleich deine gerechte Strafe bekommen, mein Kind.«

Onkel Kuno zupfte das kleine Mädchen an dem Ohr und sagte: »Doch hab' ich nur einen einzigen Mund, damit ich nicht trinke, mehr als gesund. Und nur eine einzige Nase auch, die ich nicht in alles zu stecken brauch'. – Wirst du es dir nun merken, Jungfer Allwissend?«


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