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Ein gutes Hausmütterchen

Die siebenjährige Erna Wendelin nahm den Kopf der Mutter zwischen ihre beiden kleinen Hände und sagte schmeichelnd: »Laß mich ruhig allein zu den Großeltern nach Dillstadt fahren, ich verlaufe mich wirklich nicht. – Mutti, du brauchst mir Fräulein Rettich nicht mitzugeben, laß sie lieber hier, bei den anderen kleinen Kindern. Ich fahre sooo gerne allein!«

Frau Bärbel Kirschner, die Mutter der Kleinen, strich dem Kinde zärtlich über das Blondhaar. »Nein, mein kleines Kerlchen, das geht nicht! Du mußt von Heidenau aus dreimal umsteigen, ehe du in Dillstadt angekommen bist.«

»Mutti, der Vati macht sein Auto fertig und fährt mich bis Dresden. Das hat er im vorigen Jahre doch auch gemacht, als du mit den beiden Fipsen nach dem Pinzgau gefahren bist. – In Dresden setzt ihr mich in die Eisenbahn, und ich fahre los in die weite Welt. – Mutti, ich gehe nicht an die Tür, ganz gewiß nicht, ich gucke auch nicht weit zum Fenster raus. – Mutti, willst du mein Ehrenwort?«

»Dann steigt meine kleine Erna in einen falschen Zug und kommt nie nach Dillstadt. Der Opa, die Oma, Onkel Kuno und Tante Karla warten und warten, aber mein kleines Goldköpfchen kommt nicht an.«

Erna lachte, ihre blauen Augen blitzten. »Das kleine Goldköpfchen! Hahaha! – Mutti, weißt du, du bist doch immer das große Goldköpfchen gewesen, alle Leute nennen dich so, auch der Onkel Forstrat sagt immer nur zu dir: Frau Goldköpfchen. Oh, und nun bin ich das kleine Goldköpfchen. Au, das ist aber schön! – Mutti-Goldköpfchen, du brauchst keine Angst zu haben, ich verlaufe mich nicht, ich weiß schon, was ich den Leuten in der Eisenbahn sage, wenn ich so'n bißchen ängstlich werde.«

»Was wirst du ihnen dann sagen, kleine Erna?«

»Bitte schön, ihr lieben Leute, ich heiße Erna Wendelin und gehe seit einem Jahr und einigen Monaten in die Schule in Heidenau, ich bin jetzt auch die Tochter vom Doktor Kirschner in Heidenau, aber erst war ich die Tochter von meinem Väti, der ist jetzt tot. Zu Hause sind wir acht Kinder, und jetzt fahre ich zu meinem Großvater nach Dillstadt, der dort eine Apotheke hat. Bitte schön, ihr lieben Leute, sagt dem kleinen Mädchen, ob es im richtigen Zuge sitzt.«

»Und dann glaubst du, die Leute werden dir alles sagen und dich zu dem richtigen Zuge führen, wenn du auf der Umsteigestation bist?«

Die kleine Erna lächelte süß. »Das machen sie schon, Mutti! Sie werden mir sogar die Tür aufmachen und sagen: ›Da du doch ein kleines Goldköpfchen bist, helfen wir dir.‹«

»Leute, die auf der Reise sind, haben wenig Zeit.«

»Oh, Mutti, ich finde schon jemanden. Weißt du, ich suche mir so 'nen lieben alten Mann aus, denn alte Männer sind immer furchtbar nett. Mutti, ich gucke ihn recht artig an, sollst mal sehen, wie gerne mir der alte Mann dann hilft.«

Bei diesen Worten machte Erna solche Schelmenaugen, daß Goldköpfchen lachen mußte.

»Fräulein Rettich wird sehr traurig sein, Erna. Fräulein Rettich will doch auch am Sonnabend in die Ferien gehen. Sie hat fast denselben Weg wie du und würde sehr gern einen Tag in Dillstadt sein.«

»Da kann sie mich ja abholen. – Ach, liebe Mutti, laß mich doch ganz alleine fahren!«

»Ich glaube nicht, daß es der Vati erlaubt.«

»Mutti, – wenn du es erlaubst, ist es doch erlaubt. – Den Vati kriege ich schon rum!«

»Und ich erlaube es nicht, kleine Erna. Du fährst am Sonnabend mit Fräulein Rettich nach Dillstadt und kannst dann die ganze Zeit allein mit den Großeltern, dem Onkel und der Tante sein.«

»Ja, – da ist eben nichts zu machen«, sagte Erna, die Achseln zuckend, »das ist schade, – sehr schade. – Ich wollte so gerne mal ein Fräulein sein, um das sich keiner kümmert. – Mutti, kannst du dir das nicht noch mal überlegen?«

»Ich glaube nicht, Erna.«

»Laß uns rasch mal nachdenken, Mutti. – Sieh mal, du bist doch eine sehr geplagte Hausfrau. Der Hermann, der dir immer so treu als der älteste von uns zur Seite steht, ist mit seinen Kameraden auf die Fahrt gegangen. Der Hermann hielt im Hause Ordnung. Ich auch! – Nun sind wir beide weg, und es wird 'ne tolle Unordnung sein. Wenn nun auch noch Fräulein Rettich fort ist? – – Ach, du arme Mutti, was wirst du für 'nen Ärger mit den vielen Bengeln und den Mädeln haben. Laß mal Fräulein Rettich noch hier. Wenn ich wiederkomme, kann sie auf Ferien gehen. Dann sind die Bengel nicht ohne Aufsicht.«

»Nein, nein, Erna, Fräulein Rettich freut sich darauf, daß sie am Sonnabend in die Ferien gehen kann.«

»Ach, Mutti, du hast sooo viele Kinder! Alles sind wilde Lümmel. Wie wirst du nur fertigwerden?«

»Die Hauptsache ist, daß meine kleine Erna in Dillstadt kein wilder Lümmel ist, sich artig beträgt und keinen Ärger macht.«

Erna legte den Kopf auf die Seite und schnippte mit dem Fingerchen. »Oh, – mit denen dort werde ich fein fertig! Also, Mutti, überlege dir noch mal, ob es nicht besser ist, wenn Fräulein Rettich noch so'n bißchen hierbleibt. – Der Stefan ist doch augenblicklich krank –«

»Nein, der Stefan ist wieder ganz gesund. Er hat zwei Tage lang brav seinen Pfefferminztee getrunken, nun ist der Magen wieder in Ordnung.«

»Brauchste den Pfefferminztee nicht mehr?«

»Nein, den brauche ich nicht mehr.«

»Oh – dabei haben wir noch 'ne große Tüte voll! – Vielleicht könntste ihm doch noch 'ne Tasse aufbrühen. Pfefferminztee ist immer gesund.«

»Stefan braucht den Tee nicht mehr. – Und jetzt mußt du mich hübsch in Ruhe lassen, kleine Erna, ich habe noch allerlei zu tun.«

»Na, ich hab' erst viel zu tun, Mutti. Wenn einer verreisen will, muß er überall noch kramen. Das hast du im vorigen Jahre auch so gemacht. – Ach, Mutti, ich werde abends ganz matt sein von all der Arbeit. Das Küchengeschirr meiner Puppen muß noch gescheuert werden, meinen Kühen und Schafen muß ich Futter geben, meine Kinder wollen versorgt werden, – ach ja, Mutti, ich muß auch laufen! Ich kann mich mit dir nicht länger unterhalten, ich habe noch schrecklich viel zu tun!«

Mit diesen Worten stürmte die Kleine aus dem Wohnzimmer. Goldköpfchen sah ihr lächelnd nach: »Ein liebes Mädelchen, das gibt mal ein prächtiges Hausmütterchen ab.«

Erna begab sich schnurstracks in die Küche. »Gib mir mal den Atatopf runter, ich muß putzen.«

»Was willst du denn putzen?«

»Mein Kochgeschirr, – alles muß blitzblank sein, wenn eine Hausfrau auf Reisen geht. – Gib mir mal den Topf her.«

»Nimm einen Wollappen und scheure damit dein Puppengeschirr«, sagte die Köchin.

Erna lachte: »Na, da würden meine Messingkessel schön dreckig aussehen und all das gute Aluminiumgeschirr und die kostbaren Silberlöffel. – Ida, mach erst keine Geschichten und gib mir das Zeug her.«

»Ich werde ein wenig abschütten.«

»Nein, nein, gib mir das Ganze! Ich bin doch kein kleines Kind. Gib her, – nun werde ich alles abscheuern, dann kriegst du den Topf wieder!«

Im Kinderzimmer ging es los mit der Arbeit. Der Puppenherd wurde hervorgeholt. Frau Leuschner, die dem emsig arbeitenden Kinde zusah, fand anfangs nichts zu tadeln. Erna arbeitete emsig, putzte an dem Blechgeschirr, beschaute es prüfend, rieb jeden Fleck sorgsam ab und stellte sich recht geschickt an. Fritz und Marlene kamen gelaufen, um zu helfen.

»Gut«, sagte Erna, »ihr seid jetzt meine Küchenmädchen. Poliert den Topf nach. Hier ist ein weiches Tuch.« Damit zog sie aus der Schürzentasche das Taschentuch und reichte es der jüngeren Schwester.

»Aber, aber«, tadelte die Kinderfrau, »warte, ich hole ein Wolläppchen. Das Taschentuch ist doch nicht dazu da, die Töpfe abzutrocknen.«

»Ach was, das Taschentuch ist für alles«, meinte Fritz, »ich habe gestern im Taschentuch Regenwürmer gesammelt. Dann kam einer, da habe ich alles fix in die Hosentasche gesteckt, und auf einmal kamen die Biester aus meiner Tasche heraus.«

»So ein Biest, – so ein Biest«, rief Marlene, »was hast du denn da gemacht?«

»Nu' ich hab' alles wieder zurück in die Tasche gesteckt und später die Regenwürmer meinem Freunde geschenkt.«

Inzwischen hatte Frau Leuschner ein Wolläppchen gebracht. »So, ihr Küchenfeen, nun könnt ihr polieren.«

Marlene begann zu reiben, Fritz aber nahm den Topf mit dem Putzpulver. »Ich putze auch«, rief er. Im nächsten Augenblick lag das Putzpulver auf dem Puppenherd und auf den Kleidern der Schwestern. Fritz lachte und sprang auf. »Ich bin keine Küchenfee, ich bin ein starker Mann!«

»Du bist ein wilder Lümmel«, sagte Erna, »was hat man seine liebe Not mit den Lümmeln. – Was haste denn da gemacht, du Ferkel? Lauf, hol den Besen und kehre alles zusammen.«

Fritz lief aus dem Zimmer, – er kam nicht wieder. So ging Erna selbst nach der Besenkammer. »Da habe ich nun soviel zu tun, bis ich fortfahre, und der Bengel macht mir noch mehr zu schaffen.«

Auch beim Kehren zeigte sich die Geschicklichkeit des kleinen Mädchens. Erst wurde der Puppenherd gesäubert, dann das Putzpulver auf dem Fußboden zusammengekehrt und alles sauber zurück in den Topf getan.

»Ich möchte nur wissen«, seufzte Erna, »wie die Mutti allein mit den Lümmeln fertigwerden wird.«

»Nun, ich bin doch auch noch da«, sagte Frau Leuschner.

»Ja, aber du bist doch schon eine alte Frau, liebe Frau Leuschner. Eine alte Frau kann die Kinder nicht mehr so fest an einem Zügel haben wie eine junge Frau.«

»Da meinst du also, kleine Erna, du wirst mit deinen Brüdern und Schwestern besser fertig als ich?«

Erna überlegte einen Augenblick: »Du bist eine sehr gute Frau, Frau Leuschner, das wissen wir Kinder alle, und wir haben dich sehr gerne, aber – du bist doch schon sehr alt. – Na, laß nur, wenn ich wiederkomme, haue ich mir die Bengel zurecht. Schade, schade, daß der Hermann nicht da ist! Der ist doch wirklich der Mutti eine Stütze.«

Frau Leuschner lachte gutmütig. Gewiß, das kleine Mädchen verstand es mitunter ausgezeichnet, die wilden Brüder und Schwestern zur Vernunft zu bringen. Erna bekam selten von Stefan oder Jürgen einen Rippenstoß, während Marlene häufig gepufft wurde. Vor Erna hatten alle einen ganz eigenartigen Respekt. Nahm sie den Brüdern etwas fort, was ihr nicht richtig dünkte, so schimpften sie wohl mächtig, ließen es sich aber gefallen.

Die Puppenküche war blitzblank. »So«, sagte Erna, »nun kommt der Pferdestall und der Schafstall an die Reihe. Die lieben Tierchen wollen doch versorgt sein.«

Auch in den Stallungen wurde gründlich Ordnung gemacht, alles sauber gekehrt, die Tiere mit dem Staubtuch abgewischt.

»Nun muß ich die Puppenkleider, die meine Kinder nicht brauchen, in die Mottenkiste legen, Frau Leuschner. – Haste Mottenkugeln?«

»Nein, die habe ich nicht.«

»Ja, – was machen wir denn da? Ich will vier ganze Wochen fort bleiben. Inzwischen könnte allerlei in die Sachen meiner Puppenkinder gekommen sein. – Kannst du mir nicht so'n bißchen Geld geben, damit ich mir aus der Apotheke Mottenkugeln hole?«

»Ist nicht nötig, Erna, lege die Puppensachen schön ordentlich in deine kleine Kommode, dann ist alles gut.«

Erna warf Frau Leuschner einen mitleidigen Blick zu. Sie erinnerte sich deutlich daran, daß die Mutti jedes Frühjahr die Wintersachen verwahrte.

»Na, – will mal sehen, was ich mache«, sagte sie und begab sich abermals in die Küche, um dort etwas Geeignetes zu finden. In diesem Augenblick kam Doktor Kirschner aus dem Sprechzimmer.

»Erna, lauf mal schnell hinüber zur Apotheke und hole das, was hier auf diesem Zettel steht. Aber beeile dich!«

»Väti, das paßt aber gut! Gibst du mir auch Geld?«

»Ich weiß nicht, was es kosten wird, ich komme nach der Sprechstunde und bezahle es.«

Erna warf einen Blick auf das Rezept. Sie konnte natürlich nicht entziffern, was der Vater darauf geschrieben hatte. Rasch sagte sie zärtlich: »Weiß schon, Väti, was wieder los ist. Da sitzt jemand drin bei dir, der hat kein Geld, um sich selber was zu kaufen, und nun läßt du es schnell holen. – Ja, du bist ein guter Vati und ein mitleidsvoller Arzt. Aber so muß man sein, so was ist richtig. Ich freue mich sehr über dich!«

»Kleine Schmeichelkatze! – Doch nun lauf, es hat Eile!«

Doktor Kirschner war wieder ins Sprechzimmer gegangen. Einige Augenblicke überlegte Erna. Wenn den Puppensachen kein Schaden werden sollte, mußten sie eingemottet werden. Dazu brauchte man unbedingt Mottenkugeln. Die gab es in der Apotheke. Aber Geld hatte sie nicht. Sie wollte auch die Mutti um keins bitten, weil die Mutti gerade gestern gesagt hatte, daß sie in diesem Monat viel Geld ausgegeben habe und jetzt sparsam wirtschaften müsse.

Erna stützte das Kinn in die kleine Hand, wie sie das oftmals beim Vati gesehen hatte. »Was machen wir nur?«

Plötzlich fiel es ihr ein, daß die Mutti vorhin gemeint hatte, sie brauche die große Tüte mit dem Pfefferminztee nicht mehr, denn der Magen von Stefan sei wieder ganz gesund. Wenn man etwas nicht braucht, kann man es zurückgeben. Das hatte die Mutti schon manchmal getan.

»Jetzt weiß ich was«, sagte Erna strahlend. Dann huschte sie ins Schlafzimmer der Brüder und nahm von einem Tischchen eine große Tüte, die den Pfefferminztee enthielt. »Dich brauchen wir nicht mehr«, sagte sie, »aber Mottenkugeln brauche ich furchtbar nötig!«

In der Apotheke, die dem Kirschnerschen Hause gegenüberlag, waren mehrere Leute. Erna wußte, daß man der Reihe nach abgefertigt werden mußte. Der Vati hatte aber doch gemeint, es sei eilig. So trat sie langsam an den Tisch heran und ließ die blauen Augen keine Minute von dem Apotheker, sie legte den blondlockigen Kopf ein wenig auf die Seite und lächelte ihn an.

»Na, du kleiner Goldkopf«, sagte der freundliche Apotheker, während er ein Medikament mischte.

»Ich bin noch nicht dran«, sagte Erna, »aber wir haben es furchtbar eilig.«

»Was möchtest du denn haben?«

Erna drehte sich nach den drei Wartenden um. »Vielleicht sind Sie so gut und warten noch ein Weilchen, bis ich abgefertigt bin, weil ich es doch so eilig habe, bitte schön!«

Die Anwesenden lachten. Dem artigen kleinen Mädchen konnte man wirklich nichts abschlagen.

»Also, was willst du haben?« fragte der Apotheker.

Erna reichte ihm das Rezept.

»Das kannst du gleich haben.« Schon griff er nach einem Fläschchen und reichte es dem Kinde.

»Geld habe ich nicht, Onkel Apotheker, der Vati kommt nach der Sprechstunde her und bezahlt alles. – Und nun – möchte ich noch – noch Mottenkugeln.«

»Wieviel dürfen sie kosten?«

Da reichte Erna dem Apotheker die Tüte mit dem Tee. »Wir brauchen das nicht mehr, dafür wollte ich jetzt Mottenkugeln haben. Der Stefan ist wieder gesund, und die Mutti hat gesagt, wir brauchen den Tee jetzt nicht mehr.«

»Da schickt deine Mutti den Tee her? Und dafür willst du Mottenkugeln haben?«

»Sie braucht ihn nicht mehr. Was wir nicht brauchen, geben wir zurück.«

Der Apotheker schüttelte verwundert den Kopf. Nun, er würde später die Sache mit Doktor Kirschner besprechen. Zunächst behielt er den Tee und händigte Erna in einer kleinen Tüte die gewünschten Mottenkugeln aus.

»Ich danke Ihnen viele Male«, sagte das Kind und eilte hinaus.

Daheim angekommen, ging Erna sogleich wieder an die Arbeit. »Nanu, du hast ja doch Mottenkugeln«, lachte Frau Leuschner, die den Eifer der Kleinen sah.

»Ja, ich wußte mir eben zu helfen«, klang es zurück, »was sein muß, das muß sein, und Mottenkugeln brauchte ich.«

Die Arbeit war gerade beendet, als Besuch gemeldet wurde. Ein Freudengeheul ertönte.

»Der Onkel Forstrat! Oh, der gute Alte!«

Forstrat Schmeling, ein alter Herr von achtzig Jahren, der die Kinder seit ihrer Geburt kannte, der Goldköpfchen in Freuden und Leid ein treuer Freund gewesen, kam häufig ins Kirschnersche Haus. Trotz seines hohen Alters war ihm der Kinderlärm nie zuviel, im Gegenteil, das frohe Spielen der Kinder schien ihn zu erfrischen. Er hatte niemals eigene Kinder gehabt, war aber ein großer Kinderfreund, und so hatte er sich die Herzen aller acht im Sturm erobert. Sein besonderer Liebling war Erna, in der er das Ebenbild der Mutter sah. Sehr häufig hatte er Bilder von Frau Goldköpfchen gesehen, Bilder aus ihrer Kinderzeit. Erna glich diesen Bildern aufs Haar.

»Onkel Forstrat, lieber Onkel Forstrat, erzähle uns wieder Jägerlatein!« Mit diesen Worten empfing ihn Stefan.

»Onkel Forstrat, hast du mir endlich einen Gemsbart mitgebracht?« fragte Marlene.

»Onkel Forstrat, am Sonnabend fahre ich zu den Großeltern nach Dillstadt, dann siehst du mich lange Zeit nicht. – Wirst du sehr traurig sein?«

»Aber freilich, mein kleines Goldköpfchen!«

»Ich komm' ja wieder!«

»Und bringst mir was Schönes mit.«

»Ja, Onkel Forstrat, ich schenke dir einen Kuß.«

»Einen Kuß?«

»Ja«, sagte Erna ernsthaft, »ich weiß genau, Männer küssen gerne. Du freust dich doch auch, wenn ich dir einen Kuß gebe?«

Da hatte er das blauäugige Mädchen auch schon im Arm und gab ihm einen herzhaften Kuß auf die Stirn.

»Zum Abschied war das ein Kuß!«

»Onkel Forstrat, weißt du, meine Reise ist sehr lang. So ein bißchen Hunger werde ich unterwegs bekommen. Aber – wenn ich nach Dillstadt komme, schenkt mir mein Großpapa Schokolade, – die esse ich furchtbar gern.«

»Darum habe ich dir für die Reise eine Tafel mitgebracht, damit du unterwegs nicht zu hungern brauchst.«

Erna bedankte sich stürmisch. »Onkel Forstrat, ich habe noch was auf dem Herzen, aber – das kann ich dir nur sagen, wenn wir beide allein sind.«

»Quatsch«, rief Jürgen, »wenn der Onkel Forstrat herkommt, wollen wir ihn alle haben!«

»Ihr könnt mich haben, wenn Erna fort ist«, beschwichtigte der gütige alte Herr. »Jetzt hat mir Klein-Goldköpfchen vor der Reise etwas ganz Wichtiges zu melden, das muß ich anhören. Wo sollen wir also hingehen, damit wir allein sind?«

»Komm rüber ins Schlafzimmer. – Ach nein, da ist jetzt Frau Leuschner mit der kleinen Ulla. – Komm lieber in das feine blaue Zimmer, aber wisch dir vorher gut die Füße ab, weil dort ganz gute Teppiche liegen. Die müssen noch viele Jahre halten.«

Damit nahm Erna den Onkel Forstrat an der Hand und zog ihn ins Damenzimmer. Sie setzte sich auf einen der Sessel. »Bitte, Onkel Forstrat, nimm Platz, ich sitze bereits.«

»Danke sehr«, erwiderte lachend der Forstrat und machte Erna eine Verbeugung. »Was befiehlt das gnädige Fräulein?«

Wieder stützte Erna das Kinn mit der Hand. »Ich habe meine Sorgen, lieber Onkel Forstrat, ich fahre am Sonnabend fort, und der Hermann ist doch auch fort. Die Lümmel sind dann mit der Mutti und dem Vati allein. Der Vati hat den ganzen Tag über zu tun und kann sich um die Erziehung seiner Kinder wenig kümmern. Und nun fahre ich auch noch weg. Da ist also keiner mehr da, der aufpaßt.«

»Oh, da ist doch noch die gute Frau Leuschner.«

»Sie ist zu alt, die kann sich schlecht bücken, und die Bengel schmeißen doch alles runter. Ich hebe alles wieder ganz fix auf, aber der alten Frau Leuschner wird das doch sauer.«

»Frau Leuschner ist noch gar nicht so alt, sie ist beinahe fünfzehn Jahre jünger als ich.«

»Ach, sie sieht aber alt aus. – Lieber Onkel Forstrat, paß doch ein bißchen auf die Bengel auf und nimm auch der Mutti ein bißchen Arbeit weg. Wenn die Lümmel alles rumschmeißen, dann mache doch Ordnung. Ich könnte dann ganz froh nach Dillstadt fahren.«

»Da soll ich also hinter den Lümmeln herräumen?«

»Wie du sie erziehen willst, ist mir einerlei, aber du mußt ihnen Ordnung beibringen. Sonst hätte das der Hermann gemacht, aber der ist doch fort. Der Hermann ist ein großer Erzieher, der ist ein Vieh – – ein Vieh – – Jetzt weiß ich das Wort nicht mehr.«

»Aber Klein-Goldköpfchen, der Hermann ist doch kein Vieh!«

»Ach, das ist nichts Schlimmes, Onkel Forstrat. Das ist was Schönes, der Vati hat es gesagt, und der sagt nichts Schlimmes. Der Hermann ist ein Vieh, und dann kam noch was hintendran.«

»Vielleicht ein Philologe?«

»Nein, das war anders. Ich habe den Vati gefragt, und da hat er gesagt, der Hermann grübelt über alles nach, was los ist.«

»Also ein Philosoph.«

»Ja, – so war's! Und weil dieser Viehlosof jetzt nicht da ist, deswegen mußt du helfen. – Onkel Forstrat, machste das?«

»Wenn du mich schön bittest –«

Da sprang Erna vom Sessel herab, streichelte beide Hände des alten Herrn, legte den Kopf auf die Seite und schenkte, ihm ihren süßesten Blick. »Du wirst doch nicht nein sagen, lieber Onkel Forstrat?«

»Also abgemacht«, lachte der alte Herr, »ich passe auf die Bengel auf und räume hinter ihnen her. – Darf ich ihnen auch mal was verwinken, wenn sie unartig sind?«

»Aber feste, lieber Onkel Forstrat. Ohne ein strenges Wort und einen kräftigen Klaps geht es bei den Bengeln nicht. Die Erfahrung habe ich schon gemacht. – So, und nun wollen wir wieder rübergehen, sonst sind die anderen neidisch. – Komm!«

Ebenso rasch, wie Forstrat Schmeling ins Zimmer gezogen worden war, ebenso rasch wurde er wieder hinübergeholt. Dort saß er zwischen der Kinderschar, lachte und scherzte mit ihnen und freute sich an den frischen gesunden Kindern.

»Wenn Erna fort ist, fährt der Vater mit uns zu einem großen steinernen Tor und zu einem Wasserfall. Dann fahren wir in einem Kahn.«

»Und zur Edmundsklamm!«

»Ätsch, das hast du nicht in Dillstadt«, rief Stefan, »dort ist kein Wasserfall und auch kein Prebischtor.«

»Das brauche ich dort nicht. Es ist sehr gut, daß der Väti euch auch was Schönes zeigt. Ich will nicht allein soviel Schönes haben. Jeder muß seine Freude bekommen.«

»So ist es brav«, lobte der Forstrat.

»Weißt du«, sagte Erna und zog den alten Herrn am Ohr zu sich herum, »der Vati hat neulich gesagt, er zeigt mir auch mal den Wasserfall. Da warte ich eben noch ein bißchen und fahre erst nach Dillstadt.«

»Was bringst du denn den Großeltern mit?«

»Der Opa kriegt ein Küßchen, das macht ihm Spaß, und für Onkel Kuno habe ich Kamillen gepflückt, die verkauft er und kriegt viel Geld dafür.«

»Und die Großmama und Tante Karla?«

»Die Großmama kriegt einen Topfhandschuh, den habe ich selber gemacht, und Tante Karla kriegt ein Nadelkissen.«

»Sehr brav!«

»Und der gute Baldrian, das ist doch der Hausdiener in der Apotheke, der hat immer soviel Spaß mit uns gemacht, der kriegt eine Zigarette.«

»So – hast du die gekauft?«

»Nein, die schenkt mir mein Vätilein. Er sieht mich doch solange nicht, da schenkt er mir auch was.«

Onkel Forstrat blieb bis zum Abendbrot bei den Kindern. Bevor er sich verabschiedete, stellten sich Goldköpfchen und Doktor Kirschner ein.

»Ich wollte mal wegen einer Tüte mit Pfefferminztee fragen«, sagte der Vater. »Wer hat denn die in die Apotheke getragen und dafür Mottenkugeln eingetauscht?«

»Ich«, rief Erna, »Vati, gelt, da freust du dich aber, daß ich so 'ne sparsame Hausfrau bin. Wir brauchen den Tee jetzt nicht mehr, und der Apotheker kann ihn immer wieder verkaufen.«

»Hurra!« schrie Stefan, »jetzt ist das alte Dreckzeug nicht mehr da! Erna, das hast du fein gemacht!«

»Hast du mich gefragt, Erna?«

»Nein, Muttilein, aber wir brauchen das Zeug doch nicht mehr, und was wir nicht brauchen, geben wir fort, denn einen fröhlichen Geber hat der liebe Gott lieb.«

Da ging Goldköpfchen rasch aus dem Zimmer, um das Lachen zu verbergen.


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