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Mutti ist krank

Die Befürchtungen Doktor Kirschners waren eingetroffen. Er stellte sehr bald bei Bärbel eine schwere Lungenentzündung fest, die ihm außerordentlich große Sorgen machte. Gewiß, der Aufenthalt in Dillstadt hatte seiner schlanken Frau gut getan; er wußte als Arzt aber genau, daß Bärbel nicht die Stärkste war. So mußte sie mit doppelter Sorgfalt gehütet, vor allem ihr jede Aufregung ferngehalten werden.

Es würde nicht leicht sein! Goldköpfchen lebte nur für die Kinder; immer wieder weilten ihre Gedanken bei den Buben und den Mädchen, denen sie sich jetzt nicht widmen konnte. Sie wußte natürlich genau, wie es um sie stand. Würde sie die schwere Krankheit überstehen? Was sollte werden, wenn sie für immer von den Kindern ging? Das war gar nicht auszudenken! Aber sie behielt die quälenden Gedanken tapfer für sich. Kamen die Kinder, nach ihr zu sehen, so zeigte sie ihnen ein hoffnungsfrohes und freundliches Lächeln.

Zunächst hatte Doktor Kirschner daran gedacht, Bärbels Mutter aus Dillstadt her zu bitten. Im letzten Brief, der von dort kam, schrieb Kuno jedoch, die Mutter sei nicht ganz befriedigt von der Badereise heimgekommen, sie kränkle in letzter Zeit öfters. So war es nicht möglich, Frau Wagner einzuladen, und auch Karla, Kunos Frau, kam nicht in Betracht. Sie hatte mit der Aussteuer des zu erwartenden Kindchens zu tun und mußte geschont werden.

Nun erst zeigte es sich, welch große Liebe Bärbel überall genoß. Die alte Frau Leuschner achtete ihrer Jahre nicht. Sie packte sich alle erdenkliche Arbeit auf, um von Bärbel die Sorgen zu nehmen. Die beiden Mädchen, Grete und Ida, verzichteten gern auf jede freie Stunde, schafften von früh bis spät und versuchten die Kinder nach Möglichkeit zu beschäftigen, um Goldköpfchen zu entlasten. Fräulein Rettich war ein wenig kopflos geworden. Sie jammerte viel und verstieg sich in ihrem Kummer so weit, Bärbels Tod in Erwägung zu ziehen. Eine einzige unvorsichtige Bemerkung löste bei den Kindern heißen Schreck aus. Forstrat Schmeling, der häufig ins Kirschnersche Haus kam und jedesmal zwei der Kinder entführte, rieb das Kinderfräulein dafür gründlich ab.

»Sehen Sie nicht, in welcher Sorge die Kleinen ohnehin schon sind? Hier müssen Sie Hoffnungen erwecken, nicht klagen und jammern.«

»Herr Doktor sagte heute, es stehe sehr schlecht.«

»Das wissen wir allein, doch das behalten wir für uns! Kommen Sie heute mit in mein Haus, damit Sie wieder ein wenig fröhlich werden.«

Aber auch sonst fand Bärbel viel Teilnahme in Heidenau. Immer wieder erboten sich Bekannte, die Kinder für Stunden zu sich zu nehmen, und noch nie war soviel an Spielzeug und Süßigkeiten im Arzthause abgegeben worden wie jetzt. Photograph Rotmühl, der Bärbel einstmals bekämpft hatte, lud Stefan und Jürgen sogar ins Atelier ein und ließ sie Aufnahmen machen, wobei ein kleiner Apparat verdorben wurde. Er fragte nicht danach. Hier galt es, der kranken tüchtigen Frau Kirschner Entlastung zu schaffen.

Obwohl die Kinder Abwechslungen aller Art hatten, blieb in ihnen die große Sorge um die Mutti wach. Sie besuchten bekannte Familien. Sie gaben sich Mühe, artig zu sein, doch fast stündlich hieß es, auch beim fröhlichen Spiel:

»Wir wollen heimgehen, um zu sehen, wie es der Mutti geht.«

Je kränker Bärbel wurde, je mehr steigerte sich die Angst Kirschners und der Kinder. Trotz ihrer Jugend begriffen fast alle den großen Ernst der Lage. Wenn dann gar Grete oder Ida verweinte Augen hatten, weinten Erna und Marlene sogleich bitterlich mit.

Eine Krankenschwester kam ins Haus. Sie trug eine weiße Schürze und eine weiße Haube. Sie glitt geräuschlos durch die Räume des Hauses, von den angstvollen Blicken der Kinder verfolgt. Gestern war vom Vater das Verbot ergangen: niemand der Kleinen dürfe ins Krankenzimmer. Es war nicht nötig, daß die Kinder die Mutter sahen, die mit fieberheißem Kopf unruhig auf dem Lager ruhte und im Fieber wirre Worte ausstieß.

Die Kinder baten den Vater, er möge sie nur für einen Augenblick hinein lassen. Sie wollten kein Wort sagen, nichts fragen, nur die Mutti sehen.

»Die Mutti wird durch das kleinste Geräusch erschreckt. Um eure Mutti muß es mäuschenstill sein.«

Nach einer Viertelstunde kamen sie wieder, die Schuhe in den Händen tragend. »Vati, wir gehen ganz leise, sie hört uns nicht. Bitte, laß uns einmal zu ihr.«

»Heute nicht«, sagte der Vater bestimmt, »vielleicht morgen, vielleicht erst übermorgen.«

»So lange sollen wir die Mutti nicht sehen?« fragte Jürgen mit heißen Augen.

Einige Minuten später kam die kleine Erna zum Vater. Sie hatte vor das Kleidchen eine weiße Schürze gebunden, über die blonden Ringellöckchen ein Taschentuch geknotet. »Jetzt bin ich genau so wie die Krankenschwester, Vati. Die Krankenschwester kann zu Mutti hinein. Nun bin ich die Krankentochter und möchte zur Mutti. Ich gehe auf Zehenspitzen, ohne Schuhe.«

Auch das wurde Erna nicht erlaubt. So saß die Kinderschar wieder beisammen. Die Mädelchen legten ihre Köpfe ängstlich an die Schultern der Brüder. Frau Leuschner wurde mit Fragen bestürmt, vergeblich versuchte sie die Kinderangst zu beschwichtigen.

»Wenn die Mutti stirbt, – – ich will keine dritte Mutti!« rief Stefan, plötzlich in wildes Weh ausbrechend.

Am stillsten war Hermann. Trotzdem litt er am schwersten. Immer wieder quälte ihn der Gedanke, daß die Mutter durch sein Verschulden krank geworden war. Der Vater war ihm gestorben, – wenn nun auch noch die heißgeliebte Mutti von ihm ging – – das wäre nicht zu ertragen! Vielleicht lag sie schon in den letzten Zügen.

Plötzlich sprang er auf. Er wußte, der Vater war in seinem Arbeitszimmer. Leise pochte er an die Tür. Es erfolgte keine Antwort, so drückte er die Klinke nieder. Er sah den Vater am Schreibtisch sitzen, das Gesicht in beide Hände gedrückt.

Hermann trat zu ihm. »Vater, es steht wohl schlimm um die Mutti?«

Doktor Kirschner legte schweigend den Arm um die Schulter des Stiefsohnes.

»Vater – – sage doch«, rief Hermann in flehender Angst.

»Ich kann nicht glauben, mein Junge, daß der liebe Gott solch eine Frau von ihren Kindern reißt! Mit Gottes Hilfe hoffe ich sie durchzubringen.«

»Vater – laß mich zu ihr!«

»Die Mutter liegt in heftigem Fieber.«

»Laß mich zu ihr gehen, Vater, – ich halte es nicht länger aus. Die anderen brauchen es nicht zu wissen.«

»Du darfst kein Wort sagen, Hermann, mußt mäuschenstill sein. Die Mutti sieht nicht gut aus. Sie ist sehr krank. Hermann, wenn du mir versprichst, still und ruhig zu bleiben, darfst du für einige Minuten zu ihr gehen.«

»Ich tue alles, was der Mutti gut ist, nur laß mich zu ihr gehen. Vater – ich halte es nicht länger aus!«

»So komm, mein kleiner Freund.«

Hermann biß sich auf die Lippen, als er die geliebte Mutti in so abgemagertem und elendem Zustand sah. Ihm war zumute, als müsse er aufschreien. Die geschlossenen Augen erinnerten ihn an Vati, den man hinaus auf den Friedhof getragen hatte. Er hätte am liebsten die fieberglühenden Hände der Mutter erfaßt, hätte am Bett niederknien mögen, – doch er stand starr und unbeweglich da, nur in dem reifen Knabengesicht zuckte es verräterisch.

Doktor Kirschner wurde bald abgerufen. Bevor er das Krankenzimmer verließ, sandte er einen warnenden Blick zu Hermann hinüber. Der stand noch immer regungslos da, obwohl sein Herz schrie: Mutti, geliebte Mutti, bleibe bei uns!

Unruhig warf sich Bärbel hin und her. Plötzlich erhob sie die Arme, versuchte den Oberkörper aufzurichten.

»Häschen, mein Häschen! Wo sind die Kinder?«

Hermanns Lippen zitterten. Die Krankenschwester versuchte, die unruhig gewordene Patientin in die Kissen zurückzulegen.

»Häschen, mein Häschen, komm doch – – wo bist du? Häschen, – ich finde dich nicht! – Häschen, so komm –«

Hermann bebte am ganzen Körper. Er wußte, daß die Mutti manchesmal in Freude und Glück ihren ersten Gatten mit dem Kosenamen Häschen gerufen hatte. Nun rief sie auch jetzt wieder nach ihm. – Er kam nicht.

»Häschen!« – immer lauter, immer verzweifelter wurde das Rufen.

»Still, still, liebe Frau Kirschner, ganz ruhig liegenbleiben.«

»Häschen, bist du da?«

Da faßte Hermann die Hand seiner Mutter. Er versuchte seiner Stimme einen dunklen Ton zu geben. »Goldköpfchen, dein Häschen ist hier.«

»Häschen, mein liebes Häschen – –«

»Brauchst dich nicht zu fürchten, mein liebes Goldköpfchen, dein Häschen hält deine Hände. – Häschen legt dich zurück in die Kissen. – Nun schlafe wieder, mein liebes Goldköpfchen.«

Huschte da nicht ein glückliches Lächeln über die verzerrten Gesichtszüge der Mutti? In größter Angst sprach Hermann weiter. »Bist doch mein gutes, liebes Goldköpfchen. – Den Kindern geht es gut, wir behüten sie. – Du mußt jetzt wieder schlafen, kleines, liebes Goldköpfchen. – Hörst du dein Häschen, Goldköpfchen? Es bleibt bei dir und behütet dich.«

Die Krankenschwester blickte verwundert auf die Patientin. Hörte sie die Worte des Kindes im Fieber? Fast schien es so. Sie hielt Hermanns Hände fest, legte sich langsam auf die Seite und flüsterte glücklich:

»Häschen ist bei mir.«

Verstohlen wischte sich die Pflegeschwester eine Träne aus den Augen. Hermann blieb neben dem Bett stehen, ließ die Hände der Mutter nicht aus den seinen und flüsterte von Zeit zu Zeit leise und unendlich zärtlich: »Schlafe, mein liebes Goldköpfchen, die Kinder sind gut versorgt.«

Nach einer Viertelstunde kam Doktor Kirschner zurück, und noch immer stand Hermann am Bett, regungslos, die Hände in denen der Mutter.

»Die Kranke ist ruhiger geworden, Herr Doktor.«

»Hermann, es ist gut, wenn du hinausgehst.« Als er aber den bittenden Blick des Stiefsohnes sah, nickte er nur gewährend. Erst als Goldköpfchen fest eingeschlafen war, ging der Knabe davon. Er setzte die Mütze auf, und ohne einem Menschen etwas zu sagen, lief er zum Friedhof. Dort entlud sich der ganze Jammer seines Herzens. Solange hatte er den Schmerz zurückhalten können, jetzt brach das Weh gewaltsam aus ihm hervor.

»Vati, wenn es wahr ist, daß Eltern, die von ihren Kindern gehen, vom Himmel herniedersehen, so hast du gesehen, wie es um dein Goldköpfchen steht! Und um uns! – Wenn uns der liebe Gott auch noch die Mutti nimmt, soll er uns alle holen. – Vati, du warst immer ein guter Mensch, du darfst den lieben Gott darum bitten, daß er dir eine Gnade erweist! – Lieber Gott, laß uns die Mutti! Habe doch Erbarmen mit uns allen! – Lieber Gott, ich will dich nie vergessen! Man sagt, du bist der Vater aller, – ich will deinen Namen heilig halten bis an mein Ende! Lieber Gott, hilf uns! Laß die Mutti nicht von uns gehen!«

Auf dem Hügel dufteten die Blumen. Der Knabe hatte kein Auge für die leuchtende Pracht. Hier unten schlummerte sein Vater, sein heißgeliebter, hochverehrter Vater, der sein Leben für andere hingegeben hatte. Holte er sein Goldköpfchen nach? Raubte er den Kindern die Mutter?

Da richtete sich Hermann wieder auf. Sein Gesicht war ruhig geworden. »Nein, Vati, das tust du nicht! Du wirst dort oben unseren himmlischen Vater solange bitten, bis er dich erhört hat. Die Mutti wird gesund werden, Vati? – Nicht wahr, ich darf ihr auch weiter sagen, daß ich in deinem Namen bei ihr bin. – Nun leb wohl, Vati, ich muß zurück zur Mutti!«

Als er heim kam, standen Stefan und Jürgen im Garten, neben ihnen mehrere Stühle aus dem Kinderzimmer.

»Was macht ihr hier?«

»Wir kleben Stoffstücke unter die Beine. Die Sofabeine haben wir mit Taschentüchern umwickelt, es darf nichts poltern, wenn es rutscht. Wir gehen auch immer auf Strümpfen. – Erna ist in der Küche und hilft, die Marlene schiebt den Kinderwagen, damit Frau Leuschner nicht alles machen muß. – Wir helfen alle und machen dabei keinen Skandal.«

Auf der Treppe, die nach oben führte, lag ein Zettel: »Leise gehen!« Oben an der Tür hing ebenfalls eine Papptafel: »Nicht zuschmeißen, – nicht laut sprechen, die Mutti ist krank.« Überall zeigte sich, von Kindern erdacht, rührende Rücksichtnahme auf die kranke Mutter.

Der Tisch im Kinderzimmer sah auch recht merkwürdig aus. Er stand auf vier Taschentüchern, die nach oben zusammengebunden waren. Wenn er wirklich einmal rutschte, hörte man es nicht. Grete meinte zwar, das sei für die Taschentücher nicht gerade nützlich, man könne Stoffstücke darunterkleben, doch das wurde zunächst nur mit den Stühlen gemacht, der Tisch behielt noch seinen merkwürdigen Schmuck.

Immer wieder mußte Doktor Kirschner die Kinder abwehren, die zur Mutti wollten.

»Ich habe geträumt, sie will uns sehen«, sagte Erna. »Vati laß uns nur mal den Kopf ins Zimmer stecken.«

»Vielleicht morgen, kleine Erna.«

Kam Kirschner von einem Krankenbesuch heim, so stand vor der Zimmertür die ganze Kinderschar, angestrengt lauschend, ob sie nichts hörten. Daß Hermann bei der Mutter sein durfte, wurde keinem der anderen Kinder verraten. Doktor Kirschner hatte gerührt seinen Stiefsohn in die Arme geschlossen, als er von der Krankenschwester hörte, wie er mit der Mutter gesprochen hatte. Es schien fast, als beruhige Hermanns Gegenwart die Fiebernde.

Der nächste Tag brachte die Krise. Hermann war davon unterrichtet. Am frühen Morgen, vor der Schule, hatte er Blumen auf das Grab des Vaters getragen und nochmals aus tiefstem Herzen um Hilfe gebetet. Die Schulstunden waren für ihn unerträglich. Noch nie waren so wenig Antworten von ihm gekommen wie heute. Da aber die Lehrer wußten, wie es im Kirschnerschen Hause aussah, wurde Hermann für die letzte Stunde beurlaubt.

Kirschner wich nicht vom Lager seiner Frau. Er hatte zunächst die Absicht gehabt, einen zweiten Arzt zu rufen, da die Krankheit jedoch vorschriftsmäßig verlief, sah er davon ab.

Frau Leuschner war am gestrigen Nachmittag mit den größeren Kindern hinaus zum Friedhof gegangen und hatte an Harald Wendelins Grabe innig gebetet. Dann gingen alle zum Grabe Frau Kirschners. Hier war manche Träne geflossen.

Stefan hatte schluchzend gesagt:

»Wenn schon eine Mutter tot sein muß, kann doch die zweite am Leben bleiben. Ich will meine zweite Mutter nie wieder ärgern, ich will genau so brav werden wie der Hermann.«

Es war ein trauriger Gang gewesen, und ebenso traurig war es daheim, zumal man wußte, daß es sich in zwei Tagen entscheiden mußte, ob die Mutter den Kindern erhalten blieb oder nicht.

Man kannte das Kirschnersche Haus nicht wieder. Während der Sprechstunden standen die Kinder abwechselnd an der Gartentür Posten. Kamen die Patienten, wurden sie mit leiser Stimme gebeten, recht vorsichtig aufzutreten, weil jedes Geräusch die Mutti noch kränker mache. Alles mögliche wurde erdacht, um der geliebten Mutti zu helfen.

»Vati«, sagte Ernst, »wir brauchen einen Tag nichts zu essen, dann haben Ida und Frau Leuschner mehr Zeit, der Mutti was zu bringen, wenn sie was möchte. Wir essen nur ein Stück Brot, das macht keine Arbeit. So sind alle großen Leute nur für die Mutti da.«

»Ja, Vati, wir essen immer nur Brot«, meinte Erna, »dann kommt auch kein Essengestank aus der Küche, den die Mutti vielleicht nicht riechen darf, und es klappert auch nicht mit den ollen Tellern. Uns schmeckt Brot furchtbar gut!«

»Wir könnten vielleicht vom Onkel Forstrat das Essen holen«, sagte Jürgen, »ich trage den Topf, oder – wir könnten alle beim Onkel Forstrat essen.«

»Wir wollen hoffen, daß der liebe Gott uns die Mutti gesund macht, Kinder.«

Am Abend wurde in den Kinderbettchen viel gebetet. Die kleinen Hände falteten sich für die eine Bitte: »Lieber Gott, mache unsere Mutti bald wieder gesund.«

»Lieber Gott«, sagte Erna, »wenn du durchaus einen von uns haben willst, dann nimm mich. Ich möchte zwar auch nicht gerne in das Grab, aber – ohne mich wird der Vati schon fertig. Nicht wahr, du läßt die Mutti bei den Kindern, und dann überlegst du dir alles und läßt mich auch bei der Mutti. Ich kann dir doch nichts nützen, weil ich noch klein bin.«

Der Abend kam. Hermann ließ sich nicht aus dem Krankenzimmer weisen, und Doktor Kirschner bestand nicht mehr darauf, weil er fürchtete, daß Hermann sein Verbot doch nicht beachten werde. Die Aufregung des Knaben wuchs von Minute zu Minute, sie konnte ihm schaden.

Noch einmal rief Goldköpfchen in verzweifeltem Aufschrei nach ihrem Häschen. Kirschner wollte die Hände seiner Frau fassen, er unterließ es, als er Hermann herantreten sah. In seinem Herzen war keine Bitterkeit, wußte er doch, daß diese seltene Frau von ihrer ersten Liebe nicht loskam. Das hatte sie ihm gesagt, ehe sie die Seine wurde, und er hatte geantwortet, daß er ihre Gefühle stets achten werde.

Gegen Mitternacht sank Bärbel in festen Schlaf. Hermann mißverstand das plötzliche Zusammensinken der Mutter, eine fahle Blässe breitete sich über sein Gesicht.

»Sie stirbt!« klang es tonlos.

Doktor Kirschner riß den Knaben in glückhafter Freude an sich. »Nein, mein lieber Junge, sie schläft und – wird gesund werden.«

»Gesund werden – –«

»Ja, mein prächtiger Junge, die Mutti bleibt uns erhalten.«

Hastig machte sich Hermann aus den Armen des Vaters frei. Doktor Kirschner ließ ihn aus dem Zimmer gehen, folgte ihm nicht, wußte er doch genau, daß Hermann in dieser Stunde allein bleiben wollte, in einer Stunde, die ihm alles schenkte, was er erbeten hatte. – –

Am nächsten Morgen wußte Doktor Kirschner, daß Bärbel die Krise überstanden hatte und nun langsam der Genesung entgegenging. Noch war natürlich die denkbar größte Schonung am Platz, auch würden Wochen vergehen, ehe sie sich wieder voll und ganz ihren Hausfrauenpflichten hingeben konnte.

Der erste telephonische Anruf galt der Apotheke in Dillstadt. Alltäglich hatte Doktor Kirschner nach dorthin Bescheid gegeben, und immer wieder erbot sich Frau Wagner, nach Heidenau zu kommen. Doktor Kirschner lehnte jedoch ab, bekam er doch von Karla die Nachricht, daß es der Mutter nicht gut gehe, daß sie selbst der Pflege bedürfe.

Zu Mittag wurde den Kindern gesagt, daß die Gefahr für das Leben der Mutti vorüber sei.

»Die Mutti wird wieder gesund, wenn – –«

Weiter konnte er nicht sprechen. Alle erhoben sich von den Plätzen und stürmten auf den Vater zu. Marlene, die den Löffel in der Hand hielt, schlug vor Freude dem Vater damit kräftig ins Gesicht, Stefan landete bei seinem Freudensprung auf des Vaters rechtem Fuß, und Adele riß ihm einen Knopf von der Weste ab.

»Ruhe, ihr Trabanten!«

»Die Mutti ist wieder gesund, – wir wollen zu unserer Mutti!«

»Wollt ihr ruhig sein! Die Mutti kann noch keinen Lärm vertragen!«

»Ach, du Schäker«, rief Jürgen lachend, »wenn jemand gesund ist, freut er sich über Lärm, besonders unsere Mutti.«

»Sie ist aber noch nicht gesund, du Frechdachs!«

»Ich weiß was, wir bringen der Mutti ein Ständchen, und ich schlage die Pauke!«

»Wollt ihr, daß die Mutti wieder krank wird? Noch ist sie so leidend, daß ihr jede Aufregung, jeder Ärger neuen Schaden bringen kann.«

»Vati, wenn du denkst, daß sich die Mutti ärgert, wenn wir uns freuen, bist du aber schief gewickelt«, erklärte Fritz mit Überzeugung. »Die Mutti ist gesund! – Hurra, die Mutti ist gesund!«

»Ich schenke der Mutti meine Puppe«, schrie Adele. »Vati, nu' gehen wir erst mal zur Mutti. Jetzt haben wir es satt, dir zu folgen. Wir gehen zur Mutti!«

Dafür gab es etwas auf die Finger. Dann bekam Jürgen, der sich vor Freude nicht mehr zu lassen wußte, einen Katzenkopf. Aber Doktor Kirschner mußte im geheimen doch lachen, er konnte das Glück der Kinderschar verstehen. Wenn man so lange still gewesen war, jeden Lärm vermieden hatte wie seine Kinder, so war es erklärlich, daß die Entladung erfolgen mußte.

Am Nachmittag wurde auch nicht erlaubt, die Mutti zu besuchen, da Goldköpfchen meist fest schlief und sehr erschöpft war.

Dann kam der alte Forstrat Schmeling, um nach Bärbels Befinden zu fragen. Aus dem Lärmen der Kinderschar hörte er nur mit Mühe heraus, daß die Mutti wieder gesund werde.

»Dann kommt alle mit mir, das feiern wir in einer Konditorei. Wer will mit?«

Sie schrien alle vor Begeisterung auf. Nur Hermann lehnte ab. Er wollte lieber daheimbleiben, er habe zu tun.

»Komm nur ruhig mit, mein Junge.«

Da flüsterte Hermann dem Onkel Forstrat zu, daß es ihm erlaubt sei, die Mutti zu besuchen. Schweigend drückte ihm der alte Herr die Hand.

»Der Frau Leuschner bringen wir auch was mit, die hat es verdient, Onkel Forstrat. Wir wissen genau, daß die alte Frau nu' auch krank werden wird, weil sie soviel gearbeitet hat.«

»Grete und Ida müssen auch Torte haben!«

»Ja, ja, ja, die bringt ihr ihnen mit«, rief der Forstrat.

»Fräulein Rettich lassen wir hier, Onkel Oberförster. Wir wollen mal ganz allein mit dir toben. – Gehen wir zu Blum? Bei dem gibt es größere Stücke.«

»Ja, wenn ich die Frau freundlich anblinzle«, sagte Erna, »schenkt sie mir immer noch ein Plätzchen extra. – Nu' komm doch, Onkel Forstrat, wir gehen zu Blum.«

»In einer Stunde, Kinder, ich muß erst noch einmal heim.«

»Mach keine Zicken«, rief Jürgen übermütig. »Alter Herr, der Vater ist froh, wenn er uns los ist. Wir können unser Glück nicht mehr beruhigen, wir müssen immerfort laut schreien vor Freude, und das dürfen wir hier noch nicht.«

»Um des Himmels willen, wollt ihr denn in der Konditorei schreien?«

»Aber feste, Onkel Forstrat! Oder meinst du, wir gehen jetzt noch weiter auf Strümpfen? – Gelacht!«

Forstrat Schmeling überlegte. Es war wohl besser, wenn er jetzt um zwei Uhr mit den Kindern in die Konditorei ging. Da waren noch keine Gäste anwesend. Er traute der radaulustigen Schar nicht recht. Frau Blum würde ein Auge zudrücken, wenn es gar zu laut herging. Später, wenn Kaffeegäste da waren, hatte sie darüber Ärger.

»Also kommt!«

Wie der Rattenfänger von Hameln zog der Forstrat mit den Kindern ab.

»Du – Onkel Forstrat« rief Jürgen, »hier oben wohnt mein Freund. Soll ich ihn runterholen?«

»Nein, nein, der hat keine kranke Mutti, die gesund wird. Wir feiern ihre Genesung nur unter uns.«

Jedesmal, wenn der kleine Trupp Bekannten begegnete, riefen Stefan oder Jürgen ihnen zu, daß die Mutti nun gesund werde, und daß man zu Blum feiern gehe.

»Armer Forstrat«, murmelte manch einer. Man kannte den kinderlieben Herrn, der trotz seines Alters den Radau ruhig ertrug.

In der Konditorei angekommen, umstanden die Kinder den Verkaufstisch.

»Das will ich haben«, schrie Stefan und stach den Finger tief in ein Stück Torte. Dafür bekam er vom Forstrat einen Klaps.

»Und einen Haufen Schlagsahne dazu!«

»Ich möchte den Apfelkuchen und das Kringel. – Halt, hier das auch noch. – Und das Viereck mit der Schmiere und einen großen Haufen Schlagsahne drauf«, sagte Jürgen. »Aber auf vier Tellern. Das macht Spaß.«

Endlich hatte jedes der Kinder gewählt. Aber bald kam Marlene zu Frau Blum zurück und brachte ein angebissenes Stück Kuchen. »Ich möchte lieber das, was der Jürgen hat, das hier nicht.«

»Ich möchte auch was anderes«, rief Fritz.

Wieder kamen vier Kinder zum Ladentisch, wieder mußte Frau Blum schelten, wenn die Kuchenstücke angefaßt wurden.

Bald ging es in dem Raume recht lebhaft zu. Jürgen ritt so lebhaft auf seinem Stuhl hin und her, daß der Forstrat Angst um die Holzbeine hatte.

»Sitze still, Junge, und betrage dich anständig!«

»Onkel Forstrat, – wieviel dürfen wir Unsinn machen, wenn es bei dir noch anständig sein soll?«

»Bei dir dürfen wir alles machen«, brüllte Jürgen.

Das Lärmen wurde immer lauter. Bald fiel dieser, bald jener Stuhl um. Adele begann zu heulen, weil ihr Fritz vom Kuchen den süßen Belag weggenommen hatte. Vergeblich versuchte der Forstrat ein wenig Ordnung in die lebhafte Schar zu bringen.

»Ach, Onkel Forstrat, sei doch still«, sagte Fritz, »wir feiern die gesunde Mutti. Bei einer Feier muß kräftiger Lärm sein, sonst macht es keinen Spaß.«

Nach einer Weile fragte Schmeling: »Seid ihr nun satt? Können wir heimgehen?«

»Du bist wohl – du bist wohl –«, Stefan verstummte jäh. »Ich habe noch Löcher im Bauch, ich muß noch essen!«

»Wer jetzt ruhig und bescheiden ist«, klang die Stimme des alten Herrn, »für den nehme ich noch ein Stück Kuchen mit. Nur der Bescheidene bekommt noch etwas.«

Erna streichelte die Hand des Forstrates. »Sag, wieviel ist denn bescheiden? Bin ich, wenn ich für drei Mark Kuchen haben will, noch bescheiden?«

»Nein, – zehn Pfennige ist bescheiden.«

»Gelacht!« schrie Stefan, »du hast 'ne Ahnung, was bescheiden ist! Ich bin sehr bescheiden, aber für fünfzig Pfennige will ich doch noch Kuchen haben.«

Der gute Forstrat gab schließlich wieder nach. Es wurde eine Menge Kuchen ausgewählt, dann ging es heim. –

»Es war ein anstrengender Nachmittag«, sagte der alte Herr daheim zu seiner Frau, »oft hielte ich so was nicht aus. – Mein armer Kopf brummt gewaltig.«


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