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Eine Stiefmutter

In dem Garten, der das Kirschnersche Haus umgab, saß Goldköpfchen und säuberte grüne Stachelbeeren. Erna saß neben ihr und half emsig. Sie war überhaupt häufig an der Seite der Mutter, wenn es galt, ihr bei der Hausarbeit zu helfen. Auch Fritz war in der Laube, er sollte Mutter und Schwester etwas vorlesen. Es gab jedoch so viel zu sehen, so viel zu fragen, daß er gar nicht zum Lesen kam.

Von Zeit zu Zeit erhob er sich, ging zu einem der Fenster, lauschte hinaus, kam wieder zurück und sagte:

»Gott sei Dank, der Vater verdient noch immer für seine vielköpfige Familie Geld.«

Die Patienten, die nachmittags zur Sprechstunde ins Kirschnersche Haus kamen, erweckten die Aufmerksamkeit der Kinder. Ging einer durch den Garten, fragten sie die Mutter, was dem Manne oder der Frau wohl fehle, doch Goldköpfchen konnte den Neugierigen nur selten eine befriedigende Antwort geben.

»Mutti, – der Mann mit dem verbundenen Kopf schreit nicht, wenn er beim Vater ist. Er muß doch sehr vorsichtig arbeiten.«

»Es wäre mir lieber, Fritz, wenn du rasch einmal zum Kaufmann gingst und deiner Mutti zwei Pfund Zucker holtest. Vielleicht ist auch Stefan hinten im Hof, er mag dich begleiten.«

In die Augen des Knaben trat helles Leuchten. »Mutti, ich gehe ganz allein! – Mutti, gib mir drei Mark, und ich gehe sofort los.«

»Eine Mark genügt, Fritz.«

»Bitte, liebe Mutti, gib mir drei Mark!«

»Aber Fritz, du brauchst soviel Geld nicht. Hier hast du ein Markstück, und nun lauf.«

»Ach, Mutti, – es wäre so schön gewesen, wenn du mir drei Mark gegeben hättest, aber – – es geht auch so.« Dann lief der Knabe davon, aber nicht hinaus zur Gartentür, er eilte zuvor ins Haus, schoß nach einer Minute wieder heraus und lief davon.

Der Kaufmann, der Goldköpfchens Kinder genau kannte und jedes einzelne gern hatte, neigte sich freundlich zu Fritz nieder. »Nun, kleiner Mann, was soll's?«

Der Knabe nahm einen Zettel aus der Hosentasche und las. »Fünf Eier zu je acht Pfennige, zwei Pfund Salz zu elf Pfennige und eine Büchse Milch für einundzwanzig Pfennige.«

Der Kaufmann holte das Verlangte herbei, wog das Salz ab und stellte es vor Fritz hin. »Noch etwas, mein Junge?«

»Wenn ich Ihnen jetzt drei Mark gebe, – was bekomme ich zurück?«

Der Kaufmann rechnete und nannte die restliche Summe.

»Ich danke schön«, lachte Fritz. »Und nun möchte ich noch zwei Pfund Zucker.« Dann wiederholte er gedankenvoll die Summe, die ihm der Kaufmann soeben genannt hatte. »Zwei Mark und siebzehn Pfennige.«

»Nun geht noch der Zucker davon ab.«

Fritz schüttelte den Kopf und legte das Markstück hin. »Ich brauche nur den Zucker.«

»Ich denke, auch Eier, Salz und Milch?«

Mit einem pfiffigen Gesicht erwiderte Fritz: »Nein, das brauche ich nicht, – das ist die Rechenaufgabe für morgen. – Also zwei Mark und siebzehn Pfennige. – Ist es aber auch richtig?«

»Warte, du fauler Schlingel«, lachte der Kaufmann gutgelaunt; wußte er doch, daß Fritz im Rechnen nicht gerade gut war.

Noch während Fritz beim Kaufmann weilte, kam Stefan gelaufen. Er humpelte durch den Garten.

»Stefan, – was hast du?«

»Vorhin ist einer zum Vater gekommen, der lief immer so – – lang – kurz, lang – kurz, – jetzt warte ich darauf, daß er wieder herauskommt. Dann gehe ich neben ihm her.«

»Aber Stefan! – Wenn ein Mann krank ist, vielleicht schlimme Füße hat oder sich vielleicht einmal das Bein gebrochen hatte, – wie kannst du darüber spotten?«

»Das darf man nicht tun«, meinte Erna.

»Es macht doch Spaß!«

»Nein, Stefan, das macht keinen Spaß«, mahnte Goldköpfchen leicht erzürnt, »sei froh, daß du gesund bist. Ich erlaube dir nicht, den armen Mann, der durch sein Gebrechen recht unglücklich ist, zu verhöhnen.«

Stefan murmelte unverständliche Worte vor sich hin und entfernte sich bald wieder aus der Laube. Als aber die Sprechstunde beendet war, rief Doktor Kirschner seinen Sohn zu sich.

»Höre einmal, mein Junge, wenn ich noch einmal bemerke, daß du kranke Leute im Garten verhöhnst, gibt es etwas hinter die Ohren. Kranke Menschen verdienen unser Mitleid. Merke dir das. Du bist alt genug, um das zu wissen.«

Stefan warf einen finsteren Blick hinüber zu seiner Mutter. »Warum hast du es denn gesagt?«

»Stefan, was ist das für ein Ton?« tadelte der Vater. »Deine Mutter hat mir gar nichts gesagt. Ich habe am Fenster gestanden, als der Kranke kam, und gesehen, wie du hinter ihm hergehumpelt bist. Ich rate dir in aller Güte, solche Unarten zu unterlassen. Du weißt, wir wollen am Sonntag mit dem Elbdampfer nach Schandau fahren. Du kommst nicht mit, wenn ich noch einmal etwas Derartiges sehe.«

Stefans Gesicht wurde nicht freundlicher. Merkwürdigerweise wollte er heute nicht daran glauben, daß er von seiner Mutter nicht verklatscht worden war.

»Ich glaube, sie hat dem Vater doch was gesagt«, flüsterte er am Abend seinem Bruder Jürgen zu.

»Die Mutti petzt nicht, sie beschützt uns immerfort, auch dann, wenn wir unrecht tun. Sie sorgt dafür, daß wir vom Vater nicht so oft Katzenköpfe bekommen, denn der Vater hat eine lockere Hand.«

»Sie hat mich heute ausgezankt.«

»Da hat sie recht! – Ich zanke dich auch aus, und wenn du noch mal sagst, daß die Mutti petzt, haue ich dich hinten blau!«

Am nächsten Tage berichtete Stefan seinem Klassengefährten Gottlieb Hilse von dem gestrigen Vorfall.

»Sie wird es deinem Vater schon gesagt haben. – Sie kann dich nicht leiden«, sagte der gehässige Knabe, über dessen schlechte Charaktereigenschaften die Lehrer viel zu klagen hatten. Auch Goldköpfchen sah den Verkehr mit Gottlieb ungern, übte er doch einen schlechten Einfluß auf Stefan aus.

»Doch, sie kann mich leiden, sie ist gut zu mir.«

»Ach was, – sie ist doch deine Stiefmutter, und Stiefmütter mögen ihre Stiefkinder nie recht leiden.«

»Doch, sie mag mich leiden! Sie zankt mich natürlich oft aus – –«

»Ihre Kinder zankt sie sicherlich nicht aus, die bekommen auch heimlich Obst und Schokolade –«

»Nein, wir bekommen alle ganz dasselbe!«

»Das weißt du doch nicht, Stefan. So eine Stiefmutter steckt ihren Kindern alles ganz heimlich zu. Du mußt nur mal genau aufpassen. Dich zankt sie viel mehr aus als den Hermann und den Jürgen.«

Stefans Gesicht wurde nachdenklich. »Ja«, sagte er zögernd, »sie redet an mir immerzu herum.«

»Du kannst noch so artig sein, nichts paßt ihr, immer bist du schuld! Versuche es nur mal.«

Die Unterredung mit Gottlieb Hilse blieb nicht ohne Eindruck auf Stefan. So recht wollte er es freilich nicht glauben, daß es Hermann, Jürgen und Erna besser hätten als er und die anderen Geschwister. Die Mutti war zu jedem lieb und freundlich, hörte von allen die Sorgen an und half, wo sie konnte. Er sah es sogar ein, daß er mitunter schärferen Tadel verdiente als die anderen, denn er machte recht oft tolle Streiche. Aber die Worte Gottliebs gingen ihm nicht mehr aus dem Sinn. Während des Nachmittags beobachtete er seine Mutter scharf, konnte aber nichts finden, was darauf schließen ließ, daß Hermann und Jürgen bevorzugt würden. Im Gegenteil, gerade mit Marlene, Adele und Ulla war die Mutti besonders zärtlich. So wurde sogar Erna einmal mit ihrem Anliegen nicht befriedigt, da erst Klein-Ulla an die Reihe kommen mußte.

»Morgen verhaue ich den Gottlieb mächtig«, nahm sich Stefan fest vor. »Ich habe keine Stiefmutter, ich habe eine gute Mutti.«

Dieser Vorsatz schwand allerdings wieder, als er am Abend von einem kleinen Bummel nicht rechtzeitig heimkam.

»Es geht wirklich nicht, Stefan«, mahnte die Mutter, »daß du unpünktlich zu den Mahlzeiten bist und uns warten läßt. – Warum hast du dich verspätet?«

»Ich bin ein bißchen herumgebummelt.«

»Du siehst überall Uhren, Stefan. Du kannst außerdem im Garten tollen. Ich wünsche, daß du die Essenszeiten genau einhältst.«

Am nächsten Tage wurde Gottlieb auch von diesem kleinen Vorfall unterrichtet.

»Na ja«, meinte er, »wäre es der Hermann oder der Jürgen gewesen, so hätte sie nichts gesagt. Aber sie ist und bleibt eben deine Stiefmutter. Kannst sie ja mal auf die Probe stellen! – Wir wollen mal sehen, wer die Keile bekommt, du oder der Jürgen.«

Dann begann ein geheimnisvolles Tuscheln. Stefan schüttelte zwar manchesmal den Kopf, aber Gottlieb sprach immer eindringlicher auf den Kameraden ein.

»Du hast doch den besten Beweis dafür, Stefan, daß sie dich nicht so gern hat wie ihre eigenen Kinder. Hermann und Jürgen haben so schöne Indianeranzüge, du hast nur einen ollen Kittel mit buntem Besatz. Wenn sie dich ebenso lieb hätte wie die anderen, hätte sie dir auch schon einen so schönen Indianeranzug geschenkt.«

»Die Anzüge haben die beiden von den Großeltern bekommen.«

»Das ist einerlei! – Na, wenn du meinst, daß sie gut zu dir ist, brauchst du dich auch nicht mehr über sie zu beklagen.«

Am Nachmittag holte sich Stefan wegen einer Unart erneut einen sanften Tadel von Goldköpfchen. Die Mutter versuchte freilich mit Güte und Nachsicht den schwer erziehbaren Knaben zu leiten, aber es war nicht immer leicht. Vielleicht wäre es besser, wenn sie mit ihrem Gatten über Stefan sprach, aber Doktor Kirschner hatte eine zu lockere Hand, er ärgerte sich ohnehin über das Betragen seines Ältesten. Er wußte genau, daß in Stefan viele Untugenden schlummerten. Mit Strenge aber war bei diesem Knaben nichts auszurichten, im Gegenteil, Goldköpfchen hatte längst bemerkt, daß ein allzu hartes Anfassen nur Stefans Trotz herausforderte. So hoffte sie immer wieder, daß ihre Nachsicht und das gute Vorbild der anderen Kinder auf Stefan günstig einwirken würden.

Am Nachmittag des nächsten Tages saßen die Kinder bei ihren Schulaufgaben.

»Ich habe keine Tinte mehr«, sagte Stefan, »bring mir mal die Flasche her, Jürgen.«

Jürgen tat es. Das Tintenfaß wurde gefüllt.

»Nun kannst du die Flasche auch wieder fortstellen.«

Aber Jürgen hatte erst wenige Schritte getan, als er von rückwärts einen Stoß bekam. Die Flasche fiel ihm aus der Hand, und ein Teil ihres Inhalts ergoß sich auf den Teppich. Auch Jürgens Anzug war über und über bespritzt. Im ersten Augenblick war er vor Schreck wie erstarrt, dann begann er zu schelten.

»Du hast mich gepufft!«

»Warum rennst du mir in den Weg, Jürgen!«

»Ich bin dir nicht in den Weg gerannt!«

Im nächsten Augenblick war eine regelrechte Schlägerei im Gange. Jürgen vergaß, daß die Tinte auch über seine Hände gelaufen war, und bald zeigten sich Spuren in Stefans Gesicht und auf dessen Anzug. Schließlich lagen die beiden Knaben in der Tintenpfütze. Fräulein Rettich, das Kinderfräulein, kam gelaufen und schrie entsetzt auf, als sie die beiden Schmutzfinken sah. Gewaltsam mußte sie die Knaben trennen.

»Er ist gestolpert«, sagte Stefan, »und hat die Tintenflasche hingeworfen.«

»Du hast mich gestoßen!« Erneut wollte Jürgen mit beiden Fäusten auf Stefan eindringen.

»Ist nicht wahr, – ich habe dich nicht gestoßen!«

Das Lärmen der beiden Knaben wurde immer lauter, zumal sie erst jetzt sahen, was sie angerichtet hatten. Fritz und Marlene kamen herbei, schließlich stellte sich auch Hermann ein. Dann erschien das Hausmädchen, um nach Möglichkeit die Tintenspuren zu tilgen.

»Zunächst wascht ihr euch Hände und Gesicht«, rief Fräulein Rettich zürnend.

Wieder begann das Durcheinanderlärmen. Auch die anderen Kinder mischten sich ein. Bis in Goldköpfchens Zimmer schallte das erregte Durcheinander, so fand auch sie sich im Kinderzimmer ein. Der Anblick, der sich ihr bot, war wenig erfreulich.

»Der Jürgen ist mit der Tintenflasche hingefallen!«

»Wenn man eine Flasche mit so einem gefährlichen Zeug trägt, muß man langsam gehen«, sagte Erna.

Zunächst sagte Goldköpfchen nichts. Sie liebte es nicht, einem ihrer Kinder in Gegenwart aller Vorwürfe zu machen. Sie hörte die Anklagen schweigend an, denn Jürgen blieb dabei, daß er von Stefan gestoßen worden wäre. Stefan hingegen meinte, Jürgen sei gestolpert; er habe ruhig an seinem Platz gesessen.

Nun wartete Stefan voller Spannung darauf, was weiter geschehen werde. Gottlieb Hilse hatte gemeint, daß man aus diesem Vorkommnis erkennen könne, ob man eine Stiefmutter habe oder nicht. Eine Stiefmutter werde immer dem Stiefsohne unrecht geben.

Nun saß Jürgen bei seiner Mutti und klagte den Bruder an. »Ich habe doch ganz genau den Puff gespürt, Mutti. Ich konnte die olle Tintenflasche nicht so fest halten. – Na, und dann wurde ich wütend. Wenn ich dreckig bin, mußte er auch dreckig sein.«

Eine halbe Stunde später saß Stefan bei der Mutter. Schon zum dritten Male fragte Goldköpfchen mahnend, ob er wirklich den Bruder nicht gestoßen habe. Aus den unruhevollen Zügen des Knaben las sie seine Schuld. Sie sprach davon, daß man, auch wenn man ein Unrecht begangen habe, den Mut zur Wahrheit haben müsse.

»Du glaubst dem Jürgen natürlich mehr als mir. Aber der Jürgen ist ja dein Kind, und ich bin nur das Stiefkind.«

Nun war es heraus.

Das Wort traf Goldköpfchen wie ein Schlag. Wie kam Stefan dazu, ihr dieses Mißtrauen entgegenzubringen, in ihr die Stiefmutter zu sehen? Dazu die verächtliche Betonung, diese Bitterkeit.

»Du glaubst also, mein Kind, ich habe dich nicht so lieb wie die anderen?«

»Du bist ja auch nicht meine rechte Mutter.«

»Wenn du mir zum dritten Male sagst, daß du den Jürgen nicht gestoßen hast, muß ich es dir glauben. – Nun geh!«

Eine Viertelstunde später hörten die Kinder, daß Fräulein Rettich in der Küche zum Küchenmädchen sagte: »Unsere Frau Kirschner sitzt im Wohnzimmer und weint. – Was ist denn gewesen?«

Erna starrte das Kinderfräulein an. Die geliebte Mutti weinte? Schon im nächsten Augenblick hatte sie die Küche verlassen und eilte ins Wohnzimmer. Richtig, am Nähtisch saß die Mutti, sie arbeitete nicht, sie hatte die Augen mit dem Taschentuch verdeckt und schluchzte.

»Mutti – liebe Mutti, – tut dir was weh? – Mutti – der Vater wird dich verdoktern!«

Goldköpfchen bemühte sich eiligst, die Tränenspuren zu tilgen. Liebevoll legte sie den Arm um Erna. »Nein, nein, die Mutti ist ganz gesund.«

Da lag schon ein zweiter an ihrem Herzen – Jürgen.

»Mutti, warum weinst du? – Weil – ich mich dreckig machte?«

Adele kam mit lautem Weinen ins Zimmer gelaufen. »Mutti, ich habe Angst!«

Und jetzt stand Hermann in der Tür. »Laßt die Mutti in Ruhe, geht fort!«

»Nein, wir bleiben bei ihr!«

Die Kinder hockten um Goldköpfchen, ein jedes bestürmte die Mutti, sie solle sagen, was ihr fehle.

»Ich lese dir was Schönes vor«, bat Jürgen. »Ich hole ein ganz dickes Buch und lese!«

»Mutti, weine doch nicht«, tröstete Erna, »am Sonntag fahren wir doch mit dem Schiff, mit einem schönen, großen Schiff. Wir sind alle froh und lachen. Wir gehen auf dem Schiff spazieren und sehen uns alles an – –«

»Du mußt nicht soviel reden, Erna«, sagte Hermann.

»Doch muß ich reden«, beharrte die Kleine, »ich erzähle der Mutti was Schönes, dann wird sie wieder froh. – Wir sehen uns den Kapitän an, der oben auf der Brücke steht und das Rad dreht, und dann gehen wir beide zum Steuermann. Der steht stundenlang auf dem Hinterteil, solange, bis er abgelöst wird. Wir stellen uns dann auch zu ihm auf das Hinterteil. – – Mutti, das wird schön sein! – Freust du dich?«

Obwohl Goldköpfchens Augen noch feucht waren, mußte sie lächeln und zog Erna innig an sich.

»Bist du nun wieder froh?«

»Gewiß, Kinder.«

»Oh –« meinte Jürgen, »wenn dich eine Geschichte froh macht, weiß ich auch eine. Die macht dich noch viel froher. – Nu paß mal gut auf. Da war einmal ein Förster, weißt du, so einer, wie der alte Onkel Forstrat, der ging in den Wald. Dann legte er sich auf den Bauch und knallte los. Ich fragte ihn, was er macht, da sagte er: ›das ist der Anstand, wenn man so macht.‹ – Mutti, jetzt lachst du, jetzt erzähle ich dir noch viel mehr!«

Da saß nun Goldköpfchen im Kreise ihrer Kinder. Nur Stefan und Klein-Ulla fehlten. Aber gerade zu Stefan gingen ihre Gedanken. Was mochte jetzt im Herzen des Knaben vorgehen? Wie sollte es ihr gelingen, das Mißtrauen aus seiner Seele zu bannen?

Gerade in den letzten Tagen hatte sie heimlich fleißig für Stefan gearbeitet. Sie wußte, daß die Indianerausrüstung Jürgens immer wieder Neid in Stefan erweckte. Nun sollte er ein ganz besonders schönes Gewand erhalten. Für den Kopfputz hatte Goldköpfchen überall große Federn zusammengebettelt. Sie wußte, ihr Jürgen war nicht neidisch, auch wenn Stefan in Zukunft einen schöneren Indianeranzug hatte, als er ihn besaß. In wenigen Tagen war der Geburtstag des Knaben; vielleicht sah er an diesem Tage ein, daß auch eine Stiefmutter Freude bereiten möchte.

»Wo ist denn Stefan?« fragte Hermann ganz unvermittelt.

»Ich weiß es nicht.«

Aber Hermann kannte seine Mutter viel zu genau, um nicht dunkel zu ahnen, daß die Tränen, die sie vorhin vergossen hatte, um den Bruder geflossen waren. Warum blieb gerade Stefan jetzt der Mutter fern? – Weil er ein schlechtes Gewissen und wahrscheinlich die Mutti vorhin wegen der Tinte belogen hatte.

Leise verließ Hermann das Wohnzimmer, um Stefan aufzusuchen. Im Kinderzimmer war er nicht, auch nicht im Kinderschlafzimmer. Dagegen hörte er im Schlafzimmer der Eltern ein eigentümliches Geräusch. Er öffnete die Tür und sah gerade noch, wie Stefan einen großen Karton mit bunten Sachen unter das Bett schob. Dunkle Röte breitete sich über das Gesicht Stefans.

»Was machst du hier?« fragte Hermann.

»Nichts – –«

»Du hast eben etwas gemacht, ich sehe es dir an!«

»Das geht dich nichts an.«

Hermann betrachtete den Kasten, auf den der Deckel flüchtig geworfen war, mißtrauisch. Nun zog er den Kasten wieder hervor. Ein fast fertiger Indianeranzug lag darin, aber auch zerrissene Federn.

Stefan wollte aus dem Zimmer laufen, da hielt ihn Hermann zurück. »Was hast du hier gemacht?«

Mit festem Griff packte er den Bruder am Arm und schüttelte ihn. »Hast du das zerrissen?«

»Nein – nein – – der Hund!«

»Stefan – du lügst!«

Stefan begann laut zu schreien, denn Hermann schüttelte den ungebärdigen Knaben noch heftiger hin und her. Frau Leuschner kam herbei, sah die Knaben.

»Hermann – – wie kannst du mit deinem schwächeren Bruder ringen?«

»Ich kann es nicht leiden, wenn er lügt, – ich kenne ihn!«

»Laß mich los! Du bist eben mein Stiefbruder, und die sind immer häßlich zu ihren Brüdern. Ich gehe zu meiner Mutter, ich habe hier nur Stiefbrüder und eine Stiefmutter!«

»Stefan, – was fällt dir ein!« rief Frau Leuschner entsetzt.

»Immer werde ich gescholten, – sie glaubt mir nicht! Der Jürgen bekommt wieder einen neuen Indianeranzug, und ich bekomme nichts! – Sie hat mich eben nicht lieb. – Ich habe es ihr auch gesagt, daß sie eine Stiefmutter ist!«

Das war zuviel für Hermann. Er, der sonst immer ruhige und überlegte Knabe, wurde vom Zorn erfaßt. »Kannst froh sein, daß du so eine Mutti hast! Nun will ich dir mal zeigen, was ein Stiefbruder ist!« Im nächsten Augenblick regnete es Schläge auf Stefan, so daß Frau Leuschner die beiden Knaben gewaltsam trennen mußte.

Bleich vor Erregung stand Hermann vor Stefan. Wie konnte er von einer Stiefmutter reden! Die Mutti war immer gut und liebevoll zu ihm. Wie mußte die geliebte Mutti durch solch ein Wort gekränkt werden! Jetzt wußte er, warum sie weinte. Abermals stieg in ihm die Erbitterung auf.

»Verhauen müßte ich dich! – Aber warte, das sage ich dem Vater!«

Obwohl Hermann nie eines der Geschwister beim Vater anklagte, dieses Mal hielt er es für seine heilige Pflicht, seiner Mutter Beistand zu leisten. Er empfand wohl, daß er den um vier Jahre jüngeren Bruder nicht weiter schlagen dürfe, aber der Vater würde genau wissen, was er mit Stefan anzufangen hatte.

Als Doktor Kirschner von einem Krankenbesuch heimkehrte, erwartete ihn Hermann. »Vater, du sagtest mir einstmals, wenn ich nicht mehr ein und aus wisse, solle ich vertrauensvoll zu dir kommen. Ich schäme mich ja, den Angeber zu machen, aber die Mutti weint, weil Stefan zu ihr sagte, sie sei eine Stiefmutter.«

»Erzähle mir alles, mein Junge. Du erinnerst dich daran, daß wir uns einstmals gegenseitig das Versprechen gaben, deiner Mutter ihr schweres Los nach Kräften zu erleichtern. Wie kam Stefan zu dieser Äußerung?«

Hermann berichtete alles, was er wußte. Es war nicht das Verlangen in ihm, den Angeber zu machen, jetzt galt es, seiner Mutter nach Kräften zu helfen. Daß eine Mutter über eines ihrer Kinder weinen mußte, erschien Hermann so ungeheuerlich, daß er keinen anderen Ausweg sah, als den Vater um Hilfe zu bitten.

Doktor Kirschner ging schnurstracks ins Wohnzimmer. Dort saß noch immer die ganze Kinderhorde um Goldköpfchen. Ein jedes versuchte, der Mutter etwas Schönes zu erzählen. Immer hieß es: Du hast jetzt genug gequatscht, jetzt komme ich an die Reihe.

»Marsch fort«, kommandierte der Vater, »jetzt will ich mit der Mutti reden.«

Erna schaute vertrauensvoll zu dem Vater auf. »Aber erzähle ihr was sehr Schönes, Vater. Mache ja nicht, daß sie wieder weint. Ach, meine goldige Mutti hat geweint!«

Eine Viertelstunde blieb Doktor Kirschner mit seiner Frau allein. Es wurde Goldköpfchen nicht leicht, das Vorgefallene zu berichten.

»Was habe ich versehen, Ewald? Warum gelingt es mir nicht, Stefans Liebe zu gewinnen?«

»Ich werde noch einmal mit Stefan reden, er ist alt genug, meine Worte zu verstehen. Ändert er sich in den nächsten Wochen nicht, so kommt er aus dem Hause. In strenge Zucht!«

»Habe Geduld mit ihm, Ewald.«

»Ich will ihn vornehmen.«

»Stefan will mit Liebe geleitet werden.«

»Du hast schon soviel Liebe über ihn ausgeschüttet, nun will ich es einmal mit eiserner Strenge versuchen.«

Während Doktor Kirschner Stefan zu sich rief, wartete Jürgen darauf, wieder zur Mutti gehen zu dürfen. Er wußte, daß Fräulein Rettich in ihrem Bücherschrank ein Buch stehen hatte, das betitelte sich: »Alles zum lachen.« Dieses Buch wollte er holen, um der Mutti daraus vorzulesen. Aber er fand das Buch nicht, so klappte er manch anderes Buch auf. Plötzlich leuchteten seine Augen. In dem Buch mit dem blauen Deckel waren viele Gedichte, und eines war betitelt: »Tränen.« Er verstand es zwar nicht, aber es würde der Mutti sicherlich gefallen.

Nun kam er mit diesem Buch wieder ins Wohnzimmer und flüsterte geheimnisvoll: »Mutti, jetzt habe ich ganz was Schönes, was dir Freude macht und fein auf dich paßt, weil du geweint hast. Das lese ich dir jetzt vor:

Die Träne ist ein milder Segen,
O hemm' nicht ihren Segenslauf,
Die Kummerwolke des Gemütes
Löst sich sogar in Tränen auf.«

Fragend blickte Goldköpfchen ihren Sohn an.

»Siehst du, Mutti«, sagte Jürgen strahlend, »was hier steht, verstehe ich nicht, aber daß die Kummerwolke wieder wegzieht, habe ich begriffen. Du hast geweint, und nun ist der Kummer wieder fort. – Willst du noch mehr von dem Gedicht hören?«

»Nein, mein Junge, ich will nur hören, daß du deine Mutti lieb hast.«

»Furchtbar lieb!« – –

Am nächsten Tage wußte Gottlieb Hilse nicht, aus welchem Grunde er von Stefan mächtig verhauen wurde.

»Du bist das Gift, das Gift«, rief Stefan mehrmals, »und einer Giftblume geht man aus dem Wege. Aber du bist ein Giftmensch, und das ist noch viel was Schlimmeres!«

Gottlieb tippte mit dem Finger auf die Stirn. »Bei dir ist es wohl dort oben nicht mehr ganz richtig?«

»Laß mich in Ruhe, du Ekel, – du Gift! Willst du noch 'ne Wucht haben?«

Von dieser Stunde an war die Freundschaft zwischen Stefan und Gottlieb zerbrochen.

Im Kirschnerschen Hause erfuhr man nicht, was Vater und Sohn miteinander gesprochen hatten. Scheu ging Stefan anfangs um seine Mutter herum, bemühte sich zwar, ihr kleine Aufmerksamkeiten zu erweisen, hielt sich aber trotzdem von ihr fern. Er murrte auch nicht, als man am Sonntag die Dampferfahrt ohne ihn machte.

Zwei Tage später überzog allerdings ein dunkles Rot der Scham das Gesicht des Knaben. Auf seinem Geburtstagstisch lag ein wunderschöner Indianeranzug, derselbe, den er in jenem Karton entdeckt hatte. Der Kopfputz, den er im Zorn zerrissen hatte, war auch wieder hergestellt.

»Nun? – Hast du kein Wort des Dankes für deine Mutter?« fragte der Vater ernst.

Mit niedergeschlagenen Augen reichte Stefan der Mutter die Hand.

»Hoffentlich freut dich der Anzug«, sagte Goldköpfchen zärtlich, »nun könnt ihr zu dritt schön spielen.«

Kurz vor dem Abendessen, als Goldköpfchen eiligst ins Wohnzimmer ging, um etwas zu holen, lief ihr Stefan nach. Er barg sein Gesicht an der Mutter Brust.

»Mutti«, sagte er, und helle Tränen liefen ihm über die Wangen, »du brauchst mich nicht lieb zu haben, denn ich bin ein gemeiner Kerl. Aber ich habe dich lieb, und ich will dich immer lieb behalten. Mutti, schenk den Anzug dem Jürgen, ich will seinen alten nehmen. Ich habe ihn damals gestoßen, als er mit der Tintenflasche ging, ich habe in der Wut den Kopfputz zerrissen, weil ich dachte, daß ihn der Jürgen haben soll. – Mutti, ich will dich in Zukunft immer sehr lieb haben.«

»Das wäre für mich eine sehr große Freude, mein lieber Junge. Ich will nicht deine Stiefmutter sein, ich will dich ebenso lieb haben wie deine erste Mutti. Du mußt dich aber auch bemühen, brav zu sein. Ich habe es wohl bemerkt, was du angerichtet hast, und war sehr traurig darüber.«

»Und nun schenkst du mir doch den Anzug?«

»Ja, Stefan, ich hoffe, daß du dadurch einsiehst, daß ich dir nur Freuden bereiten will. Aber ich möchte nun auch, daß du ein tüchtiger Mensch wirst. Ich weiß, es ist nicht immer leicht, und wenn dir wieder einmal eine Unwahrheit entschlüpft, mein lieber Junge, so komme, genau wie heute, vertrauensvoll zu mir und gestehe sie ein. Dann ist es nicht mehr so schlimm. Wenn man jedoch auf der Unwahrheit beharrt, so ist das ein großes Unrecht. – Wollen wir es von nun an so halten, Stefan? Willst du jedesmal, wenn du ein Unrecht begangen hast, zu mir kommen und mir alles erzählen?«

»Schickst du mich nicht aus dem Hause, wenn ich zu oft an einem Tage lüge?«

»Im Anfang wird es noch geschehen, daß du die Unwahrheit sprichst. Wenn du aber den ernstlichen Willen hast, dir diese Untugend abzugewöhnen, so wird es dir in einem halben Jahr nicht mehr schwer sein, bei der Wahrheit zu bleiben.«

»Hast du mich auch noch lieb, wenn ich mal wieder was Schlimmes mache?«

»Gewiß, mein Junge. Nur mußt du es einsehen und den festen Vorsatz fassen, ähnliches nicht wieder zu tun.«

»Das will ich gern, Mutti, – weil ich dich doch auch lieb habe.«

Goldköpfchen drückte den Knaben innig ans Herz. »So, mein Junge, nun sind wir beide die allerbesten Freunde. Vergiß nur nicht, was du mir eben versprachst.«

»Darf ich den Anzug behalten?«

»Freilich, ich habe ihn doch für dich genäht.«

Da wurde Goldköpfchens Gesicht mit zahllosen Küssen bedeckt.


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