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Mit einem glühendroten Kopf stand Bärbel vor den beiden Amerikanern, die sie gestern abend in ihrem Fremdenzimmer aufgenommen hatte.
»Wir wissen Ihre Liebenswürdigkeit zu schätzen und zu würdigen«, sagte die Dame auf englisch. »Sie haben uns einen Dienst geleistet, wie er nicht oft geleistet wird. Wir werden in unsere Heimat ein gutes Andenken an die gastfreundlichen Deutschen mitnehmen. Heute ist es mir möglich, wieder die Treppe zu steigen und im Auto zurück nach Dresden zu fahren. Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit.«
»Auch ich, gnädige Frau, habe Ihnen meinen Dank auszusprechen. Wir Amerikaner sind praktische Menschen. Vom Dank kann man nicht leben, Bezahlung haben Sie abgelehnt. Sie haben ein photographisches Atelier, haben drei Kinder. Ein Beweis, daß Sie Geld verdienen müssen. Wir werden uns auf eine entsprechende Art und Weise erkenntlich zeigen.«
»Man hilft doch gern«, sagte Goldköpfchen. »Sie machen zu viel Aufhebens von dieser kleinen Freundlichkeit.«
»O nein, wir würden keine Fremden in unser Haus lassen; aber man hört viel, daß das deutsche Volk sehr gutherzig ist. Sie desgleichen, gnädige Frau. Sie sollen es nicht bereuen.«
»Denken Sie, wenn Sie wieder in Ihrer Heimat sind, an diese kleine Gefälligkeit, und wenn einstmals ein Deutscher an Ihre Tür klopft, einer, der in Not geriet, so vergelten Sie das in gleicher Weise. Das wäre dann des Dankes genug.«
»O nein, Mr. Walker denkt anders. Wir haben in Dresden einen amerikanischen Klub, wir haben unsere schönen Klubräume. In jeder Woche finden sich Amerikaner dort zusammen. Wenn ich heute abend im Klub weile, werde ich Ihrer gedenken, Frau Wendelin. Wenn auch Ihr Städtchen ein wenig abseits liegt, meine Landsleute haben alle eigene Wagen. Es wird Ihr Schade nicht gewesen sein. Wir werden Ihr Atelier in der Brückenstraße nicht vergessen. Geben Sie mir bitte Ihre Geschäftskarte, nicht eine, nein, eine ganze Anzahl.«
Ein freudiger Schreck durchlief Bärbel. Schon damals, als sie bei Brausewetter lernte, hatte sie von dem amerikanischen Klub gehört. Des öfteren war sie an dem schönen Hause vorübergegangen, das allabendlich strahlend hell erleuchtet war. Sie wußte, daß gerade nach Dresden ständig Amerikaner kamen, die die Kunstwerke der Stadt, die Museen besichtigten oder die Hochschulen besuchten. Wenn Herr Walker dort ein gutes Wort für sie einlegte, war es ziemlich sicher, daß sie dadurch Verdienst bekam. Es brauchten nicht gleich Aufnahmen zu sein, o nein, sie würde Bilder entwickeln, Abzüge machen und auch auf diese Weise lohnende Arbeit erhalten.
Nun waren sie gegangen. Bärbel schaute dem davonfahrenden Wagen, dessen Motor heute wieder instand gesetzt war, lange nach. Sie mußte lächeln. Durch ein Mißverständnis war ihr diese schöne Aussicht geworden.
»Siehst du, Jürgen«, sagte sie beim Mittagessen, »nun hast du wahrscheinlich deiner Mutter einen großen Verdienst herangebracht. Unsere unerwarteten Besucher wollen der Mutti allerlei Leute herschicken, die sich photographieren lassen.«
»Und ich habe dir auch 'nen großen Verdienst 'rangebracht«, sagte Hermann. »Der Mann, der so viel gequasselt hat, sagte doch auch, er kommt zu dir.«
»Ja, meine geliebten Kinder, ihr helft eurer Mutti nach jeder Richtung hin.«
»Erna will auch der Mutti einen Verdienst verschaffen«, lispelte das kleine Mädchen.
Goldköpfchen umschlang ihre Drei und blickte auf ihre Blondköpfe nieder. Diese Schätze waren ihr geblieben. Die Kinder hingen mit rührender Zärtlichkeit an ihrer Mutter. Da sie den Vater entbehren mußten, war es ihre Aufgabe, ihnen den Ernährer zu ersetzen, ihnen an Liebe alles zu schenken, was das Mutterherz zu geben vermochte.
Am Nachmittag schlug die Glocke an. Das Mädchen meldete, Herr Hampel sei gekommen, er wünsche Frau Wendelin zu sprechen.
Hermann schnappte mehrmals nach Luft. Vorhin war er draußen auf dem Korridor gewesen. Hätte er sich dort etwas länger aufgehalten, wäre das Unglück abzuwenden gewesen. Nun war es zu spät.
»Mutti, könnte man nicht sagen, du bist nicht da? Sieh mal, du bist doch gerade bei uns, da ist es keine Lüge, wenn du sagst, du bist nicht im Atelier?«
Bärbel hatte bereits die Weisung gegeben, Herrn Hampel ins Wartezimmer zu führen. Hermann stellte sich vor die Tür mit ausgebreiteten Armen.
»Mutti, das is doch ein böser Mann!«
»Nanu, Hermann, hast du schon wieder Angst? Herr Hampel wird ganz gewiß nach dir fragen.«
Bärbel ging hinüber, und schon zwei Sekunden später riß Hermann die Mütze vom Haken und lief die Treppe hinunter. Wenn Hampel nach ihm verlangte, wollte er nicht daheim sein.
Bärbel war dagegen voll freudiger Erwartung. Wenn Herr Hampel seinen Weg heute zu ihr nahm, kam er bestimmt in keiner bösen Absicht. Wahrscheinlich ließ sich durch die heutige Aussprache alles klären, und der Photograph zog seine Anzeige zurück.
Obwohl Bärbel den Besuch mit ruhigen, freundlichen Worten begrüßte, war Hampel sehr verlegen. Kaum vierzehn Tage waren es her, daß er jedem seiner Bekannten von Frau Wendelins Machenschaften, von ihrem schlechten Charakter, von ihren schlimmen Jungens und anderes erzählte. Er sorgte sogar dafür, daß die ahnungslose Frau in einen schlimmen Ruf kam. Die Andeutungen, die Herr von Sasseneck bei seinem Besuch gemacht hatte, wurden von ihm weitergetragen, kleine Erlebnisse verändert, kurzum, er suchte Frau Wendelin nach jeder Richtung hin zu schädigen. Er haßte die neue Konkurrenz, die Frau, die es gewagt hatte, ein photographisches Atelier zu errichten, haßte deren Kinder, die von ihr angehalten wurden, ihm die Existenz zu untergraben.
Dann war das Unglück auf dem Teich gekommen. Zunächst hatte Herr Hampel noch gehofft, daß er für Hermann Wendelin ein Fremder sei. Als er aber erfuhr, daß der Knabe genau gewußt hatte, wen er rettete, als sich der kleine Held keinen Augenblick besann, den Mann, der ihn verprügelt hatte, aus dem eisigen Wasser zu ziehen, dabei sein eigenes, junges Leben furchtlos wagte, waren über den Photographen tiefe Beschämung und heftige Reue gekommen. Jetzt erst gab er sich die Mühe, nähere Erkundigungen über die junge Witwe einzuziehen, und fast überall hörte er das Lob der goldblonden Frau. Er hörte von ihrem traurigen Schicksal, von dem schweren Los, das sie getroffen hatte. Allgemein rühmte man den Gatten, der sein Leben für andere hingegeben hatte. Und in ganz Heidenau war schließlich nur noch eine Stimme, daß Frau Wendelin und ihre Kinder prachtvolle Menschen wären.
Frau Lohmann, der natürlich alle die Lobreden auch zu Ohren kamen, versuchte anfangs, die unbesonnenen Streiche der Knaben in den Vordergrund zu stellen. Immer wieder sprach sie davon, daß es doch nur auf Antrieb der Mutter geschehen sei, wenn Hermann die Schilder der Konkurrenz verklebte oder Zettel mit abfälligen Urteilen über die Konkurrenz schriebe. Sie fand keinen rechten Beifall mehr. Einer nach dem anderen meinte, daß er ganz andere Äußerungen über Frau Wendelin gehört habe, und daß man der stillen Frau derartiges nicht zutrauen könnte.
Dann war weiter bekannt geworden, daß der berühmte Mediziner, Geheimrat Rose, durch das Atelier Wendelin seine Geschenke habe photographieren lassen. Man zeigte die Zeitschriften herum, in denen die Bilder veröffentlicht worden waren.
Auch Forstrat Schmeling, ferner der Direktor der Maschinenfabrik, in der Harald beschäftigt gewesen war, und viele andere setzten sich mit Nachdruck für Frau Wendelin ein, und die Stimmen der Gegner schwanden mehr und mehr.
Das alles war Herrn Hampel nicht unbekannt geblieben. Es war kein leichter Gang für ihn, Frau Wendelin aufzusuchen. Schon einmal hatte er sich hier eingefunden; damals schien niemand daheim gewesen zu sein, denn dreimal hatte er vergeblich geklingelt.
Er mußte sich erst einige Male räuspern, ehe er die Einleitung fand.
»Ich bin Ihrem Sohne großen Dank schuldig, Frau Wendelin. Ohne sein mutiges Eingreifen stände ich heute gewiß nicht vor Ihnen, und auch meine kleine Tochter wäre nicht mehr unter den Lebenden. Ich bitte, vergessen Sie, was gewesen ist.«
»Ich freue mich herzlich, daß Sie den Weg zu mir fanden, Herr Hampel. Ich weiß, es stand manches zwischen uns. Da Sie nun hier sind, ist es wohl das Richtigste, wir sprechen uns einmal gründlich aus. Ich habe die ehrlichste und beste Absicht, mit meinen Kollegen in Heidenau in Frieden und bester Kameradschaft zu leben. Glauben Sie es mir, Herr Hampel. Sie haben gedacht, als Sie die Anzeige bei der photographischen Innung einreichten, – –«
»Äh – die Anzeige habe ich bereits zurückgezogen. Ich war falsch unterrichtet.«
Goldköpfchens Augen leuchteten auf. »Das freut mich herzlich, dafür danke ich Ihnen vielmals, Herr Hampel. Seien Sie versichert, meine Buben werden derartige unüberlegte Streiche nicht wieder begehen. Hermann hat in dem Glauben gehandelt, mir zu helfen; er wußte nicht, was er damit tat. Doch nun hat mein Junge, der diese Mißverständnisse schuf, dafür gesorgt, daß sie wieder behoben sind. Sie sagten, Herr Hampel, Sie sind uns Dank schuldig. Nun gut, so kleiden Sie diesen Dank in die Worte: auf gute Kameradschaft.«
»Frau Wendelin, Sie sind eine prächtige Frau!«
Bärbel wurde sehr ernst. »Ich stehe im Kampf ums tägliche Brot, Herr Hampel. Der Ernährer wurde uns genommen, ich habe drei Kinder, die ich zu tüchtigen Menschen erziehen will. Auch Sie haben für Ihre Familie zu sorgen. Das ist nicht leicht in der heutigen Zeit. Wir wollen trotzdem hoffen, daß für uns alle drei, die wir unsere Ateliers eröffnet haben, soviel Arbeit vorhanden ist, daß wir in Frieden nebeneinander schaffen und wirken können, einer dem anderen freundlich gesinnt, einer dem anderen in der Verlegenheit helfend, ihm beistehend, wenn es einmal nottut. Ich habe die beste Absicht dazu.«
»So soll es in Zukunft sein, Frau Wendelin, sogar noch mehr! Sie sind eine Anfängerin, ich werde Sie empfehlen. Ja, Frau Wendelin, wahrhaftig, ich will es selbst tun.«
»Ich danke Ihnen herzlich, Herr Hampel, doch ich glaube, Sie haben Ihre Kundschaft. Möge sie Ihnen erhalten bleiben! Ich hoffe, daß auch ich meinen Kundenkreis finden werde. Es würde mich wirklich bedrücken, wenn Sie, aus einem falschen Gefühl der Dankbarkeit heraus, mir in dieser Weise helfen wollten.«
»Und doch verspreche ich es Ihnen. – Ich habe vieles an Ihnen gut zu machen, Frau Wendelin. Und nun möchte ich noch Ihren Hermann sprechen.«
»Ich will ihn sogleich rufen.«
Frau Leuschner gab Bescheid, daß Hermann fortgegangen wäre. Da mußte Bärbel lächeln. Dieser Knabe, der ohne Zögern heldenhaft sein junges Leben aufs Spiel setzte, fürchtete sich vor Auseinandersetzungen mit Männern, denen er einmal einen kleinen Schabernack gespielt hatte. Wie merkwürdig war das!
»Ich hoffe, daß ich Ihren Hermann noch einmal treffe«, sagte Hampel. »Den prächtigen Jungen muß ich mir einmal recht genau ansehen. Fürs erste habe ich meinem jungen Lebensretter diesen süßen Kasten mitgebracht. Ich glaube, Kinder sind immer für Süßigkeiten zu haben. Aber persönlich muß ich ihm noch einmal die Hand drücken.«
In diesem Augenblick wurde Frau Wendelin ans Telephon gerufen. Es war Geheimrat Rose aus Loschwitz, der seine Rückkehr von der Reise meldete.
»Es wird mir eine sehr große Freude sein, Herr Geheimrat. Morgen wollen Sie kommen? – Jawohl, ich bin daheim. Eine Aufnahme? Oh, Herr Geheimrat, ich weiß von Brausewetter her, wie ungern Sie sich photographieren lassen. – Trotzdem? – Ja, Herr Geheimrat, ich bin daheim und freue mich herzlich auf Ihr Kommen.«
Schweigend hatte Herr Hampel der Unterhaltung gelauscht. Ja, wenn Frau Wendelin solche Freunde hatte, brauchte sie seine Fürsprache nicht. Dieser berühmte Mann, den die ganze gebildete Welt kannte, kam zu der jungen Photographin nach Heidenau. Da mußte es wohl mit Frau Wendelin eine ganz besondere Bewandtnis haben.
»Ich gönne es Ihnen von Herzen«, sagte Herr Hampel, »jetzt gönne ich es Ihnen wirklich. Seitdem ich persönlich mit Ihnen gesprochen habe, weiß ich, daß alle die im Recht sind, die mir sagten, die goldblonde Frau Wendelin ist eine prachtvolle Frau! Ich gönne es Ihnen, Frau Wendelin, ich möchte Ihnen wünschen, daß Sie durch Ihre Kinder für alles entschädigt werden, was Ihnen das Schicksal an Leid schuf.«
Bärbel drückte Herrn Hampel herzlich die Hand. »Noch einmal: auf gute Kameradschaft! Sollten Sie Herrn Rotmühl sehen, so legen Sie auch bei ihm ein gutes Wort für mich ein. Ich meine es ehrlich. Sie sollen sich über mich nicht wieder zu beklagen haben.«
»Von seiten Rotmühls werden Ihnen keine Unannehmlichkeiten kommen. Der hat die Sache nicht so ernst genommen. – Aber, wahrhaftig, Frau Wendelin, ich war furchtbar verärgert, außerdem habe ich Sie nicht gekannt. Nun wird das anders.«
Nochmals schüttelte man sich die Hände; dann verließ Herr Hampel das Atelier. Als er aus dem Hause trat, sah er gegenüber an einem der Schaufenster den kleinen Hermann stehen. Mit schnellen Schritten eilte er über die Straße.
»Da habe ich dich ja!«
Ein schlanker Knabenkörper flog herum, in zwei Augen stand unverhüllter Schreck; dann eilte Hermann wie ein Besessener die Straße hinab, stieß fast eine daherkommende Frau um, die einen Korb trug, lief weiter und immer weiter, bis er außer Sehweite gekommen war.
»Verflixt«, sagte er heftig atmend. »Fast hätte er mich erwischt.«
Auf Umwegen ging er heim.
»Wo steckst du denn, Hermann«, rief ihm Frau Leuschner beim Eintreten zu. »Herr Hampel hat nach dir gefragt.«
»Na, so bequem mache ich es ihm nicht«
»Er kommt nochmals wieder.«
»Heute?«
»Nein, das heißt, ich weiß es nicht.«
»Dunnerschlag!«
»Schau einmal, was er dir gebracht hat.« Mit diesen Worten schob Frau Leuschner Hermann den großen Kasten Konfekt zu. »Weil du sein Lebensretter gewesen bist.«
»Der Hampel?«
»Ja, mein Junge, er ist gekommen, um sich zu bedanken.«
Langsam und bedächtig öffnete der Knabe den großen Kasten. Neugierig kam auch Jürgen herbei. Er streckte begehrlich die Hand nach einem Konfektstück aus.
»Halt, du Bengel, ich bin der Lebensretter!«
Trotzdem nahm Hermann kein Stück heraus. Mißtrauisch betrachtete er das feine Konfekt. Ganz plötzlich hielt er Jürgen den Kasten hin.
»Du darfst vier Stücke essen, von jeder Ecke eins.«
Das ließ sich der kleine Mann nicht zweimal sagen. Obwohl er die größten wählte, ließ es Hermann ruhig geschehen. Er selbst nahm kein einziges Stück, er wartete geduldig, bis Jürgen die Pralinen verspeist hatte.
»So ist es recht«, lobte Frau Leuschner. »Anderen auch etwas abgeben. Du bist ein guter Junge, Hermann.«
Hermann brachte seine Lippen an Frau Leuschners Ohr. »Ich habe ihn erst mal probieren lassen. Vielleicht hat sie der Hampel vergiftet. Wenn es ihn jetzt nicht im Bauche zwickt, esse ich auch.«
»Aber, Hermann!«
»Der Hampel ist ein Ekel, ich traue ihm nicht.«
Wenige Augenblicke später erschien die Mutter im Zimmer.
»Du darfst noch nicht essen«, sagte Hermann, »Erst müssen wir warten, ob der Jürgen vergiftet ist.«
Da mußte sich Goldköpfchen wieder einmal bemühen, dem Knaben das Mißtrauen gegen Hampel auszureden. Doch das war nicht ganz leicht.
»Nee, nee, Mutti«, meinte Hermann. »Du hast ja nicht gesehen, wie er vorhin über die Straße geschossen kam. Beinahe hätte er mich gepackt. Na, der hätte wieder gekeilt!«
Daß sich Hampel tatsächlich nur für die heldenhafte Tat bedanken wollte, leuchtete Hermann nicht ein. In seinen Augen war eben nichts Besonderes geschehen. Dem Hampel traute er nicht!
Am nächsten Morgen kam noch ein Besuch. Es war Frau Lohmann. Bärbel hatte anfangs ein recht unangenehmes Gefühl; bald aber merkte sie, daß auch Frau Lohmann heute ganz anders war wie einstmals.
»Sie haben von Mauselchen ein entzückendes Bild gemacht, ich brauche noch einige Abzüge. Und dann, – Frau Wendelin, wollen Sie mich noch einmal aufnehmen?«
»Gewiß, gnädige Frau«, klang es kühl zurück.
Schon die erste Aufnahme gelang trefflich.
»Seien Sie mir nicht böse, Frau Wendelin. Ein jeder Mensch hat seine Schwächen und Fehler. Ich war damals reichlich nervös.«
Bärbel begriff zwar nicht, warum auch Frau Lohmann plötzlich gar so liebenswürdig war. Sie wußte ja nicht, daß sie die Schwester Hampels vor sich hatte. Doch freute sie sich, daß sich alle Mißverständnisse wieder beseitigen ließen.
Gegen Mittag erschien Geheimrat Rose. Mit jugendlichem Feuer begrüßte er Bärbel.
»Gefallen haben Sie mir allezeit, Frau Bärbel, doch heute ganz besonders. Frohe Augen sehe ich, das ist recht. Auch ich habe mich aus den Bergen prächtig zurückgefunden. Nun wollen wir frohgemut der Zukunft entgegensehen. Und wie geht es den Kindern?«
»Danke vielmals, Herr Geheimrat, die Buben kommen bald aus der Schule, dann will ich Ihnen die Rangen zeigen.«
»Von Ihrem Hermann habe ich viel Gutes gehört, muß ein prächtiger Bursche sein, – vielversprechend!«
»Sie haben alle drei das gute Herz ihres Vaters.«
»Und was haben sie von der Mutter?« fragte er verschmitzt lächelnd.
»Wenn sie werden wie ihr Vater war, bin ich vollauf zufrieden, Herr Geheimrat.«
Der alte Herr blickte sich um. »Sehr hübsch ist es hier, behaglich und gediegen. Man merkt sogleich die weiche Frauenhand. Gar nicht wie ein kaltes Atelier. Ich glaube, ich komme öfters zu Ihnen, Frau Bärbel.«
»Aber nicht ins Atelier«, erwiderte Bärbel lächelnd. »Wie glücklich würde es mich machen, Herr Geheimrat, wenn Sie mich in meiner Wohnung aufsuchen wollten. Eigentlich darf ich darum gar nicht bitten.«
»O doch, Frau Sonnenschein.«
»Ich? – Ich Sonnenschein?«
»Ja, durch die dunklen Wolken, die damals, als ich das letztemal mit Ihnen sprach, vor Ihnen hingen, bricht schon wieder Ihr sonniges Gesicht hervor. Und so soll es in Zukunft bleiben, Frau Bärbel. Ihre Kinder müssen in heller Sonne heranwachsen. Und schließlich, ein alter, einsamer Mann, eine Blume, die dem Vertrocknen nahe ist, sucht auch noch einmal die Sonne. – Darf ich kommen?«
»Immer, Herr Geheimrat!«
»Ich danke Ihnen, Frau Sonnenschein. Ihre liebe Bekanntschaft bereichert mein Leben aufs neue. Lassen Sie die Alten und die Jungen teilhaben an Ihrer inneren Zufriedenheit, lassen Sie uns in Ihrem Heim eine Stätte des Friedens und der Freude sehen.«
Die Aufnahme des Geheimrats wurde gemacht. Der alte Herr ließ sich sogar in zwei verschiedenen Stellungen photographieren. Dann gab es noch ein kleines Plauderstündchen, das ganz plötzlich von dem Lärmen des heimkehrenden Jürgen unterbrochen wurde.
»Mutti!« Jürgen stürmte ins Atelier. In seiner Aufregung sah er den Geheimrat nicht. »Er hat ihn doch erwischt!«
»Jürgen, ich habe Besuch.«
»Guten Tag auch! – Mutti, festgehalten hat er ihn. Der Hermann hat zwar feste um sich geschlagen. Da bin ich rasch weggelaufen. Ich habe mich erst gar nicht mehr umgesehen. – Er hat ihn erwischt!«
»Möchtest du nicht recht artig zuerst guten Tag sagen, Jürgen? Das ist der gute Onkel Geheimrat.«
»Ach so, der mit den vielen Blumen in der Stube. – Guten Tag!«
»Und du bist der kleine Jürgen Wendelin?«
»Ja, der bin ich. – Mutti, ob er ihn feste verbimst hat?«
»Mutti, – Mutti, –« das war Hermann. Jürgen lief ihm entgegen.
»Hast du feste Keile gekriegt?«
»Mutti! – –«
Zum zweiten Male mußte die Mutter ermahnen. Lächelnd betrachtete der Geheimrat den erregten Knaben, der mit übersprudelnden Worten davon erzählte, daß man auf der Straße von dem Hampel überfallen worden sei.
»Au Backe, habe ich mir gedacht, nu geht es los! Ich habe ihn gezwickt, da hat er mich ganz festgehalten. Und dann hat er mich gar nicht gehauen. Dann hat er wieder von dem ollen Quatsch angefangen. Aber nett ist er gewesen, – gar nicht böse. Nun ist er doch froh, daß ich ihn aus dem Wasserloch gezogen habe. – Was schenken will er mir auch.«
»Du hast ja schon eine große Schachtel Konfekt bekommen.«
»Das habe ich ihm ja auch gesagt. – Aber dann habe ich doch gemeint, wenn ich zwei aus dem Wasserloch geholt habe, muß ich auch zwei Sachen bekommen. – Oh, da habe ich mir was wünschen dürfen.«
Geheimrat Rose hatte sich schmunzelnd in den Sessel zurückgelehnt.
»Was hast du dir denn gewünscht, mein Junge?« fragte er.
Hermann musterte den Gelehrten etwas nichtachtend. »Ich sage es dir später, Mutti.«
»Nein, nein, Hermann, sage es mir nur sofort.«
»Die blaue Kette, die bei Pfeiffer im Schaufenster steht.«
»Eine Kette?«
»Nu ja, die mit den großen blauen Perlen. – Weißt du, Mutti, der Lederstrumpf hat eine rote Kette um den Hals, ich habe keine. Das ist dann das Zeichen der Würde. – Ich muß die blaue Kette haben, Mutti.«
Das Lachen des Geheimrates unterbrach den Bericht des Knaben.
Hermann zog die Stirn kraus.
»Mein Junge«, lachte Geheimrat Rose, »also auch du spielst Indianer? Das habe ich in meiner Jugend auch getan. Dann bin ich auch einmal zu den richtigen Indianern gekommen, habe mit manchem Häuptling gesprochen. Ich habe daheim so manchen echten Indianerschmuck.«
Mitleidig zuckte Hermann die Schultern. »Mit den richtigen Indianern kann man doch nicht reden, die sprechen doch Indianisch.«
»Wie wäre es, mein Junge, wenn du mit deiner Mutti am kommenden Sonntag zu mir nach Loschwitz kämst. Dann will ich dir manches von den Indianern zeigen und erzählen. Dann, wenn du brav bist, schenke ich dir einen echten Häuptlingsschmuck.«
»Mutti, ist das Schwindel?«
»Aber, Hermann!«
»Einen echten Indianerschmuck, – einen Schmuck für den Wahehe-Häuptling?«
Damit war der Bann gebrochen. Hermann wich nicht mehr von der Seite des Geheimrates. Dutzende von Fragen wurden gestellt. Alles wollte der Knabe wissen, und wenn Bärbel eine Zwischenbemerkung wagte, sagte Hermann bittend:
»Mutti, liebe Mutti, sei still, ich muß noch so viel hören.«
Er war immer näher an den alten Herrn herangerückt, und schließlich stieg er voller Begeisterung auf dessen Knie.
»Und die Wahehes, – kennste die auch?«
»Sonntag erzähle ich dir mehr, nun muß ich gehen.«
»Mutti, kann er nicht mit uns essen? Ich gebe ihm mein Fleisch!«
Bärbel war vollkommen ausgeschaltet. Hermann hing sich in den Arm des Geheimrates, hatte, als der alte Herr schon in Mantel und Hut dastand, noch hundert Fragen, begleitete schließlich den Geheimrat die Treppe hinunter und wollte ihn bis zum Bahnhof bringen.
»Geh hinauf, mein Junge, die Mutti wartet mit dem Essen.«
»Und der Skalp, den er am Gürtel hat, ist der wirklich von einem Menschenkopf oder vom Friseur?«
»Das alles erzähle ich dir am Sonntag.«
»Kannst du mir auch einen richtigen Skalp schenken? – Hast du mal gesehen, wie sie einen Bumerang werfen?«
»Am Sonntag, mein Junge. Jetzt sage ich nichts mehr. – Nun gehe hinauf.«
»Weißt du auch einen richtigen Namen? Wie heißt denn so ein Häuptling?«
»Der rote Falke, mit dem habe ich gesprochen.«
»Hurra, nu bin ich auch der rote Falke! Ist der braunrot oder noch röter als sonst die Indianer sind?«
»Jetzt Schluß, die Mutti wartet.«
Das Fragen ging noch weiter; doch der Geheimrat legte dem Knaben die Hand auf den Mund, zum Zeichen, daß er nicht mehr antworten würde. Da mußte sich Hermann zufriedengeben. Doch oben angekommen, hatte die Mutter keine Ruhe mehr. Selbst im Traum noch erzählte Hermann von der blauen Kette, an der er den roten Falken aus dem Teich ziehen würde.
Und an jedem Morgen war seine erste Frage: »Mutti, fahren wir Sonntag auch wirklich zum Freund des roten Falken?«
Beinahe wäre aus dieser Fahrt nichts geworden. Am Freitag und am Sonnabend kam eine Menge Amerikaner nach Heidenau hinaus, die von Frau Wendelin eine Unmenge Aufnahmen, die sie gemacht hatten, entwickelt haben wollten. Dann wurden Gruppenbilder verlangt. Frau Wendelin hatte alle Hände voll zu tun, um allen Wünschen gerecht zu werden.
Bis spät abends arbeitete die junge Witwe in der Dunkelkammer. Hermann kam mehrmals an die Tür.
»Mutti, wirste auch fertig? Wir können doch morgen fahren?«
Bärbel schob hastig den Riegel vor die Tür, da die Gefahr bestand, daß der erregte Knabe zu ihr hereinkommen werde. Dann waren die Aufnahmen verdorben. Wie freute sie sich über die viele Arbeit. Und wieviel liebe Gedanken gingen zwischendurch hin zum Hügel des Gatten.
Es war gegen elf Uhr abends, als Bärbel endlich die letzte Arbeit beendet hatte. Sie war recht ermüdet. Sie hatte zwischendurch nach den Kindern sehen müssen. Die durften nicht vernachlässigt werden. Viele Pflichten lagen auf ihren jungen Schultern, doch diese Pflichten bereiteten ihr Freude. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, daß sie jemals mit so großer Lust und Liebe tätig sein könnte. Sie hatte geglaubt, daß mit dem Tode des Gatten alles Licht aus ihrem Leben entschwunden sei. Nun zeigte es sich, daß sie auch im Glück ihrer drei Kinder Frieden und Beruhigung fand.