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2. Kapitel
Freunde und Bekannte stellen sich ein

In der Heidenauer Tageszeitung war von Bärbel eine Bekanntmachung erschienen, daß sie ein photographisches Atelier eröffnet habe. Hermann war voller Stolz und zeigte das Blatt, in dem der Name der Mutter stand, in der Schule und den verschiedensten Geschäften. Er schilderte das neue Atelier in den glühendsten Farben und lud jeden ein, eine Besichtigung vorzunehmen.

»Meine Mutti muß nämlich viel Geld verdienen, der Ernährer ist uns genommen, nun muß die Mutti den Ernährer machen. Sie hat doch drei Kinder, die sie gut erziehen will. Wenn Sie ein Bild brauchen, kommen Sie nur zu uns!«

Man lächelte über den eifrigen Knaben, der sich die größte Mühe gab, der Mutter möglichst viel Kunden zuzuführen. Er erkundigte sich beim Kohlenhändler, wie er es mache, daß die Leute Kohlen bestellten, er befragte die Mitschüler, deren Väter Geschäfte hatten; und als er eines Tages den Einladezettel eines Kinos in Händen hielt, den ein Mann in die Häuser trug, war es für den Knaben eine beschlossene Sache, auch solche Zettel von Haus zu Haus zu tragen, auf denen das photographische Atelier seiner Mutter genannt war. Sein Freund Erich pflichtete ihm bei. Wie konnten die Leute in Heidenau wissen, daß Frau Wendelin ein Atelier eröffnet hatte? Nicht alle lasen die Zeitung. Und da Hermann in der Schule eine stattliche Anzahl Freunde hatte, wurde manch freier Augenblick dazu benutzt, Reklamezettel für Bärbel zu schreiben. Erich zerriß deswegen sogar sein Rechenheft, verteilte die leeren Seiten, und eine ganze Klasse schrieb eifrig:

»Das schönste Bild macht Frau Bärbel Wendelin in ihrem photographischen Atelier. Kein anderer kann es so gut, alles andere ist Kitsch! Kommen Sie! Billigste Preise. Wer nicht gleich zahlen kann, bekommt das Bild auf Abzahlung. In Heidenau gibt es nur ein berühmtes Atelier, und das gehört Frau Bärbel Wendelin in der Brückenstraße Nr. 4.«

Es entspann sich unter den Knaben sogar ein Streit. Hermann wollte durchaus, daß man dem Atelier den Namen »Zum Goldköpfchen« gäbe.

»Der Onkel Forstrat hat immer so gesagt, und der Vati auch. Meine Mutti ist ein Goldköpfchen, die Großmama sagt es auch.«

Es ging ans Überlegen. »Atelier Goldköpfchen« klang nicht schlecht. Und schließlich wurde tatsächlich an den Schluß des Reklamezettels gesetzt: »Atelier Goldköpfchen«

»Nun zeige ich es meiner Mutti«, jubelte Hermann.

»Erst wenn wir hundert Stück geschrieben haben«, meinten die Freunde.

»Ich würde die Zettel doch erst verteilen, und wenn dann die Leute haufenweise kommen, so würde ich es ihr sagen. Dann freut sie sich.«

»Schenk' es ihr doch zu Weihnachten.«

»Ich weiß was«, sagte Hermann. »Jedesmal wenn die Schule zu Ende ist, nimmt jeder den Zettel, den er geschrieben hat, und trägt ihn in ein Haus. Bis zu Weihnachten sind wir dann in allen Häusern von Heidenau gewesen.«

»Ich erbitte von meinem Vater das Papier« sagte der Sohn des Papierhändlers.

Hermann nickte. »Wir gehen alle zu ihm und bitten ihn recht schön. Es schadet ja nichts, wenn auf der einen Seite schon was steht. Das streichen wir einfach durch.«

»Ich weiß was viel Besseres. Der Kinofritze verteilt an jedem Sonnabend Zettel. Die sind blau, rot und gelb. Auf der einen Seite steht nichts drauf. Wir ergattern uns die Zettel und schreiben für »Atelier Goldköpfchen« die andere Seite voll.«

Am Sonnabend stand die halbe Schulklasse um den Zettelverteiler des Kinos herum, die Knaben liefen hinter jedem, der einen Zettel erhalten hatte, her und erbaten das wertvolle Papier. Hermann war der Tüchtigste. Nach Verlauf einer Stunde hatte er zweiundzwanzig Stück, die er strahlend seinen Schulkameraden zeigte.

»Morgen, Sonntag, arbeite ich wie ein Pferd. Ich schreibe alle meine Zettel voll.« – –

Goldköpfchen hatte von diesen Helfern keine Ahnung. Es gab für sie noch unendlich viele Kleinigkeiten zu besorgen. Immer wieder fehlte etwas im Atelier, denn der Raum sollte anheimelnd wirken, Wärme und Behaglichkeit verbreiten und auch den künstlerischen Eindruck nicht entbehren.

Ihr Herz pochte stürmisch, als schon am zweiten Tage nach der Eröffnung die Flurglocke anschlug.

Der erste Kunde. Wer würde es sein? Sie wollte es als gutes Vorzeichen nehmen.

Es war ein Reisender, der seine photographischen Papiere anbot. Bärbel lehnte dankend ab, sie war fürs erste eingedeckt.

Kurz darauf klingelte es nochmals. Es war Forstrat Schmeling mit seinen beiden Dackeln.

Er brachte Bärbel einen großen Blumenstrauß, drückte ihr herzlich die Hand und wünschte ihr viel Glück.

»Ich habe es ja entstehen sehen«, sagte er herzlich. »Doch nun, da es fertig ist, wirkt alles sehr nett und geschmackvoll. Ja, ja, Frau Goldköpfchen hat Geschmack.«

»Sie sind mein erster Kunde, Herr Forstrat.«

»Wollen wir hoffen, daß nach mir recht viele andere folgen. Machen Sie mir ein recht schönes Bild, damit ich Sie weiter empfehlen kann.«

Die Aufnahme ging glatt von statten. Der Forstrat hatte seine beiden Hunde ernsthaft ermahnt, recht ruhig zu bleiben.

»Ja, ja, Frau Goldköpfchen, die Hunde folgen schon, die sind mitunter braver als die Menschen. Passen Sie auf, wie verständig die Viecher sitzen bleiben.«

Forstrat Schmeling blieb noch eine geraume Zeit bei der jungen Witwe. Vergeblich bemühte er sich, ihr blasses, ernstes Gesicht zu erheitern. Noch lag ihm Bärbels sonniges Lachen im Ohr, immer noch hörte er ihre helle, zwitschernde Stimme von einst. Doch jetzt lag dumpfe Trauer über allem.

»Zu brav von Ihnen, daß Sie so fest zupacken und sich allein durchs Leben bringen wollen. Das nötigt uns allen die größte Hochachtung ab, Frau Goldköpfchen.«

»Ich habe die Kinder.«

»Jawohl, schicken Sie mir die drei nur bald mal hinüber, ich habe Sehnsucht nach ihnen. Zu schade, daß Sie ausziehen mußten! In meinem Hause ist es still und öde geworden.«

»Bei mir auch, Herr Forstrat.«

»Nein, nicht so«, sagte der alte Forstmann herzlich. »Es dauert gewiß seine Zeit, doch es wird auch wieder einmal besser.«

Bärbel machte sich an dem photographischen Apparat zu schaffen. Sie wollte dem alten Freunde das Zucken in ihrem Gesicht nicht zeigen. Und als er weiter herzlich auf sie einsprach, lief sie plötzlich davon und kam wenige Augenblicke später mit der vierjährigen Erna zurück, ihrer Jüngsten.

»Ich habe die Kinder«, sagte sie bebend. »Warum vergesse ich das nur immer wieder? – Wenn es gar zu schlimm wird, drücke ich eines seiner Kinder an mein Herz, dann geht es wieder. Ich will doch stark sein – ich muß es ja sein, ich habe ja seine Kinder!« –

Forstrat Schmeling war gegangen. Ihm war das Herz zu schwer geworden. Ihm, dem alten Grünrock, war es heiß in die Augen gestiegen.

Am Nachmittag kam wieder ein Kunde. Der Direktor aus der Heidenauer Fabrik. Auch er schaute nach Frau Bärbel, sprach warme, herzliche Worte zu ihr; doch gerade das war für die junge Witwe unendlich peinigend. Alles, alles erinnerte sie an ihr Häschen. Sie alle kamen seinetwegen. Ihre Hände zitterten, als sie die Aufnahme machte.

»Auch über das Grab hinaus sorgst du noch für mich, mein Häschen. Ach, du – du – –, daß ich dich noch eine kurze Stunde hätte! Ich war undankbar in meinem Glück. Komm nur für Augenblicke wieder, denn ich habe das Danken vergessen. Du hast mir zu viel des Glückes geschenkt.«

Die erste Einnahme, die sie haben würde, sollte als Blumengruß auf das Grab des Verstorbenen kommen. Alltäglich huschte Bärbel zu dem Hügel, und immer noch wollte sie es nicht fassen, daß Harald ihr für immer genommen war.

Wieder zwei Tage später kam ein junger Mann, der eine Aufnahme verlangte.

»Muß mir doch einmal ansehen«, sagte er näselnd, »was Frau Goldköpfchen leistet. Billigste Preisberechnung. Nur hier künstlerische Aufnahmen. Schöne, junge Frau, tüchtige Frau Goldköpfchen, Sie sind eine fesche Person. Aber, aber, die Konkurrenz speit Gift und Galle?«

»Was für eine Aufnahme soll es sein?« erwiderte Bärbel ruhig. Wie kam der junge Mann dazu, in solcher Weise zu ihr zu sprechen?

»Was meinen Sie, Frau Goldköpfchen? Ein Brustbild?«

»Ich heiße Wendelin.«

»Ja, ja, Frau Bärbel Wendelin aus dem Atelier Goldköpfchen.«

Die junge Photographin schwieg zu diesen Worten. Vielleicht irgendein Angestellter aus der Fabrik, der von Harald zufällig diesen Kosenamen gehört hatte. Vielleicht auch durch den Forstrat. Sie durfte den kecken Burschen nicht ohne weiteres zur Ordnung rufen. Jetzt hieß es, Geld verdienen, und das war nicht leicht.

»Sie haben ganz recht, schöne Frau, das Atelier unter dem Namen Goldköpfchen aufzuziehen. Ich hätte die Reklame aber besser gedruckt verteilt.«

»Ich hoffe, daß sich mein Atelier recht bald herumsprechen wird.«

»Natürlich wird es das. Solch eine hübsche junge Frau – –«

»Wünschen Sie ein Brustbild?«

»Das überlasse ich ganz Ihrem Schönheitssinn, verehrte Frau Goldköpfchen.«

Dieses Wort gab ihr jedesmal einen Stich ins Herz. Von ihrem Häschen war sie so genannt worden. Eigentlich hatte kein anderer das Recht, ihr diesen Namen zu geben. Wie dreist sie der junge Mann anschaute! Mit größter Eile betrieb sie die Vorbereitungen für die Aufnahme. Je übermütiger der Kunde wurde, desto zurückhaltender war Bärbel.

»Wir sind eine ganze Reihe junger Leute, wir lassen uns gern photographieren. Doch suchen wir uns ein Atelier aus, in dem wir auch entgegenkommend behandelt werden. – Also nichts für ungut, Frau Goldköpfchen. Kann ich das Bild am Mittwoch abholen? Vielleicht Mittwoch gegen Abend? – Wie wäre es dann mit einem kleinen Bummel nach Dresden?«

»Sie können das Bild am Mittwoch haben.«

»Und der Bummel?«

»Ich verstehe Sie nicht recht, mein Herr. Ich sagte Ihnen bereits, daß Sie das Bild Mittwoch erhalten können.« Goldköpfchen näherte sich der Tür und öffnete sie. Achselzuckend ging der junge Mann davon.

Ein leiser Seufzer kam über die Lippen der jungen Frau. Das war kein guter Anfang. Wie kam der junge Mann dazu, sie derart zu beleidigen?

Am nächsten Tage war es ganz still. Nicht ein Kunde ließ sich blicken. Als Hermann am Abend fragte, ob Mutti schon den ersten Hundertmarkschein eingenommen hätte, schüttelte Goldköpfchen den Kopf.

»So schnell geht das nicht, mein Junge. Man muß doch erst langsam bekannt werden, und auch dann regnen die Hundertmarkscheine nicht.«

»Wenn du aber nichts verdienst, haben wir nichts zu essen«, rief Jürgen. »Was machen wir dann?«

»Mutti wird sich alle Mühe geben, Geld zu verdienen. Außerdem haben wir viele Freunde und Verwandte, die uns in der Not helfen werden.«

»Hab mal keine Angst, Mutti. Wenn wir nichts zu essen haben, bitte ich Herrn Gräber um eine Wurst. Ich sage ihm, daß wir hungern –«

»Aber, Jürgen, du wirst doch nicht zum Schlächter gehen.«

»Hab nur keine Angst, liebe Mutti. Ich habe dem Herrn Gräber schon gesagt, daß es uns vielleicht schlecht gehen wird. Er sollte uns schon beizeiten ein Stück Wurst zurücklegen. Gestern hat er mir schon eine Scheibe Schinken geschenkt.«

»Aber, Jürgen, du hast doch noch immer Wurst auf deinem Frühstücksbrot gehabt.«

»Du hast doch selbst gesagt, Mutti, daß uns gute Leute helfen werden. Na, hab nur keine Angst, ich habe auch schon dem Kohlenmann gesagt, daß wir vielleicht bald keine Kohlen mehr kaufen können.«

Goldköpfchen war ratlos. Wohl hatte sie kürzlich mit den Knaben darüber gesprochen, daß man in Zukunft sehr sparsam leben wolle. Aber diese Folgen hatte sie nicht geahnt.

»Und was hast du noch gemacht, Jürgen?«

»Nur noch beim Bäcker gesagt, ob er uns nicht hin und wieder ein Brot schenken wollte. Bei uns wäre es jetzt recht knapp.«

»Ärgern Sie sich nicht darüber«, sagte Frau Leuschner. »Ich gehe morgen zu den Leuten und werde die Sache wieder richtigstellen.«

»Ich verbiete dir ein für allemal, Jürgen, zu Geschäftsleuten derartiges zu sagen. Deine Mutti hofft, genügend Geld zu verdienen. Und sollten wir wirklich einmal in Not kommen, so helfen uns die guten Großeltern.«

Hermann schmiegte sich an die Mutter. »Du kommst nicht in Not, Mutti«, sagte er fest und bestimmt. »Du wirst viel Geld verdienen. Alle Leute aus Heidenau werden bald zu dir kommen. Dann haben wir Geld in Massen.«

»Alle Leute werden nicht kommen, mein lieber Junge. Wenn nur einige kommen, so freut es mich. Du weißt doch, daß noch zwei andere photographische Ateliers in Heidenau sind. Außerdem fahren viele nach Dresden hinüber.«

»Die beiden anderen Männer mit dem photographischen Atelier kriegen wir schon klein.«

Erschrocken blickte Goldköpfchen ihren Ältesten an. Er würde ihr doch keine Unannehmlichkeiten machen?

»Warum willst du sie kleinkriegen, Hermann? Die beiden Herren verdienen sich auch gar mühsam ihr Brot. Daß ihr mir keine dummen Sachen macht! Es würde der Mutti nur Schaden einbringen.«

Hermann machte dazu ein gar pfiffiges Gesicht und schaute seine Mutter strahlend an. Es schadete ganz gewiß nicht, wenn er das neue Atelier, das Atelier Goldköpfchen, in den Vordergrund rückte. Man hatte sogar den verwerflichen Einfall, auf die Schilder der Konkurrenz Zettel zu kleben und mit Blaustift darauf zu schreiben: ›Verreist‹. Dann mußten alle Leute, die sich photographieren lassen wollten, ins Atelier Goldköpfchen kommen, und die gute Mutti würde Geld verdienen.

In der Frühe des nächsten Morgens klingelte es wieder bei Frau Wendelin. Erwartungsvoll öffnete sie.

»Also doch! – Guten Morgen! Ja, da staunen Sie! Wir kennen uns doch? Frau Wendelin – nun, einstmals Fräulein Wagner. Wir sind ja gute alte Bekannte. Hätte gar nicht gedacht – aber natürlich, alte Freunde vergißt man nicht!«

Einige Sekunden schaute Goldköpfchen den Herrn an; dann kam ihr das Erinnern.

»Herr von Sasseneck.«

»Ganz recht, Ihr Kollege aus dem Atelier Brausewetter. Was haben wir doch für ein schönes Jährchen zusammen verlebt.«

»Wollen Sie eintreten?« sagte sie kühl.

»Selbstverständlich! Mußte doch nachsehen, wie es meiner lieben Kollegin geht. – So ist es in der Welt. Dem einen glückt es, der andere kommt unter die Räder. – Tja – Fräulein Bärbel – – sehen Sie, mir ist es jammervoll gegangen. Eine Stellung hat man nicht, als Reisender muß man sich durchs Leben schlagen. Ihnen aber ist das Glück in den Schoß gefallen. Solch herrliches Atelier – und alles Ihr Eigentum?«

»Ja, ich habe mich erst ganz kürzlich hier niedergelassen.«

Herr von Sasseneck tänzelte durch den Raum und betrachtete voller Interesse die Einrichtung.

»Schau, schau«, sagte er immer wieder, »was solch Blondkopf für Glück hat!«

Bärbel senkte den Kopf. Jahre lagen dazwischen, seitdem sie mit Herrn von Sasseneck zum letzten Male gesprochen hatte. Das war damals gewesen, als sie im Atelier Brausewetter den photographischen Beruf erlernte. Es waren keine angenehmen Erinnerungen, die in ihrem Gedächtnis hängengeblieben waren. Herr von Sasseneck und seine Braut, Fräulein Pertis, hatten ihr manche trübe Stunde bereitet. Der Mann mit der Löwenmähne, so nannte sie ihn damals, stellte ihr nach, war schuld daran, daß sie den prachtvollen Apparat im Atelier umwarf. Er verleumdet sie, erpreßte ihr manche Träne, bis er schließlich von Herrn Brausewetter an die Luft gesetzt worden war. Zwischen einst und jetzt lag ihr ganzes Glück – ihr tiefes Leid.

»Also ein eigenes Atelier. Da werde ich sicherlich Geschäfte machen können. Ich reise in photographischen Bedarfsartikeln. Immer noch genau so hübsch wie einstmals, Fräulein Bärbel – ach nein, Verzeihung, Frau Wendelin. Nur etwas schmaler geworden. Nur immer gut essen. – Also, das alles ist Ihr Eigentum? Ach, Fräulein Bärbel, was war das damals doch für eine herrliche Zeit! Mein Himmel, wie war ich verliebt in Sie! Doch Fräulein Bärbel lehnte mich ab.«

»Ich fürchte, Herr von Sasseneck, Sie werden heute kein Glück bei mir haben. Ich brauche noch nichts. Ich habe mir alles reichlich angeschafft.«

»Den alten, guten Freund wollen Sie so abweisen? O nein, das gibt es einfach nicht! – Denken Sie doch zurück an die schöne Zeit bei Brausewetter. Wie mich das freut, Sie wiedergefunden zu haben! Ich hörte in Dresden bei Herrn Brausewetter von Ihnen.«

»Er hat mir einen sehr lieben Brief geschrieben und versprochen, mich einmal zu besuchen.«

»Und nun bin ich vor ihm hergekommen. Ich freue mich unsagbar! Am liebsten sagte ich mich für heute nachmittag zu einer Tasse Kaffee an, damit wir von den alten, schönen Zeiten plaudern könnten.«

»Ein beruflich tätiger Mensch hat zu einer gemütlichen Kaffeestunde in der Woche keine Zeit, Herr von Sasseneck.«

»Dann also am Sonntag, mein liebes Fräulein Bärbel.«

»Ich habe drei Kinder, Herr von Sasseneck, die die Mutter in der Woche schmerzlich entbehren. Ich versündigte mich an den Kleinen, wollte ich mich ihnen am Sonntag entziehen. Da ich aber im Augenblick keine Kunden habe, wird es mich freuen, von Ihnen zu hören, was Ihnen die letzten fünfzehn Jahre brachten.«

»Wahrhaftig! Fünfzehn Jahre sind darüber hingegangen, seit wir so vergnügt bei Brausewetter zusammen waren. Drei Kinderchen haben Sie? Ach ja, ich hörte davon. Sie sind Witwe. – Nun, man hat doch auch als Witwe noch manche schöne Stunde. Und wer noch so jung und so hübsch ist wie Sie – –«

Bärbel bezwang sich. Nur ein schweres Aufatmen kam aus ihrer Brust. »Haben Sie auch Kinder?«

»Ich?« lachte Sasseneck übermütig. »Ich habe keinen reichen Apotheker zum Vater, der mir ein Atelier einrichten kann. Es war nicht einmal das Geld zum Heiraten da. – Sehen Sie, Frau Bärbel, ich bin noch heute ledig. Vielleicht habe ich ein blondhaariges junges Mädchen nicht vergessen können. Ach, Fräulein Bärbel – –«

»Frau Wendelin.«

»Verzeihung – wahrhaftig! Ich sehe Sie immer noch vor mir als das reizende Fräulein Bärbel. Wie oft mußte ich in all den Jahren an Sie denken! Nun endlich habe ich Sie wiedergefunden, und ich denke, wir werden in rege geschäftliche Verbindung kommen.«

»Das wird auf mein Geschäft ankommen, Herr von Sasseneck.«

»Stürmen müßte man das Atelier solch einer entzückenden Frau.«

»Wie geht es eigentlich Fräulein Pertis? Ist sie noch bei Brausewetter?«

»Ich weiß nichts mehr von ihr.«

»Ich glaubte, Sie wären verlobt gewesen?«

»Wie können Sie das denken! Fräulein Pertis war mir immer gleichgültig. Mir saß ein anderer Kobold im Sinn.«

Goldköpfchen ersehnte einen Kunden. Die Art des einstigen Kollegen verletzte sie. Trotzdem konnte sie nicht unfreundlich zu ihm sein, denn Herr von Sasseneck besuchte gewiß auch die anderen Ateliers, und die Konkurrenten würden ihn nach ihr ausfragen. Wenn er dann eine ungünstige Auskunft über sie gab, mußte ihr das schaden. Wie viele Rücksichten mußte man nehmen, wenn man sich selber das Brot verdiente.

»Sie müssen sich wieder verheiraten, Frau Bärbel. Ein tüchtiger Fachmann gehört hier herein. Dann sollten Sie erst sehen, welche Vorteile Ihnen daraus erwüchsen. – Eine alleinstehende Frau – –, lieber Himmel, zu einer Photographin hat man heute kein Zutrauen.«

»Es gibt bereits eine stattliche Anzahl Damen, die mit einem solchen Atelier ihr gutes Auskommen gefunden haben.«

»Nichts Halbes – nichts Ganzes. Sie werden das auch bald einsehen, Frau Bärbel. Wäre ein Mann hier – – Sie sagen, Sie haben drei Kinder, Sie könnten sich dann wieder den Kleinen widmen, und der Gatte hätte die beruflichen Sorgen. Lieber Himmel, es ist doch die Bestimmung der Frau, ihren Kindern voll und ganz Mutter zu sein.«

»Ich bemühe mich, so gut es irgend geht, beides zu vereinigen.«

»Geht aber auf die Dauer nicht, liebe Frau Bärbel. Die Kinder wachsen heran, ohne Vater. Es muß schon eine strenge Hand vorhanden sein. Aber darüber läßt sich auch später noch reden. Sie werden sehr bald erkennen, wie schwer das Brotverdienen für eine Frau ist. Freilich, Sie haben einen goldenen Hintergrund. Wenn keine Einnahmen da sind, helfen die Angehörigen aus. – Der Herr Papa lebt wohl noch?«

»Dem Himmel sei Dank, ja.«

»Verstehe nicht, warum Sie sich dann abquälen. Sehen Sie mal, Frau Bärbel –« Sasseneck rückte ein wenig näher an sie heran. »Ich bin gern bereit, Ihnen in allen beruflichen Fragen beizustehen. Wir sind ja immer gute Freunde gewesen. Warum sollen wir das nicht bleiben? – Bärbelchen, ich habe Sie heute wiedergesehen, und meine Neigung von einstmals ist neu entflammt.«

»Herr von Sasseneck, bitte, unterlassen Sie derartige Reden!«

»Sie brauchen wirklich gar nichts zu fürchten, ich möchte Ihnen doch nur sagen, daß ich Sie niemals vergessen habe, und daß ich hoffe, wir beide werden bald wieder die besten Freunde sein. – Bärbel, liebes Bärbel –«

»Herr von Sasseneck, ich muß Sie nochmals bitten –«

»Ja doch, ja, – seien Sie nicht immer so abweisend. Sie als alleinstehende Frau täten wirklich gut daran, sich nach einem Beschützer umzusehen.«

»Ich habe meinen Beschützer.«

»Ach, – schau doch, schau!«

Bärbel trat ans Fenster und wies hinüber zum Friedhof. »Dort drüben ruht mein Mann, der Mann, dem ich bis über das Grab hinaus gehöre. Für die Menschen ist er tot, nicht für mich. Er lebt weiter in mir, er ist um mich, er lenkt meine Schritte und beschützt mich. Und nun, Herr von Sasseneck, bitte ich, daß Sie kein derartiges Wort weiter sagen.«

»Seien Sie doch nicht gar so sentimental, Bärbel. Wenn einer tot ist, ist einer tot.«

»Es ist richtiger, wir brechen die Unterhaltung ab, Herr von Sasseneck!«

»Hübsch sind Sie!«

»Ich habe keinen Bedarf an photographischen Artikeln und glaube kaum, daß ich in Zukunft Bedarf haben werde. Ich wurde von meinem Lieferanten sehr gut bedient.«

»Heißt das, liebes Bärbel, – daß – –«

»Daß ich eine Wiederholung Ihres Besuches nicht wünsche.«

Sasseneck kniff die Augen zusammen. »Schau, schau«, sagte er gedehnt. »Sie hätten doch allen Grund, Frau Wendelin, etwas liebenswürdiger zu sein. Man ist ohnehin nicht gut auf Sie zu sprechen. Die Art, wie Sie den Konkurrenzkampf betreiben, ist nicht gerade fair zu nennen. Ich möchte Sie warnen. Es gibt auch nach dieser Richtung hin Bestimmungen, und eines Tages könnte man Ihnen den neu eröffneten Laden schließen. Das scheinen Sie nicht zu wissen.«

»Ich glaube, wir haben uns nichts mehr zu sagen, Herr von Sasseneck.«

»Frau Bärbel sitzt auf gar hohem Pferde. – Nun, wir wollen uns später wieder sprechen. Auch das Atelier Goldköpfchen kann in die Binsen gehen. Und wenn man die Arbeit der Konkurrenz mit Kitsch bezeichnet, wenn man den Kollegen Steine in den Weg legt, stolpern Sie, Frau Goldköpfchen, darüber, nicht die anderen. Mit einer alleinstehenden Frau wird man leicht fertig.«

Darauf wußte Bärbel keine Antwort zu geben. Das alles klang gehässig und rätselhaft. Da sie aber Sasseneck schon von Herrn Brausewetter her als einen Lügner und Verleumder kannte, glaubte sie auch jetzt, daß er sie nur einschüchtern wollte.

»Sollten Sie einmal Rat und Beistand brauchen, Frau Bärbel, wird Herr von Sasseneck zu finden sein. Ich bin trotz alledem noch immer Ihr Freund. Ich wohne in Dresden, Seidnitzerstraße Nummer hundertvier.«

Die Tür hatte sich hinter ihm geschlossen. Goldköpfchen strich mehrmals mit der Hand über die Stirn. Welch häßliche Drohungen hatte Herr von Sasseneck ausgestoßen. Es schien fast, als seien die Konkurrenten ihr besonders gram. Ob Sasseneck die beiden Herren aufgesucht hatte? Ob er im Atelier Hampel und im Atelier Rotmühl gewesen war, ob man dort über sie gesprochen hatte? Wer wagte es, sie so zu verleumden? Sie hatte die Leistungen der beiden Photographen niemals mit dem Worte »Kitsch« bezeichnet. Sie würde es auch niemals wagen, anderer Leute Arbeit herabzusetzen. O nein! Das waren alte bewährte Fachleute. Und wenn sie ihr Examen auch mit »gut« bestanden hatte, besaß sie noch lange nicht die Erfahrungen der beiden anderen Herren. Ganz im Gegenteil! Ihre Bilder würden sicherlich hinter denen der anderen Photographen zurückstehen. – Was hatte Sasseneck nur für törichtes Zeug geredet?

Wie häßlich klang seine Drohung, daß man mit einer alleinstehenden Frau fertig werde! War es denn eine Schande oder eine Schmach, daß sie sich einen Erwerb suchte, um sich auf eigene Füße zu stellen? War es nicht traurig genug, daß ein grausames Geschick ihr in jungen Jahren den Witwenschleier ums Haupt wand?

Eine alleinstehende Frau! Freilich, der, der ihr alle Sorgen ferngehalten hatte, er schlief für immer in der kühlen Erde. Ihn konnte sie nicht mehr um Rat fragen. Die Anforderungen des täglichen Lebens ruhten nun auf ihren Schultern. Doch alleinstehend war sie noch nicht. Wie viele Beweise der Liebe hatte sie in den letzten schrecklichen Monaten erhalten! Von nah und fern waren sie gekommen, um ihr zu zeigen, wie sehr man das Häschen geliebt hatte. Damals war sie in ihrem Schmerz vollständig erstarrt. Sie wußte nicht, wer am offenen Grabe des Gatten gestanden, wußte nicht, wessen Hände sie gedrückt. Sie las nicht einmal alle die tröstenden Worte. Erst viel später hatte sie durch die Eltern erfahren, welche innige Teilnahme man ihr bewiesen hatte. Da war manch ein Name wieder aufgetaucht, der in glücklichen Stunden an ihr Ohr geklungen war. Wie viel Liebe hatte Harald gesät, niemand hatte ihn vergessen, Unzählige trauerten um ihn. Ehrliche Tränen waren geflossen. Sie hatte es sich immer wieder erzählen lassen, wie man sein Hinscheiden beklagte. Mit manch einem korrespondierte sie noch heute. Gewiß, es tat stets bitter weh, stand doch überall der Name des Entschlafenen.

Besonders einer war da, dessen Briefe waren ihr immer wie eine sanfte Hand. Gessert, der Freund Haralds. Auf eine merkwürdige Art und Weise hatte sie ihn einstmals kennengelernt. Sie war mit ihm im selben Abteil von Bautzen nach Dresden gefahren, hatte sich über den unhöflichen Mann geärgert, der ihr den Koffer nicht ins Netz hob, der sie gar nicht beachtete. Und als er sich dann sogar auf ihren Hut setzte, war Bärbel Wagner unwillig aufgefahren. Gar bald aber hatte sie erfahren, daß Gessert blind sei.

Zweimal war er in ihrer glücklichen Ehezeit hinaus nach Heidenau gekommen. Ein stiller, in sich gekehrter Mann, doch einer, der eine Fülle von Güte ausströmte. Auch Gessert hatte am Grabe Haralds gestanden und tiefes Leid um den dahingegangenen Freund getragen. Ihm, dem Blinden, blieb nichts als seine Musik, der er sich voll und ganz widmete. Auf der Violine war er ein Künstler. Durch sie redete er von seinem Innenleben, und die Menschen verstanden ihn. Auch Bärbel hatte einige Male seinem wundervollen Spiel lauschen dürfen. Welch ein Genuß war es gewesen, wenn Harald auf dem Klavier spielte, wenn Gesserts Violine dazu sang!

Aber nicht nur mit Gessert hielt sie ein inniges Freundschaftsband umschlungen. Ihre einstigen Schulkameradinnen hielten noch immer treu zu ihr. Vor allem war es Gabriele Langen. Sie war noch immer am Dresdener Krankenhaus als Röntgenschwester beschäftigt und kam öfters heraus nach Heidenau, um nach Bärbel und ihren Kindern zu sehen. Sie hatte liebe, trostvolle Worte für die Freundin gehabt, und in der Stunde seelischer Not erkannte Goldköpfchen, wie treu es diese Freundin mit ihr meinte.

Aber auch Edith Rindermark stellte sich öfters in Heidenau ein.

»Du hast mir das Glück geschenkt, Bärbel, ohne dich wäre ich eine unzufriedene Frau, vielleicht wäre ich damals schon von meinem Manne fortgegangen. Zur rechten Zeit hast du eingegriffen. Nun habe ich Pflichten, fast zu viel Arbeit, Freude und Ärger an meinen drei Kindern, und das alles verdanke ich dir, ohne dich sähe es traurig um mich aus.«

Da gab es manches über die Kinder zu erzählen. War Edith im Wendelinschen Hause, wurde Goldköpfchen ein wenig lebhafter, weil die Erziehung der Kinder das Gesprächsthema bildete und es gar viel von den Kleinen zu berichten gab. Auch Ediths Gatte kam hin und wieder zu Besuch. Ihn fragte Goldköpfchen häufig um Rat, wenn sie meinte, daß sie in der Erziehung der Kinder manchen Fehler gemacht habe.

Ein Besuch, der Bärbel noch trauriger stimmte, als sie es ohnehin schon war, hieß Helene Werffen. Es hatte sich im Leben der Freundin nicht viel geändert. Noch immer lebte der Gatte, an den Rollstuhl gefesselt, sein elendes Dasein. Noch immer galt sein Name in der Welt, noch immer warfen die Eisenhütten ein Vermögen ab. Aber alle die großen Summen konnten weder den Mann noch das verblödete Kind gesund machen. Aus der schönen, eleganten Helene Werffen war eine frühmüde Frau geworden, der das Leben nichts mehr zu bieten vermochte. Sie war eine schlechte Trösterin für Bärbel gewesen.

»Und trotzdem beneide ich dich, Bärbel«, so hatte sie gesagt. »Du hast elf Jahre lang strahlendes Glück kennengelernt. – Und ich? Wie gern wollte ich am Grabe meines Kindes trauern, wenn ich es elf Jahre in Gesundheit hätte haben dürfen. – Ich stehe mit leeren Händen in der Welt, die deinen waren wenigstens für eine Zeitspanne gefüllt. Du bist die Glücklichere von uns beiden!«

Nach allen diesen Besuchen eilte Bärbel jedesmal hinaus zum Friedhof. Dann drückte sie die Hände fest auf den Hügel. Sie fand keinen Trost. Häschen war ihr genommen, Häschen kam nicht wieder.

Und nun lag Schnee auf seinem Grabe, weißer, leichter Schnee, der deckte den Hügel warm zu. Hermann hatte erklärt, er dulde es nicht, daß die Schneeflocken auf die Blumen fielen, er wollte alltäglich mit dem Besen hinausgehen und den Schnee wegfegen. Anfangs hatte er es getan, bis eines Tages Jürgen und Erna mitgegangen waren. Hermann hatte beiden eine lange Rede gehalten, daß der Vater hier unten liege und nicht herauskomme. Dann hatte Bärbel die kleine Erna in krampfartigem Weinen am Hügel gefunden. Ganz plötzlich war es dem kleinen Mädchen zum Bewußtsein gekommen, daß der gute Vati nicht mehr wiederkäme. – Der Vati, der immer so schön mit ihr gespielt hatte. Mit Gewalt mußte die junge Witwe die Kleine vom Grabe des Vaters entfernen.

»Ich will zum lieben Vati! – Mutti, ich will zum Vati!«

Fest drückte Bärbel die Kleine an sich. »Hast du denn die Mutti gar nicht mehr lieb? Willst du nicht länger bei deiner Mutti bleiben?«

»Aber auch zum Vati!«

Sie weinte immer stärker. Scheu und verängstigt schoben sich Hermann und Jürgen durch die Tür. Als sich Erna gar nicht beruhigen wollte, wurde der Älteste energisch.

»Jetzt sei aber still«, sagte er herrisch. »Der Vati ist weg, du kannst noch so sehr schreien, er kommt nicht wieder. Aber merke dir das, wenn du noch eine Mutter hast, so danke Gott und sei zufrieden.«

Schließlich gelang es Bärbel, die kleine Erna wieder zu beruhigen. Doch seit dieser leidenschaftlichen Szene wachte Goldköpfchen darüber, daß Erna nicht mehr zum Grabe des Verstorbenen ging. Sie untersagte es Hermann auch, den Schnee vom Hügel zu entfernen.

»Der Himmel schickt dem Vati ein weißes, warmes Tuch, das will der Vati so haben. Solange der Schnee anhält, so lange wollen wir dem Vati an jedem Tage unter sein Bild frische Blumen stellen. Das darfst du tun, Hermann.«

Aber noch am selben Tage drückte sich doch ein verweintes Frauenangesicht in den weißen, tiefen Schnee auf dem Hügel.

»Häschen, warum fehlst du mir so sehr?«


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