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1. Kapitel
Vorbereitung

Barbara Wendelin stand am Fenster ihrer Wohnung und blickte hinaus in den Garten. Die ersten Anzeichen des Herbstes machten sich bemerkbar. Das Laub der Bäume begann sich rot zu färben, und der Wind in der vergangenen Nacht hatte manches Blatt herabgerissen. Das Zerstörungswerk der Natur begann.

In dem schwarzen Kleid, das die schlanke Gestalt der jungen Frau umschloß, sah Bärbel Wendelin noch blasser und elender aus. Die Schatten, die um ihre Augen lagen, wollten nicht weichen. Auch die tiefen Linien um den Mund, die ein paar düstere Maientage in das zarte Gesicht gezeichnet hatten, schienen im Laufe des Sommers noch sichtbarer geworden zu sein.

Der schlanke Körper erschauerte in dem Gedanken an den schweren, unersetzlichen Verlust, den die junge Frau erlitten hatte. Wie konnte man den Maienmonat als etwas Herrliches preisen? Er hatte ihr fast alles genommen, was ihr das Leben an Glück bescherte. Ihren Harald! Ihr Häschen! Niemals mehr legte er den Arm um ihre Schulter, niemals mehr zog er ihren blonden Kopf an seine Brust, von seinen Lippen klang nie mehr das zärtlich geflüsterte: »Goldköpfchen, mein Goldköpfchen!« Sie hatte ihn verloren, man hatte ihn in die Erde gesenkt, die Erde gab ihr den Gatten niemals zurück. Wie unfaßbar das war! Beinahe ein halbes Jahr war seit dem entsetzlichen Unglück verstrichen, und noch immer begriff die junge Witwe das Wort nicht: ›er ist dir verloren, er kommt nicht wieder!‹

Sie fuhr mit den schlanken Fingern durch das dichte Haar. »Goldköpfchen« hatte man sie von frühester Jugend an genannt, wegen des goldenen Haares, das um ihre Stirn flatterte. Goldköpfchen war auch der Kosename des Gatten für sie gewesen. – Wie gern hatte sie diesen Namen von seinen Lippen gehört! Und heute? Wohl wirkte die Fülle des lockigen Haares noch immer goldig. Kein Wunder bei einer Frau von dreiunddreißig Lenzen. Aber der schwere Verlust des Gatten hatte die goldene Fülle mit vielen, schon gar zu vielen weißen Fäden durchzogen.

Nun stand sie am Fenster, wartete, wie jeden Tag, auf die aus der Schule heimkommenden Knaben. Das ging eben nicht anders. Die Kinder waren das Vermächtnis des Verstorbenen, für deren Wohlergehen mußte sie sorgen. Harald hatte es in seiner Sterbestunde von ihr erbeten, und diese Kinder machten ihr das Dasein noch lebenswert. In Stunden, in denen der Jammer gar zu mächtig auf sie eindrang, flüchtete sie ins Kinderzimmer. Und wenn sie dann Klein-Erna auf dem Schoß hielt, wenn Hermann und Jürgen mit Fragen und Anliegen die Mutter bestürmten, ließ das wilde Weh in ihrem Herzen ein wenig nach. Wie gut, daß Harald ihr diesen Trost gelassen hatte! In den Kindern lebte er. Hermann war schon heute sein Ebenbild, er hatte die guten, treuen Augen des Dahingegangenen, er ahnte mitunter schon, was die Mutter litt, was sie entbehrte.

»Nicht undankbar sein«, flüsterte Goldköpfchens Mund, »die Kinder lieben mich. Ich habe die Eltern, die Brüder. Es ist schlecht von mir, immer nur zu klagen.«

Aber doch formten die Lippen in nie verlöschender Qual stets die Klage: »Häschen, mein Häschen!«

Das blasse Gesicht hellte sich ein wenig auf. Aus den lauten Stimmen, die von der Straße heraufschallten, drang das helle Organ ihres Zweiten, des Jürgen. Nun kamen sie heim, nun würden sie beide die Mutter stürmisch umhalsen, um sogleich darauf hungrig nach dem Essen zu fragen.

Goldköpfchen öffnete das Fenster. Die Knaben hatten die Mutter bemerkt. Ein Winken, ein Grüßen klang zu ihr empor.

Dann waren sie im Hause. Rasch begab sich Bärbel hinaus in die Küche, um die letzte Hand an das Mittagsmahl zu legen. Das tüchtige Mädchen, das schon im dritten Jahre bei ihr war, hatte bereits alles fertig gemacht. Frau Leuschner, die treue, alte Kinderfrau, half beim Decken des Tisches und versorgte Klein-Erna, die noch eifrig im Kinderzimmer spielte.

»Mutti«, schrie Jürgen beim Eintreten, »ich habe gar keinen Bauch mehr, nur ein großes Loch! Haste wieder Kartoffelpuffer gemacht?«

»Mutti«, das war der Älteste, der Hermann, »heute haben wir ganz was Feines in der deutschen Stunde durchgenommen. Endlich einmal ein Gedicht, das sich zum Lernen lohnt.«

»Du sollst doch alle Gedichte lernen, Hermann.«

»Nee, Mutti, das kannst du nicht von mir verlangen. Aber heute, heute lerne ich das Gedicht!«

Schon flog ein Schulranzen auf die Erde, Kinderhände wühlten ein Buch heraus; vergessen war der große Hunger. Hermann stellte sich vor die Mutter hin und wollte soeben mit dem Lesen beginnen, als Jürgen ihm das Buch aus der Hand riß.

»Hunger!«

Goldköpfchen mußte sofort beschwichtigend eingreifen, sonst wäre es, wie schon so oft, zwischen den beiden Buben zu einem kleinen Handgemenge gekommen. Es war gewiß nicht schlimm gemeint. Die drei Kinder liebten sich zärtlich; doch die verschiedenen Temperamente sorgten dafür, daß ständig Meinungsverschiedenheiten herrschten.

Da saß nun Goldköpfchen am Tisch, umringt von ihren drei Kindern, ihr gegenüber die gute Frau Leuschner. Neben ihr hatte einstmals ihr Häschen, ihr Harald, gesessen. Dieser Platz sollte eigentlich für immer leer bleiben; doch Hermann hatte ihn eingenommen, hatte in kindlich tröstender Art zur Mutter gesagt:

»Wir beide machen es schon, Mutti. Wenn wir nun keinen Vati mehr haben, behelfen wir uns ohne ihn. Vielleicht kommt er noch mal wieder.«

Unermüdlich plauderten die drei Kinder. Es gab immer so viel zu erzählen. Besonders Jürgen, der Achtjährige, wußte sich vor Übermut und Gelächter kaum zu lassen.

»Weißt du, Mutti, neben der Schule wohnt doch der Photograph Hampel. Heute stand er im Garten, da haben wir ihn gerufen.«

»Jürgen, Jürgen, warst du wieder unartig?«

»Der Hugo ist zu ihm gegangen und hat ihn gefragt, ob er photographieren kann. – Hahaha, er hat gedacht, er soll uns photographieren. Da hat er uns in seinem Garten aufgestellt; und als er mit dem Kasten gekommen ist, sind wir rasch weggelaufen.«

»Ich finde das gar nicht fein von euch. Warum ärgert ihr den Mann? Ihr wißt doch, daß die Mutti in Kürze auch ein photographisches Atelier aufmachen will. Mutti muß Geld verdienen, weil Vati nicht mehr bei uns ist.«

»Das habe ich ihm schon gesagt«, rief Hermann stolz.

»Aber, Hermann!«

»Jawohl, Mutti, ich stehe dir bei! Ich habe ihm gesagt, er kann mit seinem ganzen Kram nun bald einpacken, denn du verstehst alles viel besser. Du hast mal ein Bild gemacht und damit einen großen Preis bekommen, er aber noch nicht. Dann habe ich ihm noch gesagt, keiner aus der Schule würde sich mehr bei ihm photographieren lassen, alle kämen zu dir!«

»Aber, Hermann«, sagte Goldköpfchen voller Entsetzen.

»Oh, ich habe ihm noch viel mehr gesagt, Mutti.«

»Was hat er darauf geantwortet?«

»Ich sei ein dummer Junge. Das habe ich mir nicht gefallen lassen.«

»Aber, Hermann, es ist doch noch nicht so weit.«

»Der Hugo sagt, der Hampelmann nimmt dir den ganzen Verdienst fort, wenn er noch weiter photographiert. Der Hugo weiß das von seinem Vater.«

Da sich zwischen den beiden Knaben ein Streit entspann wegen eines blauen Zeichenstiftes, den man bei Hugos Vater gekauft hatte, der ein Schreibwarengeschäft betrieb, hatte Bärbel Zeit, über die vorlauten Äußerungen ihrer Kinder nachzudenken. Freilich, der Plan, ein photographisches Atelier in Heidenau zu eröffnen, war längst gefaßt. Warum auch nicht? Frau Bärbel fühlte sich verpflichtet, ihr Leben neu aufzubauen. Sie hatte nach dem Tode des Gatten mit den Eltern in Dillstadt gesprochen. Dort hatte der Vater seine gutgehende Apotheke. Es wäre immerhin möglich gewesen, die verwitwete Tochter mit den drei Kindern aufzunehmen. Doch Goldköpfchen hatte diesen Gedanken weit von sich gewiesen. Sie hatte das Photographieren gelernt. Heute war sie glücklich, daß sie in der Brautzeit nicht damit aufgehört, sondern den Lehrgang beendet hatte. Sie war daher in der Lage, ein eigenes Atelier aufzumachen. Ihr Lehrherr, der Photograph Brausewetter in Dresden, war ein tüchtiger Lehrmeister gewesen. Warum sollte sie sich nicht mit ihren drei Kindern tapfer durchs Leben bringen? Freilich, eine gewisse Unterstützung der Eltern brauchte sie. Wohl war Harald, ihr verstorbener Gatte, in einer Lebensversicherung gewesen. Und dieses Geld sollte in der Hauptsache dazu dienen, das Atelier zu errichten und alle notwendigen Anschaffungen zu machen. Nicht sofort würden sich Kunden einstellen, es würde anfangs nicht einmal so weit reichen, von den Einnahmen das Leben zu fristen. Frau Bärbel mußte also die Unterstützung der Eltern annehmen. Doch einmal würde es so weit sein, daß sie auf eigenen Füßen stand.

Zunächst hatte Goldköpfchen daran gedacht, in Dresden solch ein Atelier aufzumachen. Nach Erkundigungen, die sie einzog, stellte sie fest, daß es dort ausreichend photographische Ateliers gab, und daß manch eines nicht genügend Beschäftigung hatte. So rieten ihr Bekannte, vor allen Dingen aber der alte Forstrat Schmeling, der Besitzer der Villa, in der sie wohnte, sie möge es doch in Heidenau versuchen. Wenn auch Heidenau in der Hauptsache Fabrikstadt wäre, gäbe es doch auch hier genügend Familien, die sich photographieren ließen. Vor allem sei Bärbel Wendelin in Heidenau bereits bekannt, außerdem vergrößere sich die Stadt von Jahr zu Jahr. Da bisher nur zwei Ateliers am Orte wären, könnte Bärbel bestimmt ihre Existenz finden.

Goldköpfchen war dem Forstrat für alle guten Winke sehr dankbar. Die Freundlichkeit des Hausbesitzers ging sogar so weit, daß er sich selbst auf den Weg machte und Ausschau nach geeigneten Räumen hielt. Wenn er auch Goldköpfchen ungern als Mieterin verlor, war es doch richtig, wenn sie das Atelier gleich an der Wohnung hatte und in freien Stunden öfters nach den Kindern sehen konnte.

Selbstverständlich waren alle die Vorbereitungen den Kindern nicht geheim geblieben. Der Gedanke, daß die Mutter selbst ein photographisches Atelier eröffnen werde, hatte für die drei Kinder etwas Bezauberndes. Man war schon einige Male beim Photographen gewesen; das helle Glaszimmer mit den Gardinen, die man auf- und zuzog, der riesige Apparat und alle die vielen eigentümlichen Sachen hatten das größte Interesse der Kinder erregt. Nun würde die Mutter selbst solch ein Zimmer haben, und Jürgen würde den ganzen Tag die Vorhänge auf- und zuziehen können.

Bärbel stand bereits in Verhandlungen mit einem Hauswirt. Die Gegend war vielleicht nicht ganz glücklich gewählt. Von der einen Seite sah man geradeswegs zum Friedhof hinüber. Aber gerade das war für Bärbel wie ein Wink aus dem Jenseits. Ihr Harald würde immer ins Atelier sehen können, und sie schaute vom Atelier auf den Hügel, unter dem er schlief. Der Hauswirt hatte sich bereit erklärt, einige bauliche Veränderungen vorzunehmen. So stand man schon vor dem Abschluß der Verhandlung.

Das laute Lärmen der Kinder riß Goldköpfchen aus tiefen Gedanken.

Sie wandte sich an Hermann.

»Was war das für ein Gedicht, das du lernen wolltest?«

»Warte mal, ich hole es dir.«

Weg war er. Im allgemeinen war es nicht erlaubt, daß die Kinder einfach vom Eßtisch fortliefen.

Mit dem aufgeschlagenen Lesebuch kehrte Hermann zurück. Stürmisch schlang er seinen Arm so fest um der Mutter Hals, daß sie Schmerzen verspürte.

»Mutti, oh, ich habe dich so furchtbar lieb! Darum lerne ich auch das Gedicht, und der Jürgen muß es mitlernen und unsere Kleine auch.«

»Erna will mitlernen!«

Hermann begann zu lesen: »Wenn du – – paß auf, Jürgen, das mußt du auch lernen. Paß gut auf, du oller Dussel! Wenn du noch eine Mutter hast, so danke Gott und sei zufrieden. Nicht jedem auf dem Erdenrund ist dieses hohe Glück beschieden.«

Andächtig las er alle Verse des Gedichtes, und als er geendet, drückte er heftig einen Kuß auf der Mutter Mund. Etwas scheu barg er darauf den Kopf an ihrer Brust:

»Wenn du mal stirbst, Mutti, darfst du dein müdes Haupt in Frieden ins Grab legen. Ich werde dir schon guttun. Und wenn der Jürgen häßlich zu dir ist, dann haue ich ihn tüchtig durch.«

»Mein lieber, lieber Junge!«

»Siehst du, Mutti, wenn wir doch jetzt keinen Vati mehr haben, haben wir eben noch eine Mutti, und dafür danken wir Gott und sind zufrieden. Und solange die Erde rund ist, ist uns das hohe Glück beschieden.«

Goldköpfchen preßte die Hände fest zusammen. Immer wieder stürmte die Erinnerung an das, was sie verloren hatte, mächtig auf sie ein. Immer wieder rissen die Kinder ungewollt an ihrem blutenden Herzen. Da brauchte sie alle Energie, all ihre innere Kraft, um die Tränen zurückzudrängen. Die Kleinen wollten eine fröhliche, eine lächelnde Mutter, keine, deren Tränen flossen. War sie dann allein, konnte sie sich nach Herzenslust ausweinen, dann hörte niemand ihr Schluchzen, ihr Rufen nach dem Heimgegangenen.

In den nächsten Tagen betrieb Goldköpfchen mit Eifer die Vorbereitungen für ihren Beruf. Frau Bärbel hatte anfangs geglaubt, daß sie zum Oktober das Atelier eröffnen könnte. Als sie in den Sommerferien daheim in Dillstadt geweilt hatte, war der Plan mit den Eltern bis in alle Einzelheiten durchgesprochen worden. Frau Wagner, Bärbels Mutter, hatte sich erboten, der Tochter bei den Vorbereitungen zu helfen und mit nach Heidenau zu kommen. Da war eine leichte Erkrankung des Vaters eingetreten, der Plan mußte aufgeschoben werden. Bruder Kuno, der als Apotheker beim Vater tätig war, hatte ebenfalls erklärt, er würde Bärbel helfen. Doch die junge Witwe hatte dieses Anerbieten abgelehnt.

»Laßt mich ganz allein diese Wege gehen, vielleicht mache ich manches falsch, das ist sogar recht wahrscheinlich. Aber ich muß all mein Denken in andere Bahnen zwingen. Ich gehe zugrunde, wenn ich nach Heidenau in die verödete Wohnung zurückkehre, in der mich alles an mein Häschen erinnert. Nur Arbeit, Arbeit, die mich bis zum Umsinken ermüdet, kann mir helfen. Ich will meine Wirtschaft besorgen, die Kinder betreuen und nebenbei alle die Gänge erledigen, Bestellungen machen, alles selbst tun. Und wenn es auch mitunter falsch wird, ich bitte euch, laßt mich schaffen. Es ist die einzige Medizin, die meinem Herzen hilft.«

Da ließ man Goldköpfchen gewähren. Als die Ferien vorüber waren, kehrte die junge Witwe mit ihren drei Kindern und Frau Leuschner wieder nach Heidenau zurück. Wie gut, daß die alte Kinderfrau noch da war! An manchem Vormittag richtete die treue Seele die zusammengebrochene junge Witwe wieder auf. Es war doch wohl zuviel für Goldköpfchen. Nicht die Arbeit, die sich Bärbel selbst aufgebürdet hatte, o nein, das entsetzliche Gefühl der Vereinsamung, der Verlassenheit war es, das sie erdrückte. Frau Leuschner war es, die Frau Bärbel fast täglich bedrängte, das Atelier zu eröffnen; und ganz langsam erwachte in Goldköpfchen das Verlangen, einen neuen Lebensinhalt zu finden.

Forstrat Schmeling hatte es sich nicht nehmen lassen, so manchen Weg mit der jungen Witwe zu gehen. Auch er riet zu dem Atelier am Friedhof. Er wußte, wie wohl es Frau Bärbel tat, wenn sie einen Blick auf den Hügel des Gatten werfen konnte. Die Gegend war freilich nicht recht günstig. Es würde sich aber herumsprechen, daß die goldlockige junge Frau Wendelin mutig an ihrem neuen Leben baute. Was er dazu tun konnte, ihr zu helfen, sollte ganz gewiß geschehen. Arbeiten mußte sie, um nicht zu verzweifeln, beruflich arbeiten, um über das Schwere langsam hinwegzukommen.

Das Atelier am Friedhof war gemietet. Forstrat Schmeling ließ die junge Witwe selbstverständlich ausziehen, obwohl der Mietvertrag noch auf zwei Jahre lautete. Er meinte ganz plötzlich, er müsse Verwandte in sein Haus nehmen, es wäre ihm recht lieb, wenn die Wohnung frei werde. Das war natürlich eine kleine Unwahrheit des wackeren Forstmannes. Doch Bärbel konnte unmöglich zwei Mieten aufbringen. Und da die Wohnung neben dem Atelier frei war, konnte der Umzug bereits Ende November oder Anfang Dezember vor sich gehen.

Bärbel beschleunigte alles außerordentlich. Sie versprach sich, obwohl sie das Atelier neu eröffnete, ein ziemlich gutes Weihnachtsgeschäft. Anfang Dezember mußte daher alles fertig eingerichtet sein, damit die Kunden schon Weihnachtsphotographien erhalten konnten. Sie erstaunte allerdings, daß so viele Gänge zu erledigen waren. Sie mußte ihr Atelier bei der Polizei anmelden, die verschiedensten Erlaubnisse einholen, hinzu kamen die vielen Anschaffungen, die ihr Geld wie Butter an der Sonne dahinschmelzen liehen. Aber mit billigen Apparaten ließ sich heute nichts beginnen. Trotz der schönen Möbel, die sie besaß, waren noch zahlreiche Anschaffungen notwendig, und sorgenvoll rechnete die junge Witwe an manchem Abend ihre Barmittel durch.

An einem Tage, als sie wieder vor den Rechnungen sah, erschien Frau Leuschner. Goldköpfchen blickte sie freundlich an.

»Meine liebe, treue Freundin, ich glaube, Sie werden die Kinder jetzt noch mehr auf dem Halse haben als bisher. Hoffentlich bekomme ich viel Arbeit. Es ist so beruhigend, zu wissen, daß meine drei in so guten Händen sind.«

»Ich brauch's Ihnen nicht erst zu sagen, Frau Wendelin, daß ich die Kinder wie meinen Augapfel hüten will. Aber heute habe ich etwas anderes auf dem Herzen. Sie haben mir kürzlich gesagt, daß es Ihnen lieb wäre, wenn ich noch recht lange bei Ihnen bliebe. Etwas Schöneres konnten Sie mir gar nicht sagen, Frau Wendelin. Aber ich glaube, es wird Ihnen in Zukunft schwer werden, die Kinderfrau regelmäßig zu bezahlen. Behalten Sie mich als treue Hausgenossin, die Ihnen jederzeit helfend beistehen will, aber lassen Sie die Bezahlung. Ich möchte nichts mehr haben. Ich habe mir manches gespart, das reicht für meine Bedürfnisse.«

»Nein, o nein, liebe Frau Leuschner.«

»Ich bitte Sie herzlich darum, Frau Wendelin. Allabendlich sehe ich, wie Sie sorgenvoll die Ausgaben berechnen. Alles kostet viel Geld, und so rasch verdient man mit einem neuen Atelier nichts. Bitte, schlagen Sie mir meinen Wunsch nicht ab. Das dürfen Sie einfach nicht tun.«

»Nein, liebe Frau Leuschner, noch ist genug da. Solange ich es kann –«

»Ich bitte aber darum. Es würde mich so froh machen, wenn ich Ihnen ein wenig helfen könnte. Der, der dort drüben schläft, wird es auch gutheißen.«

Da schlang Goldköpfchen aufweinend die Arme um die treue Frau und drückte das tränenüberströmte Antlitz an deren Schulter.

»Sie haben mir schon so viel geholfen, Sie Gute, haben mir so treu beigestanden, Sie liebe, alte Freundin!«

»Nicht wahr, Frau Wendelin, es bleibt dabei?«

Da nickte Goldköpfchen und drückte der alten Kinderfrau einen Kuß auf die Wange. –

Wieder ging es an die Arbeit; und als man den vierten Dezember schrieb, war das Atelier fix und fertig. Am Hause prangte das große Schild, das in großen Lettern kündete, daß man in diesem Atelier künstlerische Aufnahmen aller Art mache, Spezialität: Kinderbilder.

Dann stand Goldköpfchen am Fenster und schaute lange und unverwandt hinüber zum Friedhof.

»Sterbend hast du mir gesagt, ich solle für die drei Kinder sorgen. Du hast mir vertraut. Tapfer soll ich sein, – tapfer und stark. Häschen, mein Häschen, ich will deinen letzten Wunsch erfüllen. Möge der Himmel meinen Entschluß segnen. – Schlafe ruhig, mein Liebling, du sollst dich deiner Frau und deiner Kinder nicht zu schämen brauchen. – Häschen, mein Häschen!«

Am Fensterbrett sank eine schlanke Frauengestalt in die Knie. Goldköpfchen drückte das Gesicht in beide Arme, der junge Körper bebte vor verhaltenem Weinen.


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