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9.
Gute Saat

Verklärt neigte sich Bärbel über das kleine Körbchen, in dem wieder einmal ein winziges Menschenkind lag. Der Himmel hatte ihr nun auch noch ein Töchterchen geschenkt, ein gesundes, fröhlich schreiendes Mädchen, das Bärbel auf den Namen Erna taufen ließ. Diesmal hatte sie nicht lange geschwankt. Sie hatte so oft die treue Fürsorge der Mutter erkennen müssen, hatte immer wieder gesehen, welche Werte die Mutter in die Herzen ihrer Kleinen pflanzte, so wünschte sie nichts sehnlicher, als daß dieses Kindchen der geliebten Mutter einmal recht ähnlich werde, so hatte das Töchterchen den Namen der Mutter, Erna, erhalten.

Frau Wagner weilte auch diesmal wieder in Heidenau. Obwohl Bärbel sehr gute Pflege hatte, konnte sie es doch nicht über das Herz bringen, beim ersten Mädchen ihres Goldköpfchen zu fehlen.

Hermann und Jürgen betrachteten die neue Schwester mit gemischten Gefühlen.

»Wenn wir nu so viele werden wie drüben beim Kaufmann, und du bringst uns für zwanzig Pfennige Schokolade mit, Großmama, muß man ja in so viele Teile teilen. Es wäre doch besser, wir wären nur unser zwei geblieben.«

»Es ist doch sehr schön, daß ihr nun auch ein kleines Schwesterchen bekommen habt.«

»Aus 'nem Schwesterchen machen wir uns nichts!«

»Der Jürgen hätte lieber so 'n Ding mit zwei Flügeln hinten, das in der Luft 'rumfliegt, wie der Fritz unten eins hat.«

»Ein kleines Mädchen ist etwas viel Besseres als solch ein Luftschiff.«

»Nee, Großmama, ein Luftschiff ist besser. So 'n kleines Mädchen schreit immerzu. Wenn der Fritz das Luftschiff aufdreht, dann fliegt es.«

Bärbel war wenig erbaut, als ihre beiden Knaben offenbarten, daß sie an dem neuen Schwesterchen gar keine Freude hätten.

»Möcht' lieber ein Luftschiff haben,« meinte der kleine Jürgen.

Als sich die junge Mutter mit Frau Wagner allein im Zimmer befand, sagte Bärbel traurig: »Ist es nicht schrecklich, Mutti, daß sie sich gar nicht darüber freuen? Dem Jürgen ist ein Luftschiff lieber als eine Schwester.«

Frau Wagner lachte fröhlich. »Da wollen wir doch einmal über zwanzig Jahre zurückdenken, mein geliebtes Goldköpfchen. Im Bettchen lagen zwei kleine Bübchen, ein kleines goldhaariges Mädchen neigte sich darüber und sagte weinerlich: ›Ich will keinen Zwilling, ich will lieber ein Ziegenböckchen!‹ – So hast du einmal gesprochen, mein Bärbel, und wenn dein Junge heute einen Flugapparat haben will statt einer kleinen Schwester, brauchst du darüber nicht traurig zu sein. Es wiederholt sich alles im Leben. Manch eine Äußerung, die du selbst getan hast, wird aus dem Munde eines deiner Kinder dir entgegenklingen, und wie sich das Gute forterbt, erbt sich auch der Kindermund von Geschlecht auf Geschlecht. Deine beiden Jungen werden das Schwesterchen gewiß noch sehr lieb bekommen, es wird ein fröhliches Dreigespann werden.«

Am Nachmittag kamen Hermann und Jürgen ins Kinderzimmer.

»Mutti, – der Jürgen hat sich was Feines ausgedacht! Nagele doch dem Schwesterchen hinten dran die beiden Flügel.« Mit diesen Worten hielt Hermann der Mutter zwei aus Pappe geschnittene Flügel hin, ähnlich den Tragflächen von Fritzens Doppeldecker.

»Und dann fliegt es!« rief Jürgen.

»Wo soll ich denn das hinnageln, Kinder?«

»Na, irgendwo hinten hin, wo der Flugapparat auch die Flügel hat.«

»Aber, Hermann, sei doch nicht so dumm. – Das Schwesterchen ist doch kein Flugzeug.«

»Sie soll 'mal versuchen!« rief Jürgen.

Beide Knaben drängten so stürmisch nach dem Bettchen der kleinen Schwester, daß Bärbel das Neugeborene angstvoll vor den Angriffen der beiden jungen Ingenieure schützen mußte.

»Und dann steckste ihm einen Schlüssel in den Mund und ziehst es auf. – So macht es der Fritz auch!«

»Das Schwesterchen wird später laufen lernen. Es braucht nicht zu fliegen.«

»Jotte nee,« meinte Hermann, »wenn es eben so klein und zimperlich ist, wollen wir uns lieber nicht weiter um so 'nen Quark kümmern. Das ist nichts für Männer.«

»Na warte nur, kleiner Hermann, wenn du Ostern zur Schule kommst, wirst du sehr schnell merken, daß du noch lange kein Mann bist.«

»Mutti, ich habe es mir überlegt, ich gehe gar nicht in die Schule, ich habe keine Lust dazu. Den ganzen schönen Vormittag muß man dann stille dasitzen. Der Fritz unten meint auch, daß die Schule eine ganz dumme Einrichtung sei.«

Bärbel seufzte. Genau so hatte auch sie als sechsjähriges Mädchen gesprochen. Die Schule war ihr verhaßt gewesen, und manchen Kummer hatte sie dem guten alten Fräulein Gregor bereitet. Ach ja, die Mutter hatte recht, wenn sie behauptete, alles wiederhole sich. Ob ihre Kleinen auch einmal solche Faulpelze würden, wie sie einer gewesen war? Wenn Bärbel an die eigene Kindheit zurückdachte, kamen in ihr Gesicht sorgenvolle Falten. Die Eltern hatten es freilich recht gut verstanden, aus dem übermütigen und unnützen kleinen Mädchen einen pflichtgetreuen Menschen zu machen. Ob sie aber auch eine solche Erziehungskünstlerin war? Der Gedanke, daß sie doch dabei manchen Mißgriff machen würde, bereitete ihr noch immer große Sorgen.

Und doch gab es in ihrem Leben auch jetzt wieder ungezählte Freuden. In wenigen Wochen würde sie auch ein kleines Kindchen über die Taufe halten. Ediths Herzenswunsch ging in Erfüllung, bald krähte auch bei Rindermarks ein Baby in der Wiege. – – –

Es kamen aber auch Zeiten voller Sorgen. Die Kinderkrankheiten stellten sich ein, und besonders der kleine Jürgen hatte wochenlang eine schwere Diphtheritis und Scharlach durchzumachen. Mit größter Aufopferung pflegte Bärbel ihre Kinder. Wohl war es ihr schmerzlich, daß sie die erst wenige Monate alte Erna den Händen der treuen Kinderfrau vollkommen überlassen mußte, doch das Leben Jürgens hing an einem Faden, und Bärbel setzte ihre ganze Kraft, ihre ganze Aufopferung ein, um das bereits schwach flackernde Lebenslichtlein vor dem Verlöschen zu bewahren.

Als sie dann nach Wochen jede Gefahr beseitigt wußte, als sie wieder im Kreise ihrer Familie saß, sah Bärbel sehr elend aus, so daß Harald es für dringend notwendig hielt, daß sie eine längere Erholungsreise ausführte. Sie lehnte ab. Sie wollte sich nicht erneut von der kleinen Erna trennen und meinte, daß sie sich auch hier, im schönen, ruhigen Heidenau, erholen könnte, zumal ihr Harald eine tüchtige Wirtschafterin engagiert hatte, die den Haushalt gewissenhaft führte. So war die junge, erholungsbedürftige Mutter stark entlastet und blühte schon nach wenigen Wochen wieder neu auf.

Da war eines Tages der Direktor der Fabrik persönlich zu Bärbel gekommen und hatte ihr ganz formell eine Einladung zu der großen Jubiläumsfeier der Firma überbracht.

»Das hundertjährige Bestehen der Fabrik soll festlich begangen werden. Es sollen aber nicht nur die Erwachsenen ihr Festessen und den geselligen Abend haben, es soll auch ein Freudenfest für die Kinder werden. So ist im großen Restaurantgarten von Würzmann ein solcher Kindernachmittag geplant. Belustigungen aller Art, Karussell, Schießbude und dergleichen mehr. Ich hoffe, daß Sie uns Ihre beiden Jungen auch senden werden, gnädige Frau. Das Fräulein Tochter ist wohl noch etwas zu klein, sonst hätte ich ihr auch eine Einlaßkarte überreicht.«

»Da machen Sie meinen Jungen gewiß eine große Freude, Herr Direktor.«

Bärbel ließ die beiden Knaben rufen und teilte ihnen mit, welche Freude ihnen bevorstehe.

Stürmischer Jubel brach los. Jürgen wollte sogleich wissen, ob auch eine Würfelbude vorhanden sei, in der er einen Pfefferkuchen, so groß wie die Wand, gewinnen könnte.

»Oder so eine schöne blaue Vase, wie sie die Mutter vom Fritz hat,« sagte Hermann sehnsüchtig. »Mit 'nem goldenen Vogel, der am Rande sitzt.«

Diese blaue Vase, aus gewöhnlichem Glas, die Fritzens Mutter selbst einmal in einer Würfelbude gewonnen hatte, war die ganze Sehnsucht Hermanns. Er behauptete, daß weder die Urgroßmutter, noch die Großeltern, noch die Mutti eine solche »Kostibarität« hätten, wie der Kleine sich ausdrückte.

»Will zusehen, daß auch solch eine herrliche Vase unter den Gewinnen vorhanden ist. Also blau mit einem goldenen Vogel am Rande?«

Erregt beschrieb Hermann das kostbare Stück.

Natürlich sprach man nun in der Kinderstube von nichts anderem mehr als von dem bevorstehenden Fest. Gingen die Knaben mit der Mutter oder Frau Leuschner spazieren, so schlug man stets den Weg nach dem Würzmannschen Garten ein, denn dort wuchsen allerlei Buden wie Pilze aus der Erde hervor. Immer mehr Kinder fanden sich zusammen, Erwartungen wurden ausgetauscht, und die Vorfreude steigerte sich zu einem Sturm, als man am Tage vorher das Karussell erblickte, auf dem außer Pferden auch noch Elefanten und Löwen aufmontiert wurden.

Bärbel mußte sich mehrfach die Ohren zuhalten, denn die Knaben schrien erregt auf sie ein und waren kaum zu bändigen.

»Ich reite morgen auf 'nem Löwen!«

»Und ich auf dem Rüssel vom Elefanten,« meinte Jürgen.

»Mutti, ein Teich is auch da, darin lassen wir das Schwesterchen schwimmen.«

»Das Schwesterchen bleibt schön daheim, mein Junge.«

»Ist gut so,« meinte Jürgen befriedigt, »sonst müßte man auf die Kleine aufpassen und könnt' nicht immerzu Karussell fahren.«

»Kleine Mädchen gehören ins Bett,« meinte Hermann altklug, »da wird es doch nur krank und holt sich den dufte Ritus!«

Der Festtag brach an. Daß etwas Besonderes in Heidenau vor sich ging, merkte man schon mittags, kurz nach Beendigung der Schule. Durch die Straßen lärmten die Kinder, eines schrie das andere an, und von Löwen, Elefanten, Kasperletheater, Schieß- und Würfelbuden hallten die Straßen wider. Es war für die Jugend ein Tag der freudigen Aufregung.

Bärbel hatte heute einen schweren Stand. Immer wieder drängten die Knaben, es sei doch endlich Zeit zum Gehen; man wartete voller Sehnsucht auf den Vati, der heute nur bis Mittag in der Fabrik war und gegen ein Uhr heimkam. Weder Harald noch Bärbel wollten sich der Freude berauben, daheim zu bleiben. Auch hielten sie es für richtig, die beiden lebhaften Knaben etwas zu beaufsichtigen. Wenn auch der Direktor gesagt hatte, daß genügend Spielleiter und Aufpasser vorhanden waren, war es doch wohl richtiger, daß auch die Eltern an dem allgemeinen Feste der Kinder teilnahmen.

Als Harald Wendelin mittags heimkehrte, stürmten ihm seine beiden Knaben schon im Flur entgegen.

»Endlich kommst du, nun können wir gehen!«

»Aber, Kinder, wir wollen doch erst Mittag essen!«

»Ist gar nicht nötig,« sagte Hermann. »Wir essen dort so viel Kuchen, daß wir heute kein Mittag brauchen,« und leiser setzte er hinzu: »Es schmeckt heute nicht, Vati, – es gibt Kohlrabi und Rindfleisch.«

»Das ist ja gerade etwas Schönes, mein Junge. Und vor drei Uhr wird nicht gegangen. Also Ruhe!«

Nach fünf Minuten kam Jürgen. »So, Vati, nu is es drei!«

»Noch lange nicht, kleiner Mann.«

»Komm nur, es ist drei!«

Die Uhr der Kinderstube zeigte tatsächlich die dritte Stunde. Der kleine Mann hatte sich von der ahnungslosen Kinderfrau belehren lassen, wie die Zeiger stehen müßten, wenn es drei Uhr wäre, und hatte dann selbst die Uhr, seinen Wünschen entsprechend, gestellt.

»Nu gehen wir los!«

Aber es waren noch qualvolle zwei Stunden, ehe man endlich an den Aufbruch dachte. – – –

In dem großen Würzmannschen Garten herrschte bereits reges Leben, als Wendelins ankamen.

Harald und Bärbel schritten mit ihren beiden Knaben an den verschiedenen Buden dahin, ein jubelnder Schrei kam über die Lippen Hermanns.

»Mutti, – oh, wie schön!«

Bärbels Blicke folgten der ausgestreckten Hand. Eine Würfelbude, und auf den Brettern dieser Bude große rote und blaue Vasen, goldene Hunde, goldene Engel, Teller, mit Vergißmeinnichtkränzen verziert, Zuckernäpfe, blau mit Silber, Vögel in den unmöglichsten Farben und anderes mehr.

»Mutti, – Mutti, – ach, ist das schön!«

Besonders ein großer Porzellanhund fachte die Begeisterung der Knaben zu hellen Flammen an.

»Vati, kann ich 'mal würfeln, – ich möchte den schönen Hund gewinnen!«

»Erst nach dem Kaffeetrinken, mein Junge.«

»Dann komm schnell. – Ach, Vati, ich möchte den goldenen Hund gewinnen!«

Auf den Tischen standen Berge von Kuchen, Kellner und zahlreiche junge Mädchen gingen mit gefüllten Kannen umher. Es gab Kaffee, Kakao und Milch. Ein lebhaftes Schwatzen setzte ein, besonders an den Kindertischen ging es stürmisch her.

Dann begannen die Spiele. Anfangs beteiligten sich die Erwachsenen lebhaft daran, dann wurden Bärbel und Harald von dem Direktor und dessen Familie in Anspruch genommen, sie überließen ihre beiden Knaben beruhigt den Spielleitern.

Die Kinder bekamen allerlei Karten. Einige für das Karussell, andere für die Würfelbude, Eintritt für das Kasperletheater; denn der Direktor wünschte, daß alles ganz gleichmäßig verteilt würde. Hermann ließ Karussell und alles im Stich, er eilte zur Würfelbude, um sich den goldenen Hund zu erringen.

Dreimal durfte er würfeln.

»Über zwölf gewinnt,« sagte die freundliche Frau. »Dann darfst du dir etwas aussuchen.«

»Auch den goldenen Hund?«

»Jawohl, mein Junge, wenn du über zwölf wirfst.«

Hermann würfelte. Aber er schien kein rechtes Glück zu haben. Zuerst wurden es im ganzen acht Augen, dann elf und zum dritten Male sogar nur fünf.

»Krieg ich nu keinen goldenen Hund?«

»Nein, mein Junge,« sagte die Frau, »aber ich lasse dich noch einmal werfen.«

Aber auch dieser Wurf verlief ergebnislos. Dem kleinen Hermann stiegen die Tränen in die Augen, als er langsam die Würfelbude verließ. Alles andere machte ihm keine rechte Freude mehr. Wohl bestieg er das Karussell, aber immer wieder dachte er an den schönen goldenen Hund, den nun ein anderes Kind gewinnen würde. Es zog ihn immer wieder zu der Würfelbude hin. Er stand still und stumm daneben, wenn andere Knaben würfelten, und immer gab es ihm einen wehen Stich ins Herz, wenn er sah, daß andere gewannen, während er mit leeren Händen daneben stand. Wie merkwürdig, daß sich die glücklichen Gewinner den goldenen Hund nicht wählten, sondern stets verlangend nach anderen Dingen griffen.

Die Stunden verrannen. Es wurde laut geblasen, man rief die Kinder zum Tanzen in den großen Saal. Da strömte alt und jung hinein, nur Hermann folgte dem Rufe nicht. Er stand an der Würfelbude und schaute nach dem goldenen Hund. – – –

Bärbel und Harald hielten es für ihre Pflicht, endlich einmal nach ihren Kindern zu sehen. Ob sie wohl beide mit in den Saal gegangen waren, um dort umherzuhüpfen? Die Eltern gingen hinein. Weder Hermann noch Jürgen waren darin zu sehen.

»Die Knaben sind vielleicht noch draußen beim Karussell.«

»Das hat im Augenblick den Betrieb eingestellt, Bärbel. – Aber wir wollen trotzdem einmal nachsehen.«

Von der Schießbude her schallte die erregte Stimme eines Mannes.

»Wartet, ihr Strolche, einer von euch hat es getan! Wer hat mir mit den großen Kugeln die eine Figur zerworfen? Ihr alle fünf waret dabei? Wer von euch hat es getan?«

»Ich nicht – ich nicht – ich nicht –«

»Hier liegen drei Kugeln aus der Wurfbude von nebenan. Ich hole die Polizei. Schämt ihr euch denn gar nicht? – Nu 'raus damit, – wer von euch hat es getan?«

Bärbel war durch die scheltende Stimme aufmerksam geworden. Sie schaute hinüber und erkannte ihren Jürgen unter der kleinen Schar. Sie erschrak heftig und eilte hinzu, um zu sehen, was los sei.

»Das Leder hau' ich dem voll, – wie kommt ihr dazu, mir meine Figuren mit den schweren Kugeln zu zerwerfen? – Na, wer war es?«

Gerade, als Wendelins herantraten, klang eine weinerliche Stimme: »Hau aber nicht zu toll, – ich war's!«

»Du – so ein kleiner Knirps! Der Kleinste von allen?«

Bärbel sah ihren Jürgen. Sie wollte noch weiter vortreten, doch der Gatte hielt sie zurück.

»Wir haben doch – wir haben doch –,« schluchzte er jämmerlich, »nach den schönen Sachen da nebenan werfen dürfen, da hat der Jürgen mitgeschmissen.«

»Ja, der Jürgen hat geschmissen, der hat alles kaputt gemacht!«

»Du hast auch geschmissen,« sagte der Jürgen und tippte einen zweiten und einen dritten Knaben an.

»Is ja nicht wahr!«

»Der lügt,« sagte Jürgen entrüstet, »der hat doch zuerst geschmissen, und der Jürgen hat mitgeschmissen.«

Da griff der Mann nach den beiden anderen Missetätern und versetzte ihnen einige kräftige Schläge auf die Hände.

»Der Jürgen hat mitgeworfen,« sagten die beiden Bestraften.

»Der kriegt keine Prügel, denn er hat sich gemeldet. Das ist ein anständiger kleiner Bursche. Und wer die Wahrheit spricht, auch wenn man mit Strafe droht, dem wird verziehen.«

»Sei nicht böse, lieber Mann,« sagte Jürgen, »der Vater klebt dir die Puppe wieder zusammen. – Will gleich 'mal den Vati holen.«

Da zog Harald rasch sein Goldköpfchen fort, auf dessen Gesicht helle Freude stand.

»Er lügt nicht,« sagte sie glücklich. »Hast du es gehört, Harald? Er sollte nicht zu toll hauen, aber gemeldet hat er sich doch.«

»Sagte ich dir vorhin nicht, daß gute Saat im Herzen deiner Kinder aufkeimt?«

»Ach, Harald, du glaubst ja nicht, wie unendlich glücklich mich das eben Gehörte machte. Nun komm, wir wollen unseren Hermann suchen.«

Sie sahen ihn. Mit einem zehnjährigen Knaben stand er an der Würfelbude.

»Wenn du ihn haben willst,« sagte eben der große Knabe, »so nimm ihn dir doch weg, es sieht es ja keiner.«

»Das darf ich nicht.«

»Ach was, – ich hole dir den Hund. Er ist ja ohnehin nicht viel wert.«

Schon hatte sich der größere Knabe in die Bude gedrängt, nach dem goldenen Hund gegriffen, jetzt hielt er ihn Hermann Wendelin hin.

Rasch streckten sich die Kinderhände aus. »Der schöne, goldene Hund!«

»So, und nu lauf rasch weg! Es braucht niemand zu sehen, daß du dir den Hund genommen hast.«

Die Kinderaugen wurden groß und weit, dann wurde der Hund niedergesetzt.

»Stell ihn nur wieder hin,« sagte Hermann mit schwerem Aufseufzen. »Es ist ja nicht mein Hund, und man darf nichts wegnehmen.«

»Ach, Mumpitz!«

Hermann schüttelte energisch den Kopf. »Ich will ihn nicht, der Hund gehört mir nicht, die Mutti und der Vati wären traurig.«

»Dussel,« sagte der größere Knabe und lief davon.

Noch immer stand der kleine Hermann an der Bude, nochmals griffen die Kinderhände nach dem goldenen Hund, fast andächtig versetzte er dem Tier einen Kuß auf die goldene Schnauze.

»Leb wohl, du kleiner süßer Hund, bleib gesund und schlafe recht schön! Der Hermann darf dich nicht mitnehmen.«

Dann lief er rasch davon, vorbei an Vater und Mutter, die er in seinem Schmerz nicht sah, denn auch jetzt standen die Kinderaugen wieder voller Tränen.

Regungslos hatten Bärbel und Harald auch diese Szene beobachtet. Sie sprachen kein Wort. Sie blickten den Knaben nach, sahen, wie er sich still niedersetzte und das Köpfchen in die Hand stützte.

»Geh zu ihm,« sagte Harald endlich, »ich komme bald nach.«

Bärbel trat zu dem Kinde, preßte beide Arme fest um den Knaben, legte sein trauriges Köpfchen an die Schulter, lachte und weinte.

»Mein Junge, mein lieber, lieber Junge!«

Der kleine Mann verstand die Mutter nicht. Er begriff auch nicht, aus welchem Grunde plötzlich der Vater mit dem Direktor herankam. In der Hand des Direktors aber war der schöne goldene Hund.

»Den schickt der Himmel einem braven Jungen,« sagte der Direktor. »Einem Jungen, der schon als kleiner Knabe das Gebot kennt: ›Du sollst nicht stehlen.‹

So, mein lieber Hermann, hier hast du deinen goldenen Hund.«

Bärbel barg das feuchte Gesicht an der Schulter des Gatten. »Harald,« flüsterte sie tief bewegt, »ich bin eine selten glückliche Mutter!«


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