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5.
Ein unbedachtes Wort und seine Folgen

Auf dem von der Morgensonne beleuchteten Balkon saßen Harald und Bärbel beim Frühstück.

»Ich komme gleich wieder,« sagte Bärbel im Aufstehen, »ich will nur sehen, ob er schläft.«

Wendelin hielt sein blondköpfiges Frauchen fest. »Spare dir den Weg, er schläft! Er schläft früh um sieben Uhr immer. Sonst würdest du ihn hören.«

Bärbel legte den Kopf auf die Seite und sagte kleinlaut: »Und ob der andere wohl auch schläft?«

»Selbstverständlich, mein liebes Kind, wenn Hermann munter wäre, würde er sich bemerkbar machen. Es will mir scheinen, als wäre mein Frauchen seit einiger Zeit etwas nervös.«

»Wo denkst du hin,« wies Bärbel energisch zurück, »ich und nervös? So etwas kenne ich gar nicht! Der kleine Jürgen ist zwar ein sehr unruhiges Kind, aber es macht doch Spaß, zwei Jungen zu haben.«

»Hermann war mit dem Familienzuwachs nicht ganz so einverstanden wie du, ihm war es nicht recht, ein Brüderchen zu bekommen.«

Bärbel seufzte. »Großmama hat mir erzählt, daß es mir auch nicht paßte, als bei uns die Zwillinge ankamen. Aber es ist doch sehr gut so. Bald wird er einen Spielgefährten haben, einer paßt dann auf den anderen auf.«

Diese Plauderstunde an jedem Morgen war für Bärbel immer die schönste des ganzen Tages. Die beiden Knaben schliefen noch, das Mädchen hantierte in der Küche, erst wenn Harald nach der Fabrik gegangen war, begann auch für Goldköpfchen die Arbeit.

Seit drei Monaten lag wieder in dem Babykörbchen ein kleines Wesen. Für Bärbel war es eine kurze Enttäuschung gewesen, denn in wochenlangem Überlegen hatte sie sich einen schönen Namen für ein Mädchen erdacht. Immer sprach sie von Juliane, und als es dann doch wieder ein Junge war, war Bärbel genau so ratlos gewesen wie damals, als man ihr den kleinen Hermann in den Arm legte. Harald hatte erklärt, der Knabe könne Julian heißen, aber Bärbel fand den Namen für einen Knaben häßlich, und in letzter Stunde einigte man sich auf Jürgen.

Der kleine Hermann hatte wenig Interesse für das Brüderchen. Anfangs freilich, da hatte er sich darauf gefreut, stellte aber sehr bald fest, daß »der Kleine« weder laufen noch sprechen könne und zu gar nichts zu brauchen sei.

»Da ist mir mein Bär doch lieber, – wenn ich den auf den Bauch drücke, knurrt er. Aber den Kleinen darf ich nicht 'mal auf den Bauch drücken.«

Wohl kam er von Zeit zu Zeit an das Bettchen des Bruders, schüttelte dann immer wieder das Köpfchen und sagte wegwerfend:

»Is mir viel zu klein, – Dunnerschock!«

Zu manchen Zeiten verzweifelte Bärbel an ihrem Erziehungswerk vollkommen. Jetzt befand sie sich wieder einmal auf einem neuen Feldzug, der zur Austreibung der verschiedensten Schimpfworte und Flüche diente. Bärbel begriff nicht, wie es möglich sein konnte, daß Hermann alle diese Worte behielt und gebrauchte. Da wurde kaum noch ein Satz gesprochen, der nicht mit irgendeinem solchen häßlichen Worte bekräftigt wurde. Der Knabe hatte sich diese Ausdrucksweise bereits so angewöhnt, daß auch die Strenge der Mutter zeitweilig nichts nützte. Jedem neuen Tage sah sie mit gespannter Erwartung entgegen, weil Hermann immer neue Überraschungen bot.

Harald war in die Fabrik gegangen, Bärbel betrat leise das Kinderzimmer. In seinem Bettchen saß der kleine Hermann und ließ den Teddybären turnen.

»Verflixtes Biest!« Das waren die ersten Worte, die Bärbel an diesem Morgen von ihrem Ältesten vernahm.

»Guten Morgen, Hermann!«

»Guten Morgen, liebe Mutti!«

»Hast du gut ausgeschlafen, mein Junge?«

»Jawohl, Mutti, ganz dick und fett geschlafen, – Dunnerkiel!«

»Fängst du schon wieder mit den häßlichen Worten an, mein Junge? Möchtest du heute nicht einmal ein liebes Kind sein und der Mutti Freude machen?«

»Das will der Hermann immer. Dunner –, ach, liebe, gute Mutti –,« er schlang seine Ärmchen um den Hals Bärbels, »der Hermann ist ein so lieber Junge, – das weiß er! – Mutti, der Hermann möchte gerne wissen, warum der Teddybär früh nicht gewaschen wird. – Warum wird immer nur der Hermann gewaschen?«

»Der Teddybär hat ein Fell, da braucht er nicht gewaschen zu werden.«

»Warum hat denn der Hermann kein Fell?«

»Weil der Hermann ein Mensch ist.«

»Und warum ist der Hermann ein Mensch? – Mutti, warum ist der Hermann kein Teddybär?«

Bärbel strich sich mehrfach mit der Hand über die Stirn. Nun ging das beständige Fragen schon wieder an, während des Anziehens, während des Frühstücks und später noch, wenn sie in Haus und Küche hantierte.

»Wir wollen einmal etwas Hübsches spielen, Hermann. Wir machen beide den Mund fest zu und sehen uns immer nur an. Keiner darf lachen, keiner darf sprechen. – Wir sind jetzt mäuschenstill. Wer den Mund am längsten halten kann, bekommt ein Stück Schokolade.«

»Hahaha,« lachte der kleine Hermann, »der gute Junge hat die ganzen Taschen voll Schokolade!«

»Was, von wem hast du die denn bekommen?«

»Vom Fritz. Ich habe ihm dafür gesagt, ich schenke ihm was anderes.«

»Was willst du ihm denn schenken, du Unglückswurm?«

»Vatis Messer mit der kleinen Schere und dem großen Bohrer. Dunnerschlag!«

»Hat dir denn der Vati das Messer gegeben?«

»Nein, aber der liebe Hermann will es dem Fritz schenken.«

»Du darfst doch keine Sachen verschenken, die dir nicht gehören, mein Junge, das wäre Diebstahl.«

»Dunnerkiel, – wegen so 'nem kleinen Ding!«

»Ich werde nachher mit dem Fritz reden, er soll dir auch keine Schokolade geben, Mutti will das nicht haben. Du bekommst genug von deinen Eltern.«

Endlich war es so weit, daß Hermann am Frühstückstische saß. Bärbel eilte zu Jürgen, denn der Kleine meldete sich. Als sie wieder zu Hermann zurückkehrte, stand der Knabe am Fenster und schaute interessiert in den Hof hinab.

»Schwerebrett noch 'mal, Mutti, warum wackelt der Hund mit dem Schwanz, wenn ihn der grüne Opa auf dem Kopfe krabbelt?«

»Er freut sich.«

»Mutti, wird der Hektor auch jeden Tag gewaschen?«

»Der Hektor geht allein ins Wasser.«

»Dunnerschlag, – ersauft er da nicht?«

»Nein, Hektor kann schwimmen.«

»Kann der Teddybär auch schwimmen?«

Bärbel wurde nervös. »Jawohl, der Bär kann auch schwimmen. Wenn man ihn ins Wasser wirft, so schwimmt er.«

»Und wenn du den kleinen Jungen ins Wasser wirfst, schwimmt der auch?«

»Jetzt laß mich endlich mit Fragen in Ruhe, Hermann.«

»Mutti, schwimmt der kleine Junge auch?«

»Der kleine Bruder ist doch keine Gans oder eine Ente, der kann nicht schwimmen.«

»Aber der Hektor ist auch keine Gans oder Ente.«

»Aber du bist eine Gans,« rief Bärbel, und Zornesröte stieg ihr ins Gesicht. »Jetzt laß mich endlich in Ruhe, ich habe anderes zu tun.«

»Ach, Mutti,« sagte der Knabe verzückt, »der liebe Hermann ist eine Gans!«

»Ja, ein Gänserich bist du, ein ewig schnatternder Gänserich!« Dann eilte Frau Bärbel aus dem Zimmer und ließ den Knaben allein zurück. Der aber eilte kurz entschlossen hinaus zu Grete, die noch in der Küche hantierte.

»Grete? – Kann ein Gänserich schwimmen?«

»Aber tüchtig!«

»Dunnerwetter –«

»Sollst 'mal sehen, wie der schwimmen kann, – 'rein ins Wasser, dann plustert er die Federn auf, und dann geht es los!«

Der Knabe blies die Backen auf. »Macht er so?«

»Ja, ja, so macht er,« sagte Grete und ging dann hinüber ins Schlafzimmer, um dort mit dem Aufräumen zu beginnen.

Nachdenklich blieb Hermann allein zurück. Es war doch fein, daß der Teddybär schwimmen konnte, und daß es auch dem kleinen Hermann gelang, wenn er sich aufblies. Er übte mehrfach, dann kam ihm der Gedanke, daß irgendwo, wenn man hinten zum Hofe hinauslief, ein großes Wasser war, in dem er doch einmal den Bär schwimmen lassen konnte. Es war ihm freilich streng von den Eltern verboten worden, den Hof zu verlassen, aber einmal wollte er doch sehen, ob der Teddybär schwimmen könnte.

Er holte das Spielzeug. Grete und Mutti waren in den Vorderzimmern. Wenn er die Hintertreppe hinablief, merkte niemand etwas von seinem Vorhaben. Bald stand er im Hofe vor der hohen Tür, die den Ausgang ins Freie versperrte. Er rüttelte daran, die Tür gab nicht nach. Er stand eine ganze Weile wartend da, endlich kam eine Frau, die von Hermann gebeten wurde, ihm die Tür zu öffnen. Sie tat es und ging ihres Weges weiter.

Nun stand der Knabe auf der stillen Straße des freundlichen Villengeländes. Genau konnte er sich freilich nicht erinnern, wo das große Wasser war, an dem so viele hohe Stangen standen. Hermann lief also auf gut Glück die Straße hinab, seinen Bär fest im Arm haltend.

Von Zeit zu Zeit traf er Leute, die ihn aber nicht beachteten. Allmählich hörten die Häuser auf, und plötzlich sah der furchtlose Knabe den kleinen See im Sonnenscheine blinken.

»Dunnerkiel!« Das war alles, was Hermann in seiner Freude hervorstieß. Vorsichtig schritt er bis an den Rand des Teiches, der fast überall mit hohem Schilf bestanden war.

»Du mußt jetzt schwimmen,« sagte er zu dem Bär, hob den Arm hoch und schleuderte das Spielzeug weit auf die Wasserfläche hinaus. Der Knabe hüpfte vor Vergnügen von einem Fuß auf den anderen, als er sah, wie der Bär von dem Wasser hin und her geschaukelt wurde.

Gar zu gern wäre er nun auch ins Wasser gegangen, doch er traute sich nicht recht. Die Mutti hatte zwar gesagt, wenn er die Backen aufblase, könne er auch schwimmen, doch dann wurde der Anzug naß, und er bekam Schelte.

»Komm her!« rief er dem Bär zu. Aber der schwamm langsam weiter vom Ufer fort. »Du verflixtes Biest, komm her!«

Alles Drohen half nichts. Der Knabe suchte ein Stück Holz und schleuderte es ins Wasser, in der Absicht, den ungehorsamen Bär zu treffen. Schließlich fand er eine lange Gerte, mit der er versuchen wollte, den Bär wieder aus dem Wasser zu fischen.

»Kommst du her – du Lümmel – wird's bald! – Na warte, du kriegst was mit dem Rohrstock!«

Immer aufgeregter hantierte der Knabe mit der Gerte am Rande des Teiches. Vorübergehende wurden auf ihn aufmerksam.

»Du wirst ins Wasser fallen, mein Junge!«

»Will meinen Bär wiederhaben.«

»Den kannst du nicht bekommen, der ist fortgeschwommen.«

»Ich will meinen Bär wiederhaben!«

»Warum hast du ihn denn ins Wasser geworfen?«

Hermann warf dem Manne einen zornigen Blick zu und hielt es für angebracht, aus dessen Nähe zu kommen.

»Geh lieber heim, sonst geschieht noch ein Unglück. Solche kleine Jungen, wie du, dürfen nicht allein am Wasser sein. – Komm mit mir.«

Der Knabe machte ein böses Gesicht und lief davon. Aber er dachte nicht daran, heimzugehen, zuerst wollte er seinen Teddy wiederhaben.

Der Mann wandte sich noch mehrfach nach dem Kleinen um, blieb dann stehen, drohte dem Kinde, das sich erneut dem Ufer des Teiches näherte. Er verlangsamte die Schritte, denn er hatte Sorgen um das einsame Kind, das die Gefahr, in der es sich befand, nicht erkannte.

Während der kleine Hermann überlegte, ob er wohl den Sprung ins Wasser wagen sollte, rief Bärbel daheim nach ihrem Ältesten. Plötzlich erfaßte sie jähe Angst.

»Grete, – haben Sie Hermann nicht gesehen?«

»Nein, gnädige Frau, – er kam vorhin zu mir in die Küche und fragte, ob er ein Gänserich sei und schwimmen könnte.«

»Um Himmels willen, Grete, wo ist das Kind?«

Die Tür nach der Hintertreppe stand weit offen. Bärbel eilte auf den Hof hinunter und rief laut nach dem Knaben. Die Worte des Mädchens waren wie eine Zentnerlast auf ihre Seele gefallen. Sie eilte zur Hoftür, – wahrhaftig, die war nur angelehnt.

»Hermann – Hermann!«

Was hatte er sie doch vorhin gefragt? Ob der Bär schwimmen könnte, – ob der kleine Bruder schwimmen könnte und ob er, den sie einen Gänserich gescholten hatte, auch zu schwimmen vermöge.

»Allmächtiger, was habe ich denn da gesagt!« Schon stand Bärbel auf der Straße. Sie erinnerte sich eines Spazierganges, den sie mit ihren Angehörigen gemacht hatte. – Der Teich war das helle Entzücken des Knaben gewesen, und noch nach Tagen hatte er immer wieder verlangt, zu dem Teich geführt zu werden. – Sollte es möglich sein, daß Hermann allein den Weg dorthin eingeschlagen hatte?

Im Garten eines der Nachbarhäuser arbeitete eine ihr bekannte Dame.

»Haben Sie meinen Jungen gesehen?« rief sie in größter Hast der anderen zu.

»Vor wenigen Minuten lief ein kleiner Knabe vorüber, ich habe ihn leider nicht genau angesehen. Er trug einen weißen Leinenkittel.«

»Ja, – ja –«

Bärbel eilte weiter. Sie sah weder die erstaunten Blicke aller jener, denen sie auf der Straße begegnete, sie sah nicht die Gärten in ihrer Sommerpracht rechts und links der Straße. Sie jagte in schnellstem Laufe weiter, denn sie fühlte es, daß ihr Hermann zu jenem Teiche geeilt war. Sie wußte, daß sie ihn dort finden würde, – aber wie?

Kann eine Gans schwimmen? – Immer wieder kehrte ihr diese Frage ins Gedächtnis zurück. Ihre Blauaugen schwammen in Tränen, das Herz pochte so stürmisch, daß sie meinte, an diesen hämmernden Schlägen ersticken zu müssen. – Nur schnell weiter!

Vor ihren tränengefüllten Augen tauchte endlich der Teich auf. – Wo war das Kind?

»Hermann – Hermann!« Ihre angstdurchzitterte Stimme scholl über die Wiese.

In diesem Augenblick ertönte ein Schrei. Der Knabe, der erneut mit einem Stock nach dem Bär angelte, war ausgeglitten und ins Wasser gefallen. Bärbel hörte diesen Schreckenston und wußte, daß das Entsetzliche soeben Wirklichkeit geworden war.

»Er ertrinkt, – mein Kind ertrinkt!« Gellend schrie sie auf und eilte der Richtung zu, aus der der Schrei gekommen war.

Auf dem Wasser war etwas Gelbes sichtbar. Aber das war nicht ihr Hermann. – Aber hier, ganz dicht am Rande! Ohne Überlegung eilte Bärbel die kleine Böschung hinab und warf sich in den Teich. Sie griff nach dem weißen Bündel; aber ihre Sinne verwirrten sich so, daß sie nur das Schilf erfaßte. Vor ihren Augen tanzte alles in wildem Reigen. – Dort, das weiße Bündel.

»Mein Kind ertrinkt – zu Hilfe – zu Hilfe!«

Was weiter geschah, wußte sie selbst nicht recht. Ehe ihr die Sinne vergingen, fühlte sie, daß sie etwas umklammert hielt, die Angst, der Schreck, der Sprung ins Wasser waren zuviel für ihre erregten Nerven.

»Keine Sorge, liebe Frau.«

Mit geschlossenen Augen, totenblaß, lag sie am Rande des Teiches, neben ihr der jämmerlich schreiende Hermann.

»Junge, jetzt sei still,« sagte der tapfere Helfer, der den entsetzten Schrei des Knaben vernommen hatte und sogleich herbeigeeilt war. Es war gut so gewesen. Wenn auch der Knabe noch ziemlich vornan im Wasser lag, hatte doch Bärbel in ihrer Erregung nicht richtig zugegriffen, sie war ohnmächtig geworden, ehe sie das Kind erfaßt hatte. Er war daher gerade zur rechten Zeit gekommen, um Mutter und Kind ohne eigene Gefahr aus dem Wasser herauszuziehen.

Da bei Bärbel keine Gefahr des Ertrinkens vorlag, hielt es der biedere Landmann für richtig, den brüllenden Knaben zuerst zur Ruhe zu bringen und die Mutter sich selbst zu überlassen.

»Wenn du jetzt nicht sofort stille bist, du Bengel, bekommst du noch tüchtige Prügel. Soll ein Junge ins Wasser gehen?«

»Mein Bär, – der gute Hermann will seinen Bär haben!«

»Jetzt höre auf zu schreien, Junge, ich mache kurzen Prozeß!«

Die herrische Männerstimme schüchterte den Knaben ein; er schluchzte noch mehrmals stoßartig auf und rief dann leise nach der Mutti.

»Stille bist du! Deine Mutti ist krank.«

»Mutti – Mutti!«

Die flehenden Kinderlaute riefen Bärbel ins Bewußtsein zurück. Nur einige Sekunden starrte sie vor sich hin, dann gellte erneut ein Schrei von ihren Lippen:

»Mein Kind, – mein Kind!«

»Hier haben Sie den nassen Bengel.«

»Hermann, mein Junge!«

Erneut sank Bärbel zurück, aber ihre Arme preßten den völlig durchnäßten Knaben an sich.

»Hermann will den Bär – Donnerwetter!«

Noch niemals hatte ihr die Stimme ihres Kindes so süß in den Ohren geklungen wie jetzt. Er lebte, – der Schreck hatte ihm nichts geschadet.

»Mein lieber Junge, Lob und Dank, ich habe dich wieder.«

»Einen Kuß verdient die Rübe jetzt nicht, – den prügeln Sie zuerst 'mal gehörig durch. Jetzt aber stehen Sie auf, Sie werden sich erkälten. Sie sind ja ganz durchnäßt. Warten Sie, ich trage Ihnen den Jungen heim. – Wo wohnen Sie denn?«

»Nein, nein,« wehrte Bärbel ab, »ich lasse ihn nicht mehr aus meinen Armen.«

Als sie sich erhob, wurde sie zunächst von einer neuen Schwäche befallen. Die Knie zitterten, ein Frösteln durchlief ihren Körper, sie lehnte sich an die Schulter ihres Retters und sagte matt:

»Mir ist so elend.«

»Hab's mir schon gedacht, junge Frau, Sie sehen ja aus wie ein Blatt Papier. – So, nun halten Sie sich fest an mich, den Jungen nehme ich auf den Arm.«

»Hermann will zu seiner Mutti!«

»Du schweigst, oder ich werfe dich noch einmal ins Wasser!«

»Der Hermann will –« Der Knabe verstummte, die derbe Männerhand hatte ihm einen Schlag versetzt.

»Erst ins Wasser laufen und dann noch Wünsche haben, – schäm' dich, – und jetzt kein Wort mehr, oder ich bringe dich zurück zu den Fröschen.«

Bärbel fühlte sich so elend, daß sie nichts sagte. Ihre blassen Lippen schlugen aufeinander und murmelten, kaum verständlich: »Ich habe ihn wieder, meinen Jungen, meinen lieben Jungen!«

Erstaunt schauten die Bewohner der Villenstraße auf die eigentümliche Gruppe. Aber der Mann drängte zur Eile, und wenn Bärbel zusammenzusinken drohte, riß er sie energisch mit sich fort.

»Nur jetzt der Schwäche nicht nachgeben, junge Frau, die Zähne zusammenbeißen. Müssen wir rechts oder links gehen?«

»Links, dort jenes weiße Haus.«

Die Villa war erreicht. Schon im Vorgarten ließ der Mann laute Rufe hören. Der Forstrat trat heraus, Gretes Gesicht zeigte sich oben an einem der Fenster.

»Was ist denn geschehen? – Unsere junge gnädige Frau –«

Hilfreiche Hände waren sofort zur Stelle. Frau Schmeling sorgte dafür, daß man Bärbel entkleidete, abrieb und zu Bett brachte. Grete kleidete den kleinen Hermann um, den der Forstrat sofort in seine Obhut nahm. Dann ließ er sich von dem wackren Helfer erzählen, was sich ereignet hatte.

Mit einer reichlichen Belohnung wurde dieser verabschiedet. Dann wandte sich der Forstrat dem kleinen Hermann zu.

»Du bist doch ein recht unartiger Knabe, Hermann! Wenn die Mutti nun krank wird, hast du allein die Schuld.«

»Warum wird die Mutti denn krank, grüner Opa?«

»Weil du fortgelaufen bist, weil du ins Wasser fielst und die arme Mutti dich herausziehen mußte.«

»Wird man immer krank, wenn man ins Wasser geht? Wenn der Hermann doch aber ein Gänserich ist und sich aufplustern kann?«

Auf diese Weise erfuhr der Forstrat von den unvorsichtigen Äußerungen der jungen Mutter. Freilich, das beständige Fragen des Knaben konnte diese zur Verzweiflung bringen, doch Frau Goldköpfchen hätte sich nicht so weit hinreißen lassen müssen, eine so gefährliche Auskunft zu geben. Jetzt hatte sie diese Äußerung schwer zu büßen. Es war wohl am besten, sofort an Oberingenieur Wendelin zu telephonieren, ihm den Vorfall zu schildern, damit er heimkäme. Bärbel würde schneller ruhig werden, wenn der Gatte an ihrem Lager weilte.

Der gutherzige Forstrat übernahm denn auch die Mitteilung, und Harald Wendelin erwiderte, daß er sofort heimkommen werde. Er war in größter Sorge um sein junges Weib, denn wenn ihr auch das kalte Bad nichts geschadet haben würde, konnte das Vorkommnis doch schwerwiegende seelische Folgen für sie haben. Bärbel machte sich sicherlich wieder die schwersten Vorwürfe, daß sie eine schlechte Mutter, eine ungenügende Erzieherin sei, und das würde lange Zeit auf ihr Gemüt drücken. Es war daher wohl richtig, wenn er die Angelegenheit, so traurig sie ihm auch dünkte, nicht zu ernst nahm, um Bärbel nicht noch tiefer niederzudrücken.

Er kam heim. Zunächst wurde der kleine Hermann geholt, der eine tüchtige Tracht Prügel vom Vater bekam. Einmal für seine Unfolgsamkeit, dann für seinen Eigensinn und zur Verhütung etwa noch kommender Fälle.

Tränenüberströmt flüchtete der Knabe zum grünen Opa, aber auch dort hörte er heute nur sehr ernste Ermahnungen. So saß er allein in einer Ecke und weinte bitterlich.

Harald war zu seiner Frau hinaufgeeilt. Er erschrak, als er sein geliebtes Goldköpfchen erblickte. Totenblaß das liebliche Antlitz, die Augen weit geöffnet, wilde Verzweiflung im Blick.

Er griff nach ihren kalten Händen.

»Kinder haben ihre besonderen Schutzengel, mein Bärbel. Der Knabe spielt unten wieder vergnügt und munter mit dem Forstrat. Nimm es doch nicht so schwer, mein Liebling, es ist ja alles noch gut ausgegangen. – Warte, ich bringe dir ein Glas Wein, es wird dir gut tun.«

Sie sagte kein Wort, sah auch den Gatten nicht an. Er nahm ihren Kopf zwischen beide Hände.

»Mein Bärbel, mein geliebtes Goldköpfchen, – was fehlt dir?«

Der zärtliche Ton seiner Stimme riß an ihrem Herzen. Ein Zucken überlief ihr Gesicht, und plötzlich brach wildes Weinen hervor.

»Ich – bin ja an allem schuld, – ich bin nicht wert, eine Frau, eine Mutter zu sein. – Jage mich nur ruhig fort, Harald!«

»Aber, mein geliebtes Bärbel, was sind denn das für Worte? Machen wir denn nicht alle Fehler? – Bist du nicht eine treusorgende und liebevolle Mutter, – hast du nicht eben gezeigt, wie du auf der Hut bist?«

»Wenn er ertrunken wäre –«

»Aber, mein liebes Goldköpfchen, unser Junge hat den Schreck schon längst überwunden, und dieser Schreck wird ihm eine heilsame Lehre sein.«

Sie legte die Arme fest um den Hals des Gatten, drückte ihr blasses Gesicht an seine Schulter und weinte leidenschaftlich.

»Harald, – ach Harald, – ich bin keine gute Mutter!«

»Hat dir die Mutti denn nicht oft genug gesagt, daß die Aufgabe, Mutter zu sein, eine der schwersten ist, die das Weib zu erfüllen hat? Du bist noch sehr jung, mein Bärbel, vielleicht noch zu jung für diesen verantwortungsvollen Posten, und darum machst du noch manchen Fehler. Aber du wirst es lernen, denn der heutige Tag wird dich um ein gutes Stück weiterbringen. – Schau, mein geliebtes Kind, du erzähltest mir einmal, daß du während deiner Lehrzeit eine Platte zerbrachst, die das Bild eines bedeutenden Mannes darstellte. An diesem Tage glaubtest du alles für verloren. Dieser Tag hat aus dem neugierigen kleinen Lehrling ein ernstes, pflichtbewußtes junges Mädchen gemacht. Heute wäre beinahe auch solch eine kostbare Platte zersprungen, aber der Himmel hat es gnädig verhütet. Dafür wollen wir ihm von Herzen dankbar sein, und aufs neue wollen wir uns versprechen, die zarten Pflänzlein, die in unserem Ehegarten herankeimen, doppelt sorgsam zu hüten. Es ist schwer, mein Bärbel, sehr schwer; und für dich noch viel verantwortungsvoller als für mich. Aber auch du wirst es meistern, – du, mit deinem goldenen Herzen und dem beständigen Streben, alle Pflichten gewissenhaft zu erfüllen. – So, jetzt schau mir in die Augen, du hast keinen Grund, hoffnungslos dreinzublicken, im Gegenteil, sei glücklich, daß alles so gut ablief.«

In langem, tiefem Schweigen hielten sie sich umschlungen. Da wurde die Stille ganz plötzlich durch einen lauten Kinderruf unterbrochen. Der Forstrat war mit dem kleinen Hermann im Garten; er erklärte ihm wohl die einzelnen Blümchen.

»Dunnerschlag!«

Da lächelte Harald Wendelin sein Weib an, und Bärbel lächelte glücklich zurück.

»Laß nur, mein Bärbel, auch das wird er wieder verlernen, sein Herz ist gut!«


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