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Eine Erbschaftstragödie.

Erstes Kapitel.

In dem großen Dorfe, das sich an die alte aber noch wohlerhaltene Kirche lehnte, gab es nur ein einziges zweistöckiges, vor kurzem neu ausgebautes Wohnhaus. Im zweiten Stock des ansehnlichen Hauses saß an einem schönen klaren Tage im Anfang des September in dem geräumigen hellen Zimmer, das ihm als Wohnstube und Schlafraum diente, der Besitzer des Hauses – der alte Bauer Stefan Iljitsch.

Im ganzen Kreise war er bei Alt und Jung durch seinen ungewöhnlichen Reichtum bekannt, noch mehr aber dadurch, daß er ungeachtet seiner 94 Jahre seinen ganzen großen Besitz an Ländereien und Barkapital selbständig verwaltete, seiner ausgedehnten Wirtschaft in Haus und Hof, auf Feldern und Wiesen noch immer persönlich Vorstand, und dabei seinen beiden, auch schon in ziemlich vorgerücktem Alter stehenden Söhnen und deren Kindern, wie auch seinen noch nicht nach auswärts verheirateten Töchtern, kaum etwas mehr einräumte als die Stellung guter Vorarbeiter unter seinen sonstigen Knechten und Mägden. Ueber alle, ohne Ausnahme, führte er von Alters her ein für unsere Zeit selten strenges Regiment.

Lesen, Schreiben und etwas Rechnen hatte er in seiner Jugend bei dem Priester der nahen Kirche gelernt. Seinen beiden Söhnen hatte er schon eine bessere Schulbildung zu teil werden lassen.

Miron, der ältere Sohn, hatte sich mit dem Gelde seiner Frau, dem einzigen in der Stadt erzogenen Kinde eines längst verstorbenen wohlhabenden Schenkwirts, auch eigenes Land erworben, das er unabhängig vom Vater bewirtschaftete. Fedor, der jüngere Sohn, hatte es von jeher verstanden, sich beim Vater durch sein unterwürfiges Wesen in besondere Gunst zu setzen. Unterstützt von seiner sich ebenso demütig gebärdenden Frau und hübschen wohlerzogenen Kindern, hatte er dem Vater schon zu wiederholtenmalen bald namhafte Geldsummen, bald Landstücke abgeschmeichelt, – zu großem Verdruß des älteren Bruders und dessen Frau, die darin natürlich eine Schmälerung ihres einstigen Erbanteils sehen mußten. Das Testament, das der Alte schon vor Jahren gemacht und dessen Inhalt den Söhnen bekannt war, enthielt die Bestimmung, daß alles, was sich nach seinem Tode an Landbesitz und Wertpapieren vorfände, nach Abzug des den Schwestern auszuzahlenden Pflichtteils, unter beide Söhne gleichmäßig geteilt und dabei jedes zur Teilung ungeeignete Landstück in Geld berechnet werden sollte. Das Verhältnis zwischen beiden Brüdern war schon längst ein ziemlich gespanntes. Fedor lebte mit seiner Familie in einem besonderen Hause. Dem älteren Sohne Miron hatte der Alte das neuausgebaute zweistöckige Haus abgetreten, sich selbst nur das eine, vorhin schon erwähnte Zimmer vorbehaltend. –

Wie Stepan Iljitsch so dasitzt, die alte Hornbrille auf dem untern Teil des Nasenrückens, die vor ihm auf dem Tische ausgebreiteten Papiere und Dokumente bedächtig entfaltend und musternd, macht er trotz seines Kahlkopfs mit seinem stattlichen gelbweißen Vollbart, der den zahnlosen Mund diskret verschleiert, mit seinem trotz der zahlreichen Runzeln noch recht lebensfrischen Gesicht, mit seinen, von buschigen weißen Augenbrauen überwölbten, ziemlich tiefliegenden aber noch lebhaft und scharf blickenden Augen weit eher den Eindruck eines rüstigen Siebzigers als den eines Vierundneunzigers.

Das endlich gefundene Papier legt er vor sich auf den Tisch, die anderen Schriftstücke und Dokumente packt er wieder zurück in die große, schon recht defekte Brieftasche. Sorgfältig verwahrt er dann die Brieftasche in dem schmalen, hinter seinem Stuhle befindlichen eisernen Eckschrank.

Müssig die Hände in den Schoß zu legen, ist ihm unmöglich.

In der Nähe des Fensters liegt auf der Diele ein Haufen alten Eisenkrames und invalider Gewehre. Diesem Haufen entnimmt er ein noch gut erhaltenes doppelläufiges Jagdgewehr und eine alte einläufige Flinte, die ihm vor einigen Tagen zur Reparatur übergeben worden waren. Aufmerksam prüft er die Schlösser beider Gewehre. Mit Hilfe einiger Werkzeuge, die er sich aus dem auf dem Fensterbrette liegenden altmodischen Gerät zusammensucht, nimmt er das Schloß des Doppellaufs ganz auseinander, hat auch bald den Sitz des Schadens entdeckt. Nach einer guten Weile emsiger Arbeit ist das Schloß wieder bestens in stand gesetzt und jeder der beiden Läufe gründlich gesäubert. Mit der selben Sorgfalt macht er sich an die Reparatur der einläufigen Flinte.

Unterdessen ist Fedor, der jüngere Sohn, eingetreten. Er begrüßt den Vater in unterwürfiger Haltung. In einiger Entfernung bleibt er stehen, die Anrede desselben erwartend.

Erst nach längerem Schweigen und seine Beschäftigung keinen Augenblick unterbrechend, äußert der Alte in ziemlich mürrischen Tone: »Nun, sei's denn! Diesmal erfülle ich noch deine Bitte. Heute aber zum letztenmal. – Miron bittet mich nie um Geld oder Land. Kannst du nicht ebenso wie er ruhig abwarten, bis es mit mir zu Ende geht? Nach meinem Tode kommt doch alles in eure Hände. – Und wenn der Miron es erfährt, daß ich wieder ein so schönes Stück Land auf deinen Namen übertragen, wird er mit Recht wieder murren, daß durch diese Schenkung an dich sein einstiges Erbteil abermals geschmälert worden, und wird dir darob noch mehr gram sein. Schweige also vorläufig von diesem Landstück – gegen alle, auch gegen deine Frau! Morgen will ich mit dir in die Stadt fahren, um diese Sache beim Notar ins reine zu bringen.«

Fedor, ein höherer Vierziger, mit dunklen Augen, das stark an der Sonne verbrannte Gesicht von auffallend dunklem, fast schwarzen Haar und ebenso dunklem kurzgehaltenen Bart umrahmt, – dankt dem Vater in sanftestem Ton: »Gott schenke dir, Väterchen, noch viele viele Jahre! Gottlob, daß du hier unter uns noch lebst – als voller Wirt, daß du mit deinem Besitz machen kannst, was dir gut dünkt. Vielen vielen Dank, Väterchen! – Ach, wenn du mir nicht dann und wann kräftig geholfen hättest, würde es bei mir zu Hause knapp genug hergehen. Meine gute Olga hat mir ja fast nichts mitgebracht. Aber Kinder hat uns der liebe Gott geschenkt, – na, jedes Jahr liegt eines in der Wiege! Unser jüngstes ist kaum eine Woche alt. Und alle diese Kinder, Väterchen, noch unerzogen!«

Ohne von dem Sohne und dessen Danksagungen und oft schon gehörten Familiensorgen weiter Notiz zu nehmen, hat der Alte emsig weiter gearbeitet.

In etwas erregterem Tone redet Fedor weiter: »Ja, dem Miron, dem fehlt es an nichts! Seine Anna Aleksejewa hatte von Hause aus einen mächtigen Beutel Geld. Die brauchen natürlich dich, Väterchen, um nichts zu bitten! Die Töchter – sind fast alle schon verheiratet. Die älteste haben sie an den alten, schwer reichen Witwer in N. verkuppelt. Ihr fauler Tagedieb, der Mischa, ist ja auch schon hübsch herangewachsen. – Oft genug hast du es, Väterchen, erfahren müssen, wie unkindlich, wie unehrerbietig der Miron seit seiner Heirat gegen dich geworden, und wie er und die Seinigen ihren Ungehorsam, ihre Aufsässigkeit gegen dich immer mehr hervorkehren. Mir und den Meinigen grollen sie nur deswegen, weil wir uns, Väterchen, dir gegenüber ganz anders halten, uns nie vergessen ... Ja, ja, – der Anna Aleksejewa, dem Miron – denen lebst du, Väterchen, schon viel zu lange! – Sie möchten hier eben ganz unbeschränkt hausen, sie ...«

»Genug davon!« verweist ihm endlich der Alte sein Gerede mit so strengem Blick, daß Fedor sofort verstummt und noch mehr zusammenknickt. »Ich weiß selbst ganz genau, was ich von meinen Kindern zu halten habe. Und dir, Fedor, – steht es erst recht nicht zu, mich gegen deinen älteren Bruder aufzuhetzen! Geh jetzt, – morgen fahren wir zur Stadt! – Und vergiß nicht, daß ich heute in eure Badstube komme!«

Ohne ein weiteres Wort verläßt Fedor leisen Schrittes das Zimmer.

In der Tür trifft er mit seinem Bruder zusammen. Miron mißt ihn mit äußerst unfreundlichem Blicke.

Miron steht im Anfang der Sechzig. Hoch von Wuchs hält er sich ziemlich gebückt, – seine Wohlbeleibtheit paßt schlecht zu der krankhaft blassen Farbe und dem stets finstern Ausdruck seines Gesichts. Dabei ist er auffallend kurzatmig. Beim Reden bringt er die Worte nur stoßweise heraus, mit stets belegter Stimme.

Gleichzeitig mit Miron ist ein anderer, dürftig gekleideter und äußerst sorgenvoll dreinschauender Bauer ins Zimmer gekommen, vor mehreren Jahren hat Stefan Iljitsch ihm zum Ankauf eines Landstücks 800 Rubel geliehen, und zwar auf einfache Schuldverschreibung, ohne alle Sicherheit, und zu dem unter solchen Umständen billigen Zinsfuß von acht Prozent. Eben jene Schuldverschreibung hatte der Alte, der den Schuldner heute erwartete, vorhin aus seiner Brieftasche herausgesucht und sich zur Hand gelegt. Wie das Bäuerlein sofort nach dem Eintritt sich anschickt, einen Fußfall zu tun, wird er von Stefan Iljitsch in ärgerlichem Tone daran gehindert: »Laß das! Du weißt sehr gut, daß ich dergleichen nicht ausstehen kann. Beuget eure Kniee vor Gott, aber nicht vor Menschen! ... Bist also wieder ohne Geld gekommen? – Das konnte ich mir übrigens schon im voraus denken.«

Während der Alte die Schuldverschreibung unschlüssig hin und her wendet, fängt Miron an, auf den Vater einzureden. »Man kann doch jetzt,« keucht er, »weiter keine Nachsicht – üben gegen den Wlaß Nikititsch; – schon das – zweite Jahr zahlt er – keine Renten! – Man muß das Kapital – ihm kündigen und – da er natürlich nicht – zahlen kann, das Landstück – selbst erwerben! – Es hat gutes Wiesenland und liegt – hart an der Grenze – unserer Ländereien.«

Der arme Schuldner bittet, man möge doch weiter Geduld mit ihm haben; im vorigen Jahr seien ihm die besten Felder verhagelt, in diesem Jahr habe Gott ihn gestraft mit langandauernder Krankheit seines Weibes und mancherlei Unglück am Vieh. Miron fällt ihm mehrmals in die Rede, macht ihm allerlei bissige Vorwürfe, bis endlich der alte Stefan Iljitsch, aufgebracht über die unerbetene Einmischung Mirons, das Gerede der beiden unterbricht, in barscher Weise ihnen Schweigen gebietend: »Genug! Noch bin ich Herr im Hause, noch lebe ich! Bin gesunder als du, Miron, – und bei vollem Verstande. Du willst mich bereden, den Wlaß Nikititsch ganz zum Bettler zu machen. Ich aber – strafe dich, Miron, für deine Habsucht und Hartherzigkeit!«

Dabei zerreißt er die Schuldverschreibung in kleine Fetzen, die er dem Sohne vor die Füße wirft.

»So! – Jetzt gibt's kein Papier mehr, das du nach meinem Tode gegen den Wlaß ausnutzen könntest. – Und du, Wlaß? Geht es dir in Zukunft besser, so zahle mir meine 800 Rubel allmählich ab, wie es dir gerade paßt, und ohne alle Prozente. Bleibst du aber auch in Zukunft solch ein Hungerleider wie bisher, – und das wird wohl das Wahrscheinlichste sein –, so schreibe ich die 800 Rubel ganz in den Schornstein.«

Der freudig überraschte Wlaß wirft sich nun doch unversehens seinem Gläubiger zu Füßen, will den Saum seines Hausrocks küssen und stammelt Dankesworte. Stepan Iljitsch wehrt ihn sehr unsanft ab: »Bei dem da, bei Miron, bedanke dich, nicht bei mir! Und jetzt – kannst du dich packen!«

Hinter Miron, der eine Verwünschung in den Bart murmelnd das Zimmer verläßt, schleicht sich auch das Bäuerlein hinaus – mit überglücklichem Gesicht.

Kaum daß sich die Tür hinter ihnen geschlossen, erscheinen zwei andere, noch ziemlich junge Bauern – mit der Anfrage, ob nun ihre Flinten endlich in Ordnung gebracht sind. Der Alte antwortet ihnen mit Kopfnicken, stellt aber, pfiffig mit den Augen blinzelnd, die Gegenfrage: »Habt ihr auch Geld bei euch, ihr Windbeutel? Ohne Bezahlung arbeite ich nicht für euch! Meine Preise kennt ihr ja, – 15 Kopeken für einen Doppellauf, 10 Kopeken für eine gewöhnliche Flinte ...«

Halb scherzend wollen die beiden noch etwas von dem Arbeitslohn abhandeln. Der Alte hält aber zähe an seinem Preise fest, und ärgert sich über ihr Feilschen. Da rücken sie endlich mit ihrem Kleingeld heraus. Er wirft das Geld, nachdem er es umständlich besehen und geprüft, in ein dem Eckschrank entnommenes ziemlich hohes Blechkästchen, das mit ebenso erarbeiteten Silbermünzen schon mehr als zur Hälfte gefüllt ist.

»Du bist und bleibst unser alter Tausendkünstler,« äußert der Jüngere der beiden, der sich über die gelungene Reparatur seiner schon recht altersschwachen Flinte sehr zu freuen scheint. »Die Meister in der Stadt wollten das alte Ding gar nicht mehr in Arbeit nehmen. Du hast es, ohne viel Worte zu machen, prächtig zurechtgeflickt!«

Der andere Bauer, ein trotz seiner Jugend ungewöhnlich dicker Mensch mit ziemlich gedunsenem Gesicht, kann es sich nicht versagen, den Alten etwas zu necken: »Ein Tausendkünstler bist du allerdings, Stepan Iljitsch, aber ein merkwürdig geldgieriger! Scharrst da unsere Zehner und Fünfzehner zusammen, als ob du dich damit allein durchfüttern müßtest. Besäße ich nur einen kleinen Teil deines Geldes, deiner Landstücke, nie und nimmer würde es mir in den Sinn kommen, mich mit solch mühevoller Schlosserarbeit abzuplacken, – ich ...«

Scheltend fällt ihm der Alte in die Rede: »Ich soll wohl dem lieben Gott ebenfalls so die Tage stehlen, wie ihr es tut? – Ihr faulenzet draus los und vertrinkt eure Kopeken in der Schenke, sobald euer bißchen Feldarbeit getan! Und was etwa noch nicht für Branntwein draufgeht, das verschleudert ihr für Tabak! Rauchen müßt ihr ja den ganzen Tag, auch während der dringendsten Arbeitszeit! – Ich bin dreimal so alt wie ihr Milchbärte, aber wenn ich nicht mehr arbeiten könnte, möchte ich keine Stunde mehr am Leben bleiben. Was mein Unterhalt kostet, das verdiene ich mir überreichlich mit dem Reparaturkleingeld – hier im Kästchen. Mich kann niemand einen unnützen Brotesser schelten, wie andere alte Leute, die bei ihren verheirateten Kindern auf freie Verpflegung leben!«

Ein hübsches, aber halbverrostetes Kastenschloß zur Hand nehmend, und es genau untersuchend und teilweise auseinander schraubend, redet er in guter Laune weiter. Offenbar ist er auf sein Lieblingsthema gekommen: »Die Füße sind ja zuweilen schon ein wenig steif, aber die Finger, die taugen, gottlob, noch zu mancherlei Arbeit. Auch die Arme sind noch kräftig genug! Seht ihr, Jungens, den guten Stock da, an der Wand über meinem Bette? – Noch heute fürchten sich alle vor diesem Stocke, – die Söhne und Enkel und Knechte. – Und woher habe ich diese Kraft – trotz meiner 94 Jahre? – Weil ich von Jugend auf ein ganz anderes Leben geführt habe – als ihr Narren. Das scheint euch wohl nicht recht glaublich? Versucht's nur, meidet den Tabak und Bier und Branntwein wie tödliches Gift! Ihr würdet dann auch bis ins hohe Alter auf genügende Körperkraft rechnen können und auf stete Arbeitsfreudigkeit. Und eure Kinder und Enkel würden euch nie auf der Nase herumtanzen.«

Grinsend und die Köpfe schüttelnd trollen sich die also Belehrten mit ihren Flinten.

Während seines Redens und noch eine kleine Weile nachher sind die fleißigen Hände unablässig tätig gewesen. Er hat an dem Mechanismus des Schlosses so lange herumgebastelt und wo nötig mit der Feile nachgeholfen, bis sich der etwas seltsam geformte Schlüssel mit Leichtigkeit wieder gebrauchen läßt. Zufrieden legt er die Arbeit aus der Hand.

In diesem Augenblick erscheint eine von Fedors kleinen Töchtern mit der Nachricht, daß die Badstube für den Großvater schon bereit sei. Gleichzeitig erkundigt sie sich, ob Großväterchen sich heute wieder tragen lassen wolle zur Badstube, oder ob er zu Fuß kommen werde. Der Großvater streichelt der Kleinen die roten Bäckchen und gibt ihr den Bescheid, daß er diesmal zu Fuß hinkommen, zurück aber bis zu seiner Wohnung sich wieder tragen lassen werde. Eiligst hüpft die Kleine aus dem Zimmer.

Stepan Iljitsch macht Feierabend. Sein Arbeitszeug räumt er zur Seite. Sorgfältig verschließt er den Eckschrank, dessen Schlüssel er immer bei sich trägt und nachts unter sein Kopfkissen zu legen pflegt. Einen kurzen Leibpelz legt er an und warme Filzstiefel, nimmt ein Bündelchen mit reiner Wäsche in die eine Hand, seinen Stock in die andere – und macht sich auf den Weg. Bis zum Hause, jenseits des Flüßchens, sind es immerhin doch gegen 600 Schritt.

Die Tür seines Zimmers bleibt unverschlossen. Er verschließt sie übrigens fast niemals, weder am Tage noch während der Nacht. Jegliche Furcht ist ihm fremd. Er wohnt ja auch in dem großen Hause nicht allein. Aus seinem Zimmer gelangt man in den Flur, aus welchem seiner Tür gegenüber eine andere Tür in die geräumige Wohnung führt, die Miron mit seiner Familie einnimmt. Und im untern Stock, in welchem sich die große Hausküche befindet, sind die Knechte und Mägde untergebracht. Gerade unter seinem Zimmer befindet sich ein Gelaß, das für gewöhnlich leer steht, zeitweilig aber von irgend welchen in Kost und Lohn genommenen Handwerkern besetzt ist. Am heutigen Tage sind wieder zwei wandernde Handwerker ins Dorf gekommen, ein Schneider und ein Schuhmacher, die schon früher hier am Ort, und namentlich beim reichen Stepan Iljitsch gearbeitet haben. Arbeit für sie fand sich diesmal nicht, trotzdem hat Stepan Iljitsch ihnen erlaubt, mit dem Gesinde zu Abend zu essen, und in dem ihnen schon bekannten Zimmer über Nacht zu bleiben. Morgen in aller Frühe wollen die beiden wieder weiter wandern.

Und zur Nachtzeit bewachen das Haus noch zwei äußerst zuverlässige, ihrer Bösartigkeit wegen weit und breit gefürchtete Hunde.

Zweites Kapitel.

Als der alte Stepan Iljitsch sich zur Badstube begab, war der untere Stock des Hauses ganz leer. Knechte und Mägde waren auf dem Felde beschäftigt. Die beiden Handwerker waren ins nahe Priesterhaus gegangen, um sich auch dort nach Arbeit umzusehen. Miron selbst war auch noch auswärts. Er mußte sich heute die Flachsweichen ansehen. Zurückgeblieben im Hause waren nur Mirons Frau Anna Aleksejewa und ihr einziger Sohn, ihr Nesthäkchen, ihr noch nicht ganz volljähriger Mischa.

Anna Aleksejewa ist eine robust gebaute, in den höheren Fünfzigern stehende Frau mit braunem, stark angegrautem Haar, deren frisches und stets etwas gerötetes Gesicht mit der niedrigen Stirn, dem stechenden Blick der wasserblauen Augen und den schmalen Lippen einen etwas unangenehmen Eindruck macht. Ihr Mischa ist ein recht hoch emporgeschossener, plump gegliederter Bursche mit ziemlich ausdrucklosem Gesicht, den manche in seiner geistigen Entwicklung eigentlich ein wenig zurückgeblieben halten.

An einem der halbgeöffneten Fenster ihrer Wohnung stehend, schauen die beiden dem alten Stepan Iljitsch nach, wie er gemessenen Schrittes auf der Dorfstraße dahin geht, sich fest auf seinen Stock stützend, aber mit ungekrümmtem Rücken und nur wenig gesenktem Haupte.

»Da geht der Alte, unser aller schweres Kreuz! Daß ihn ...« schickt ihm die Hausfrau eine halbverschluckte Verwünschung nach, und wendet sich dann zu ihrem Sohne mit der spöttischen Frage: »Aber du, Mischa, du liebst deinen alten Großvater trotz seines Stockes? Das gehört sich doch so!«

»Warum machst du dich noch lustig über mich?« antwortet ihr Mischa, in sichtlichem Verdruß seine linke Schulter reibend, »weshalb sollte ich ihn wohl besonders lieben, den alten bösen Teufel? Mit seinem Knüppel hat er mir gestern schon wieder einen tüchtigen Hieb versetzt. Die Schulter schmerzt mir noch heute ganz gründlich, obgleich du sie mir schon mehrmals mit flüchtiger Salbe eingerieben.«

»Ja, du mußt nicht so dumm sein, dich von ihm ertappen zu lassen, wenn du am Schlüsselloch seiner Tür lauern willst,« sucht die Mutter ihn zu trösten. »Auch mir ist es sehr unangenehm, daß der Alte dich gestern so überraschte. Er muß ja wohl annehmen, daß du auf unsern Wunsch an seiner Tür herumspioniertest.«

»Nun, Gott mit ihm!« prahlt der Bursche zufrieden grinsend. »Heute habe ich doch wieder an seiner Tür gelauscht. Ganz deutlich habe ich gehört, daß er dem Onkel schon wieder ein schönes Stück Land schenkt, und daß er morgen mit ihm zur Stadt fahren will – zum Notar!«

Die Mutter tätschelt die geschlagene Schulter ihres Lieblings. Sie rät ihm, sich heute lieber jeglicher Arbeit zu enthalten, sich lieber sofort ein wenig nieder zu legen.

Gern gehorcht Mischa der guten Mutter. Er klettert hinauf auf den breiten, nicht allzu hohen Ofen, um dort, wenn auch nicht zu schlafen, sich doch ein Weilchen herumzurekeln.

Anna Aleksejewa bleibt am Fenster sitzen. Sie will ihren Mann hier erwarten. Jeden Augenblick kann er vom Felde zurück sein.

In finsterem Sinnen starrt sie vor sich hin. Daß ihr Mischa noch im Zimmer, daß er oben auf dem Ofen lungert, hat sie ganz vergessen.

Endlich tritt Miron ins Zimmer, aus seiner kurzen Pfeife qualmend.

Kaum ihn erblickend überschüttet Anna Aleksejewa ihn mit ihren Vorwürfen: »Na, du alte Schlafmütze, du hast ja natürlich wieder nichts bemerkt! – Es ist schon wieder etwas im Werke zwischen dem Alten und deinem Bruder, dem widerlichen Schleicher. – Nicht umsonst ist er in den letzten Tagen so oft beim Alten gewesen. Er braucht doch wieder ein Patengeschenk für sein vor einer Woche geborenes Jüngstes. – Vom Flur aus habe ich aus den meist lauten Reden des Alten das Wichtigste schon neulich herausgehört, – noch besser hat aber heute unser Mischa die beiden belauscht. Der Fedor hat richtig dem Alten wieder eines unserer bestgelegenen und wertvollsten Landstücke abgeschwatzt, – schon morgen soll die Sache beim Notar ins reine gebracht werden!«

Miron qualmt noch heftiger aus seiner Pfeife, speit mehrmals aus, schweigt aber.

Weiter redet seine Frau: »Es ist himmelschreiend! Wenn der Alte noch lange lebt, bringt Fedor allmählich das Beste unseres ganzen Landbesitzes an sich. Was dann beim einstigen Tode des Alten an Landstücken noch nachgeblieben, wird wohl kaum der Teilung wert sein! – Unser Mischa, unsere Töchter und Großkinder, die werden ja, gottlob, auch ohne den Alten genug zum Leben haben. Sollen wir aber denn wirklich geduldig zuschauen, wie das väterliche Erbteil, das dir und unsern Kindern vor Gott und von Rechts wegen zusteht, so schändlich verkümmert wird? – Fedors Habsucht ist grenzenlos. Und die Komödie von gehorsamer Demut und kindlicher Ehrerbietung, die er dem Alten vorspielt, findet bei dem immer noch Glauben. Was an Landstücken ihm vom Alten geschenkt wird, das erfahren wir wenigstens noch. Aber wieviel Bargeld er sich bis jetzt zusammengebettelt, das bleibt uns völlig verborgen! – Am Ende ändert gar der Alte noch sein Testament zu Fedors Gunsten, uns noch mehr benachteiligend als es schon geschehen. Vielleicht schon morgen ...«

Sichtlich erregt und unter beschleunigtem Atemholen saugt Miron an der längst erloschenen Pfeife. »Ja, der Alte,« keucht er mühsam genug, »wird überhaupt schon – ganz unvernünftig, ganz kindisch! – Früher verstand er es – vortrefflich, jeden – der ihm etwas schuldete, zum – Zahlen zu bringen – oder – sich schadlos zu halten, ja – zu bereichern beim – Zwangsverkauf der Habe des – säumigen Schuldners. Jetzt aber? – heute war ich – selbst Zeuge, wie er – unseres Nachbars, des – Wlaß Nikititsch – Schuldverschreibung auf – 800 Rubel – zerriß – und dem Kerl die – ganze Schuld – schenkte! – Lieber wirft er sein Geld – jetzt – jedem beliebigen Bettler – an den Hals, damit – nur ja nicht – allzuviel – in unsere Hände komme. Ja, du hast recht, – nur wenn er – bald stirbt – recht bald, – nur dann können wir noch – rechnen auf – eine nicht gar zu schlechte – Erbschaft.«

Beide sitzen eine Weile schweigend, mit finster zusammengezogenen Brauen vor sich hinstarrend. Einander gerade in die Augen zu blicken, vermeiden sie.

Tief aufseufzend nimmt Anna Aleksejewa endlich wieder das Wort: »Ach, wenn doch dem alten Satan wenigstens in der Badstube einmal ein Unglück passieren wollte! Steinalt ist er, kriecht aber doch hoch hinauf, wo es erstickend heiß ist, und schwitzt da und schwitzt, bis er halb ohnmächtig heruntergeschafft werden muß. Unsere Badstube will er, leider Gottes, gar nicht mehr benutzen, seitdem er – ha ha! – sie einmal doch gar zu stark geheizt und gar zu dunstig gefunden. Jetzt schleppt ihn Fedor immer zu sich, in seine Badstube. – Dem Alten tut übrigens auch die heißeste Badstube nichts an, der hat ein viel zu zähes Leben! – Gott straft uns hart genug mit dem Alten. Andere Menschen werden ja auch alt, machen aber immer noch zu rechter Zeit ihren Kindern und Großkindern Platz. Aber unser Alter, der wird auch noch dich überleben, dich, der du selbst schon alt und grau geworden, – und dabei noch deine schlimme Brust! – Miron, wenn du stirbst, wenn dann ich und Mischa ganz in seiner Gewalt bleiben, ohne dich, was soll dann aus uns werden?«

Sie hat sich in Rührung geredet. Die Tränen sich aus den Augen wischend, schluchzt sie in ohnmächtiger Wut: »Solch ein altes Gerippe, das sich längst schon überlebt hat, das uns tagtäglich so schrecklich tyrannisiert, das jetzt sogar sein Hab und Gut absichtlich aus dem Fenster wirft, damit es uns nicht zugute kommt, das müßte man doch eigentlich durch das Gericht entmündigen lassen, unter Kuratel stellen! Oder – ach! einmal muß es doch ausgesprochen werden ...«

Näher neigt sie sich zum Manne, auf ihn einredend mit stockender, ganz heiser klingender Stimme: »Der Alte schläft ja nachts allein – bei unverschlossener Tür. Es kann ihn doch sehr leicht irgend ein böser Zufall treffen. Er kann plötzlich sterben, wenn keine Hilfe zur Hand, – oder – man hilft eben ein wenig nach, auf daß er – ein bißchen schneller – zur ewigen Ruhe kommt. – Macht man's gewandt, wer wird nachher daran zu zweifeln wagen, daß der fast hundertjährige Greis eines natürlichen Todes gestorben? – Wer wird nachher behaupten wollen, daß man ihn – erstickt hat?«

Sie bricht in ein etwas unheimlich klingendes Gelächter aus.

Von einander widerstreitenden Vorstellungen gepackt und sich unruhig nach allen Seiten umsehend, war Miron den Worten seiner Frau gefolgt. Nein, das fand er zu schrecklich! Der Alte bleibt doch immer sein leiblicher Vater! Als ob Anna Aleksejewa nur im Scherz gesprochen, lacht auch er auf und höhnt dann die Versucherin mit grinsend verzogenem Gesicht: »Versuch's doch mal, mein Täubchen, – geh zu seiner Tür – in später Nachtstunde, – lausche mal hin, – wie er kräftig und ruhig – im Schlaf atmet. Oeffne doch dann – die Tür, mache ihm – deinen Nachtbesuch, den du – ihm zugedacht – als gute Schwiegertochter! – Vergiß aber nicht, du Tapfere –, daß sein Schlaf leise ist – sehr leise! Kaum daß die Diele nur – etwas geknarrt unter deinem Tritt, – da greift er schon – nach seinem Stock, – nach irgend einem Schießgewehr, – schreit dabei wohl auch – alle Hausbewohner auf die Beine! – Versuch's doch – noch heute, – wenn es dich so sehr gelüstet – nach solch warmem Empfang!«

Anna Aleksejewa ist ganz blaß geworden. Sie weiß dem Manne nichts zu entgegnen.

Miron stopft sich seine Pfeife aufs neue, setzt sie umständlich in Brand, zögert noch etwas – und geht dann mit schweren Schritten hinaus auf den Hof.

Vom Fenster aus, in dessen Nähe sie die ganze Zeit über gesessen, starrt Anna Aleksejewa hinaus auf die Straße. Vorübergehende Bekannte grüßen sie. Sie erwidert die Grüße nicht, scheint die Leute überhaupt nicht gesehen zu haben. Plötzlich fährt sie zusammen. Sie ist sonst nichts weniger als schreckhaft, aber die Berührung ihres Nackens durch eine fremde Hand war ihr in diesem Augenblick gar zu unerwartet gekommen. Hinter sich erblickt sie Mischa.

Er hat natürlich gar nicht geschlafen auf dem Ofen, hat das ganze Gespräch der Eltern mit angehört. Es hat ihn wohl etwas gegruselt dabei, aber ...

Zweifelnd blickt er der Mutter in die Augen: »Mütterchen, hättest du wirklich den Mut dazu? – Nein, ich könnte das mit dem Großvater – nie fertig bringen! Kraft genug hätte ich schon dazu – sieh' mal meine Arme, meine Fäuste! – aber die Angst – nein!«

»Ei, so schwatze doch keinen Unsinn!« unterbricht ihn die Mutter, schnell wieder gefaßt. »Wir haben mit dem Vater ja nur zum Spaß so geredet, – wir werden doch niemanden hier – morden wollen?«

Mischa hat seinen Arm um ihre Schulter gelegt und mustert ihr Gesicht mit verschmitztem Augenzwinkern: »Aber Mütterchen, wenn der Großvater gestorben, dann ziehen wir doch in ein anderes Haus? – Nicht wahr? – Hier im Hause könnte ich dann keine Nacht mehr schlafen. Der tote Großvater würde mir noch mehr Furcht einjagen als der lebende.«

Die Mutter streichelt ihm zärtlich die Wangen: »Mischa, Närrchen du! So höre doch einmal auf, an solche Dummheiten zu denken! Geh jetzt hinaus, vielleicht kannst du dem Vater draußen etwas helfen. Aber sage ihm nicht, daß du vorhin auf dem Ofen lagst, als wir vom bösen Großvater sprachen.«

Sie hat sich wieder zum Fenster gewandt. Sie beugt sich sogar ein wenig hinaus, in der Richtung zu Fedors Hause. Der Alte bleibt heute auffallend lange in der Badstube. Die Abenddämmerung ist schon im Anzug. Sollte ihm ...?

Ach nein! – Sie hat ihn ja schon erblickt, da, an der Krümmung der Straße. Wie ein türkischer Pascha dehnt er sich behaglich auf der weichen, über einen Bettrahmen gebreiteten Matratze, den Kopf auf den rechten Arm gestützt, im krebsroten Gesicht der Ausdruck höchsten Behagens. So läßt er sich wieder nach Hause tragen, natürlich von Fedor selbst und dessen ältestem Sohne und zwei Knechten. Zahlreiche Dorfkinder geben den Trägern das Geleit. Sie kennen dieses Schauspiel schon von früher her, und doch bereitet es ihnen jedesmal dasselbe Vergnügen. An der Haustüre setzen die Träger ihre Last ab. Der Alte erhebt sich, winkt dem Sohne mit der Hand einen kurzen Dank zu, und geht dann langsam die Treppe hinauf in sein Zimmer.

Nach wenigen Minuten schon erscheint dort die von der Hausfrau gesandte Magd. Sie bringt ihm auf einem großen Teebrett eine kleine Kanne frischbereiteten starken Teeextrakts, eine mächtige Kanne siedendheißen Wassers, ein Teeglas mit Unterschale und silbernem Löffelchen, eine Schale Zucker und eine in Scheiben geschnittene Zitrone. Stepan Iljitsch, der sich schon zu Bett begeben, macht sich in der wohligsten Stimmung an seinen Tee. Nach dem soeben überstandenen, maßlos starken Schwitzen in der Badstube genehmigt er sich heute sogar mehrere Extragläser seines Lieblingsgetränks.

Drittes Kapitel.

Im Herbste gehen die Leute im Dorf früh zur Ruhe. Gilt es doch, schon gegen Mitternacht wieder aufzustehen, um in der Scheune der nächtlichen Drescharbeit obzuliegen.

Am frühesten erlosch heute der Lichtschein im Zimmer des alten Stepan Iljitsch. Bald darauf gab es im ganzen Hause kein einziges erhelltes Fenster, weder in Mirons Wohnung noch im untern Stock.

Auch die beiden Handwerker lagen in dem ihnen eingeräumten Zimmer in festem Schlafe.

Bald nach Mitternacht erwachten die beiden plötzlich. Es war ihnen vorgekommen, als ob oben, im Zimmer des alten Stepan Iljitsch, etwas Schweres zu Boden gefallen. Gleichzeitig vernahmen sie dort gedämpfte Tritte hin und her gehender Menschen, und ein sonderbares dumpfes Stoßen und Schaben an jener Stelle, wo sie den Fall eines schweren Körpers zu hören geglaubt hatten. Sonst kein Laut, kein Schrei. Dann wieder Tritte, schwere und leichtere, und das Hin- und Herrücken verschiedener Gegenstände. Nach einer Weile schien es ihnen, als ob man oben an einer besonderen Stelle die Diele wasche, und als ob Wassertropfen durch die Ritzen der leichten Diele durchflössen und auf der Diele ihres Zimmers hörbar aufschlügen. Anfangs wollten sie in das Zimmer der Knechte hinüber gehen, dort irgend jemanden wecken und nach oben schicken. Vielleicht war dem Alten etwas Schlimmes passiert, und Hilfe vonnöten. Dann fiel ihnen aber ein, daß die Knechte in der Nacht zu dreschen hatten, daß sie gar nicht im Hause waren. Zudem waren, den Tritten nach, mehrere Menschen im Zimmer des Alten; jedenfalls war der Alte nicht allein. Sich selbst hinauf zu begeben in das Zimmer, das wagten sie nicht. Eine besondere, ihnen selbst eigentlich ganz unerklärliche Angst hielt sie davon ab.

Während ihres Horchens auf die Tritte und sonstigen Geräusche und während ihres Hin- und Herredens darüber, was eigentlich geschehen, war es oben wieder ganz still geworden. Die Hunde auf dem Hofe hatten sich auch nicht gerührt. Da waren die beiden zuletzt wieder eingeschlafen.

Beim ersten Morgengrauen machten sie sich auf den Weg.

Im Fortgehen erzählten sie den mittlerweile nach Hause gekommenen Knechten von den merkwürdigen Geräuschen, die sie in der Nacht im Zimmer über sich deutlich gehört hatten. Gleichmütig meinten die Knechte, es könne ja dem Alten auch wirklich irgend etwas zugestoßen sein; das viele Teetrinken nach der Schwitzbadstube passe doch kaum für so alte Leute. –

Mit Sonnenaufgang wurde es plötzlich sehr laut in dem sonst so stillen Hause.

Man erfuhr, daß der alte Stepan Iljitsch in der Nacht, bei einem Versuche aufzustehen, einen Schwindelanfall gehabt und schwer gefallen wäre. Die zufällig den Flur passierende Anna Aleksejewa habe das Geräusch des Falles gehört, sei ins Zimmer hineingegangen und habe den Alten bewußtlos auf der Diele gefunden. Aus Nase und Mund sei ihm so reichliches Blut geflossen, daß sich neben seinem Kopfe auf der Diele eine kleine Blutlache gebildet hätte. Unterstützt von Miron und Mischa habe sie dem Alten die nötige Hilfe erwiesen. Eine Magd, die gerade zu jener Zeit auf der Suche nach der Hausfrau die Tür zum Zimmer des Alten geöffnet, habe tatsächlich den Alten auf der Diele liegen gesehen, und Anna Aleksejewa mit Miron und Mischa um ihn beschäftigt. In vollem Schreck sei die Magd sofort davongelaufen. Der Alte wäre sodann von den Seinigen aufgehoben und ins Bett zurückgebracht worden. Als man ihm Gesicht und Hände mit kaltem Wasser von allen Blutspuren gereinigt, sei er allmählich wieder zu sich gekommen. Sobald er aber erfahren, was ihm passiert, habe er in hellem Aerger alle aus seinem Zimmer fortgeschickt. Er brauche jetzt niemandes Hilfe mehr, sie möchten alle sich nur wieder in ihre Betten scheren. Sollte er irgend etwas nötig haben, würde er schon mit seinem Stocke klopfen. Da hätten sie ihm seinen Willen getan und wären fortgegangen. Als sie aber des Morgens sein Zimmer betreten, hätten sie den Alten – tot in seinem Bett gefunden. Ganz still und friedlich schien er gestorben zu sein.

Der kleine Eckschrank aber, in welchem der Alte sein Geld, seine Wertpapiere, sein Testament, seine Wechsel und Schuldverschreibungen aufzubewahren pflegte, der habe den Seinen einen ungleich größeren Schreck eingejagt! Der Schlüssel, der nachts immer unter dem Kopfkissen des Alten lag, habe im Schloß gesteckt, die Tür des Schranks habe offen gestanden. Von Geld aber und Wertpapieren und von den meist in einer alten abgenutzten Brieftasche untergebrachten Schriftstücken – keine Spur! Nur das allen bekannte Blechkästchen mit dem Kleinsilbergelde sei im Schranke noch vorhanden gewesen.

Bald hatten sich alle Hausbewohner mit eigenen Augen überzeugt, daß der alte Stepan Iljitsch, der nie im Leben krank gewesen, jetzt kalt und starr auf seinem Bette lag, und daß sein bis jetzt so gut gehüteter Geldschrank vollständig ausgeraubt war. Ein Flügel des zum Garten gehenden Fensters stand offen, die eine Scheibe desselben erwies sich eingedrückt. Da es in später Nachtstunde stark geregnet hatte, waren das Fensterbrett und der Arbeitstisch des Alten noch ziemlich naß. Der Haufen alten Eisenkrams in der Nähe des Fensters war offenbar durchwühlt und teilweise auseinandergeworfen worden.

Natürlich wurde sofort ein reitender Bote zum Stanowoi Pristaw Stanowoi Pristaw heißt der Vorsteher eines Polizeidistrikts des Kreises. geschickt – mit der Meldung von dem großen Diebstahl und von dem plötzlichen Tode des alten Stepan Iljitsch. Der Stanowoi, dessen Wohnsitz kaum acht Werst entfernt war, traf schon im Laufe des Vormittags im Dorfe ein, in Begleitung eines Landgendarmen und einiger Dorfpolizisten.

Nach genauer Untersuchung des Zimmers des Toten und aller übrigen Räume des Hauses, des Dachbodens und Kellers, der Ställe und sonstigen Nebengebäude, ja des ganzen Hofes und Gartens, ließ der Stanowoi auch die Kisten und Schränke in Mirons Zimmern öffnen und durchsuchte die Habseligkeiten aller Knechte und Mägde. Nirgends fand sich eine Spur des Geraubten. Der Stanowoi mußte bald die Ueberzeugung gewinnen, daß vom Garten aus der Diebstahl schwerlich verübt sein konnte. Unter dem halboffenen Fenster und weiterhin auf den Gartenbeeten und Wegen waren keinerlei Fußspuren entdeckt worden. Ohne Leiter war das ziemlich hoch gelegene Fenster vom Garten aus nur zu erreichen, wenn einer der Diebe sich auf die Schultern des andern geschwungen hätte. Zur Ablenkung anderweitigen Verdachts konnte das Fenster natürlich auch von innen geöffnet, absichtlich die Scheibe eingedrückt, und der alte Eisenkram durcheinandergeworfen sein. Ebensowenig bot das Verhör aller Bewohner des Hauses und der beiden in der letzten Nacht dort beherbergten Handwerker, die durch sofort ausgesandte Boten eingeholt und ins Dorf zurückbefördert waren, irgend einen Anhalt zur Aufklärung des Diebstahls.

Unter solchen Umständen mußte natürlich der Verdacht entstehen, daß die im Hause lebenden Verwandten des Alten, sofort nach dem Tode desselben die Brieftasche mit Dokumenten und Wertpapieren und alles Bargeld heimlich beiseite geschafft hatten, dabei nur das unbequem fortzuschaffende Blechkästchen mit den Silbermünzen zurücklassend, – und daß eben diese Verwandten, das heißt Miron nebst Frau und Mischa, in gar zu plumper Weise den Anschein eines Diebstahls durch fremde Hand, etwa durch die damals im Hause übernachtenden Handwerker oder durch irgend welche andere Leute aus dem eigenen Dorf, hervorzurufen versucht hatten.

An der Leiche des alten Stepan Iljitsch fand der Stanowoi auf dem Gesicht einige kleine Hautabschürfungen und bläuliche Flecke, die ja wohl auch durch das Hinfallen des Alten hervorgerufen sein konnten, sonst aber nichts eigentlich Verdächtiges. In Berücksichtigung der ganzen Sachlage weigerte er sich aber doch, die Erlaubnis zur Beerdigung der Leiche zu erteilen. Er sandte einen Eilboten in die Stadt zum Untersuchungsrichter mit der dringenden Bitte, so schnell als möglich die gerichtlich-medizinische Sektion des Verstorbenen zu veranlassen. Im Zimmer des Toten wurden zwei Wächter installiert.

Verdächtig erschien dem Stanowoi die große Eile, mit der die Anverwandten die Leiche sofort von allen Blutspuren gereinigt und sauber gewaschen und angekleidet hatten. Nicht weniger verdächtig erschien ihm der Umstand, daß sie auch die Blutlache auf der Diele, die ja ihre Angaben über den Tod des Alten eigentlich nur bestätigen konnte, schon mitten in der Nacht durch Aufwaschen entfernt hatten. Auf den neuen weißen Dielenbrettern war nach diesem Aufwaschen eine ziemlich umfangreiche hellrote Fläche zurückgeblieben, in deren Mitte die ursprüngliche Form der dort vorhanden gewesenen Blutlache als reichlich handgroßer dunkelroter Fleck noch deutlich erkennbar war. Das zum Aufwaschen gebrauchte Wasser war teilweise durch die Ritzen der einfachen Bretterdiele in blutgefärbten Tropfen hindurchgeflossen, und hatte in dem darunter liegenden Zimmer des untern Stockes, wo die beiden Handwerker nächtigten, ebenfalls eine kleine Blutwasserlache gebildet; diese war ebenfalls in aller Frühe schon ausgewaschen worden, verriet sich aber trotzdem durch die nachgebliebene rötliche Färbung der Diele.

Ziemlich sonderbar erschien allen die Haltung der Magd, welche in der Nacht die Anverwandten bei dem auf der Diele liegenden Alten zufällig überrascht hatte. Beim Verhör war sie auffallend ängstlich gewesen, hatte unaufhörlich geweint, war aber dabei geblieben, daß sie nichts Schlimmes bemerkt habe.

Ebenso sonderbar erschien auch das eigentümlich aufgeregte und dabei doch scheue Gebaren des jungen Mischa, der sich nicht so gut wie seine Eltern zu beherrschen wußte.

Zu diesen mancherlei Verdachtsgründen kamen noch die von dem jüngeren Sohne des Stepan Iljitsch, von Fedor und dessen Familiengliedern, ziemlich unverhohlen gemachten Aeußerungen, daß Miron nebst Anna Aleksejewa und Mischa dem plötzlichen nächtlichen Tode des bisher stets gesunden Greises durchaus nicht fernständen, und daß dieses saubere Kleeblatt wohl auch ganz genau wisse, wo das Geld und alle Papiere aus dem Schranke des Alten hingekommen seien.

Dem Stanowoi war es allerdings gut bekannt, daß die beiden Söhne des alten Stepan Iljitsch und ihre Frauen und Kinder schon lange miteinander in Unfrieden lebten, ja einander bitter haßten, und daß daher die schlimmen Aeußerungen Fedors nicht ohne weiteres für bare Münze genommen werden durften. Auf alle Fälle sorgte er aber doch für unauffällige Ueberwachung der verdächtigen Familie. Miron, Anna Aleksejewa und Mischa erhielten die strenge Weisung, ihr Haus und das Dorf bis zum Eintreffen des Untersuchungsrichters nicht zu verlassen.

Unter solchen Umständen war es erklärlich genug, daß Mischa noch unruhiger und scheuer sich gab als am frühen Morgen, daß Mirons an sich schon blasses Gesicht noch um einige Schattierungen blässer und sein Rücken noch gebeugter erschien, und daß selbst die energische Anna Aleksejewa schon viel von ihrer anfangs noch so sicheren und selbstbewußten Haltung verloren hatte.

Mehrere Nachbarn sahen auf Miron und die Seinen schon wie auf unzweifelhafte Diebe und Mörder, obgleich noch niemand von ihnen einer wirklichen Schuld überführt war. In unsern Dörfern ist man unheimlich schnell dazu bereit, Stimmung zu machen und Partei zu ergreifen – für oder gegen seine eigenen Nachbarn und Bekannten.

Viertes Kapitel.

Schon Tags darauf um die Mittagszeit konnte die gerichtlich-medizinische Besichtigung und Sektion der Leiche vor sich gehen.

Als der Arzt den starken Vollbart des Toten nach oben über das Kinn zurückstrich, frappierte ihn und alle Anwesenden das Aussehen des Halses. In der Gegend des Kehlkopfs sah man auf beiden Seiten mehrere kleine Kratzspuren und Hautabschürfungen unregelmäßig gebogener oder halbmondförmiger Gestalt, auf denen hin und wieder noch etwas eingetrocknetes Blut haftete, und links vom Kehlkopf zwei rundliche, rötlichblaue Flecke von der Größe einer Fingerkuppe, die sich beim Anschneiden mit dem Skalpell als stark blutunterlaufen erwiesen, unzweifelhaft also noch vor Eintritt des Todes entstanden waren. Auf der Nackenseite des Halses fanden sich, hauptsächlich links, ebensolche kleine Kratzspuren und Hautabschürfungen mit eingetrockneten Blutresten, offenbar hervorgerufen durch die Fingernägel einer ausgewachsenen Menschenhand. Als der Arzt den Hals der Leiche mit seinen Händen dergestalt umspannte, daß beide Daumenenden auf den beiden rundlichen, rötlichblauen Flecken links vom Kehlkopf zu liegen kamen, trafen mehrere der Kratzspuren und Hautabschürfungen der Nackenseite des Halses mit dem Nagelrande seiner übrigen vier Finger genau zusammen. Dabei hatten die den Alten würgenden Finger, namentlich die Daumen, auf die Vorderseite des Halses einen so starken Druck ausgeübt, daß dort in der Tiefe des Muskelfleisches mehrere erbsen- und haselnußgroße, geronnene Blutergüsse entstanden waren. Im Hinblick auf diese Gewaltspuren am Halse erschienen nun auch die auf dem Gesicht des Toten schon vom Stanowoi bemerkten kleinen Merkmale in ganz anderem Lichte. Die kleinen, rundlichen, bläulichgefärbten und blutunterlaufenen Flecke in nächster Nähe beider Mundwinkel und die kleine, ebenfalls leicht blutunterlaufene Hautabschürfung auf der Nasenspitze, sie wiesen, unabhängig von den Würgespuren am Halse, auf Versuche gewaltsamer Verschließung des Mundes und der Nasenöffnungen durch fremde Hand. In der Nasenhöhle und im oberen Teil des Rachens fand sich eine ziemlich reichliche Menge geronnenen Blutes. In den Magen war kein einziger Tropfen dieses Nasenblutes gelangt, wohl aber fanden sich kleine Blutspuren im Innern des Kehlkopfs und der Luftröhre. Als dem Alten der Hals zusammengepreßt wurde, lag er auf dem Rücken, und konnte daher das Nasenblut, das ihm durch die hinteren Nasenöffnungen direkt in den Rachen geriet, nicht hinunterschlucken. Aber bei den krampfhaften Atmungsanstrengungen des Gewürgten waren einige wenige Tropfen dieses Blutes durch die Stimmritze doch noch in den Kehlkopf und die Luftröhre eingedrungen. Daß es zu reichlicher Nasenblutung gekommen war, bei der ungewöhnlichen Kraftanstrengung des um sein Leben ringenden Greises, der vor kurzem nach der Schwitzbadstube noch sehr viel heißen Tee getrunken hatte, das bedurfte ja keiner weiteren Erklärung. Daß die Nasenblutung ohne direkte Verletzung der Nase erfolgt war, wußten auch die Personen, die den Alten abwürgten. In ihrer Angst vor Entdeckung der eigentlichen Todesursache hatten sie sich nachher die ganz unnütze Mühe gemacht, die reichlichen Spuren dieser Blutung auf der Zimmerdiele nach Möglichkeit wegzuwaschen. Daß der Alte nicht von einer einzigen Person überwältigt worden war, sondern tatsächlich von mehreren Personen, die ihn am Halse würgten, Mund und Nase mit ihren Händen zu verschließen suchten und ihn gleichzeitig jeder Möglichkeit erfolgreicher Gegenwehr beraubten, darüber konnte ja kein weiterer Zweifel obwalten. Wenn er es nur mit einem Uebeltäter zu tun gehabt hätte, so wäre der selbst noch ziemlich kräftige Alte schwerlich unterlegen. Daß es trotzdem mit den Personen, die ihn zu würgen suchten, zu einem gewissen Kampfe gekommen, das bezeugte, auch ganz abgesehen vom Nasenbluten, der eingerissene Nagelrand seines linken Daumens mit dem in diesem Nagelriß eingeklemmten Haar aus seinem eigenen Bart, das bezeugte namentlich die ungewöhnlich hochgradige Entwicklung fast aller äußerer wie innerer Merkmale des Erstickungstodes nach längerem Todeskampf. Gewerbsmäßige Verbrecher hätten es verstanden, einen alten Mann viel schneller abzutun, und ihm einen unnötig langen Todeskampf zu ersparen. Aber die Personen, die Stepan Iljitsch erwürgten, erstickten, die waren ans Werk gegangen als gänzlich unerfahrene Neulinge. Daher das blutunterlaufene Aussehen der Schleimhaut der Augenlider und der Augäpfel, die bläuliche Verfärbung der Lippen und der mit ihrer Spitze an die zahnlosen Kieferränder fest angepreßten Zunge, die blutüberfüllten kleinen Adern der Kehlkopf- und Luftröhrenschleimhaut, der schaumige schwachrötliche Schleim in den weiteren Verzweigungen der Luftröhre, die starke Auftreibung des Lungengewebes, die reichliche Menge dunkelflüssigen Blutes im Herzen und den sich ins Herz ergießenden großen Blutadern! – Dabei ergab die Sektion nicht die geringste krankhafte Veränderung der Arterienwände, wie sie bei Greisen so häufig beobachtet wird, nicht die geringste apoplektische Blutung im Gehirn oder anderen Organen, überhaupt nicht die geringste Erkrankung irgend welcher innerer Körperteile. Der vierundneunzigjährige Greis war das Opfer gewaltsamer Erstickung geworden – bei einer trotz seines kahlen Kopfes und zahnlosen Mundes so gut erhaltenen Gesundheit des Gesamtorganismus, wie sie in so hohem Alter nur äußerst selten vorkommen dürfte.

Nach der Sektion wurde die sauber vernähte Leiche frisch angekleidet und eingesargt. Unmittelbar daran schloß sich die von der örtlichen Geistlichkeit in der Wohnung des Verstorbenen abgehaltene Seelenmesse. Zu dieser hatten sich natürlich zahlreiche Nachbarn und Neugierige herangedrängt. Unter ihnen stand Fedor mit Frau und Kindern – dem Sarge am nächsten. Ihre auffallend lebhaften Schmerzäußerungen schienen indes auf die Anwesenden nur wenig Eindruck zu machen. Nach Miron und den Seinen schauten die Versammelten vergebens aus. Die hielten sich abseits in ihren Wohnräumen.

Noch während der Seelenmesse erschien ganz unerwartet der Oberprokureur des Bezirksgerichts, der aus der Gouvernementsstadt eigens herübergeeilt war, um bei Einleitung der gerichtlichen Untersuchung dieses schweren, im Schoße einer allbekannten und ungemein reichen Familie verübten Verbrechens selbst zugegen zu sein.

Nach Beendigung der Seelenmesse ließ er sich vom Arzt die bläulichen Druckflecke am Halse und in der Nähe des Mundes und die übrigen Kratzspuren und Hautabschürfungen im Nacken und Gesicht eingehend demonstrieren. Auch an der schon eingesargten Leiche illustrierten diese Merkmale in sehr beredter Weise das Gutachten des Arztes: Tod infolge gewaltsamer Erstickung und Erwürgung unter Beteiligung mehrerer Personen.

Auch an dem Verhör der wichtigsten Zeugen und irgendwie in dieser Sache interessierter Personen durch den Untersuchungsrichter – beteiligte sich der Oberprokureur, manche der in den Polizeiprotokollen notierten Einzelheiten persönlich kontrollierend. Das Endresultat all dieser Verhörsprozeduren schien niemanden im Dorfe sonderlich zu überraschen: noch an demselben Tage wurden Miron und Anna Aleksejewa und ihr Sohn Mischa unter dem dringenden Verdacht der Ermordung des alten Stepan Iljitsch in das Gefängnis der Kreisstadt abgefertigt.

Im Dorfe aber genoß man noch am Nachmittag desselben Tages wieder das Schauspiel, den uralten Stepan, den Dorfkrösus, der sich so oft und zuletzt noch vor zwei Tagen auf seinem bequemen Matratzenlager in der wohligsten Stimmung und mit hochrotem Gesicht aus der Badstube hatte nach Hause tragen lassen, wieder durch die große Dorfstraße dahingetragen zu sehen. Aber diesmal lag Stepan Iljitsch im offenen Sarge mit blassem, entstelltem Angesicht und geschlossenen Augen. Und der auf den Schultern der Träger schwankende Sarg, geleitet von einer zahlreichen, barhäuptig in ernstem Schweigen dahinschreitenden Volksmenge, verließ das große, jetzt verödete Haus diesmal in der Richtung zur Kirche, unter langsam dahinhallenden Glockentönen.

Den sie da feierlichst zur Kirche trugen, zur letzten Station auf dem Wege zur ewigen Ruhe im Schoße des kleinen, von hohen Linden beschatteten Friedhofs, – der hatte sich trotz seiner 94 Jahre durchaus noch nicht danach gesehnt, der Bürde des Lebens ledig zu werden. Der große Reichtum an Geld und Gut, den er von Jugend auf gemehrt und in fester Hand gehalten, hatte dem noch rüstigen und arbeitsfrohen Greise – den Tod gebracht, den Tod durch Erwürgung. Und erwürgt hatten ihn nicht fremde Einbrecher und Raubmörder, sondern die nächsten Blutsverwandten, damit ihr reiches Erbe bei zu langer Lebensdauer des Alten keine weitere Schmälerung erleide. Sein Gold war zum Fluche geworden an ihm selbst und seinen Nachkommen.

Fünftes Kapitel.

Mischas der Mutter gegenüber geäußerter Wunsch, nach dem Tode des Großvaters, aus Furcht vor dem Toten, in einem andern Hause wohnen zu wollen, war schnell genug in Erfüllung gegangen. Aber dieses Haus war ein alter, von hohen Mauern umgebener Steinbau mit festvergitterten Fenstern. Und entzogen war ihm zudem noch in diesem düstern Hause der Trost des Zusammenbleibens mit den Seinen, mit der Mutter, waren doch alle drei des Mordes Angeschuldigten, Vater und Mutter und er selbst, in besonderen Räumen untergebracht und jeder Möglichkeit eines Verkehrs miteinander beraubt worden.

Die Untersuchungshaft zog sich sehr in die Länge.

Das trostlose Einerlei des Gefängnislebens mit seinen mancherlei Entbehrungen wirkte auf Mischa und seine Mutter bei ihrer guten Konstitution und festen Gesundheit nicht allzu ungünstig. Miron aber, den schon zu Hause ein hartnäckiges Brustübel geplagt hatte, wurde während der Haft, schon durch den Mangel an Bewegung und frischer Luft, schnell genug noch kurzatmiger, noch schwächer. Nur im Beginn der Haft, als es galt, seine und der Seinen Verteidigung vor dem Schwurgericht in möglichst einflußreiche und geschickte Hände zu legen, äußerte er noch eine gewisse Energie. Er ruhte nicht eher, als bis es ihm gelungen war, einen ihm persönlich bekannten Gutsbesitzer mit der Verteidigung zu betrauen. Es war das einer der reichsten Männer des Kreises, aus altadliger Familie, zugleich Jurist vom Fach und beeidigter Advokat, der nur ab und zu in größeren Sachen bei den Petersburger Oberbehörden die Vertretung oder Verteidigung zu führen pflegte, in der Provinz aber ein derartiges Mandat nur äußerst selten annahm. Mit diesem reichen Gutsbesitzer hatte Miron im Kontor des Gefängnisses mehrere Unterredungen. Schließlich sicherte er ihm die Summe von zehntausend Rubeln zu, wenn es ihm gelingen sollte, für alle drei Angeschuldigten einen Freispruch zu erwirken. Bei seiner Wohlhabenheit und bei der Schwere des ihm und den Seinen zur Last gelegten Verbrechens fand Miron diese Summe eigentlich auch gar nicht so besonders hoch, schon weil ja dieser von ihm bestellte Verteidiger von sich aus noch einige medizinische Autoritäten als Sachverständige heranziehen wollte und die Verteidigung Mischas einem Kollegen zu überlassen gedachte. In Aussicht genommen war als solcher ein anderer angesehener Gutsbesitzer, der einen einflußreichen Posten in der Verwaltung des Kreises bekleidete, dabei aber ebenfalls die Führung mancher Sachen in Petersburg zu übernehmen pflegte und damals es auch zuweilen nicht verschmähte, zu Hause in der Kreisstadt in der Kriminalabteilung des Bezirksgerichts als Verteidiger aufzutreten.

Nachdem diese Angelegenheit nach seinen Wünschen geordnet war, hatte Miron sich weiter um nichts mehr gekümmert. Allmählich war er in völlige Apathie versunken.

Ende Dezember mußte er in Rücksicht auf seinen sich von Tag zu Tag verschlechternden Gesundheitszustand in die Krankenabteilung des Gefängnisses übergeführt werden. Die Uebersiedlung in das Krankenzimmer, das er mit vier andern leichteren Kranken zu teilen hatte, ließ er, ohne es selbst gewünscht zu haben, über sich ergehen.

Der Oelanstrich der Diele dieses Zimmers, das Luftfensterchen in einem der beiden Fenster und der kleine Schornsteinventilator oberhalb des Ofens, die einfache Waschvorrichtung unweit der Tür, die fünf eisernen Betten mit ihren Strohmatratzen, ziemlich harten Kopfkissen, groben Leinlaken und rauhen Wolldecken, die kleinen Schränkchen neben den Betten mit Arzneigläsern, Löffeln, Speischalen und sonstigem Zubehör, am Kopfende jedes Bettes das schwarze Blechschildchen mit dem Namen des Patienten, seinem Aufnahmedatum und lateinischer Bezeichnung der Krankheit in weißer Kreideschrift, und über dem Schildchen sauber gefaltet der obligate Krankenbogen, all das hätte den Eindruck eines Krankenzimmers eines gewöhnlichen, etwas ärmlich dotierten Lazaretts gemacht, wenn nur nicht die kahlen weißgetünchten Wände und die auffallend hoch angebrachten und vergitterten Fenster dem Raum seinen vollen Gefängnischarakter gewahrt hätten.

In diesem Krankenzimmer hatte Miron Weihnachten und Neujahr und den ganzen Januarmonat verbracht. Zur Brustwassersucht hatte sich allgemeine Wassersucht mit Affektion der Nieren gesellt. Zum Erbarmen sah er aus, das Gesicht gelblich grau und äußerst verfallen. Halb liegend, halb sitzend verbrachte er die Tage und Nächte bei stetig wachsender Atemnot. Speise und Trank ließ er fast ganz unberührt. Am meisten litt er durch die absolute Schlaflosigkeit, die allen Mitteln trotzte. Mit niemandem redete er. Nie äußerte er das Verlangen, seine Frau, seinen Sohn zu sehen, obgleich jene auf die Kunde von der erheblichen Verschlimmerung seines Zustandes schon mehrmals gebeten hatten, zu ihm gelassen zu werden. Zu seinem finstern Vorsichhinstarren ließ er sich auch nicht beeinflussen durch den Zuspruch des jungen Gefängnispriesters, der die Arrestanten, und namentlich die Kranken unter ihnen, öfters zu besuchen pflegte, ja ließ den Priester sogar merken, daß ihm seine Besuche unangenehm und lästig seien.

Bei dem rapiden Fortschritt seiner Krankheit und dem täglich ärger werdenden Verfall seiner Kräfte war er sich indes zu Anfang Februar völlig klar darüber geworden, daß er dieses Krankenzimmer und das Gefängnis lebend nicht mehr verlassen werde, daß seine Tage gezählt seien. Oefters sah man jetzt Tränen in seinen Augen, für den Zuspruch des Priesters wurde er zugänglicher. Und plötzlich überraschte er den Priester sogar mit der Bitte, daß er gern beichten und das Abendmahl nehmen wolle.

Da es augenscheinlich bald mit ihm zu Ende ging, säumte der Priester auch keine Minute, dieser Bitte zu willfahren. Die übrigen Kranken wurden aus dem Zimmer entfernt. Der Sterbende blieb allein mit dem Priester ...

Als nach einer geraumen Zeit der Priester die Tür öffnete und die Frau und den Sohn Mirons, die im Gefängniskorridor gewartet hatten, näher heranwinkte, lag der Sterbende still auf dem Rücken, die Augen auf das kleine Heiligenbild oben in der Zimmerecke gerichtet und mit schwacher zitternder Hand sich mühsam bekreuzigend. Dabei schimmerte auf seinem finstern Gesicht ein schwacher Abglanz inneren Friedens! Doch als sein Auge die Frau und den Sohn streifte, die leise ins Zimmer getreten und an seinem Betts stumm in die Kniee gesunken waren, wandte er mit dem letzten Rest seiner Kräfte das Gesicht zur Wand ... der Körper streckte sich, es war zu Ende! ...

Miron erhielt natürlich nicht das in den Gefängnissen übliche Armenbegräbnis auf Staatskosten. An seinem Sarge, der in der Gefängniskirche aufgebahrt war, fanden die üblichen Seelenmessen unter genauer Beobachtung aller kirchlichen Gebräuche statt. Und als der Sarg aus der Gefängnispforte hinausgetragen wurde, nahm ihn die draußen harrende Geistlichkeit seiner heimischen Dorfkirche in Empfang, und geleitete ihn feierlichst nach Hause – auf weitem einsamen Wege. Im Dorfe nahm ihn derselbe kleine Kirchhof auf, in dessen Erde sein alter Vater vor einem halben Jahre zur ewigen Ruhe gebettet worden war.

Damals prangte der Kirchhof noch in seiner grünen Rasendecke, damals rauschten noch die vom Frühherbst kaum erst berührten Blätter der alten Kirchhofsbäume. Als Mirons Sarg in die Gruft hinabgesenkt wurde, deckte den Kirchhof das weiße Leichentuch frisch gefallenen Schnees, grell beleuchtet von der Wintersonne, die ungehindert durch die laublosen Baumkronen auf die verschneiten Grabhügel und Holzkreuze herniederstrahlte.

Was Miron auch am Vater gefrevelt haben mochte, es war gesühnt durch seinen Gefängnistod! Vater und Sohn, die Grab und Gefängnis ein halbes Jahr hindurch von einander getrennt hatten, sie lagen jetzt friedlich nebeneinander, weit entrückt allem Fluche des Goldes, weit entrückt dem Spruche der irdischen Gerechtigkeit.

Sechstes Kapitel.

Der gewaltsame Tod des alten Dorfkrösus hatte sich weit und breit herumgesprochen. Unablässig wurde er, von Berufenen und Unberufenen, aufs lebhafteste diskutiert. Die Verteidiger hatten Zeit genug, ihrerseits Tatsachen und Zeugenaussagen heranzuziehen, die in der einen oder andern Weise zur Entlastung ihrer Klienten beitragen konnten. Dabei fiel natürlich der Reichtum der angeklagten Familie und das Ansehen und die einflußreiche Stellung ihrer beiden Verteidiger noch sehr ins Gewicht, sowie deren persönliche Bekanntschaft mit vielen zum örtlichen Geschworenenbestande gehörenden Personen. Es kam daher für alle Beteiligten die Verfügung der obersten Gerichtsbehörde, diese Sache gar nicht in der örtlichen Kreisstadt zu verhandeln, sondern in das Bezirksgericht der Gouvernementsstadt überzuführen, nicht besonders überraschend.

Nach dem Tode Mirons mußten Anna Aleksejewa und Mischa noch weitere acht Monate Untersuchungshaft über sich ergehen lassen.

Erst Mitte November kam es zur Schwurgerichtsverhandlung ihrer Sache – in der Gouvernementsstadt.

Als der Kreisarzt, der vor 14 Monaten die Sektion der Leiche gemacht und daraufhin als Expert vorgeladen war, im Gerichtsgebäude erschien, fand er die aus Petersburg ebenfalls als Sachverständige vorgeladenen medizinischen Autoritäten schon vor. Die ihm persönlich gut bekannten Verteidiger beeilten sich, ihn sofort mit beiden Kollegen bekannt zu machen. Der eine von ihnen war ein alter pensionierter Professor der gerichtlichen Medizin, der andere ein in Petersburg ansässiger Arzt in besten Jahren, der zur Zeit in einem medizinischen Institut als Dozent für gerichtliche Medizin fungierte, früher jedoch einige Zeit als Stadtarzt gedient und in solcher Stellung einst selbst gerichtlich-medizinische Leichenobduktionen gemacht und Gutachten abgegeben hatte. Natürlich fing man sogleich an, den heute vorliegenden, medizinisch ziemlich interessanten Fall miteinander zu besprechen. Dieser kollegiale Meinungsaustausch zwischen den drei Experten führte aber zu keinem andern Resultat, als daß der Kreisarzt über die Hauptpunkte des Angriffs, den die Petersburger Experten auf sein vor 14 Monaten abgegebenes Gutachten zu richten gedachten, im voraus informiert wurde, und sein heute abzugebendes Gutachten danach einrichten konnte. Den Ansichten, welche die beiden Kollegen, namentlich der alte Professor, sich über den Fall gebildet hatten, konnte er unmöglich zustimmen, und verhehlte ihnen auch durchaus nicht seine Absicht, sein früher schriftlich abgegebenes Gutachten auch heute in vollem Umfange aufrecht zu erhalten.

Der große Saal des Bezirksgerichts war gefüllt bis auf den letzten Platz.

An der auf der Anklagebank sitzenden Anna Aleksejewa und ihrem Sohne Mischa war, trotz der ziemlich robusten Gesundheit beider, die lange Untersuchungshaft doch nicht spurlos vorübergegangen. Namentlich Anna Aleksejewa hatte sichtlich gealtert; ihr Haar war vollständig ergraut, ihr Gesicht von zahlreichen Runzeln durchfurcht und dabei von gelblichblasser Färbung. Ziemlich blaß erschien auch Mischa. Die Haltung beider war aber ziemlich ruhig und zuversichtlich.

Das Zeugenverhör, das bis tief in den Nachmittag hinein dauerte, bot an sich nur wenig Wesentliches, das dem Leser dieser Blätter etwa noch unbekannt oder von besonderem Interesse gewesen wäre. Der weitaus größere Teil der Zeugen unterstützte die Anklage, wenn auch – der Natur des Falles entsprechend – meist nur in indirekter weise. Besonderes Interesse erweckten im Publikum die Aussagen der beiden Handwerker, die damals im unteren Stock des Hauses, genau unter dem Zimmer des Alten, genächtigt hatten, und mitten in der Nacht durch allerlei unheimliche Geräusche und Tritte mehrerer Personen im Zimmer über sich aus dem Schlaf geweckt worden waren, – sowie die Aussage der Dienstmagd, die in jener Nacht die Hausfrau aufgesucht hatte, um sie in Betreff des den nächtlichen Drescharbeitern zu bereitenden Frühstücks zu sprechen. Da sie in Mirons Wohnung weder die Hausfrau noch sonst jemanden vorgefunden, im Zimmer des Alten aber etwas Geräusch zu hören geglaubt, habe sie die Tür jenes Zimmers geöffnet und dabei den auf der Diele liegenden Stepan Iljitsch erblickt und neben ihm und auf ihm – Anna Aleksejewa und Miron und Mischa. Der letztere habe ein brennendes Licht in der Hand gehalten. Was eigentlich die drei damals mit dem Alten gemacht, habe sie, bei der spärlichen Beleuchtung und selbst sehr erschrocken durch den unerwarteten Anblick, nicht genau sehen können. Sie sei ja auch sofort von der Hausfrau angeschrieen und fortgeschickt worden. – Einige Zeugen betonten in ihren Aussagen, daß der hochbetagte Greis ihnen in letzter Zeit doch etwas schwächer und hinfälliger als früher erschienen sei, trotzdem aber nach wie vor die oft übermäßig heiße Badstube besucht habe, daß also sein plötzlicher Tod auch ein ganz natürlicher gewesen sein könne, wieder andere vorgeladene waren bestrebt, die Glaubwürdigkeit sowohl dieser als auch mancher anderer Zeugen zu diskreditieren. Zuletzt kam das Sektionsprotokoll zur Verlesung.

Während der hieraus folgenden zweistündigen Mittagspause dinierten die Verteidiger mit den Petersburger Experten und einigen andern Herren im ersten Restaurant der Stadt. Bei dem opulenten Diner fehlte es natürlich auch nicht an gutem Champagner. Man war in vorzüglicher Laune, und das um so mehr, als der alte Professor mehrmals äußerte, daß er ein schuldigsprechendes Verdikt der Geschworenen für ganz unmöglich halte. Daraufhin genehmigte man sich noch ein Extrafläschchen des schäumenden Nasses.

Als gegen 7 Uhr abends das Gericht sich wieder versammelt hatte, gaben die drei Experten auf Befragen des Präsidenten die Erklärung ab, daß sie zu keiner Einigung ihrer Ansichten gekommen seien. So wurde dann zuerst dem Kreisarzt das Wort erteilt, während die Petersburger Experten sich vorläufig zurückzogen.

Rücksicht nehmend auf die Nichtmediziner unter den Lesern dieser Blätter, sollen die Reden der Experten hier nur in sehr verkürzter Form wiedergegeben werden. Die Geschworenen, auf welche diese Reden doch hauptsächlich berechnet waren, hatten ja auch nur für die völlig populär gehaltenen Teile derselben genügendes Verständnis.

Der Kreisarzt wandte die Aufmerksamkeit der Geschworenen auf die unzweifelhaften äußern und innern Zeichen des Erstickungstodes, die er an der Leiche des alten Iljitsch im vorigen Herbst gefunden, und namentlich auf die vielfachen Spuren äußerer Gewalt auf der Haut des Halses und Nackens und an Mund und Nase. Dann hob er hervor, daß die äußerst stark entwickelten Zeichen des Erstickungstodes in den Atmungsorganen, das reichliche Nasenbluten, der frisch eingerissene Daumennagel mit dem in diesen Nagelriß eingeklemmten Barthaar des Alten an seiner linken Hand, mit der er die Finger der Würger von seiner Kehle zu entfernen versucht hatte, – dafür sprechen, daß der Alte, trotzdem er von mehreren Personen überwältigt wurde, nicht ganz plötzlich, sondern erst nach einiger Gegenwehr erstickt sei, und daß die Erstickung bewirkt worden durch Zusammenpressen des Halses mit beiden Händen und durch Verschluß des Mundes und der Nasenöffnungen. Alle inneren Organe wären bei diesem fast hundertjährigen Greise ausnahmsweise so gesund erschienen, wie sonst nur bei einem gesunden Manne von einigen fünfzig Jahren. Ihm selbst wäre damals dieser Befund nicht sonderlich überraschend gekommen. Er habe den Verstorbenen persönlich gekannt, habe ihn mehrmals bei sich empfangen, nicht als Kranken, sondern aus Anlaß der Dienstpflicht einiger jungen Leute seiner Verwandtschaft, das letzte Mal nur wenige Monate vor seinem Tode. Er habe da immer den Eindruck gewonnen, daß diesem rüstigen, arbeitsamen und äußerst einfach lebenden Greise, der sich zudem während seines ganzen Lebens den Genuß des Tabaks und irgendwelcher spirituöser Getränke versagt hatte, der Tod gewiß noch sehr fern stehe. – Andererseits bereitete er die Geschworenen darauf vor, daß die Petersburger Experten sie darüber belehren würden, wie bei alten Leuten, infolge der gewöhnlich schon entarteten und brüchig gewordenen Arterienwände, ganz von selbst plötzlich kleine innere Blutungen oder plötzliche Verstopfungen der Blutgefäße des Herzens und der Lunge auftreten und von sich aus auch eine Art Erstickungstod herbeiführen könnten, – und daß sich in solchen Fällen am Halse auch kleine zufällige Hautverletzungen vorfinden könnten, hervorgebracht durch die eigenen Fingernägel, wenn die von einem derartigen Erstickungsanfall Betroffenen im Todeskampf sich instinktiv an die Kehle gegriffen oder den Hemdkragen zu öffnen versucht hätten. Ferner würden jene Experten die Geschworenen auch noch darüber aufklären, daß im Sektionsprotokoll des Kreisarztes die Kratzspuren, Hautabschürfungen und Blutunterlaufungen am Halse und im Nacken und Gesicht nicht ausführlich genug und in zu wenig wissenschaftlicher Weise beschrieben seien, so daß man beim Lesen dieses Protokolls kein klares Bild erhalte, ob diese Spuren äußerer Gewalt von instinktiven Selbstverletzungen während eines zufälligen Erstickungsanfalls, oder von fremder Mörderhand herrühren. Gegenüber solchen Ausführungen jener Experten bitte er die Geschworenen nur daran festzuhalten, daß bei der Sektion dieses kerngesunden alten Mannes die Arterien, die Schlagadern sich ebenso gesund erwiesen, wie alle übrigen Organe, daß also auf diesem Wege hier kein tödlich verlaufender Erstickungsanfall zustande kommen konnte. – In Bezug auf die Kritik seines Sektionsprotokolls wolle er gern zugeben, daß er seine dienstlichen Sektionsprotokolle allerdings nicht so ausführlich und streng wissenschaftlich abfasse, wie er dergleichen Protokolle als Student des letzten Kursus oder zum Doktorexamen verfaßt habe, daß er sich in seinen Sektionsprotokollen während der zwanzig Jahre seines Kreisarztdienstes gewöhnlich einer gewissen Kürze befleißige und nach Möglichkeit mehr populäre Worte und Wendungen gebrauche, die dem Gericht und namentlich den Geschworenen leichter verständlich wären, ihm aber bis setzt noch nie von seiner medizinischen Oberbehörde oder von seiten der Prokuratur eine abfällige Bemerkung zugezogen hätten. Aber nie und nimmer könne er zugeben, daß die Spuren äußerer Gewalt, die er am Halse des alten Stepan Iljitsch gefunden, von zufälligen Kratzverletzungen durch die eigenen, im Todeskampf an der Kehle herumzerrenden Finger des Sterbenden hervorgerufen seien. Denn es handele sich hier um deutliche Fingerspuren nicht nur am Halse, sondern auch im Nacken und zu beiden Seiten des Mundes und auf der Nasenspitze. Auch seien es ja nur zum kleinsten Teil Kratzspuren, zum größten Teil kräftige Hautabschürfungen und rundliche blutunterlaufene Flecke, das heißt unleugbare Druckspuren, und zwar eines Druckes von solcher Stärke, daß es in der Tiefe des Halsfleisches an diesen Druckstellen sogar noch zu besonderen, erbsen- bis haselnußgroßen Blutergüssen gekommen war. Wenn er zugebe, daß solche starke Druckspuren auch von zufälligen Verletzungen durch die an der Kehle herumzerrenden Finger des Sterbenden herrühren könnten, so müsse er schlankweg auch den Unsinn zugeben, daß der leiblich und geistig völlig gesunde Greis sich absichtlich selbst den Tod gegeben, sich mit seinen eigenen Händen erstickt und erwürgt habe! Ein Tod solcher Art würde selbst in den Annalen der Irrenhäuser schwerlich jemals zu finden sein.

Die Geschworenen waren der Rede des Kreisarzts aufmerksam gefolgt. Ihren Mienen nach zu urteilen, schienen seine Ausführungen sie befriedigt zu haben.

Siebentes Kapitel.

Der jetzt im Saal erscheinende Professor begann seine Rede tatsächlich, wie es der Kreisarzt den Geschworenen schon vorausgesagt, mit einer gelehrten Auseinandersetzung über die plötzlichen Todesfälle bei alten Leuten infolge der spezifischen Greisenveränderungen in den Arterien wichtiger innerer Organe, und über die bei ihnen infolge plötzlicher Verstopfung der Herzarterien zuweilen auftretenden, von großer Erstickungsnot begleiteten, plötzlichen Störungen der Respiration und Zirkulation, denen die davon Betroffenen oft überraschend schnell erliegen. Der Vierundneunzigjährige scheine ja in mancher Hinsicht noch recht rüstig gewesen zu sein. Immerhin sei aber auch er den allgemeinen Naturgesetzen unterworfen gewesen, nach welchen die verschiedenen Organe unseres Leibes eine bestimmte Zeit normal funktionieren, von gewissen Zeitpunkten an aber sich abzunutzen pflegen und schließlich, wenn nicht mehr leistungsfähig, den mehr oder weniger plötzlichen Tod des Gesamtorganismus veranlassen. Es gehe eben den einzelnen Organen unseres Leibes wie den Räderchen eines Uhrwerks, die sich zuletzt doch auch so weit abnutzen, daß das Werk zum Stillstand kommt. – Er für sein Teil glaube nicht an das an dem hochbetagten Manne verübte Verbrechen. Er halte es für weit wahrscheinlicher, daß bei dem Alten in jener Nacht, nach dem Schwitzbad und dem reichlichen Teegenuß, plötzlich gefährliche Blutkongestionen im Kopf und in der Brust entstanden, daß er dadurch zum Aufstehen veranlaßt und, von Schwindel und Erstickungsangst ergriffen, zu Boden gefallen sei. Das gleichzeitig aufgetretene starke Nasenbluten habe ihm keine Erleichterung gebracht. Schon halb bewußtlos habe er doch instinktiv versucht, den Kragen seines Hemdes zu öffnen, und sich dabei die Halshaut stellenweise zerkratzt und sonst verletzt. Schnell genug wäre danach der Tod eingetreten, teilweise tatsächlich ein Erstickungstod, aber kein gewaltsamer! Er habe ja die sogenannten Gewaltspuren an der Leiche selbst nicht gesehen, er könne nur urteilen nach der sehr oberflächlichen und ziemlich unwissenschaftlichen Beschreibung derselben im Sektionsprotokoll des Kreisarzts. All diese Spuren halte er für seine Person nur für rein zufällige Verletzungen durch die eigenen, im Todeskampf am Halse herumzuckenden Finger des Alten. Bei dieser Gelegenheit habe auch einer seiner greisenhaft brüchigen Nägel am Rande einen Riß erlitten, und sei eines seiner Barthaare zufällig in diesen Riß eingeklemmt worden. Die anderen Spuren im Nacken und Gesicht erkläre er sich durch den Fall des Alten auf den Fußboden des Zimmers, wobei er sich ja auch an irgend einem in der Nähe befindlichen Gegenstands etwas verletzt haben könne. – Er schloß seine Rede mit der etwas seltsamen Wendung, daß ihm selbst, bei seinem Alter, vielleicht auch bald ein solch plötzlicher, aber ganz natürlicher Tod unter hochgradigem Erstickungsgefühl bevorstehe, und er dabei sich auch im Todeskampfe instinktiv die Halshaut etwas beschädigen könnte. Er möchte sich daher schon im voraus dagegen verwahren, daß in solchem Fall irgend ein seine Leiche besichtigender Stadtarzt oder Kreisarzt am Ende auch ein Gutachten abgeben könnte – auf Erstickung oder Erwürgung durch fremde Hand! –

Des Professors medizinisch wie dialektisch recht interessante Rede, in welcher den Zuhörern auch die obligaten, aus dem Griechischen und Lateinischen stammenden Fachausdrücke nicht erspart blieben, würde vielleicht in einem Petersburger Gerichtssaal einen ungleich bessern Erfolg gehabt haben. Hier in der Gouvernementsstadt schien seine Expertise auf die Geschworenen nur geringen Eindruck zu machen. Freilich waren seine Ausführungen schon dadurch etwas beeinträchtigt worden, daß der Kreisarzt die Hauptzüge derselben den Geschworenen vorausgesagt und sich gegen einige seiner Schlüsse sehr energisch verwahrt hatte. Mit dem unbeabsichtigten Heiterkeitserfolg, den der Schlußpassus seiner Rede im ganzen Saale hervorrief, schien der Professor selbst nicht ganz zufrieden zu sein.

Der zweite Petersburger Expert hielt darauf dem Gericht und den Geschworenen eine kleine Vorlesung über die verschiedenen innern Zeichen des Erstickungstodes im allgemeinen, und über die Abhängigkeit dieser Zeichen von dem Umstande, ob der Tod im Moment einer Einatmung oder Ausatmung erfolgt sei. In dem Sektionsprotokolle seien Erscheinungen angeführt, die dem Tode im Moment der Einatmung und Ausatmung gleichzeitig entsprächen. Er könne diese Erscheinungen daher nicht ohne weiteres als unzweifelhafte Zeichen eines plötzlichen Erstickungstodes ansehen, sondern eher als Beweise dessen, daß der Tod durch irgend einen, mit hochgradiger Erstickungsnot verbundenen, plötzlichen Krankheitsanfall hervorgerufen sei, – und schließe er sich so weit den Ausführungen des Professors vollkommen an. Er getraue sich aber nicht, so unbedingt wie es der Professor getan, jede Möglichkeit eines gewaltsamen Erstickungstodes auszuschließen. Nur wenn er selbst bei der Sektion zugegen gewesen wäre, würde er sich berechtigt halten, unter Umständen den gewaltsamen Erstickungstod des Alten für unmöglich zu erklären. Und hätte der Kreisarzt die Gewaltspuren an Hals, Nacken und Gesicht ausführlicher und wissenschaftlich genauer protokolliert, so würde er heute vielleicht in der Lage sein, die Möglichkeit eines gewaltsamen Erstickungstodes auch von sich aus zugeben zu können. Solch blutunterlaufene Flecke am Munde und Halse mit haselnußgroßen Blutergüssen im Muskelfleisch des Halses, wie sie der Kreisarzt bei der Sektion gefunden haben will, könne man wohl kaum als zufällige Selbstverletzungen durch die eigenen Finger des Sterbenden gelten lassen.

Bei den Schlußworten seiner Rede hatten einige der Geschworenen zustimmend mit dem Kopfe genickt.

Damit endeten die Reden der Sachverständigen. Ein weiteres Wortgefecht fand zwischen ihnen nicht statt. Auch wurden keinem der Herren, weder vom Gerichtspräsidenten und Prokureursgehilfen, noch von den Verteidigern und Geschworenen irgendwelche besondere Fragen gestellt.

Der Prokureursgehilfe erhielt das Wort.

Soweit die im vorliegenden Fall so äußerst wichtige gerichtsärztliche Expertise in Betracht kommen mußte, suchte er in äußerst gewandter und taktvoller Weise die verschiedenen Standpunkte, von denen aus die drei Experten den Fall in so verschiedener Weise beurteilten, zunächst zu präzisieren, wobei er jedem der Herren ein vollgerüttelt Maß an Ehre und Dank zukommen ließ für ihre Bemühungen zur Erforschung der wahren Todesursache in diesem immerhin etwas ungewöhnlichen Falle. Dann sprach er die Vermutung aus, daß im Fall eines erst nach längerem Todeskampf erfolgenden Erstickungstodes alle inneren Zeichen solchen Todes, unabhängig davon, ob der Tod im Moment der Einatmung oder Ausatmung erfolgt sei, im Leichnam doch wohl auch nebeneinander angetroffen werden könnten. Sei das erst einmal zugegeben, so finde er keinen sehr großen Unterschied zwischen der Ansicht des zweiten Petersburger Experten und des örtlichen Kreisarzts. Für die Möglichkeit eines gewaltsamen Todes hätten somit zwei der Experten sich ausgesprochen, der Herr Professor sei mit seiner Ansicht über die totale Unmöglichkeit des Erstickungstodes durch äußere Gewalt in der Minderheit geblieben. Er selbst, als Vertreter der Anklage, gebe voll und ganz der Auffassung des Kreisarztes den Vorzug, des Arztes, der den Verstorbenen persönlich gekannt und die Obduktion der Leiche selbst gemacht habe, und den das Bezirksgericht seit zwanzig Jahren als guten Obduzenten und zuverlässigen Gerichtsarzt kenne. – Dann sprach er über die klar zu Tage liegenden Motive des Verbrechens, und über die Beteiligung aller drei Angeschuldigten an der Ermordung des Alten, der, selbst noch kräftig genug, von einem einzigen Gegner nie und nimmer hätte zu Tode gewürgt werden können. Die Angeklagten hatten ohne direkte Zeugen gehandelt. Man könne also über die Rolle, die ein jeder von ihnen bei der Verübung des Mordes gespielt habe, verschiedener Meinung sein. Der Alte konnte während der Ausraubung seines Geld- und Dokumentenschranks zufällig erwachen, und mußte dieses Erwachen dann mit seinem Leben bezahlen! Oder die Angeklagten haben zufällig vom Flur oder ihrer Wohnung aus gehört, wie der Alte in seinem Zimmer zu Boden gefallen, und haben dann, als sie ihn in seinem Zimmer ohnmächtig liegen sahen, die gute Gelegenheit benutzt, und ihm vollends den Rest gegeben! Oder die Angeklagten haben in jener Nacht, wo ihre Leute beim Dreschen beschäftigt und sie allein zu Hause geblieben waren, sich in das Zimmer des Alten geschlichen, um ihn im Schlaf zu ersticken; dabei ist der Alte aber erwacht und hat sich seines Lebens zu wehren gesucht, bis er schließlich durch die vereinten Kräfte seiner Gegner zu Boden geworfen und von ihren Händen erstickt und erwürgt wurde! – Eigentlich sei es ja aber ganz unnötig, auf die Art und Weise, wie das Verbrechen ins Werk gesetzt wurde, einzugehen. Es sei nur nötig, den Beweis zu erbringen, daß der Alte eben keines natürlichen Todes gestorben, sondern gewaltsam erstickt und erwürgt worden sei – von seinen eigenen nächsten Blutsverwandten. Seiner Ansicht nach sei dieser Beweis im Laufe der heutigen Verhandlung unzweifelhaft erbracht worden! – Der Sohn des Alten, Miron, der schon vor acht Monaten während der Untersuchungshaft gestorben, stehe schon längst vor einem höheren Richter. Als Vertreter der Anklage erwarte er von den Geschworenen, daß sie die beiden andern, heute auf der Anklagebank sitzenden Teilnehmer des Verbrechens, Mutter und Sohn, schuldig sprechen. Für den jungen Menschen, für den Enkel des ermordeten Stepan Iljitsch, plaidiere er dabei um Zuerkennung mildernder Umstände, da dieser, damals noch nicht ganz volljährig, seiner sehr energischen Mutter in blindem Gehorsam ergeben war und sich seinen Eltern gegenüber immerhin in einer Art Zwangslage befunden haben möge.

Das Plaidoyer des jungen Prokureursgehilfen, der nicht nur als begabter Jurist geschätzt wurde, sondern auch seiner äußerst sympathischen Persönlichkeit wegen allgemein beliebt war, machte im Saale allseitig den besten Eindruck.

Die nach ihm zu Worte kommenden Verteidiger suchten die von den Hauptbelastungszeugen gemachten Aussagen in geschickter Weise abzuschwächen oder zu verdächtigen, und die Aussagen anderer Zeugen über die in letzter Zeit an dem alten Stepan Iljitsch beobachtete Hinfälligkeit, bei zweckmäßiger Gruppierung und Beleuchtung, noch glaubhafter zu machen. Sie bestrebten sich, den Geschworenen klar zu legen, daß die Meinung der Petersburger Spezialisten, namentlich des alten Professors der gerichtlichen Medizin, doch bedeutend schwerer ins Gewicht fallen müsse, als die Ansicht eines simplen Kreisarztes, der nur deswegen heute ebenfalls als Expert vorgeladen worden sei, weil er seinerzeit die Sektion der Leiche gemacht habe. Wenn aber trotzdem die Geschworenen der Meinung wären, daß es sich hier tatsächlich um Ermordung handle, so sei ja die Möglichkeit, daß die ruchlose Tat auch von anderen Personen verübt sein könne, nicht ganz auszuschließen. Im ganzen erklangen in ihren Reden aber doch gewisse Noten, als ob sie jetzt auch selbst nicht mehr so recht an die Schuldlosigkeit der Angeklagten glaubten, und nicht mehr allzu sicher auf ein freisprechendes Verdikt der Geschworenen hofften. Zudem hatten sie offenbar eine weit kräftigere und eindrucksvollere Unterstützung von ihren Petersburger Experten erwartet, als sie ihnen tatsächlich geboten worden war, ja, sie waren wohl kaum daraus gefaßt gewesen, daß der jüngere dieser Petersburger Experten den natürlichen Tod des Alten wohl für glaubhafter ansehen würde als den gewaltsamen, trotzdem aber die Möglichkeit eines Erstickungstodes durch fremde Hand nicht ganz auszuschließen wage! In Ermanglung anderer Argumente schlossen sie ihre Reden mit dem üblichen Appell an das Mitleid der Geschworenen, mit dem Hinweis auf den schon erfolgten Tod des einen Angeklagten, auf die lange Untersuchungshaft seiner heute abzuurteilenden, auch schon recht bejahrten Witwe, auf die Jugend ihres mitangeklagten Sohnes, der den Eltern gegenüber doch machtlos gewesen sei, falls er wirklich von ihnen zu irgend einer Mithilfe genötigt worden.

Das Publikum im Saale, das gegen das Ende der Verhandlungen noch zahlreicher geworden war, schien von den heutigen Leistungen der Verteidiger etwas enttäuscht zu sein. Ihrem Rufe nach hatte man offenbar mehr von ihnen erwartet.

Das Schlußwort des Gerichtspräsidenten eröffnete in seiner streng objektiven Fassung keinerlei neue Gesichtspunkte für die Beurteilung des Falles.

Die Beratung der Geschworenen dauerte bei der schon weit vorgeschrittenen Nachtzeit nicht allzu lange.

Ihr Verdikt lautete für die Schwiegertochter des Alten, für Anna Aleksejewa, auf ›Schuldig‹, für ihren Sohn Mischa auf ›Nichtschuldig‹.

Dieser Spruch der Geschworenen wurde im Saale offenbar mit großer Befriedigung ausgenommen, ja schien sogar als selbstverständlich erwartet worden zu sein. –

*

Auf dem Wege nach Sibirien erkrankte Anna Aleksejewa an heftiger Lungenentzündung. Unweit Moskau starb sie, ohne den Ort erreicht zu haben, wo sie ihre hochbemessene Strafe abbüßen sollte. Wo sie ihr Grab gefunden, ist dem Verfasser dieser Mitteilungen unbekannt geblieben.

Den Sohn wie die Schwiegertochter des Alten hatte der Tod ereilt, der ›Sünde Sold‹, für die letztere noch mit der Verschärfung, daß sie in weiter Ferne und inmitten einer nach Sibirien geleiteten Verbrecherabteilung sterben mußte, daß sie nicht – wie es Miron doch noch vergönnt war – auf dem heimatlichen Kirchhof begraben werden konnte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war ja auch ihr Anteil an der Ermordung des Alten ungleich größer gewesen, als der ihrer Mitschuldigen. Der Fluch des Goldes hatte ein weiteres Opfer gefordert! –

Die in der Mordnacht gestohlenen oder sonst auf irgend eine Weise beiseite geschafften Dokumente, Wertpapiere und größeren Barmittel sollen sich in der Folge wiedergefunden haben.

Dem in der Schwurgerichtsverhandlung freigesprochenen Sohne des verbrecherischen Ehepaars ist der Reichtum des Großvaters auch nicht zum Segen geworden. Einige Zeit nach den hier mitgeteilten Ereignissen wurde er als Soldat einberufen. Während seiner Dienstzeit ging es zu Hause mit seiner Wirtschaft, seinem Besitz – reißend bergab. Mit starker Neigung zu geistigen Getränken kehrte er aus dem Militärdienst heim. Zu Hause, wo er nun als selbständiger Wirt leben konnte, wie es ihm gerade paßte, nahm dieses Laster noch größere Dimensionen an. Bei solcher Lebensführung und durch sein oft sehr unangebrachtes Vertrauen auf die Ratschläge verschiedener ›guter Freunde und getreuer Nachbarn‹ war im Laufe weniger Jahre sein Kapital, sein Landbesitz zum größten Teil in fremde Hände oder in die Hände seiner zahlreichen Verwandten übergegangen. Mischa, der Sohn des reichen Miron, der Enkel des noch viel reicheren, einst weit und breit hochangesehenen Stepan Iljitsch, war zuletzt auf dem besten Wege, ganz und gar zu verlumpen.

Durch Branntweinmißbrauch und ausschweifendes Leben hatte er seine ursprünglich gute Gesundheit, seinen kräftigen Körper bald genug unrettbar zerrüttet. Er starb vor einiger Zeit, von niemanden betrauert, von allen gemieden, im kaum vollendeten zweiunddreißigsten Lebensjahre.

Erfüllt hat sich der Fluch des Goldes auch an diesem, allein noch übriggebliebenen Teilnehmer an dem Morde des alten Dorfkrösus, trotz seiner damaligen Freisprechung vor dem irdischen Gericht.

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