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Die Zweite.

Erstes Kapitel.

Milde Winternacht hat schon seit Stunden alles Leben im Dorfe verstummen lassen. Zuweilen nur ertönt kurzes Hundegebell aus einem der schlafenden Höfe, lässig beantwortet vom Hunde des Nachbars. Die fast volle Mondscheibe steht schon so niedrig, daß die schneebedeckten Strohdächer der Häuser und Hofsgebäude und die schneebedeckten Kuppen der Pforten und Zäune nur auf der einen Seite der langen Dorfstraße in weißem Lichte erglänzen, während die andere Seite der Straße in bläulichem Schatten ruht.

In einem der ansehnlicheren Häuser, in der Mitte des Dorfes, sind die Bewohner noch nicht zur Ruhe gegangen. In der Wohnstube, auf dem großen Tische, brennt die übliche, leicht dunstende Petroleumlampe. Der Ssamowar daneben ist schon kalt geworden, in der Teekanne gibt's nur noch Reste abgebrühten Tees, auf einem Teller einige plumpgeschnittene Stücke Schwarzbrot und trockenes Kringelgebäck. Der eine Seitenrand des Tisches ist bedeckt mit einem breiten, an beiden Enden bunt ausgenähtem Handtuch. Außer einigen Untertassen mit gehacktem Zucker und eingekochtem Beerensaft und einem zur Hälfte geleerten Milchkrug stehen da, auf der Tischecke, zwei leergetrunkene Teegläser. Die beiden viereckigen Holzbänkchen vor dem Tische sind zur Seite geschoben. Auf der Diele zwischen den Holzbänkchen und auf dem ihnen zugekehrten Tischrande – liegt Geld verstreut, blanke Silberrubel und einige kleine Goldstücke!

Das breite Bett des Bauern Andrei Wassiljew ist leer, unberührt erscheint auch der Heusack am Ende der langen Wandbank. Irinja, die alte Hofsmagd, ist noch nicht nach Hause gekommen.

Der Bauer geleitet seinen Besuch, ein gutgewachsenes schlankes Weib, aus der Wohnstube in den Flur. Im Vorübergehen wirft er einen zärtlich-besorgten Blick auf die kleine Knabengestalt, die auf der Wandbank in der Nähe des Ofens auf einem Pfühle liegt, und hustend und ächzend in unruhigem Schlummer sich hin und her wälzt.

Er ist seit einiger Zeit Witwer. Mit seiner Frau hatte er in glücklicher Ehe gelebt, freilich nur sechs Jahre. Sie war ein stilles sanftes Geschöpf gewesen, eine zarte Blondine, von leider sehr schwacher Gesundheit. Ihre Mutter war schon in jungen Jahren an der Schwindsucht gestorben. Alle Nachbarn und Gevattern hatten ihm abgeraten, sie zum Weibe zu nehmen. Da sie ihm aber gefiel und außerdem auch eine gute Mitgift ins Haus brachte, hatte er alle solche Warnungen in den Wind geschlagen. Drei Kinderchen, die sie ihm geboren, waren alle so schwächlich gewesen, daß sie schon nach wenigen Monaten dahinstarben. Nur das letztgeborene Kind, der Wanja, war ihm erhalten geblieben. Dabei hatte sich die Gesundheit der jungen Frau von Jahr zu Jahr verschlechtert. Zuletzt war sie von einem heftigen Fieber befallen worden und an Lungenentzündung gestorben. Sein Wanja war auch ein äußerst zartes Kind, und hatte schon mancherlei Krankheiten durchmachen müssen. Zur Zeit quält er sich schon wieder mit einem schlimmen Husten, der allen Mitteln Trotz bietet.

Andrei, von nur Mittelgröße, scheint die Fünfunddreißig noch nicht überschritten zu haben. Das Haupt unbedeckt, das leichtgewellte Haar etwas in die Stirn fallend, über der etwas gekniffenen Oberlippe ein weicher, ziemlich voller Schnurrbart, – im leicht gebräunten Gesicht ein sympathisch anmutender Zug kindlicher Hilflosigkeit, trotz der im Augenblick leicht gerunzelten Augenbrauen und ziemlich selbstbewußten Haltung des Kopfes. Das ihm voranschreitende Weib, die junge Soldatenwitwe Marja Pawlowa, trägt einen langen, schneeweißen Leibpelz und auf dem Kopf ein hellfarbiges Tuch, das ihr gut steht zu ihrem vollen, dunkelbraunen Haar. Sie erscheint um mehrere Jahre jünger als der Bauer. Trotz der leicht aufgestülpten Nase und der etwas zu üppigen Lippen macht ihr etwas blasses Gesicht einen äußerst angenehmen Eindruck, noch gehoben durch auffallend große dunkle Augen.

Beide, das Weib und der Bauer, verlassen die Wohnstube in augenscheinlich unzufriedener und gereizter Stimmung.

In das Dunkel des Flurs dringt von der Straße herauf, durch den Treppenaufgang, ein weicher Abglanz des Mondlichts. Andrei hat Marja in den Flur geleitet und stellt sich, mit auf den Rücken gelegten Händen, an die dem Treppenaufgang gegenüberliegende Wand, als ob er von dort ihr Fortgehen abwarten wolle. Marja hat sich auf die oberste Treppenstufe niedergelassen. Ab und zu leise aufschluchzend sitzt sie da, das Gesicht auf die fest zusammengeballten Fäuste gestützt. Der Bauer nimmt das frühere Gespräch wieder auf, Ungeduld und zugleich etwas wie Verlegenheit in der Stimme.

»Es kann eben nicht nach deinem Willen gehen, Mascha! Den ganzen Abend haben wir da schon darüber geredet. Willst du denn noch immer nicht einsehen, daß du dich in dein Schicksal fügen mußt?«

Marja antwortet zunächst nur mit stummem Kopfschütteln. Nach einer kleinen Pause – ihre Stimme ist von seltenem Wohlklang – seufzt sie: »Ach, Andrei, warum aber ... « Seine Ungeduld kaum noch zügelnd unterbricht er sie: »Wie oft soll ich's dir denn immer von neuem wiederholen, daß Vater Wassilji uns nie und nimmer trauen wird, so lange mein kleiner Wanja noch lebt? Er ist nun einmal nicht abzubringen von seiner Ueberzeugung, daß du dem Kleinen eine schlechte Mutter sein wirst. Und ich selbst ...«

Marja gerät in Eifer: »Er hat gar kein Recht, uns die Trauung zu versagen, wenn du nur selbst ernstlicher darauf bestehen würdest! Daß er schlecht von mir denkt, darüber freilich wundere ich mich nicht im geringsten. Ist deine Selige in den letzten Jahren nicht oft genug zu ihm gelaufen, über mich zu klagen, mich anzuschwärzen nach Herzenslust? Er hat ja auch schon in früherer Zeit keine gute Meinung von mir gehabt. Ich war ihm zu wenig kopfhängerisch, zu wenig demütig. Seit ich so früh schon Witwe wurde und kinderlos blieb, habe ich ja immer so gelebt, wie es mir gefiel! Es war ...«

Andrei will sie weiter unterbrechen, sie fährt aber fort mit erhobener Stimme: »Es war dem Popen schon nicht recht, daß der rothaarige Piotr Ssaweljew sich in mich verliebte und mich durchaus heiraten wollte. Und dann, als der arme Piotr beim Baumfällen verunglückte, und sie ihn tot seiner alten Mutter ins Haus trugen, als ich arme Soldatenwitwe damals mich wie zum zweitenmal verwitwet fühlte, da – kamst du, Andrei, – da fingst du an, mir nachzustellen. Das ging nun dem Popen erst recht gegen den Strich! Deine schwindsüchtige Awdotja Timofejewa ...«

»Schweige von Awdotja!« fällt ihr der Bauer in die Rede, »sie war mir immer ein gutes Weib, so lange sie sich nur noch halten konnte auf ihren Füßen; sie ...«

In der Wohnstube hustet der Kleine so laut, so anhaltend, daß der Bauer unwillkürlich inne hält im Reden.

Ins Zimmer hinein gehend überzeugt er sich, daß der Kleine, vom heftigen Husten erschöpft, wieder fest eingeschlafen ist. Er läßt sich nieder in der Nähe des Kindes – mag die Marja draußen auf der Treppe sitzen, so lange sie Lust hat! Daß die Türe, die er hinter sich nur schwach zugezogen, sich von selbst wieder geöffnet hat, und daß Marja, die ihren Treppenplatz verlassen, ihm gefolgt ist und jetzt, am Türpfosten lehnend, das schlafende Kind und den am Bette desselben knieenden Bauer mit düstern, feindseligen Blicken mustert, – das hat Andrei anscheinend gar nicht bemerkt. Wie er den kleinen Schläfer betrachtet, irren seine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Dabei bewegt er, seiner Gewohnheit gemäß, die Lippen wie in leisem Selbstgespräch, und gerät dabei allmählich in lauteres Vorsichhinreden.

»Ganz die Mutter! Sein Gesichtchen so lieb und zart, ganz wie Awdotjuschka, als ich sie freite! Aber immer krank – der schreckliche Husten ...

Es überkommt ihn ein heißes Angstgefühl, seine Augen feuchten sich, vorsichtig beugt er sich über das Kind, küßt die Schulter desselben: »Mein Augapfel du, – mein Liebling!«

In die Richtung des Heiligenschreins sich wendend, zum Bilde der Kasanschen Mutter Gottes, versucht er zu beten, stockend, mit zuckenden Lippen: »Heilige Gottesmutter – Holdselige – laß den Knaben nicht sterben! Sei du – meine Fürsprecherin, – habe Erbarmen mit mir Sündigem, mit dem Kinde ...

Schluchzen erstickt seine Stimme. Das Flämmchen der Lampe vor dem Muttergottesbilde, das schon seit Stunden, aus Mangel an Oel, dem Verlöschen nahe gewesen, erlischt plötzlich leise knisternd. Hastig erhebt sich Andrei, die Lampe mit frischem Oel zu versehen. Dabei fällt sein Blick auf Marja Pawlowa, die mit krampfhaft verschlungenen Händen in der Tür steht.

»Erdrücke nur nicht das Kind mit deiner Liebe!« hört er sie reden, und ihre Stimme klingt ihm dabei so heiser, so fremd, »du mußt ja immer jemanden haben – zum lieben! Nach Awdotjuschka – kam ich, und jetzt, des jämmerlichen Kindes wegen, dessen Leben bald ebenso erlöschen wird wie das Flämmchen der Lampe da, jetzt trennst du dich von mir, um wieder ein anderes Weib zu freien!«

Wie er sich der Tür nähert, um sie zu schließen, damit der kalte Luftzug das kranke Kind nicht weiter gefährde, schleppt sich Marja Pawlowa mit müden Schritten zurück in den Flur und an die Treppe. Andrei hat die Heiligenschreinlampe in Ordnung gebracht und wieder angezündet. Im stillen hoffend, daß seine ›Mascha‹ sich vielleicht schon auf den Heimweg gemacht, tritt er hinaus in den Flur. Nein, da kauert sie wieder auf ihrem früheren Platze. Will sie ihn wirklich nicht frei geben? Kaum hat sie ihn erblickt, so beginnt sie wieder mit ihren Klagen, ihren Vorwürfen.

»Schnell genug, Andrei, hast du vergessen, wie du gebettelt hast um meine – Liebe! Wie du mir vorgejammert hast von deinem traurigen Schicksal, wie es so unerträglich wäre, als junger, gesunder Mann leben zu müssen mit einem siechen Weibe, dem der Tod schon in der Brust sitzt!«

In wachsender Erregung ringt sie mühsam nach Luft. Stoßweise, sich oft unterbrechend, fährt sie fort: »Und als ich endlich – mich dir hingab, da schwurst du mir zu – bei allen Heiligen, daß – deine Awdotja bald sterben müsse, daß – du mich dann – heiraten und – wieder zu Ehren bringen würdest. – Erbärmlicher, du! – Hättest du mich damals – nicht betört – mit deiner billigen – Liebe, wäre ich jetzt schon längst – die ehrbare Frau eines andern. Man hat – um mich gefreit – auch nach des Rothaarigen Tode ...«

Sie reißt sich das Tuch vom Kopf, zerrt am Kragen ihres Leibpelzes, – völlig erschöpft muß sie endlich schweigen.

Während ihrer hochgradigen Erregung hat sich Andrei gefaßt. Seine weiche Stimmung, die kurze Rührung vorhin – all das ist verflogen. In brutalem Trotz wendet er sich zu ihr: »Nun, mein Täubchen, es ist ja gut, daß du jetzt selbst damit kommst. Man hat mir in letzter Zeit mancherlei Schönes zugetragen über dich, – man hat mich oft genug damit geneckt, daß ich mich bei dir begnügen müsse mit dem, was andere Liebhaber von dir übrig gelassen ...!«

»Und mit solch einem Menschen,« ruft Marja sich erhebend, »mit solch einem ... mußte ich mich einlassen! – vielen Dank für deine Einladung zu heute abend! Ich habe dich jetzt kennen gelernt in deiner ganzen Erbärmlichkeit. Du jämmerlicher Schwachkopf, den ein jeder nach seinem Belieben bereden kann zu allem möglichem, du hast mich vorhin in der Stube da beschimpfen wollen – mit Geld! Und jetzt beschimpfst du mich zum Abschied – mit unflätigen Worten! – Jetzt danke ich Gott, daß ich davor bewahrt geblieben, die Frau eines solchen Schuftes zu werden. Jetzt gebe ich dir den Laufpaß, den letzten Fußtritt!«

Aus der Wohnstube ruft das kranke Kind mehrmals nach dem Vater. Andrei hört es nicht.

Er ist noch mehr in Wut geraten, droht dem Weibe mit den Fäusten: »Schweige, gemeine Fratze du! Packe dich endlich von meiner Schwelle! Ich jage dich hinaus wie ein räudiges Tier! Ich ...« Wieder regt sich in der Wohnstube das kranke Kind. Andrei hört seine Stimme. Es scheint ihm, als ob Wanja nach der Mutter ruft, nach der alten Irinja. Ach Gott, die eine ist ja tot, die andere ist noch immer noch nicht zurückgekehrt aus Baraschkowo! Aber er selbst kann augenblicklich auch nicht zu seinem Liebling eilen! Erst muß er, koste es was es wolle, die gereizte, tief beleidigte Marja, die ja auch selbst nichts mehr von ihm wissen will, endgültig abschütteln! Und dann? Ja, – dann muß er heiraten, bald heiraten, recht bald. Der arme Wanja muß bald in bessere Aufsicht kommen, in bessere Pflege!

Er tritt ganz nah an das Weib heran: »Und damit du es weißt, ein für allemal, du – Dirne! Jetzt sage ich dir auch, mit wem ich hier leben werde, vor den Witwen – werde ich mich jetzt besser in acht nehmen! Nein, meine Zukünftige ist ein Mädchen, jung und gesund und kräftig – und unbescholten, hast du's gehört, unbescholten! – Die Malanja ist's, die Malanja Iwanowa aus Baraschkowo. Mit der traut mich Vater Wassilji sofort, – habe ja auch schon sein Wort darauf. Das ist kein Allerweltsliebchen wie du! – Du wundertest dich vorhin, daß die alte Irinja nicht zu Hause. Jetzt kannst du es erfahren, daß ich sie nach Baraschkowo geschickt habe! Noch diese Nacht bringt mir die Alte Nachricht von da, welcher Tag der Malanja und ihren Eltern am besten paßt – zur Hochzeit!! – Und jetzt – hinaus mit dir, Dirne, hinaus! auf daß die Luft hier rein werde!« –

Während seines Gebelfers ist Marja Pawlowa seltsam ruhig geworden. Mit den Händen glättet sie ihr reiches Haar, bindet sich ihr Tuch wieder fest um den Kopf, zieht den Pelz zurecht. Ihr Schluchzen hat längst aufgehört, ihre Tränen sind versiegt. Sie tritt ganz nah heran an den zeternden Bauer. Höhnisch auslachend zischt sie ihm zu: »Die Malanja? Das ist die Richtige für dich! Da wirst du bald geduckt sein, – ganz klein und still, schlechter wie ein Knecht! Und deinen Wanja? Den wird sie bald auf den Kirchhof spedieren, damit bei euch mehr Platz werde, ha ha! – für ihre eigene Brut! Da, nimm – meinen Glückwunsch, meinen Abschiedsgruß, du elender Wicht!« Dabei schlägt sie ihn mit schwerer Hand mitten ins Gesicht, speit aus vor ihm – und wendet ihm den Rücken. Ruhig schreitet sie aus dem Flur, die Treppe hinab. Und bald verliert sich ihre Gestalt im Dunkel der Dorfstraße.

Unter dem unerwarteten Schlage war Andrei zurückgetaumelt. Seine Hand erhob sich aber nicht – gegen das in zorniger Verachtung von ihm gehende Weib.

»Gott sei Dank, jetzt bin ich sie los geworden, und für immer! Sie hat ja eigentlich ganz recht, die Mascha ... es mußte aber aus sein mit uns! Eigentlich bin ich doch noch gut genug mit ihr auseinander gekommen, besser als ich anfangs gefürchtet. Keine Unkosten – keine Dummheiten!« Mit diesen leise vor sich hin gemurmelten Worten tritt er, die Hände reibend, in die Wohnstube.

Das kranke Kind, dessen Angstrufe vorhin ungehört verhallt waren, ist – wieder eingeschlafen. Der Lichtschein in den Fenstern des Hauses erlischt.

Der Mond ist im Untergehen, dunkle Wolken verhüllen ihn. Die Häuser und Zäune verschwinden in dichtem nächtlichen Nebel. Vom Ende des Dorfes her ertönt Hahnenschrei. Die Menschen aber ruhen alle in tiefstem Schlafe – Gerechte wie Ungerechte.

Zweites Kapitel.

Gehorsam dem Wunsche ihrer Eltern und namentlich ihres gestrengen Vaters, gegen dessen Willen es keinen Einspruch gab, hat Malanja Iwanowa den Witwer geheiratet. Seit der Zeit sind schon fünf Monate vergangen. Bei Andrei sind Haus und Hof jetzt in merklich besserem Zustande. Die junge Frau, gesund und kräftig und arbeitsfroh, schafft von früh bis spät. Die alte Irinja geht ihr zur Hand, soweit die schwachen Augen und steifen Glieder es gestatten. Vom April an hat sich der Bauer wieder einen Knecht ins Haus genommen. Jetzt im Frühling gibt's draußen im Felde Arbeit genug. Selbst während der Mittagspause bleibt er manchmal draußen, kommt erst Abends nach Hause, kurz vor Sonnenuntergang.

Dem kleinen Wanja hat der Frühling eher Verschlimmerung gebracht als Erleichterung. Noch magerer, noch elender ist er geworden. Die Stiefmutter, die zu rechnen hat mit der zärtlichen Liebe, die der Bauer zu dem Kleinen hegt, und die auch selbst großes Mitleid fühlt mit dem hübschen blondlockigen, einem frühen Tode entgegensiechenden Knaben, – sie pflegt ihn in ihrer stillen Weise, so gut sie es nur vermag. Bei gelinderer Witterung fährt sie mit dem wohlverpackten Kinde auf das nahe herrschaftliche Gut, wo der Landschaftsarzt an bestimmten Tagen eintrifft, um die Kranken aus den umliegenden Dörfern zu empfangen und mit Hilfe des Feldschers abzufertigen. Der hat den kleinen Wanja auch schon in früherer Zeit zuweilen gesehen. Seit aber der Kleine jetzt mit der jungen Stiefmutter am Empfangstage erscheint, ist dem Arzt seine bessere Kleidung, sein sauberes Aussehen nicht entgangen. Leider kann er dem jungen Weibe keine Hoffnung machen auf Besserung. Das schon lange brustkranke Kind speit öfters Blut und fiebert des Abends ziemlich bedeutend. Zudem quält es seit einigen Monaten ein äußerst hartnäckiger Stickhusten, der in letzter Zeit in jener Gegend epidemisch aufgetreten. Eigentlich wundert sich der Arzt, daß der arme Kleine noch immer nicht ausgelitten.

Die am Empfangstage ihr mitgegebene Arznei reicht die Stiefmutter dem Kinde stets mit großer Pünktlichkeit; sie sucht ihm dabei das Einnehmen durch mancherlei Hilfsmittel weniger unangenehm zu machen. An Speise und Trank zu rechter Zeit fehlt es ihm nicht, Malanja bietet ihm öfters auch allerlei Besonderes an, von dem sie glaubt, es würde ihm wohltun. Wanja läßt sich die Stiefmutter als Pflegerin ruhig gefallen, trotzdem scheint er aber keine besondere Zuneigung zu ihr zu fühlen. Reden tun sie miteinander wenig genug. Die Stiefmutter, immer wirtschaftend und arbeitend, ist überhaupt etwas still und wortkarg.

Wenn der Vater nicht zu Hause, sitzt der Kleine meist ganz still am Fenster, oder sucht sich zu beschäftigen mit irgend einem Spielzeug, einem Tierchen. Nach stärkeren Hustenanfällen, bei heftigeren Brustschmerzen legt er sich zuweilen aufs Bett, unausgekleidet, – schläft dann wohl auch ein bei größerer Erschöpfung. Ist der Vater aber zu Hause, so sucht er soviel als möglich in seiner Nähe zu sein, frägt ihn aus nach allerlei Dingen, läßt sich erzählen, wie es ausschaut in Feld und Wald, und erfreut sich an allerlei Kleinigkeiten, die der Vater ihm von draußen mitbringt. Die beiden sind dann unzertrennlich.

Das Verhältnis zwischen dem Bauern und seiner zweiten Frau ist ein etwas Ungewöhnliches. Andrei hat stets die Empfindung, daß Malanja nur gezwungen ihn geheiratet hat, zugleich aber, als Wirtin unermüdlich selbst arbeitend, überall in der Wirtschaft ihren Willen durchsetzt ohne viel Worte, ohne auf seine Wünsche einzugehen, viel reden ist ja überhaupt nicht ihre Art. Auch mit ihm spricht sie nur wenig. Auf seine Fragen nach Wanjas Befinden, nach Hof und Stall und Wirtschaft, gibt sie meist nur ganz knappe Antworten. Dabei fürchtet er sich eigentlich ein wenig vor dem kühlen ruhigen Wesen der Frau, vor dem festen Blick ihrer ausdrucksvollen grauen Augen. Im übrigen ist er sehr zufrieden mit dem auffallend sauberen Aussehen seiner Zweiten, ihrem kräftigem Körper, ihrer frischen Gesichtsfarbe, ihren dichten, dunkelblonden, um den Kopf gewundenen Flechten, ihrer strammen Haltung.

Heute arbeitet Andrei auf dem Hofe an dem beschädigten Rade seines Arbeitswagens. Er liebt es, bei jeglicher Arbeit vor sich hin zu sinnen, schon Erlebtes und ihm noch Bevorstehendes gegen einander abzuwägen, ja, kleine Luftschlösser zu bauen. Er pflegt dabei die Lippen zu bewegen wie in leisem Selbstgespräch und so eigentümlich starr vor sich hin zu blicken, daß die Leute von ihm sagen, es sei zuweilen im Kopfe bei ihm nicht ganz richtig.

Soeben denkt er äußerst lebhaft an seine verstorbene Awdotja, an Malanja und – ein wenig auch an seine ›Mascha‹, wenn er seine Zweite vergleicht mit der Verstorbenen, der Mutter Wanjas, deren Wesen so sanft war und die sich ihm stets so willig unterordnete in allem, – oder wenn er seine Zweite vergleicht mit der munteren, gesprächigen Marja, die dem Anschein nach einst doch gründlich verliebt war in ihn, – so muß er sich schon eingestehen, daß er für seine Person es früher eigentlich viel schöner und besser hatte als jetzt.

Die Marja Pawlowa, seine Mascha, lebt in einem der Nachbardörfer. Er hat sie nicht wieder gesehen seit jener Winternacht, als sie ihn so schwer ins Gesicht schlug und im Zorn von ihm ging. Aber denken muß er noch oft an sie, das kann ihm keiner verbieten!

Sie sollten ihn im Dorf nur nicht gar zu oft damit aufziehen, daß er jetzt so ganz unter Malanjas Pantoffel stehe, daß er seit seiner zweiten Heirat sich fast nie mehr ein Schlückchen Branntwein gönne, und sich zu Hause nur verstohlen Tabak und Zeitungspapier zum Rauchen herrichte, wenn er zufällig weder Malanja noch Wanja in der Nähe wisse. Und – wer kann's denn wissen, was ihm die Zukunft noch bringt? – Seine jetzige Frau möge noch so gesund und kräftig und tüchtig sein, – lieben, was man so lieben nennt, werde sie ihn wohl nie! Auch den armen Wanja kann sie doch nicht so lieben, wie eine Mutter ihr leiblich Kind liebt. Sie wartet vielleicht voller Ungeduld nur auf seinen baldigen Tod. Ja, die Mascha hat ihm damals beim Abschied noch etwas Anderes, Furchtbares – zugezischt! Gesagt hat ihm die Malanja wohl nicht, daß sie guter Hoffnung sei. Aber wenn es der Fall, wenn sie dann ... Nein, er will weiter gar nicht denken an Maschas letzte Worte.

Ein Frostschauer überläuft seinen Rücken – trotz des schönen Maimorgens, und trotzdem er sich ordentlich warm gearbeitet.

Das Rad ist übrigens fertig. Es ist Zeit nach Knecht und Pferd zu sehen, die schon seit Sonnenaufgang auf dem Felde arbeiten.

Am Brunnen säubert er sich Hände und Gesicht und geht dann ins Haus. Malanja setzt ihm sein Frühstück auf den Tisch. Er langt zu. An seine Kniee schmiegt sich der Kleine, sauber gewaschen, das hellblonde, leichtgelockte Haar in der Mitte sorgfältig gescheitelt. Freundlich blickt er dem Vater in die Augen, aber ach! – sein Gesichtchen erscheint so verfallen, so spitz, in der armen Brust rasselt es so unheimlich. Milch und Brot schiebt er zurück, will es seinem kleinen Kätzchen reichen, das herangesprungen ist und sich an seinen Füßen reibt. Das Kätzchen ist satt, naschen mag es jetzt nicht. Der Vater setzt den Kleinen auf die Wandbank. Das Kätzchen springt an der Wand empor, versucht zu spielen mit seinem kleinen Gebieter und macht dabei so urdrollige Bewegungen, daß der kleine Kranke einigemal sogar laut vor sich hin lacht. Der Bauer beendet sein Frühstück, streichelt liebevoll des Kindes Scheitel, und verspricht ihm, morgen ganz gewiß die schon lange versprochenen Kaninchen mitzubringen. Die würden ihm dann noch viel mehr Spaß machen als das Kätzchen.

Im Hinausgehen äußert er zu der eben ins Zimmer tretenden Malanja, daß er heute vielleicht etwas später nach Hause kommen werde, und daß sie gut auf den Wanja auspassen möge, – das Kind erscheine ihm heute auffallend schlecht! Wie der Bauer auf der Straße dahinschreitet, folgen ihm durchs Fenster die Augen des Kleinen mit einem sonderbar nachdenklichen Ausdruck.

Die Stiefmutter nähert sich Wanja. Mit merkbar milderem Tonfall ihrer sonst etwas hart klingenden Stimme redet sie ihm zu, er möge sich doch von ihr ins Bett tragen lassen, da er so müde aussehe. Der Kleine wehrt sie aber leicht von sich ab. Er möchte noch etwas am Fenster sitzen bleiben und verspricht ihr, selbst ins Bett zu gehen oder sie zu rufen, wenn er sich gar zu matt fühlen sollte. Da tut ihm die Stiefmutter seinen Willen – und läßt ihn allein. Hat sie doch heute besonders viel zu arbeiten im Stall und im Hofe. Auch möchte sie gern fertig sein mit allem bis zur Heimkehr des Mannes. Irinja ist ebenfalls draußen.

Da ist er wieder, der böse Husten! Der Kleine gleitet angstvoll von der Bank auf die Diele. Mit den Händen sich auf den Rand der Bank stemmend, ringt er mit dem krampfhaften Hustenanfall, bei mühsam pfeifendem Atem. Vergebens müht er sich, auszuspeien auch nur ein Weniges des in seiner Brust rasselnden, ihn schier erstickenden Schleimes. Das Kätzchen ist erschreckt hinauf auf den Ofen geflüchtet.

Endlich mildert sich der Anfall ein wenig. Der Kleine schleppt sich zu seinem Bette, legt sich nieder. Aber das Erstickungsgefühl wird im Bett noch ärger, die geballten Händchen gegen Brust und Hals pressend, versucht er wieder sich aufzurichten, sinkt aber sofort wieder zurück. Er sucht sich zu wenden von einer Seite auf die andere, keine Lage schafft ihm Erleichterung. Line Weile liegt er ganz still, halbschlummernd. Dann regt er sich wieder in quälender Unruhe. Nach seiner Arznei, nach Wasser – ruft er mit schwacher Stimme. Auf sein Rufen und leises Wimmern – erscheint niemand. Sein Atem geht kürzer, schwächer, – und den zu Tode erschöpften, nach Luft ringenden Kleinen umfängt – Halbschlaf, Ohnmacht.

Jetzt erst öffnet sich die Tür des Zimmers. Die Stiefmutter ist's. Sie sieht das Kind ruhig auf dem Bette liegen, mit dem Gesicht zur Wand gekehrt. Sie weiß, daß Schlaf, selbst kurzer Schlummer, noch am ehesten die Hustenqual des Kindes etwas mildert, seine erschöpften Kräfte ein wenig auffrischt. Sie tritt daher auch nicht näher ans Bett, fürchtend, den armen Kranken dadurch vorzeitig aufzuwecken. Beruhigt geht sie wieder hinaus, ihre Arbeit draußen duldet keinen Aufschub. Wieder vergeht so eine geraume Zeit.

Von der Bäuerin gesandt, erscheint im Zimmer die alte Irinja. Ihren schwachen Augen nicht trauend, nähert sie sich dem Bett und befühlt die Wange des kleinen Schläfers. Unter der Berührung ihrer knochigen Hand zuckt er zusammen. Kaum hörbar hüstelnd und ächzend, sucht er, nach Art fest schlafender Kinder, mit den Händchen die Ecke des Kopfkissens an sein Gesicht zu pressen. Die Alte murmelt einige Gebetsworte, macht über ihm das Zeichen des Kreuzes, – und eilt dann hinaus, der Bäuerin die Nachricht zu bringen, daß das Kind noch immer ruhig schlafe.

Mittagszeit ist längst vorüber. Die Schatten der hohen Birken, die über den Zaun des Hofes emporragen, werden länger und länger. Dabei ist die Luft für einen Maitag noch immer schwül genug.

Schleppenden Schrittes nähert sich Andrei dem Hause. Hinter ihm führt der Knecht das Pferd, das die umgekehrte Egge hinter sich nachschleift.

Der Bauer betritt das Zimmer. Da ist alles noch genau so wie am Morgen. Nur sein kranker Liebling kommt ihm nicht entgegen wie sonst wohl. Er sieht ihn auch nicht auf der Bank am Fenster. Ah, da liegt er auf dem Bett, zur Wand gekehrt, schläft. So seltsam still ist's im Zimmer. Eine unerklärliche Angst überkommt den Bauern. Er ist ganz nah herangetreten ans Bett, seine Kniee schlottern. Im Nacken des Kindes, auf Stirn und Wange fühlt sich die Haut ganz feucht an, und dabei – so ungewöhnlich kühl.

»Wanja, Wanjuscha!« ruft er heiseren Tones. Nichts regt sich. In jähem Schrecken wendet er das Gesicht des Kindes sich zu. Es hat sich zum Teil fest hineingedrückt in das weiche Kopfkissen, dessen eine Ecke die mageren Händchen von unten her umklammert halten. Da – die Augenlider öffnen sich nicht, die Fingerchen erscheinen leicht gebogen und wie halberstarrt, zwischen den Lippen schimmern rötliche Schleimbläschen. Einige leichte, kaum wahrnehmbare Atemzüge gleiten über die Lippen des Kindes – wie ein Hauch, und dann – bleibt alles still, ganz still! Der Bauer ist vor dem Bette zusammengebrochen. Unzusammenhängende Worte wimmert er vor sich hin mit bebenden Lippen: »Wanja, Wanjuscha – Heilige Muttergottes – mein Kind, mein einziges – Herr Gott erbarme dich – Wanja!« Dazwischen stöhnt er auf wie ein zu Tode getroffenes Tier, und reißt und zupft an der Bekleidung des Kindes wie sinnlos. Seine Hände gehorchen ihm nicht, – aber auch die Gedanken verwirren sich ...

Da hastet Malanja ins Zimmer. In fassungslosem Schreck, totenbleich, – bleibt sie zitternd stehen. Kaum hat der Bauer sie erblickt, so stürzt er auf sie zu wie ein aufgestörtes Raubtier, fährt ihr mit beiden Händen an die Kehle, und würgt sie – lautlos, würgt sie ... Sie, sie allein trägt die Schuld am Tode des Kleinen, – sie hat sich nicht gekümmert um ihn den ganzen Tag hindurch, – sie hat ihn sterben lassen ohne Hilfe, – nein, mehr noch! sie hat sogar ... In seinen Augen flackert es wie heller Wahnsinn.

Dank ihrer seltenen Körperkraft hat die junge Frau sich endlich befreien können aus den würgenden Fäusten, muß sich aber noch weiter wehren – gegen erneute Wutausbrüche ihres Mannes. Durch die offengebliebene Tür nähern sich der Knecht und die alte Irinja. Wie sie eben sich anschicken, die beiden schwer Ringenden auseinander zu bringen, da stößt der Bauer in plötzlicher Rückwärtsschwenkung so hart an die Bettkante, daß der eine Arm der kleinen Leiche von der Brust herabgleitet und dabei den Rücken des Bauern streift. So leicht auch die Berührung war, der sinnlos Rasende hat sie doch gefühlt! Er läßt ab von der Frau, – und zur Leiche gewandt sinkt er vor dem Bette in die Kniee, bebend am ganzen Körper und völlig zerknirscht. Das Gesicht auf die ihm zugeglittene Hand des toten Kindes gepreßt, tastet er mit der Rechten nach dem lockigen Scheitel – und streichelt ihn, wie er es noch am Vormittag getan, als er Abschied nahm.

Gottlob, der Bauer weint jetzt, weint und schluchzt wie Kinder weinen über ein Spielzeug, das fremde Hand ihnen zerstört, oder über ein zahmes Vögelchen, das ihnen soeben gestorben ...

Tief sich verneigend in die Richtung des Heiligenschreins und sich fortwährend bekreuzigend, schauen der Knecht und Irinja in scheuem Entsetzen auf den schluchzenden Bauern – und auf die junge Bäuerin, die wortlos und ohne Tränen ihre in Unordnung geratene Kleidung zurechtrückt, und dann hinausschreitet aus dem Zimmer, verstörten Blickes, die Brauen finster zusammengezogen, auf der Unterlippe dunkle Blutstropfen. Neugierige erscheinen in der Türöffnung, im Flur des Hauses. Festen Schrittes geht sie durch die Leute hindurch, die Treppe hinab. Auf der Straße wächst fortwährend die Zahl der Männer und Weiber, die sich vor Andreis Hause gesammelt. Die Haltung der Leute ist drohend genug. Malanja muß hören, wie man sie offen beschuldigt, den kleinen Stiefsohn erstickt zu haben! Einige aus der Menge folgen ihr, wohl noch unentschlossen und zögernd. Aber niemand hält sie an, niemand stellt sich ihr in den Weg, selbst dann, als sie bei den letzten Häusern des Dorfes abschwenkt, in der Richtung auf Baraschkowo, zu den Eltern. Hoch das Haupt erhoben, schreitet sie rüstig ihre Straße, keinen einzigen Blick mehr zurückwerfend auf Haus und Hof.

Von dem Pogost Pogost – heißt die ganze Gruppe der in nächster Nähe der Kirche gelegenen Wohnhäuser des Priesters und der sonstigen Diener der Kirche, mit Einschluß der Häuser aller andern Personen, die sich im Laufe der Zeit dort niedergelassen. her, dessen Kirchturmspitzen im Glanze der tiefstehenden Abendsonne herüberblitzen, erklingen leise, friedvolle Glockentöne. Wer ihre Sprache verstehen will, den mahnen sie: richtet nicht, richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet! Liebet eure Nächsten, – liebet, liebet! Die Töne der Sonnabendglocken verhallen – unverstanden. Nur wenige der Männer und Burschen entblößen ihr Haupt. Die Menge verläuft sich.

Nur in einer kleinen Gruppe alter und junger Weiber, in deren Mitte die junge Soldatenwitwe, die Mascha, die Andrei in jener Winternacht aus seinem Hause getrieben, das große Wort zu führen scheint, da wird das jüngste Ereignis eifrigst weiter besprochen und ausgeschmückt – im Sinne der landläufigen Nächstenliebe.

Drittes Kapitel.

Im Dorf erwartet man von Tag zu Tag das Eintreffen des Untersuchungsrichters und Gerichtsarztes. Die kleine Leiche soll seziert werden zur Feststellung der Todesursache.

Angesichts des vielen Geredes über den plötzlichen Tod des Kindes hat der Priester sich natürlich weigern müssen, die Beerdigung vorzunehmen ohne schriftliche Verfügung der Landpolizei oder des Untersuchungsrichters.

Wiederholt ist der Urädnik Berittener Landgendarm. im Dorfe gewesen, Erkundigungen einzuziehen über den Tod des Kindes, und hat die Aussagen verschiedener Personen, übrigens ohne jedes positive Ergebnis, zu Protokoll genommen.

Die meisten Einwohner des Dorfes sind aber nicht abzubringen von ihrer Meinung, daß die junge Stiefmutter den Tod des Kindes auf ihrem Gewissen hat, daß das schwache, längst schon kränkelnde Kind von ihr im Bette mit seinem eigenen Kopfkissen erstickt worden ist, daß sie bei dieser Untat von ihrem unerwartet früh nach Hause gekommenen Mann betroffen wurde und, in der ersten Wut, von ihm fast erwürgt worden wäre.

Sie ist ja zudem eine Fremde, hat im Dorf keinerlei Verwandte, keinerlei Anhang. Hat zudem die fünf Monate ihrer Ehe mit dem Witwer in auffallender Zurückgezogenheit verlebt, den armen Mann und den kleinen Stiefsohn, nach Meinung der Leute, gründlich tyrannisierend. Und als das Kind tot war, da ist sie aus Angst vor den Folgen ihrer Tat fortgelaufen nach Baraschkowo, zu den Eltern. Tags darauf hat der strenge Vater sie freilich zurückgebracht zu Andrei. Sie aber, von Gewissensqualen gedrückt, hat den Anblick der kleinen, im offenen Sarge liegenden Leiche und das verstörte Wesen ihres Mannes nicht ertragen können, – und hat sich abermals davon gemacht, diesmal in ein anderes Nachbardorf zu einer dort verheirateten Schwester.

Schließlich hat der Priester sie endlich doch noch veranlaßt, wieder zurückzukehren in ihr trauriges Heim, wo es nach Wanjas Tode so drückend still geworden. Sie ist dann auch dageblieben und hat sich der Wirtschaft in früherer Weise wieder angenommen, dem Manne dabei aber nach Möglichkeit aus dem Wege gehend. Dank der warmen Jahreszeit bringt sie die Nächte im Flur zu, in der Klete Vorratskammer oder auf dem Heuboden.

Es ist ja wahr, Andrei hat sie in seiner ersten fassungslosen Bestürzung tatsächlich für die Mörderin seines Lieblings gehalten. Erst später erinnerte er sich, daß er ja damals das Zimmer noch vor Malanja betreten, daß er ja selbst die letzten schwachen Atemzüge des sterbenden Kindes gesehen. Vielleicht ist sein Verdacht auch wirklich ganz grundlos gewesen. Das schon längst schwerkranke Kind kann ja auch, nach Gottes Willen, eines ganz natürlichen Todes gestorben sein. Nur darüber kommt er nicht hinweg, daß sein Wanja noch am Morgen, beim Frühstückstisch, auf der Bank neben ihm gesessen und gelacht hat über die Sprünge des spielenden Kätzchens, und daß er ihn danach, beim Nachhausekommen, auf dem Bett gefunden – sterbend, den letzten Seufzer aushauchend. Auch darüber kommt er nicht hinweg, daß seinem sterbenden Liebling keinerlei Hilfe zu teil geworden von seiten der Stiefmutter.

Vater Wassilji hat ihm natürlich scharf ins Gewissen geredet, der Malanja keine Schuld zu geben am Tode des Kindes, wenigstens nicht früher, als bis die Sektion der Leiche den gewaltsamen Tod auch wirklich festgestellt haben würde. Auf dem nahen Pogost schon eine stattliche Reihe von Jahren seines Amtes waltend, kennt der Priester die ganze Familie Malanjas, kennt sehr gut auch die junge Frau, die er seiner Zeit selbst noch getauft hat. Er glaubt sich fest verbürgen zu können dafür, daß Malanja einer solchen Tat gar nicht fähig ist.

Andrei ist ja allmählich auch schon ganz einer Meinung mit dem Priester. Aber gefürchtet hat er sich immer etwas vor der Malanja, alle die fünf Monate seiner Ehe mit ihr, – und jetzt ist diese, ihm eigentlich ganz unerklärliche Furcht noch stärker geworden. Daran kann auch der gute Vater Wassilji nichts ändern!

Allem Gerede über den unnatürlichen Tod des kleinen Wanjas macht die endlich erfolgte gerichtlichmedizinische Besichtigung und Sektion der kleinen Leiche, die zum Glück noch wenig verändert ist, ein Ende.

Bei dieser Sektion wurde kein einziges Kennzeichen des gewaltsamen Erstickungstodes gefunden, kein einziges verdächtiges Zeichen weder am Halse, an der Nase oder am Munde noch in den inneren Luftwegen und im Herzen. Auch fehlten im Magen und Darm alle Veränderungen, die als zufällige, zum Beispiel arzneiliche, Vergiftung zu deuten gewesen wären. Die Lungen zeigten aber schwere Krankheitserscheinungen infolge früherer Entzündungen und des hochgradigen Stickhustens während der letzten Lebensmonate, – und dabei erwies sich noch ein großer Teil der Lungen durchsetzt von Tuberkeln in verschiedenen Entwicklungsstufen. Nach der Meinung des Gerichtsarztes wurde durch plötzliche Blutstauung in dem noch lufthaltig gebliebenen Teil der Lungen und gesteigerte Schleimüberfüllung der feineren Luftröhrenästchen – Lungenapoplexie mit darauf folgender Herzlähmung hervorgerufen; diese hatte dann auch den plötzlichen Tod des abgemagerten, vollständig entkräfteten Kindes zur Folge gehabt.

Auch der Untersuchungsrichter fand beim Verhören der zunächstbeteiligten Personen und sonstigen Zeugen absolut nichts, was für gewaltsame Erstickung desselben durch fremde Hand gesprochen hätte. Es blieb ihm also nur übrig, die betreffenden Akten mit dem Sektionsprotokoll und Gutachten des Arztes der Prokuratur Staatsanwaltschaft. einzusenden – zur Niederschlagung der ganzen Sache!

Angesichts eines solchen Ausgangs der Untersuchung beruhigten sich im Dorf allmählich die erregten Gemüter. Selbst die Mäuler, die früher am lautesten die junge Stiefmutter gerichtet und am schlimmsten gegen sie gehetzt, haben schließlich verstummen müssen. In ihrer zweimaligen Flucht zu den Ihrigen findet man jetzt absolut nichts Verdächtiges. Ihre Rückkehr ins verödete Haus des Witwers, ihr ruhiges Verbleiben daselbst und hausfrauliches Schalten und Walten trotz des Mordanfalls von seiten des Mannes, dem sie ja auf ein Haar sogar selbst erlegen wäre, und der zumeist das wilde Geschrei über die Erstickung des kranken Kindes durch die Stiefmutter veranlaßt hatte, – das hat den Dorfbewohnern, wie sie jetzt zugeben, ganz gut gefallen, ja sogar imponiert.

Das jetzt veränderte, ja gute Verhalten der Dorfbevölkerung Malanja gegenüber verfehlt auch auf den von jeher etwas willensschwachen Andrei seine Wirkung nicht. Er fängt an, sein pflichtgetreues Weib, das ihn geheiratet nur als gehorsame Tochter ihrer Eltern, mit anderen Augen zu betrachten. Er grübelt öfters schon darüber nach, wie er es doch anfangen soll, ihre richtige Verzeihung zu erhalten für den schrecklichen Verdacht, den er gegen sie gefaßt hatte und der ihn fast zum Mörder werden ließ an ihr.

Wenn er jetzt bei seiner Arbeit sinnt und sinnt, so fühlt er es mit jedem Tage stärker, daß er fortab viel besser mit ihr leben könnte als im Anfang ihrer Ehe, und daß er sich jetzt auch eigentlich nicht mehr fürchte vor ihr. Vielleicht täuscht er sich, – aber es will ihm doch scheinen, als ob auch Malanja weniger fremd, weniger hart sich gebe, ja, als ob zuweilen, wenn sie sich unbeobachtet glaubt, aus ihrem Blick ein Strahl warmen Mitleids Wanjas leeres Bett und ihn selbst, den jetzt völlig Vereinsamten, streife.

Es ist ihm nicht entgangen, daß Malanja tatsächlich guter Hoffnung ist. Und dieser Umstand erfüllt jetzt sein Herz mit einer ganz besonderen geheimen Freude, und wirkt wie erlösend auf den schweren Bann, der auf ihm geruht. Herr Gott! wenn die Malanja, die gesunde, kräftige Malanja, wirklich bald Mutter werden sollte, wenn in seiner jetzt so öden Wohnstube bald gesundes Kindergeschrei erschallen sollte! Herrgott, das Kind ist ja noch nicht da, noch nicht, – aber er liebt es schon, liebt es nicht weniger, nein, viel mehr als den armen Wanja. Der arme Schelm kränkelte ja von Geburt an. Und weil er nicht gesund werden konnte, hat ihn der liebe Gott weggenommen. Und derselbe liebe Gott, der schickt ihm Ersatz; vollen Ersatz für den Verstorbenen ... Das wird mal ein Prachtkerlchen! – er nimmt ihn mit aufs Feld, – er reitet mit ihm die Pferde zur Weidekoppel ... hopp, hopp ...

Versunken in solch glückliche Gedanken, die sich sogar widerspiegeln auf seinem Antlitz, sitzt Andrei auf der Treppe seines Hauses. Sonntagnachmittag ist's. Heute arbeitet er nicht.

Aber wer fährt denn da, vom Pogost her, die Dorfstraße herauf? Ah, es ist der alte Priester, der Vater Wassilji. Der hat keine Ruhe auch am Sonntagnachmittag, kutschiert sich selbst in seinem kleinen Wägelchen ohne Federn, – bringt wohl einem der schwer Kranken die Sterbesakramente.

Andrei erhebt sich, ehrerbietig grüßend. Der Priester wundert sich ob seines glücklichen, frohen Gesichtes. Das ist nicht mehr der scheue, verbitterte Andrei der letzten Wochen. Vater Wassilji hält sein Wägelchen an und steigt aus. Es dünkt ihm, als habe Gott selbst ihn gerade zu dieser Stunde zu diesen Menschen geführt. Mit besonderer Inbrunst küßt Andrei die Hand des Priesters, und nötigt ihn die Treppe herauf in sein Haus.

In der Wohnstube am Tisch sitzt Malanja, mit der Zurichtung kleinen Weißzeugs beschäftigt. Sie hört Schritte auf der Treppe, im Flur, – glaubt, es sei Andrei mit dem Knechte, wie aber der greise Priester freundlichen Antlitzes hereintritt, und hinter ihm Andrei mit ausfallend freiem, entschlossenem Blicke, da wird die Ueberraschte flammendrot, tritt rasch vor den Tisch mit dem Weißzeug, und nähert sich der segnenden Hand des werten Gastes. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes,« murmelt Vater Wassilji über ihrem sich demütig neigendem Haupte. Noch ehe es ihr aber gelingt, seine Hand zum Kusse zu fassen, ist schon Andrei, ermutigt durch die Gegenwart des Priesters, seinem Weibe zu Füßen gestürzt, mehrmals mit der Stirn den Boden berührend, »Vergieb, Malanja, o vergib mir Sündigem!« stammelte er schluchzend mit halberstickter Stimme, – und kann nichts weiter, als immer nur dieselben flehenden Worte wiederholen. Vater Wassilji schaut feuchten Auges und gütig lächelnd auf den hocherregten, knieenden Mann und auf das junge, zitternde, sich kaum noch aufrecht erhaltende Weib. Mild klingen die Worte von seinen Lippen: »Malanja, du Gute, ich weiß es am besten, wie lange dein Mann es schon bereut, daß er dir – zutrauen konnte solch furchtbare Tat, und dich erwürgen wollte in jener unseligen Stunde. So verzeihe du ihm jetzt als gute Christin, und sei ihm fortab nicht nur eine gute Wirtin, sondern auch – ein gütiges, liebevolles Weib!« Noch ehe Vater Wassilji zu Ende geredet, zieht Malanja den noch immer vor ihr Knieenden zu sich empor, aber nur um sich selbst ihm zu Füßen zu werfen und ihrerseits zu flehen: »Vergib mir Andrei! Vergib mir sündigem Weibe! Ich habe – durch kaltes, liebloses Wesen dich – entgelten lassen gewollt, daß der strenge Vater mich gezwungen zur Ehe mit dir, dem Witwer! – Vergib mir – Den armen Wanja hatte ich selbst auch liebgewonnen auf meine Art, vergib mir, Andrei, daß ich törichtes Weib ihn soviel allein ließ in seinen letzten Stunden, – daß das arme Kind sterben mußte – allein – ohne Liebkosung und Tröstung, ohne Erleichterung! während ich glaubte, es schliefe. Vergib ...!«

Andrei ist es endlich gelungen, die anfangs noch Widerstrebende zum Aufstehen zu veranlassen.

Hand in Hand treten beide vor den selbst tiefbewegten Priester. Den drei Menschen ist in dieser Weihestunde das Herz übervoll! Zu reden vermögen sie nur wenig. Mit innigem »Friede sei mit euch!« scheidet der greise Priester von dem Paare, das sich jetzt erst gefunden, das er heute wie zum zweitenmal getraut hat, zu Hause nur und ohne kirchliche Hochzeitskrone, aber – er fühlt es selbst! – bindender als vor einem halben Jahre.

Und er fährt weiter seines Weges, noch vom Wagen aus zu dem ihm nachschauenden Paare zurückgrüßend.

Auf der obersten Treppenstufe ihres Hauses stehen Andrei und Malanja. Den linken Arm hat er um sein Weib geschlungen, mit der Rechten schwenkt er fröhlich seine Mütze in die Richtung des sich immer weiter entfernenden Priesterwägelchens. Auf den Gesichtern der beiden ruht der Abglanz eines Lichts, das nicht von dieser Welt, – seltsam sie verschönernd.

Vorübergehende Nachbarn blicken zu ihnen hinauf. Halb erstaunt grüßen sie das Paar mit freundlichem: »Besten Sonntagsglückwunsch, Andrei! Besten Sonntagsglückwunsch, Malanja!« Eine der jungen Dorfschönen sagt halblaut zu ihren Freundinnen, mit denen sie, Arm in Arm, an Andreis Hause vorbeischlendert: »Schaut doch das Paar dort! Ganz wie Neuvermählte!«

Und Andrei und Malanja rufen ihnen nach: »Ja, das sind wir auch – heut zum zweitenmal getraut! – Besten Sonntagsglückwunsch, ihr Lieben – besten Sonntagsglückwunsch euch allen!«


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