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Meuchlings verstümmelt.

Erstes Kapitel.

Am 4. Februar mußte Ilja Platonow durchaus in der Stadt sein. Er hatte da für Eisen und Kohle und sonstiges Arbeitsmaterial einige Budenrechnungen zu begleichen, und beim Wagenbauer noch einige Aenderungen an der von ihm übernommenen Arbeit zu besprechen. Zugleich wollte er ein rundes Sümmchen, das seine fleißigen Hände in den letzten Monaten erarbeitet hatten, in der Rentei auf sein Sparkassenbuch einzahlen.

Am Morgen mußte er beim Schlagbaum, an welchem er den Eisenbahndamm zu kreuzen hatte, eines in Sicht gekommenen Zuges wegen eine kleine Weile warten. Dem Schlagbaumwächter erzählte er auf dessen Fragen, daß er heute in der Stadt manches zu erledigen habe und wohl erst gegen zehn Uhr abends zurückkehren würde, wechselte auch mit einigen andern, ebenfalls dort wartenden Bauern und Eisenbahnarbeitern einige Worte. Einer der letzteren, der sich durch eine eigentümlich knarrende Baßstimme auszeichnete, wollte wissen, ob er wirklich keine Waffe, keinen Revolver bei sich führe. Lachend antwortete ihm Ilja, daß er diese lumpigen fünfzehn Werst Werst = 1,06 Kilometer. schon oft, auch in der Nacht, allein und unbewaffnet gemacht, und daß er überhaupt nicht einsehe, weshalb er sich in dieser Gegend, in der seit Menschengedenken keine Raubüberfälle vorgekommen, noch mit Revolvern oder sonstigen Waffen herumschleppen solle, – und war dann mit kurzem Gruß davongefahren.

Bis zum Abend hatte er alle seine Geschäfte in der Stadt nach Wunsch erledigt.

Die Kälte, die am Morgen bei klarem Wetter noch recht empfindlich gewesen, hatte im Lauf des Tages erheblich nachgelassen. Am Nachmittag war der Wind umgeschlagen, den Himmel schnell mit grauen Wolken bedeckend. Gegen Abend hatte es mehrere Stunden hindurch tüchtig geschneit.

Den Ilja friert es durchaus nicht, wie er so dahin fährt, in kurzem Leibpelz und niedriger Fellmütze auf seinem kleinen Reitschlittchen sitzend, die in hohen Lederstiefeln steckenden Füße auf die Kufen gestemmt, die Jagleine um die bloßen, arbeitsharten Hände gewickelt.

Er ist in bester Stimmung. Den Brigademarsch aus seiner Artilleristenzeit leise vor sich hinpfeifend, denkt er lebhaft an vergangene Tage und an die Zeit, wo er sich in dieser Gegend etablierte. Er scheint es selbst gar nicht zu merken, daß er im Fahren öfters einige Worte halblaut vor sich hinmurmelt, und solch Selbstgespräch zuweilen mit allerlei Bewegungen des Kopfes und der die Leine haltenden Hände begleitet.

Ja freilich, schon in der Jugend ging ihm allerlei Schmiede- und Schlosserarbeit flink genug von der Hand. Aber so recht eingearbeitet in seinem Handwerk hat er sich doch erst während seiner vier Dienstjahre. Seine Soldatenzeit ging ihm wie im Fluge dahin. Tagüber gab es Arbeit genug. Aber wie vergnügt waren auch manchmal die dienstfreien Abende mit lustigen Kameraden und guten Freundinnen! – Und später? – Gott segne die gute Schwester und ihren Mann! Als er sie damals hier in Golubowo besuchte, beredeten sie ihn, sich schleunigst in diesem großen schönen Dorfe als Schmied niederzulassen. Daß er ihrem Rate gefolgt, hat er nicht eine Minute lang bereut. Wie schnell fand sich für ihn Arbeit und Verdienst! Und nicht nur in Golubowo, sondern auch auswärts. Na ja, – die Leute merkten es eben bald, daß er ungleich bessere Arbeit lieferte als die beiden andern, in jener Gegend schon längst ansässigen Schmiede, und daß die Arbeit, die er einmal übernommen, stets zum bestimmten Termin fertig wurde. Jene tranken öfters, über seine Lippen war seit seiner Entlassung aus dem Militär kein Tropfen Branntwein gekommen. Da war es kein Kunststück, die Arbeit prompt zu liefern. Er verdiente gut, mehr als er brauchte. Da konnte auch bald genug geheiratet werden. Die Frau hat ihm auch die gute Schwester ausgesucht! Jetzt ist er schon Vater zweier Kinderchen. Sein Haushalt kostet schon etwas. Trotzdem kann er immer noch manchen Rubel zurücklegen.

Besonders gut ist es ihm im letzten Jahr ergangen. Die beiden andern Schmiede der Gegend haben einen Teil ihrer Kundschaft an ihn verloren – und zwar den bessern Teil. Denn die nahen Gutshöfe halten sich jetzt meist an ihn. Dasselbe tut auch die unweit Golubowo gelegene Eisenbahnstation. Für diese arbeitet er besonders gern. Gibt es doch da meist feinere Arbeit, die besser bezahlt wird als die grobe Dorfarbeit. Ja, bis in die Stadt sogar, wo es doch genug Handwerker aller Art gibt, hat sich sein Ruf verbreitet. Er empfängt zuweilen auch von dort Bestellungen. Auch heute ist ihm in der Stadt eine Arbeit angeboten worden, an der sich ein gut Stück Geld verdienen läßt. Es fällt ihm aber nicht ein, sich zu rühmen seines wachsenden Rufs, seiner soliden Kundschaft. Er sieht darin nur Gottes Güte, die seinen Fleiß segnet.

Aufs neue beginnt er seinen Lieblingsmarsch zu pfeifen. Er kommt aber bald aus dem Takt, – genug damit! Seine Gedanken haben einen andern, weniger angenehmen Flug genommen.

Brotlos sind ja jene beiden Nachbarschmiede durch ihn nicht geworden. Das weiß er ganz genau. Die Bevölkerung hier ist in raschem Wachstum begriffen. Ein einziger Schmied könnte unmöglich allen Ansprüchen gerecht werden. Es ist ihm aber äußerst unangenehm, daß er von den Leuten jenen Nachbarschmieden gegenüber immer als äußerst zuverlässiger Mensch, als besonders geschickter Meister, den sie sich zum Vorbild nehmen sollten, gepriesen wird. Dergleichen hört niemand gern. Es macht böses Blut.

Uebrigens, wenn nicht er damals nach Golubowo gekommen wäre, so hätte sich sofort ein anderer, ihm persönlich gut bekannter Schmied daselbst niedergelassen. Jene älteren Schmiede hätten also in jedem Fall einen jüngeren Konkurrenten bekommen. Dieser Umstand muß ihnen doch auch bekannt geworden sein. Er setzt es wenigstens voraus. Verkehren tun sie ja nicht miteinander.

Gewiß, er muß ja zugeben, daß sich bei ihnen, ihm gegenüber, Aerger und Neid regen muß! Das rasche Aufblühen seines Geschäfts ist ihm selbst ja etwas unerwartet gekommen. Wenn sie aber auch eine Gott weiß wie feindselige Gesinnung gegen ihn hegen sollten, was könnte er wohl dagegen unternehmen? Soll er, ihnen zu Gefallen etwa aufhören zu arbeiten? Oder gar fortziehen aus der Gegend? – Am Ende muß doch ein jeder Handwerker auf Konkurrenz gefaßt sein. Entweder wird er von den Konkurrenten lahm gelegt und tot gemacht – oder er überflügelt sie eben.

Allerdings ist er ja direkten Anfeindungen von jener Seite bisher nicht ausgesetzt gewesen. Gottlob, bei seinem bescheidenen Auftreten, seinem friedfertigen Charakter ist er mit niemandem hier in Streit geraten, weder mit ihnen noch mit andern Nachbarn. Er hat auch bis jetzt nicht gehört, daß jene Schmiede oder andere Personen irgend welche Drohungen gegen ihn ausgesprochen hätten. Dergleichen pflegt sich ja in den Dörfern gewöhnlich schnell genug herumzusprechen.

Wie spät es eigentlich sein mag? – Eine Uhr hat Ilja heute nicht bei sich.

Der Schneefall hat fast ganz aufgehört. Die dichten Wolkenmassen haben sich in weißes leichtes Gewölk verwandelt, das die Scheibe des Vollmonds wohl noch verschleiert, die frische Schneedecke rundum aber doch schon in hellerem Lichte erglänzen läßt.

Mit einem Ruck der Leine und lautem Zuruf ermuntert er sein Pferd zu etwas schnellerer Gangart. Die Stationsgebäude hat er schon passiert, der Schlagbaum ist zufällig offen, der Wächter nicht sichtbar. Ohne Aufenthalt kreuzt er die Schienen und bald darauf auch den Gutshof des der Station benachbarten Gutes. Es muß doch schon etwas später sein als zehn Uhr. Ueber dem Gute liegt nächtliche Stille, alle Fenster sind dunkel.

Beim Passieren der kleinen Tannenschonung links am Wege dünkt es ihm, als ob sich zwischen den Stämmen einige Gestalten bewegen. Nein, er muß sich wohl getäuscht haben, wer sollte wohl zu dieser Zeit ... Schon hat er das Ufer des Flusses erreicht, im Schritt will er die etwas steile Böschung hinabfahren ... Da plötzlich ... eilige Tritte hinter ihm ... und ehe er noch sich umzuwenden vermag, ist er hinterrücks überfallen und von kräftigen Armen vom Schlitten herabgerissen! Gleichzeitig an der Kehle gepackt, kann er keinen Laut von sich geben. Er ist ein kräftiger Mensch, aber der drei starken Kerle, die ihn so unerwartet überfallen haben, kann er sich nicht erwehren. Ueberwältigt wird er, ohne daß es zu irgend welchem Lärm kommt. Zwei der Kerle erkennt er als ein heruntergekommenes und etwas anrüchiges Brüderpaar aus einem der nächstgelegenen Dörfer. Das Gesicht des Dritten, der ihm die Ellbogen von hinten umklammert hält und dessen Kopf von dem hoch hinaufgeschlagenen Pelzkragen fast völlig bedeckt ist, kann er nicht deutlich sehen. Aber bei den wenigen Worten, die dieser seinen Spießgesellen zuruft, glaubt er die knarrende Baßstimme des Eisenbahnarbeiters zu erkennen, der ihn heute morgen beim Wächterhäuschen fragte, ob er seine Fahrten ganz ohne Revolver mache.

Herr Gott! Er hat doch diesen Leuten nichts angetan, – was haben sie mit ihm vor? wollen sie ihn berauben – oder gar morden? – Soll er seine Schmiede und Weib und Kind nicht mehr Wiedersehen? – Soll er hier abgeschlachtet werden, ohne Beichte, ohne Absolution? ...

Zwei der Kerle halten den Niedergeworfenen am Boden fest, der dritte macht sich an seinen Händen zu schaffen. Unter gräßlichen Schmerzen fühlt der Unglückliche, wie man ihm die Nägel und die Haut mit dem Fleisch an den Fingerenden herunterschneidet, wie das warme Blut ihm über die Hände rieselt, wie man ihn auf der Eisdecke des Flusses weiter schleppt bis zu einem der zum Wasserschöpfen dienenden Eislöcher, wie man seine heftig blutenden Hände bis zur Schulter in dieses Eisloch und ins Wasser hineinbringt und ihn da, das Gesicht nach unten, auf dem Eise festhält ... Seine Glieder erstarren, er verliert das Bewußtsein ...

Allmählich wieder zur Besinnung gekommen, fühlt er sich noch immer auf dem Eise liegen, aber jetzt mit ausgebreiteten Armen, fühlt wie die Unmenschen mit ihren nägelbeschlagenen Stiefeln oder frostharten Filzsohlen auf seinen Händen herumtreten ... Sein Ohr vernimmt das leise Krachen der brechenden Fingerknochen, aber die Hände, die Finger sind durch das lange Verweilen im Eisloch so erstarrt, daß er dabei nur geringe Schmerzen empfindet. Es würgt ihn niemand mehr an der Kehle, trotzdem kann er kein Wort hervorbringen, keinen Schrei ausstoßen. Mit geschlossenen Augen und ohne sich zu rühren, ab und zu nur leise aufstöhnend, läßt er – sterbensmatt – alles über sich ergehen.

Dabei hört er aber deutlich genug, wie seine Peiniger sich sehr zufrieden darüber äußern, daß jetzt die Spuren der Messerschnitte an seinen Fingern eigentlich gar nicht mehr zu erkennen wären, und daß man später glauben würde, die Finger seien ihm einfach abgefroren. Einer von ihnen meint aber doch, daß es viel sicherer wäre, den schon Halbtoten vollends abzutun, daß sie nur dann keinerlei Verfolgung zu fürchten hätten. Und als sie hierauf wirklich versuchen, seinen Körper mit dem Kopf voran in das Eisloch hineinzuzwängen, ihn so zu ertränken, ist er viel zu schwach, sich dagegen zu wehren. In seiner augenblicklichen Lage hat übrigens auch der Tod keine Schrecken mehr für ihn ...

Das Eisloch erweist sich indes zu klein für das Vorhaben seiner Henker. Auch beginnen gerade in diesem Augenblick die Hunde auf dem nahen Gutshofe laut zu bellen. Die Uebeltäter werden ängstlich. Es scheint ihnen, als ob Menschen herankämen. Sie lassen von ihrem Opfer ab. Seine Taschen und den auf der Eisdecke des Flusses stehen gebliebenen Schlitten zu durchsuchen, nehmen sie sich nicht mehr die Zeit. Rasch enteilen sie nach verschiedenen Richtungen.

Sie haben sich übrigens getäuscht. Niemand kommt des Weges. Ilja bleibt allein ...

Zweites Kapitel.

Iljas Erstarrung hat endlich etwas nachgelassen. Die Schmerzen freilich in den furchtbar zugerichteten Händen sind dabei um so fühlbarer geworden. Mit äußerster Mühe richtet er sich auf. Er will den Versuch machen, noch in der Nacht nach Hause zu gelangen. Schwer genug wird es ihm, die Jagleine so zu bergen, daß sie nicht nachschleift, sich rittlings auf seinem Schlittchen zu halten. Zu lenken braucht er das Pferd nicht, es findet schon selbst seinen Weg.

Die Schmerzen werden aber während der Fahrt so peinigend, daß er schon im nächsten Dorf wieder Halt macht. Eine alte Witwe, mit der er zufällig vor längerer Zeit bekannt geworden, wohnt hier irgendwo am Ende des Dorfes. Richtig, da ist ja ihr Häuschen. Aus den Fenstern fällt schwacher Lichtschein. Gottlob, sie ist zu Hause.

Gern gewährt sie dem Armen ein Obdach. Ohne viel Worte zu machen, sucht sie, so gut sie es versteht, seine Leiden zu erleichtern. Sie reinigt die zahlreichen Schnittwunden von dem stellenweise noch dranhaftendem Blut und sonstigem Schmutz. Stundenlang macht sie ihm Wasserumschläge auf die vor brennenden Schmerzen zitternden Hände. Sie bereitet ihm Tee und erquickt ihn damit, wie ein hilfloses Kind, löffelweise. Als der Morgen graut, fühlt er sich soweit erholt, daß er sich wieder auf den Weg macht, noch ehe das Dorf erwacht und er von den Nachbarn gesehen wird. Die Alte, die unterdes auch das Pferd besorgt hat, verbindet ihm zur Fahrt die Hände mit weichen Leinwandstreifen, und sucht ihm zuletzt noch den Sitz auf dem Schlittchen etwas bequemer zu machen. Mit innigen Dankesworten verläßt er das Häuschen der barmherzigen Samariterin. Bis Golubowo sind es nur noch einige wenige Werst.

Ilja pflegte immer pünktlich zur bestimmten Zeit heimzukehren, oft sogar noch etwas früher. Seine Frau hatte daher die letzte Nacht, da er nicht nach Hause gekommen, in großen Aengsten verbracht. Es mußte ihm irgend ein Unglück zugestoßen sein! Daß das Unglück so groß, daß ihr kräftiger, arbeitsfroher Mann heimkehren würde als elender, an seinen Fingern so grausam verstümmelter Krüppel, das war ihr freilich nicht in den Sinn gekommen. Beim Anblick seiner Hände sank sie bewußtlos zu Boden. –

Iljas bis jetzt so glückliches Heim war eine Stätte trostlosen Jammers geworden.

Mehr noch als die fast unaufhörlichen Schmerzen in den schwerverletzten und von böser Entzündung heimgesuchten Händen, quälte ihn die sich mit jedem Tage ihm immer klarer aufdrängende Erkenntnis, daß seine Finger unrettbar verloren, daß er nie mehr sein liebes Handwerk werde ausüben können, daß er mit den Seinen jetzt brotlos geworden. Zum Unglück fehlte ihm jetzt in dieser schweren Zeit Rat und Hilfe von seiten seiner energischen Schwester und ihres Mannes. Beide lagen schwer darnieder am Typhus, der vor kurzem jenen Teil des Kreises heimgesucht hatte.

An demselben Tage noch, an welchem er aus der Stadt zurückgekehrt war, hatte Ilja den in jener Gegend stationierten Urädnik Berittener Landgendarm. von dem an ihm verübten Verbrechen in Kenntnis gesetzt. Inständigst hatte er sowohl ihn, als auch den nächstwohnenden Landschaftsfeldscher bitten lassen, zu ihm zu kommen, da er jetzt nicht in der Lage sei, selbst auszufahren.

Trotzdem der Urädnik in ziemlicher Nähe Golubowos wohnte, erschien er daselbst doch erst nach mehreren Tagen.

Zu Iljas äußerst schmerzlichem Erstaunen fand dieser würdige Vertreter der Landpolizei die Aussagen und die ganze Klage desselben gegen die drei Uebeltäter – höchst unwahrscheinlich! Zeugen der Untat wären nicht vorhanden. Irgend einen Grund, weswegen gerade jene drei Leute das Attentat gegen ihn geplant und ausgeführt haben sollten, könne Ilja auch nicht namhaft machen. »Hier in der Gegend,« belehrte ihn der Urädnik, nachdem er die Aussagen Iljas protokolliert, »wird über Eure Sache ganz anders geredet. Die Leute wissen ganz gut, daß Ihr für gewöhnlich keinen Branntwein trinkt. Aber an jenem 4. Februar sollt Ihr Euch doch in der Stadt einen gehörigen Rausch angetrunken, und nachts auf dem Rückwege Euch an beiden Händen die Finger abgefroren haben. Beim Passieren der Eisdecke des Flusses seid Ihr, von Müdigkeit übermannt, aus dem Schlitten gefallen, und habt viele Stunden hindurch auf dem Eise geschlafen, die Jagleine fest ums Handgelenk gewickelt. Niemand begreift, aus welchen Gründen Ihr Euch jetzt als das Opfer eines Ueberfalls aufspielt, und gegen die drei Personen, die Eurer Aussage nach diesen Ueberfall ausgeführt und die Ihr auch erkannt haben wollt, eine Kriminalklage anhängig macht. – Ich werde natürlich dem Stanowoi Stanowoi Pristaw heißt der Vorsteher eines Polizeidistrikts des Kreises. über Eure Aussage sobald als möglich Bericht erstatten, möchte aber jede beliebige Wette eingehen, daß er Eure Sache auch nicht mit andern Augen ansehen wird als ich. Macht was Ihr wollt, Ilja Platonow; ich an Eurer Stelle würde die Klage gegen jene Leute, da sie ganz aussichtslos ist, zurücknehmen, und nur daran denken, meine Hände, so weit noch möglich, in der Stadt im Krankenhause gründlich kurieren zu lassen. Hier zu Hause seid Ihr jetzt ja doch ein unnützer Brotesser!« Damit packte er seine Schreibereien ein und empfahl sich im Vollgefühl seiner amtlichen Würde.

An demselben Tage bereitete dem Ilja der Besuch des Landschaftsfeldschers die zweite schwere Enttäuschung. Der Feldscher, der zudem etwas angetrunken war, weigerte sich, den die Hände bedeckenden Notverband abzunehmen und die Verstümmelung derselben genauer zu untersuchen. »Ich habe,« krakehlte er, »gar nicht das Recht, die Kur solch schwerer Wunden oder Erfrierungen zu übernehmen. Das ist Sache unseres Landschaftsarztes. Ich werde ihm den Fall mitteilen. Vielleicht findet er Zeit, Euch gelegentlich zu besuchen. Am besten wäre es, Freundchen, wenn Ihr Aufnahme fändet im Stadtkrankenhause. Hört mal, so 'ne kleine Herzstärkung gibt es wohl nicht bei Euch?« Dabei knipste er mit zwei Fingerspitzen an seine Gurgel, sich sehr vernehmlich räuspernd. »Na, einerlei. Aber nehmt es mir nicht übel, Ilja Platonow, was Ihr da erzählt von dem Ueberfall auf Euch, vom Beschneiden – haha! – und Zertrampeln Eurer Finger, das wird Euch schwerlich jemand glauben!« – Damit schob er sich zur Tür hinaus, ohne dem Kranken, der ihn so sehnlichst erwartet hatte, die geringste Hilfe geleistet zu haben.

Nach diesen Besuchen des Urädniks und Feldschers, die ihm die traurige Gewißheit brachten, daß man an das empörende Verbrechen, dessen Opfer er geworden, gar nicht glauben wolle, und ihn gar als Säufer und Lügner brandmarke, wurde die Stimmung Iljas noch gedrückter, noch hoffnungsloser.

Tag um Tag, Woche um Woche saß er, ein gebrochener Mann, apathisch und lebensmüde am Fenster seiner Wohnung und starrte auf das geschlossene Tor der gegenüberliegenden Schmiede. Kein Rauch wirbelte mehr aus ihrem Schornstein, kein blasebalggenährtes Kohlenfeuer warf flackernde Lichter in den halbdunklen Arbeitsraum und auf fleißig schaffende Hände ...

Der Stanowoi erschien nicht in Golubowo, auf den Landschaftsarzt wartete Ilja ebenso vergeblich. Gute Bekannte, die ihn zuweilen besuchten, hatten ihm eingeredet, daß er ohne ein ›Papier‹ vom Stanowoi in der Stadt weder ärztlich besichtigt noch ins Krankenhaus aufgenommen werden könnte. Seine Schwester, seinen Schwager, die noch immer schwer krank waren, hatte er nicht zu Gesicht bekommen. Selbst zum Stanowoi oder direkt zur Stadt zu fahren, hielt er in seiner jetzigen Stimmung für ganz nutzlos. Der stattliche Artilleriereservist, der kräftige geschickte Arbeiter, er war nicht nur leiblich, sondern auch geistig und moralisch zum willensschwachen Kinde geworden.

Aus der Stadt, aus der Ambulanz des Krankenhauses, aus der Apotheke – hatte er sich bald das eine bald das andere Wundwasser bringen lassen. Daneben versuchte er, zur Linderung der Schmerzen, auch noch verschiedene andere Verbandmittel, die ihm mitleidige Nachbarn anrieten. Zuweilen spürte er auch nach manchen dieser Mittelchen einen Nachlaß seiner Schmerzen, aber das Aussehen der Wunden, der Fingerstümpfe wurde mit jedem Tage schlimmer.

Nach Ablauf eines Monats erschien eines Tages, ganz unerwartet und sehr pressiert, der Urädnik mit dem strengen Befehl des Stanowoi, Ilja solle sich unverzüglich in die Stadt begeben, um gerichtsärztlich besichtigt und nötigenfalls im Krankenhaus untergebracht zu werden. Zu dieser Fahrt gab er ihm zugleich ein ›Papier‹ in geschlossenem Couvert, und drohte ihm mit Geldstrafen und dergleichen, falls er nicht sofort gehorche. Offenbar war der Urädnik diesmal in sehr übler Laune.

Diesem Befehl mußte Ilja natürlich Folge leisten. Gern oder ungern, er mußte sich endlich aufraffen aus seinem zwecklosen Vorsichhinbrüten. Schon Tags darauf machte er sich in aller Frühe auf den Weg. Es war am 10. März, volle fünf Wochen nach jener schrecklichen Februarnacht.

Drittes Kapitel.

Dem Kalender nach hatte mit dem heutigen Tage der Frühling begonnen. In der nicht großen, aber doch schon ziemlich zivilisiert ausschauenden Kreisstadt, an einer der Haupteisenbahnlinien des Reichs, war freilich vom Wehen des Frühlings noch nichts zu spüren, falls man nicht etwa die peinlichen Düfte, die den mit der Brechstange bearbeiteten und auf Abfuhrwagen verladenen schmutzigen Resten des Straßeneises entstiegen, dazu rechnen wollte.

In seinem wohldurchwärmten, behaglich eingerichteten Arbeitszimmer saß der örtliche Kreisarzt, ihm gegenüber ein Kollege und alter Schulfreund aus den Ostseeprovinzen. Zwischen ihren Sesseln stand ein kleines Tischchen mit einer fast geleerten Flasche einer guten Marke Krimmer Weißweins und zwei dunkelgrünen Weingläsern. Wirt und Gast waren in der besten Stimmung.

Auf dem Wege nach Moskau zu dort lebenden Verwandten hatte der letztere seine Reise, auf die wenigen Stunden bis zum nächsten Zuge, unterbrochen. Er mochte es sich nicht versagen, dem in dieser Stadt ansässigen Jugendfreunde, mit dem er in Dorpat im Gymnasium und während der Universitätszeit stets treu zusammengehalten, nach langen Jahren wieder einmal die Hand zu drücken.

Die Freunde hatten zuerst alte Jugenderinnerungen ausgetauscht, ihre jetzigen Familienverhältnisse und amtlichen Stellungen und allerlei Praxiserlebnisse berührt, und waren dann auf ein Thema gekommen, über welches ihre Ansichten ziemlich weit auseinandergingen, – auf Kriminalstatistik vom ethnographisch-psychologischen Standpunkte aus.

Der baltische Doktor, ein lieber jovialer Mensch, dem trotz seines etwas bärbeißigen Gesichts die reinste Seelengüte aus den freundlich, fast kindlich blickenden Augen leuchtete, kannte das eigentliche Rußland aus eigener Anschauung, eigener Lebenserfahrung so gut wie gar nicht. Fast ununterbrochen hatte er in seiner noch ziemlich deutsch gebliebenen Vaterstadt gelebt, und nur ab und zu kleine Ausflüge ins Ausland gemacht. Obgleich der russischen Sprache vollständig mächtig, war er bis jetzt nicht dazu gekommen, sich etwas besser im Reiche umzusehen. Die jetzige, durch Erbregulierung notwendig gewordene Reise nach Moskau war die erste dieser Art. Trotzdem war er immer bereit, über Rußland und alles Russische recht absprechende Urteile zu fällen, und selbst bei geringfügigen Anlässen sich über die ›Russen‹ in einen ganz besonderen Zorn hineinzureden. Freilich geschah das meist in so polternder Weise und mit solch gutmütigem Gesichtsausdruck, daß ihm auch der Russe, mit dem er zufällig in Disput geraten, nicht gram sein konnte, sondern eher den Eindruck gewann, daß dieser Doktor eigentlich alle Menschen, Russen wie Nichtrussen, mit gleicher Liebe umfasse, solches aber durchaus nicht zugeben wolle.

Der Kreisarzt kannte diese Art seines Freundes noch von alters her. Er nahm es also nicht allzu tragisch, als sein Gegenüber behauptete, daß die Anzahl der absichtlichen Körperverletzungen und Morde im Schoße der eingeborenen Bevölkerung der Ostseeprovinzen bedeutend kleiner sei als im eigentlichen Rußland, und daß dort bei der Verübung solcher Verbrechen kaum jemals solche Unmenschlichkeiten vorkämen wie in den rein russischen Provinzen und speziell unter den russischen Bauern. Den Kreisarzt mit neckischem Augenzwinkern fixierend und ihm mit der Hand aufs Knie klopfend, bat er ihn, daß er sich doch nicht länger sträuben möge, auch seinerseits einmal zuzugeben, daß wenigstens in dieser Hinsicht die Nichtrussen, die Balten ›bessere Menschen‹ seien als die Russen.

»Du bist und bleibst,« antwortete ihm lachend der Kreisarzt, »der unverbesserliche Russenfresser! Begründen kannst du deine Behauptungen doch nur mit diversen Schauergeschichten, die du aus Zeitungen oder Journalen zusammengelesen oder von allzu leichtgläubigen Leuten hast erzählen hören. Im Gegenteil, ein besonderer Hang zur Grausamkeit ist dem russischen Volkscharakter vollständig fremd. Seine ...«

»Na, jetzt stimmst du wohl,« unterbrach ihn der Balte, »das alte Lied an von der russischen Gutmütigkeit, Weichherzigkeit, Mildtätigkeit, Freigebigkeit u. s. w.! Ich will ja den Russen diese und noch manch andere liebenswürdigen Eigenschaften gar nicht absprechen. Aber hinsichtlich der besonderen Scheußlichkeit mancher Verbrechen, die von deinen Schützlingen, von den so gutmütigen russischen Bauern, zuweilen verübt werden, bleibe ich unentwegt bei meiner Ansicht. Die Franzosen sind heute gewiß große Freunde Rußlands und der Russen, und doch ist noch heute jeder Franzose der Meinung, daß wenn man den Russen etwas bürste, der Tatar zum Vorschein komme.«

»Du lieber Kerl,« apostrophierte ihn darauf der Kreisarzt in etwas ernsterem Tone, »hättest du wie ich deine fünfundzwanzig Jahre und drüber in einem rein russischen Gouvernement verlebt, würdest du deine Ansichten schon längst geändert haben. Ich lebe hier am Orte schon fast ein halbes Menschenalter, habe mich zeitweilig auch im Westen und Süden und im Innern unseres Riesenreiches aufgehalten. Dabei bin ich doch auch in steter Verbindung geblieben mit der baltischen Heimat, kenne auch das Ausland, wenigstens Deutschland, durch meine öfteren, nicht ganz kurz bemessenen Urlaubsreisen. Mit besonderer Vorliebe habe ich dabei die gerichtlich-medizinische Kasuistik verfolgt, nicht nur in Journalen und Monographien, sondern auch in manchen anregenden Unterhaltungen mit in andern Gegenden wohnenden, ja auch mit ausländischen Kollegen und Juristen. Hättest du alle die Zeit hindurch in meiner Haut gesteckt, du würdest jetzt auch der Ueberzeugung sein, daß in jedem Menschen, einerlei welcher Nation er angehöre, ein Tatar, eine Bestie steckt, meist nur – Gottlob! – in winziger Form und latent bleibend vielleicht das ganze Leben hindurch. Disziplin und Erziehung, zur Gewohnheit gewordener Respekt vor der gesellschaftlichen Ordnung, Autoritätsglaube, ein Mehr oder Minder von Religiosität, all das gibt einem jeden, Russen wie Nichtrussen, seinen äußern Schliff, seine menschenwürdige Haltung. Aber wenn ein böses Ungefähr, der Haß des Hungernden gegen den Satten, die Gier des Bettlers nach der Habe des Reichen, irgend ein anderes unheimlich starkes, nicht nieder zu zwingendes Gelüst, oder eine leidenschaftlich erregte Rachsucht das ganze Innere in Aufruhr und aus den Angeln bringt, da durchbricht den äußern Schliff, die menschenwürdige Haltung – eben jener Tatar, jene Bestie, unversehens ausgewachsen zu Riesengröße und fähig des scheußlichsten Verbrechens. Sieh dich nur, du eingefleischter Lokalpatriot, in der Gerichtschronik besser um! Im Süden Europas, ach, überall findest du einzelne Fälle notiert, die das was Rußland in diesem Genre leistet, oft noch überbieten. Und statistisch verrechnet auf die Bevölkerungsziffer der einzelnen Staaten ist das, gottlob, nicht hohe Prozentverhältnis solcher exquisit gräßlichen Fälle fast überall das gleiche.«

»Allen Respekt vor dir, Liebster, Bester!« äußerte hierauf der Gast, sich zugleich erhebend, da die auf dem Bücherschrank thronende Bronzeuhr ihn daran erinnerte, daß sein kurzer Besuch bald zu Ende sein müsse. Freundlich schmunzelnd legte er auf einen Augenblick dem sitzengebliebenen Jugendfreunde die Hand auf den schon stark ergrauten Scheitel. »Es ist doch jammerschade, daß du nicht Professor geworden, redest ja wie ein Buch! Magst ja auch recht haben, soweit es sich um gebildetere, auf etwas höherer Kulturstufe stehende Verbrecher handelt. Aber daß der noch ganz unzivilisierte russische Durchschnittsbauer, gegenüber dem meist kaum mehr zivilisierten Bauer so manch anderer europäischer Länder, namentlich im Hinblick auf die von ihm verübten Verbrechen ein halber Asiate geblieben, diesen Glauben habe ich nun einmal, und lasse ihn mir auch von dir nicht ausreden!«

Bei diesen Worten verteilte er den in der Flasche noch vorhandenen Rest in die beiden Römer: »Na, Prosit Alter! Jetzt muß ich aufbrechen.« Hell klangen die Gläser der Freunde aneinander.

Vor dem Hause hörte man die Droschke vorfahren, die den fremden Herrn vorhin vom Bahnhof gebracht und jetzt wieder abholen sollte.

»Unsern Disput können wir vielleicht bald wieder aufnehmen. Denn in einem halben Jahr hoffe ich dein liebes Gesicht noch einmal sehen zu können. Aller Wahrscheinlichkeit nach muß ich im Spätherbst ein zweites Mal nach Moskau reisen. Dann richte ich mich darauf ein, einige Tage bei dir zu bleiben. Hoffe dann auch – na, wo sind denn meine Handschuhe hingeraten? aha! – ja, deine Frau und das eine oder andere deiner Kinder kennen zu lernen. Hoffentlich fahren die Deinigen doch nicht jede Woche, die Gott gibt, in die Gouvernementsstadt? Meine besten Empfehlungen ihnen allen, und ...«

In diesem Moment war durch die unverschlossene Flurtür ein Bauer ins Vorzimmer gekommen. Angesichts der ihm entgegentretenden Herren warf er sich ohne weiteres auf die Kniee, hob seine mit Leinwandlappen umwickelten Hände zu ihnen empor und flehte sie an: »Helft mir, o helft – seid meine Fürsprecher – daß ich für euch ewig zu Gott beten könnte! – Verwendet euch für mich Unglücklichen! Ruchlose Bösewichte – haben mir – alle Finger abgeschnitten, mich – zum hilflosen Bettler gemacht! Schon mehr als ein Monat ist seitdem vergangen, und bis jetzt – hat niemand sich um mich gekümmert, kein Doktor, keine Obrigkeit ...«

Schluchzen erstickte seine Stimme.

Der Kreisarzt hieß den Mann aufstehen, setzte ihn auf einen Stuhl, befreite die Hände von dem höchst primitiven Verbande ... und beide Aerzte, seit Jahren doch genügend gewohnt an den Anblick von Gebrechen und Wunden jeder Art, prallten unwillkürlich zurück vor dem gräßlichen Bilde, das sich ihren Augen bot: an beiden Händen nur dürftige Stümpfe der Finger schwerbrandigen Ansehens, aus ihnen hervorragend spitze, gelbliche Knochenreste!

Auf die lebhaften Fragen der Herren, warum man ihm das angetan, wer die Unmenschen waren? – fing der Bedauernswerte aufs neue an zu schluchzen, und wies dabei mit dem Kopfe auf ein aus dem Brustteil seines Pelzes etwas hervorstehendes Schriftstück.

Während die Aerzte dieses Papier durchflogen – es war ein ziemlich konfus gehaltener Urädnikrapport vom fünften März, übrigens gar nicht an die Adresse des Kreisarztes gerichtet –, zog der Droschkenkutscher mehrmals sehr energisch an der Haustürglocke, um seinen Passagier zu größerer Eile anzutreiben. Der baltische Doktor, der sich nicht weiter aufhalten konnte, eilte mit lautem: »Lebwohl, lebwohl, auf baldiges Wiedersehen!« die Treppe hinunter. Schon in der Droschke sitzend wandte er sich mit dem ihm eigentümlichen lustigen Augenzwinkern zum Kreisarzt, der ihn bis auf die Straße begleitet hatte und jetzt in der Haustür stand: »Aber bitte, mein Lieber, teile mir doch gelegentlich mit – die Details und den Ausgang dieser, noch nicht in die Zeitungen gekommenen Schauergeschichte! Taxiere, daß du, lieber Alter, mir jetzt verzeihst, wenn mich das soeben Erlebte noch mehr bestärkt hat in meinem Glauben an die furchtbare Bestialität, die der russische Bauer unter Umständen an den Tag legen kann. Adieu, – na, nimm's dir nicht zu sehr zu Herzen! Fahr zu, Kutscher!«

Der Kreisarzt rief dem Freunde nach, daß er ihm über diesen Fall gern einmal schreiben wolle, daß er ihm tausendmal danke für seinen lieben Besuch ...

Die Droschke rasselte von dannen. Der Kreisarzt eilte hinauf in seine Wohnung zu dem seiner harrenden Unglücklichen.

Viertes Kapitel.

Im Lokal der Polizeiverwaltung war die Vormittagsarbeit in vollem Gange. Im Vorzimmer und Empfangszimmer wechselten die Kommenden und Gehenden wie die Figuren eines Kaleidoskops, darunter in buntester Reihenfolge – Stadtpolizisten, aufgegriffene Bettler und Vagabunden, Ssotzkis und Dessatskis Unterste Chargen der Dorfpolizei., Botengänger, Droschkenkutscher, beurlaubte Soldaten und Reservisten, Mönche mit Sammelbüchsen, Juden, Zigeuner, Schänkwirte, Dienstboten, Handwerker, Geschäftsleute, allerlei Zugereiste, Artisten und fahrendes Volk niederer Sorte. Einige derselben konnten schnell abgefertigt werden, andere machten den Beamten ziemlich viel zu schaffen. Im großen Kanzleizimmer rechts saßen die Schreiber und Buchhalter und Tischvorsteher, gebeugt über ihre Bücher und Tabellen und Papiere jeder Art, hier emsig schreibend, dort mit Hilfe des klappernden Rechenbrettes flink addierend und subtrahierend; dabei hatten sie noch des öfteren Auskunft zu erteilen auf allerlei Fragen ihrer Vorgesetzten. Links vom Wartezimmer, in der eigentlichen Polizeiverwaltung, saßen an der hintern Schmalseite des rotbehangenen Tisches der Isprawnik Polizeichef des ganzen Kreises., und an der den Marktfenstern zugekehrten Langseite des Tisches sein alter Gehilfe, – beide in Dienstuniform. Beide waren beschäftigt mit der Durchsicht der mit der Morgenpost eingelaufenen Schreiben. Die meisten Schriftstücke wurden dem Polizeisekretär, der rechts vom Eingang an einem besonderen Tische saß, mit kurzem Vermerk zur Erledigung übergeben. Bei manchen dieser Papiere mußten die Herren sich erst Rats erholen in früheren Korrespondenzen und Zirkulärvorschriften, oder gar in der vielbändigen Ausgabe des allgemeinen Reichsgesetzbuches. Dazwischen fielen unter ihnen allerlei Bemerkungen über die letzten Stadtneuigkeiten oder besondere Vorkommnisse innerhalb des örtlichen Beamtenkreises. Oft genug wurden sie gestört durch die aus dem Wartezimmer direkt in die Polizeiverwaltung gewiesenen Personen, oder durch ›auf einen Augenblick‹ vorsprechende Beamte anderer Ressorts, die allerlei Diskretes oder Pikantes aus Stadt und Land oder aus der nahen Gouvernementsstadt erfahren hatten und sich hier – halbflüsternd – näher informieren wollten. Solch ein kleiner unschuldiger Bureauklatsch würzte doch ein wenig das trockene Einerlei des Dienstes.

Ein soeben eingetretener Bekannter erzählte dem Isprawnik, daß der Gouverneur einen der unter ihm dienenden höheren Beamten ersucht habe, sofort um seinen Abschied einzukommen, wenn er sein beständiges Hazardspiel nicht aufgeben könne. In Privatkreisen und in den Klubs habe jener Beamte es schon gar zu arg getrieben, und seine meist namhaften Spielgewinne seien ihm von gewissen neidischen Leuten gar zu übel genommen worden ... Mit der lachend hingeworfenen Befürchtung, ob ihn selbst, der ja auch stets für jedes Hazardspiel zu haben sei, am Ende nicht ein ähnliches kaltes Sturzbad erwarte, verabschiedete sich der Besucher. Das Lachen des sich Entfernenden hatte für das Ohr des Isprawniks, der selbst das Kartenspiel sehr liebte und unter Umständen auch vor einem kleinen Hazard nicht zurückschreckte, einen etwas unangenehmen Beiklang.

Augenblicklich war kein Fremder im Zimmer der Polizeiverwaltung.

»Leider ist schon wieder,« äußerte sich mit merkbarer Besorgnis der alte Isprawniksgehilfe, »gestern, in später Nachtstunde, im hiesigen Klub hazardiert und ein angereister, als Klubgast eingeführter Kaufmann dabei sehr empfindlich gerupft worden; am Ende kommt es sogar zur gerichtlichen Klage!«

»Ach Gott,« brummte der Isprawnik vor sich hin, »Hazard gespielt wird in jedem Klub, im kleinsten Provinznest wie in der Residenz. So lange es nicht zum Skandal, zu offener Klage kommt, was läßt sich dagegen wohl tun? Das Budget der Klubs wird ja meist nur durch die reichlichen Kartengelder während des sich tief in die Nacht, ja bis zum Morgen hinziehenden Hazardspiels im Gleichgewicht erhalten. Bei strenger Ausschließung allen Hazardspiels würde jeder Klub binnen kurzem bankerott sein und geschlossen werden müssen!«

Der Isprawnik, ein äußerst starker Raucher, drehte sich mit vollendeter Kunstfertigkeit eine neue Zigarette, Gott weiß die wievielte schon. Sich gemächlich in seinem Sessel zurücklehnend, zog er es vor, das Kartenthema fallen zu lassen. »Was ist denn eigentlich Wahres an der Geschichte von dem gar zu lustigen Herrenabend bei unserem tollen ...?« fragte er den Gehilfen. »Die Namenstagsgäste, die vorgestern dagewesen, sollen ja heute noch nicht ganz nüchtern sein; von ihren Frauen sollen ja einige in solche Wut geraten sein, daß sie ihre Männer verlassen, sich von ihnen scheiden lassen wollen! Sind denn da wirklich so schreckliche Dinge passiert? Am lautesten räsonnieren natürlich wieder ...«

Er verstummte plötzlich. Raschen Schrittes war der Kreisarzt eingetreten, offenbar in einiger Erregung. Nach Begrüßung der Herren überreichte er dem Isprawnik den schriftlichen Befund über den soeben von ihm besichtigten Verstümmelten mit dem verspäteten Rapport des Urädniks, und stellte dann den bedauernswerten Menschen selbst der Behörde vor. In kurzen Worten den Fall erläuternd, motivierte er die ungewöhnliche Form seiner diesmal persönlichen Berichterstattung damit, daß der Mann schon am 4. Februar überfallen worden, infolge aber der seltsamen Untätigkeit der Landpolizei erst heute am 10. März bei ihm erschienen sei. Dadurch sei es natürlich zur regelrechten Heilung der verstümmelten Hände schon zu spät geworden. Auch könne jetzt durch ärztliche Untersuchung der Hände kaum mehr festgestellt werden, auf welche Weise der Mann seine Finger verloren, ob es sich tatsächlich um ein von fremder Hand an ihm verübtes Verbrechen handele, oder nur um zufällige schwere Erfrierung der Finger mit darauffolgendem Brand.

Auf die Herren in der Polizeiverwaltung machte das Erscheinen des so unmenschlich mißhandelten und nachher so schreiend vernachlässigten Menschen einen ebenso tiefen Eindruck wie kurz vorher auf die beiden Aerzte.

Seine geliebte Zigarette ganz vergessend, hieß der Isprawnik den Mann sich setzen, und ermunterte ihn mit freundlichem Zuspruch, seine ganze Leidensgeschichte in aller Ausführlichkeit zu erzählen. Sich erinnernd, daß gerade auf heute, den 10. März, der Stanowoi des Bezirks, zu dem das Dorf Golubowo gehörte, hierher in die Polizeiverwaltung zitiert sei, gab er vorher noch gemessene Ordre, den Betreffenden, sobald er erschienen, sofort vorzulassen. Nachdem er sich dann noch mit frischem Rauchmaterial versehen, wandte er sich zu dem Manne mit kurzem: »Nun, Bruderherz, erzähle!« Jenem tat es offenbar schon unendlich wohl, daß ›die Obrigkeit‹ ihn geduldig anhören wolle.

In einfachen Worten erzählte er die uns schon bekannten Details der an ihm in jener Februarnacht begangenen Freveltat, und was er alles während der darauffolgenden fünf Wochen zu erleiden gehabt, ehe er sich zur Stadt aufmachen konnte. In ebenso schlichter und glaubwürdiger Weise beantwortete er alle während seiner Erzählung an ihn gerichteten Zwischenfragen des Isprawniks und Kreisarztes. Aufmerksam folgten die Herren seiner Erzählung, der Sekretär machte sich hin und wieder kleine Bleistiftnotizen.

Nachdem nun Ilja Platonow alles, was er auf dem Herzen hatte, den Herren gebeichtet, war der Kreisarzt überzeugt, daß die Sache seines Schützlings jetzt in die richtigen Hände gelangt sei. Andere Verpflichtungen warteten seiner, er empfahl sich. In der Tür stieß er auf den soeben erschienen Stanowoi, der sich bei seinem Vorgesetzten diesmal sofort zu melden hatte.

Nun, der Empfang des Stanowoi entsprach natürlich der Szene, die sich soeben in der Polizeiverwaltung abgespielt hatte. Es gelang ihm aber doch, sich einigermaßen damit zu entschuldigen, daß er unverantwortlich spät die Meldung des Urädnik über den verunglückten Dorfschmied erhalten habe, und seit dem Empfang der Meldung bis jetzt durch ungewöhnlich häufige Dienstfahrten verhindert gewesen, die Sache an Ort und Stelle persönlich zu untersuchen. Außerdem sei er, nach allem, was ihm über den Fall zu Ohren gekommen und was ja auch die Meldung des Urädniks zu bestätigen schien, bis zur Stunde fest davon überzeugt gewesen, daß es sich hier um ein selbstverschuldetes Abfrieren der Finger handle, daß der Schmied für seine Aussage, unterwegs überfallen worden zu sein, gar keine weiteren Zeugen oder sonstige Beweise habe, und daß die von ihm gegen die betreffenden Bauern erhobene Anklage, die ja an sich schon zu ungeheuerlich, zu unglaublich klinge, höchst wahrscheinlich ganz aus der Luft gegriffen sei.

Trotz der großen Humanität, die man dem Isprawnik im Verhalten zu seinen Untergebenen nachsagte, wurde diesmal dem Stanowoi ein äußerst scharfer Verweis erteilt, und ihm anbefohlen, die arg verfahrene Sache schleunigst zu erledigen.

Zugleich verfügte der Isprawnik die sofortige Dienstentlassung des betreffenden Urädniks, der sich in letzter Zeit auch schon mancherlei andere Nachlässigkeiten im Dienst hatte zu Schulden kommen lassen, und in dieser Sache höchst wahrscheinlich von sehr unlauteren Motiven geleitet worden war.

Ueber das unqualifizierbare Verhalten des Feldschers ließ der Isprawnik dem Präsidenten des Kreislandschaftsamts sofort Mitteilung machen, damit der pflichtvergessene Mensch auf dem Disziplinarwege gemaßregelt werde.

Selbstverständlich wurde noch an demselben Vormittag die Aussage des Dorfschmieds von dem säumigen Stanowoi, und zwar noch im Lokale der Polizeiverwaltung, ausführlich zu Protokoll gebracht und, zusammen mit dem Befunde des Kreisarzts, dem Untersuchungsrichter übermittelt.

Dann erst konnte der total erschöpfte Mensch aus der Polizei ins Krankenhaus abgefertigt werden.

Im Krankenhause wurde ihm bedeutet, daß am folgenden Tage einige der vom Knochenbrand ergriffenen Fingerstümpfe abgelöst werden müßten, um eine schnellere und bessere Heilung der Hände zu ermöglichen, und daß diese kleine Operation an den schon abgestorbenen Fingerresten ihm gar keine Schmerzen verursachen würde.

Am folgenden Morgen indes, noch ehe der Arzt das Krankenhaus betreten hatte, ergab es sich, daß der zur Operation Vorgemerkte heimlich aus dem Krankenhause entwichen war, aus Angst, dort am Ende nicht nur die Reste der Finger, sondern auch noch die Handstümpfe zu verlieren.

Er hatte sich tatsächlich wieder nach Hause begeben.

Auch später war er durch nichts mehr zu bewegen, nochmals das Krankenhaus aufzusuchen. Er blieb zu Hause in Golubowo. Die brandigen Fingerreste lösten sich auf natürlichem Wege von den Handstümpfen, und ganz allmählich kam es dann auch zur Bildung von äußerst unförmlichen Narben an den Stellen, wo der Brand zum Stillstand gekommen war.

Den Landschaftsfeldscher, der ihm damals die erste Hilfe verweigert hatte, ließ er auch später nicht in seine Nähe. Nach einiger Zeit hörte man übrigens, daß dieser Feldscher seinen Abschied erbeten habe und in die Stadt übergesiedelt sei – als Verkäufer in einer der vor kurzem eröffneten Krons-Branntweinbuden.

Die beiden andern Schmiede jener Gegend hatten natürlich, seitdem Ilja das Opfer des meuchlerischen Ueberfalls geworden, wieder Arbeit und Verdienst genug.

Iljas Bekannter, der sich schon vor einigen Jahren selbst in Golubowo etabliert hätte, falls Ilja ihm damals nicht zuvorgekommen wäre, ließ bei ihm anfragen, ob ihm die Schmiede mit dem ganzen Inventar vielleicht verkäuflich sei, falls er nach Golubowo überzusiedeln gedenke. Ilja war zu solchem Verkauf auch gern bereit. Als der Mann aber selbst nach Golubowo kam und die näheren Umstände erfuhr, unter denen Ilja zum Krüppel geworden, verlor er plötzlich jede Lust, sein Nachfolger zu werden. Er konnte sich der Befürchtung nicht erwehren, daß ihm an diesem Unglücksort am Ende ein ähnliches Schicksal bevorstehe. Wie Ilja selbst, so mußte auch er dem Verdacht Raum geben, daß das schreckliche Attentat auf den gar zu schnell emporgekommenen Konkurrenten von den beiden älteren Schmieden jener Gegend geplant und durch eigens dazu gedungene Uebeltäter vollbracht worden war. An direkten Beweisen für die Schuld derselben fehlte es leider vollständig. Sie blieben unbehelligt, blieben aber fortab auch vor jeglicher neuer Konkurrenz gründlich gesichert.

Fünftes Kapitel.

Sieben Monate später waren in dem Saale, in welchem die aus der Gouvernementsstadt herübergekommene Abteilung des Bezirksgerichts ihre Sitzungen abhielt, an einem trüben Novembertage die dem Publikum reservierten Bänke schon von neun Uhr morgens an dicht besetzt. Auch Damen und Herren aus der besseren Gesellschaft hatten sich eingefunden, natürlich auch einige ›Kriminaldamen‹, die auch hier zu dem eisernen Bestande jeder einigermaßen interessanten Gerichtssitzung gehörten. In der zweiten Reihe saß eine derselben, eins wohlkonservierte Erscheinung unbestimmten Alters in anspruchsvoller, der letzten Kleinstadtmode entsprechender Toilette, zu der natürlich der große, kühn ausgebaute Hut, ausrangiert aus einem Putzgeschäft der Residenz oder Warschaus, hier aber noch immer einiges Aufsehen machend, nicht fehlen durfte. Aufs eifrigste unterhielt sie sich mit einer neben ihr sitzenden jungen Dame, die im Saale lebhafte Umschau hielt, wobei sie alle Augenblicke ihre Lorgnette vor die kurzsichtigen Blauaugen oder wenigstens bis an ihr niedliches Stumpfnäschen brachte. Sie war von ihrem unweit Golubowo belegenen Gute heute nur deshalb zur Stadt gekommen, um einmal auch einer Gerichtssitzung beizuwohnen und die heute zur Verhandlung kommende Sache des unglücklichen Dorfschmieds, den sie früher auch zuweilen auf ihrem Gutshof gesehen hatte, mit anzuhören.

»Sagen Sie, meine Liebe,« wendet sie sich eben wieder mit einer neuen Frage an ihre gerichtskundige Nachbarin, »warum ist denn jener Beamte so auffallend unruhig? Kaum, daß er ein bißchen an seinem Tischchen da vor uns geschrieben, steht er wieder auf, eilt geschäftig ab und zu, spricht bald mit dem, bald mit jenem Eintretenden, geht hinaus, erscheint wieder ... das reine Quecksilber! ...«

»Der da? Das ist der Gerichtspristaw!« Gerichtsvollzieher. belehrt sie die Kriminaldame. »Die Leute, die er anredet, gehören zu dem Bestande der Geschworenen. Ihre Namen stehen in seinen Listen. Er notiert sie, wie sie einer nach dem andern eintreffen. Dasselbe tut er auch mit den Zeugen, die er sich nach seinen Listen im Korridor, ja auf der Treppe zusammensuchen muß, um sie ins Zeugenzimmer zu dirigieren. Sehen Sie die Tür da, im Vorzimmer links? Zwei Polizisten stehen davor. Das ist der Eingang ins Zeugenzimmer. Alle Zeugen, Bauern wie Nichtbauern, läßt der Pristaw jene Tür passieren. Heraus aber können sie nicht mehr, da die Polizisten die Tür nach jedem Eintretenden sofort verschließen. Sie bleiben da eingesperrt, bis an sie die Reihe kommt, hier im Saale ihre Aussagen zu machen. Ich habe auch einmal da sitzen müssen. Das Zimmer ist nicht groß und ...«

»Ach, die Armen!« unterbricht sie die lebhafte junge Dame, »da drinnen muß es ja schrecklich sein! Hitze, dumpfe Luft, übler Geruch! Wozu quält man denn die Zeugen mit dieser Einsperrung, als ob sie Arrestanten wären?«

»Ja, meine Liebe, wer zarte Nerven hat, der sehe eben zu, daß er nicht unter die Gerichtszeugen gerate!« erwidert ihr mit bedeutsamem Achselzucken die Kriminaldame. »Dafür sind die Geschworenen schon etwas besser dran! Eingesperrt in ihrem Zimmer bleiben sie nur während der Beratung über die Schuldfrage. Jene Tür, da rechts hinter uns, mit der Glocke oben am Türrahmen, die führt in ihr Zimmer. Die Tür ist noch weit offen. Ein Teil der Geschworenen weilt noch hier im Saale, die meisten scheinen schon drinnen zu sein. Aber sie plaudern da ganz gemütlich, necken einander, lachen ... Oft genug hört man hier im Saale ihre ganze Unterhaltung ...«

»Wahrhaftig, Sie haben recht,« äußert die sich prächtig amüsierende Lorgnettenschöne. »Mir sind ja die Herren drinnen fast alle ganz fremd. Aber Sie, Liebste, erkennen sie wohl schon an der Stimme? ... Ach, wie spaßhaft!«

Beide Damen lauschen auf die Reden der Herren im Geschworenenzimmer, die zum Teil wirklich etwas zu laut geführt werden. Natürlich vernehmen sie nur Bruchstücke und abgerissene Phrasen aus dem Chaos der oft gleichzeitig ertönenden Stimmen.

»Sind Sie krank, Freundchen? Sie sehen schlecht aus ...« – »Das wäre auch kein Wunder bei den schrecklichen hartgefrorenen Wegen. Zeit meines Lebens bin ich noch nicht so gerädert worden wie gestern abend. Und nun soll man hier den ganzen Tag auf seinem Geschworenenstuhl sitzen, wo man sich doch lieber zu Hause bequem ausstrecken möchte ...« – »Gewiß, Freundchen, es wäre viel, viel schöner, seinen zusammengerüttelten Körper heut in der Badstube in anständigen Schweiß zu bringen, und nachher sich an gutem Tee und einigen Gläschen Rebinowka Eine Art Ebereschenlikör. zu erfrischen!« – »Gehen Sie doch nach Hause! Noch ist es Zeit. Fehlen Sie beim Aufruf, so bekommen Sie doch nicht mehr aufgebrummt als höchstens 25 Rubel ...« – »Ach Gott, die Rubel, die Rubel! Wer konnte aber auch voraussehen, daß die Flachspreise plötzlich so zurückgeben würden? Es ist ja rein, um aus der Haut zu fahren!« ... »Gottlob, meine Partie habe ich noch gestern in später Abendstunde glücklich verkaufen können!« – »Na, der hat ja immer mehr Glück als ...« – »Aber, Scherz beiseite, meine Herren! An Festtagen, wie zum Beispiel gestern, kann man hier in eurer Stadt ja rein Hungers sterben! Ihr leistet doch aus dem Stadtsäckel einen hübschen Jahresbeitrag zum Unterhalt der Polizei, – sorgt aber eure Polizei dafür, daß wir gut rechtgläubige Christen auf dem Markt auch Fische finden?« – »Na, sachte, sachte! Willst du uns nicht sagen, wie die Polizei das fertig kriegen soll? Sie hat schon genug zu tun mit der Jagd auf verdorbene Fische! Als ich vorgestern über den Markt ging, konfiszierte der Nadsiratel Polizeiaufseher eines Stadtteils. wieder eine Fuhre mit gesalzenen Fischen und eine Tonne spottbilliger Heringe.« – »Meiner Meinung nach hat der Nadsiratel diesmal wieder ganz unnütz Lärm geschlagen. Ich habe die Ware selbst gesehen. Etwas üblen Geruch verbreiteten die Fischchen allerdings, aber die armen Leute hätten sie gern gekauft, hätten sie auch ohne alle schlimmen Folgen verbraucht!« – »Wenn sie alle deine robuste Natur hätten, gewiß, gewiß!« – »Aber, Gevatter, Ihre Frau soll ja gestern und vorgestern wieder gründlich verloren haben? Ich bleibe dabei, sie ist viel zu hitzig beim Stukolkaspielen Ein in Kaufmannskreisen sehr verbreitetes Karten-Hazardspiel., riskiert zu viel und ...« – »Aber Ihre Frau soll ja neulich in eigener Person zu später Nachtzeit im Klub erschienen sein, und Sie vom Kartentisch direkt nach Hause geschleppt haben?« – »Bist auf dem Holzweg, Brüderchen! Es war gar nicht seine Frau, es war nur die alte Wärterin, die im Auftrag der Frau nachts in den Klub kam, ihren Herrn sofort nach Hause zu rufen ... Hahaha! Unser Petja ließ durch den Diener die Alte mit einigen Gläschen süßen Likörs traktieren; er wußte genau, daß sie keine Kostverächterin ... Hahaha! Schließlich mußte der Diener die Alte in einer Fuhrmannsdroschke nach Hause bringen, wobei er ihr fortwährend versicherte, daß ihr Herr schon längst aus dem Klub weggegangen sei.« – »Glaubt ihm kein Wort, meine Herren, er flunkert, flunkert unverschämt!« – »Ich weiß was ich weiß! Zuletzt ist in der Nacht noch der Doktor geholt worden. Wen er aber zu kurieren hatte, die alte Wärterin oder die junge Frau, das habe ich leider noch nicht in Erfahrung gebracht ...« – »Aber, um Gotteswillen, meine Herren, nicht so laut, nicht so laut!« ...

Einer der Geschworenen schließt endlich die Tür zum Saal – zum großen Leidwesen eines Teils des Publikums, namentlich der beiden Damen in der zweiten Reihe.

Die Kriminaldame gibt ihrer jungen Nachbarin, deren Stimmung noch immer eine sehr heitere ist, diskret flüsternd noch einige nähere Erläuterungen zu dem eben Gehörten, meint aber dann ernsteren Tones: »Gönnen wir den Herren dort ihr bißchen Durcheinanderschwatzen! Bald genug müssen ihrer zwölf sich auf den zwölf Stühlen dort niederlassen, dort rechts vor der Gerichtsestrade. Müssen dann viele Stunden lang mit angespanntester Aufmerksamkeit den Verhandlungen der Sache folgen, um ... Da werden Sie, liebe Seele, keinem einzigen dieser ernst und würdevoll dasitzenden Männer anmerken, mit welch losen Reden sie sich ihre Wartezeit vorhin zu verkürzen suchten.«

Im Vorzimmer links von der Estrade werden bekannte Stimmen laut, wiederholtes Räuspern, Austausch von Begrüßungen.

»Aha, die Herren vom Gericht! – heute früher als sonst, und ausnahmsweise fast gleichzeitig. Sie kennen niemanden der Herrn? Da passieren sie schon die Estrade: können Sie sie gut sehen? Die beiden Herrn, die in lebhaftem Gespräch vorübergehen, das sind die beiden Glieder des Gerichts, ihnen folgt auf dem Fuße der Gerichtspräsident, neben ihm geht der junge Prokurateursgehilfe. Staatsanwaltsgehilfe. Sie machen einander auf die dichtbesetzten Zuhörerbänke aufmerksam. Ihre Lorgnette scheint sie etwas zu interessieren ... Was? Sie wollen wissen, wer der junge Beamte ist, der den Gerichtsherren aus der Tür des Beratungszimmers entgegentritt? – Aber, Herzchen, Sie sind wirklich unerlaubt kurzsichtig, oder Ihre Lorgnette ist nicht blank genug geputzt! Das ist ja der Sekretär des Gerichts, der gestern abend bei Ihrer Hauswirtin Ihr Tischnachbar war, und ein, wie es mir vorkam, sehr amüsanter! Weit genug saß ich von Ihnen entfernt, Ihr heiteres Lachen klang aber oft genug bis zu mir herüber.«

In diesem Augenblick begrüßt der Sekretär, der seine Akten ordnet, von der Estrade her die beiden Damen mit tadelloser Verbeugung. Beide erwidern den Gruß mit freundlichem Neigen des Hauptes, wobei die jüngere stark errötet.

In der Tür links an der Estrade erscheinen fast gleichzeitig der Kreisarzt und ein noch recht jugendlich aussehender Priester. Nach flüchtiger Umschau im Saale zieht sich der Kreisarzt wieder zurück, der Priester aber schreitet zur vordersten Reihe des Publikums und setzt sich auf einen zufällig eben freien Platz, nachdem er der dort in der zweiten Reihe sitzenden Kriminaldame die Hand geschüttelt und deren hübsche Nachbarin mit wohlgefälligem Blicke gemustert. Diese hat von dem Priester kaum Notiz genommen, da sie eben einen andern, in diesem Augenblick in den Saal getretenen Herrn lorgnettieren muß. Der Herr ist in feinem schwarzen Frack, bis auf die fehlenden Handschuhe à quatre épingles. Von der Kriminaldame erfährt sie, daß es der aus der Gouvernementsstadt herübergekommene Advokat sei, der die Angeklagten heute verteidigen werde. »Er ist übrigens schon verheiratet,« fügt die Kriminaldame hinzu, und lacht leise vor sich hin, als die lorgnettenbewaffnete Hand ihrer Nachbarin sofort in den Schoß sinkt. Nach wenigen Augenblicken indes ist die Lorgnette schon wieder in unruhiger Tätigkeit. Gilt es doch, sich die letzten Nachzügler anzusehen, die erhitzt und halb atemlos anlangend, sich am Tisch des Gerichtspristaws melden und sofort in das Zimmer der Geschworenen eilen. Um Haaresbreite wären sie zu spät gekommen. Denn der Pristaw verfügt sich schon in das Zimmer der Gerichtsherren, ihnen die Meldung zu machen, daß alle Beteiligten zur Stelle.

Nur eine Minute darauf, nach einem Klingelzeichen, bei dem sich alle im Saale Anwesenden respektvoll erheben und die Kriminaldame ihre des Brauches unkundige junge Nachbarin etwas plötzlich vom Stuhle emporzieht, betritt das Gericht die Estrade. Hinter der Mitte des langen, etwas bogenförmig ausgeschweiften und mit rotem, quastengeschmückten Tuche behangenen Tisches placieren sich der Präsident und ihm zur Seite die beiden Gerichtsglieder, an dem einen Ende des Tisches der junge Prokureur, an dem andern der Gerichtssekretär. Der recht effektvolle Eindruck der ganzen Gerichtskorona wird noch gehoben durch die von den Wänden der Estrade hernieder schauenden lebensgroßen Bilder des jetzt regierenden Kaisers und seiner beiden Vorgänger.

Der lebhaften jungen Dame gefällt das Ensemble vor ihr ganz gut. »Unsern Gerichtsherren,« äußert sie in ihrer impulsiven Art zu der neben ihr sitzenden älteren Freundin, die das Gericht schon ungezählte Male auf dieser Estrade gesehen hat, »steht ja der schwarze Interimsrock mit den vergoldeten Knöpfen, den dunkelgrünen Sammetaufschlägen, den breiten goldig blitzenden Achselklappen ganz vorzüglich! Die langen dunkeln Roben und schwarzen Baretts der ausländischen Gerichtsherren, die wir aus unsern illustrierten Zeitschriften kennen, haben durchaus nicht meinen Beifall. Ein solches Kostüm gleicht ja dem Amtsornat der lutherischen Pastoren wie ein Ei dem anderen. Was würden Sie wohl dazu sagen, wenn die Herren da vor uns plötzlich in solch ausländischer Richtertracht – haha! ...«

»Um Gottes willen, halten Sie Ruhe, Liebste!« unterbricht sie die Kriminaldame in einiger Erregung, »der Präsident hat schon zweimal Sie über seine Brillengläser hinweg etwas verwundert angesehen. Jetzt darf nicht mehr geschwatzt werden!«

Sechstes Kapitel.

Auf einen Wink des Präsidenten sind die Angeklagten im Saale erschienen. In ihrer grauen Arrestantenkleidung haben sie ihre Plätze auf der Anklagebank eingenommen, hinter ihnen zwei Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett, vor ihnen, an einem besonderen Tischchen, ihr Verteidiger. Alle drei Angeklagten sind kräftig gebaute Männer von einigen dreißig bis vierzig Jahren, die Blässe ihrer Gesichter ist nach siebenmonatlicher Untersuchungshaft erklärlich genug. Einen besonders abstoßenden Eindruck machen sie nicht. Sie blicken vor sich hin mit so gleichmütigem Gesichtsausdruck, als ob die ganze Verhandlung sie eigentlich gar nichts angehe. Die Fragen des Präsidenten nach Namen, Alter, Beschäftigung, bisherigem Wohnort und dergl. beantworten sie so kurz als möglich, und betrachten sich dann die Geschworenen, die in ihrem vollen Bestande an die Estrade herangetreten sind und vom Präsidenten in der üblichen Weise an die ihnen bevorstehenden Obliegenheiten erinnert werden. Nach Anlegung des Epitrachilion Schultertuch. vereidigt der Priester die Geschworenen an dem kleinen, vor der Estrade aufgestellten Betpult. Die von ihm langsam verlesene Eidesformel wird von den Schwörenden Wort für Wort nachgesprochen, und unter nochmaliger Wiederholung des Wortes ›ich schwöre‹, küßt ein jeder von ihnen, sich andächtig bekreuzigend, das auf dem Lesepult liegende Kruzifix und Evangelium. Die Richter, die Angeklagten und das ganze Saalpublikum haben die Vereidigung natürlich stehend angehört. Nachdem sich alle wieder gesetzt, ergreift der Präsident die vor ihm liegenden, aus Kartonpapier hergestellten Billette mit den Namen aller Geschworenen, mischt sie kunstgerecht wie die Spielkarten gemischt werden, legt sie mit der Rückseite nach oben in die vor ihm stehende Urne, und entnimmt derselben zwölf Geschworenenbilletts und zwei Reservegeschworenenbilletts, die herauskommenden Namen laut verlesend. Erst jetzt nehmen die zwölf Ausgelosten ihre der Anklagebank gegenüber placierten Stühle ein, ihrem selbstgewählten Obmann den der Gerichtsestrade am nächsten kommenden Platz überlassend.

Während der Verlesung des Anklageakts, mit welcher der Gerichtssekretär die endlich beginnende Verhandlung der Sache einleitet, haften die Blicke der Geschworenen und der meisten Zuhörer auf den Gesichtern der Angeklagten. Völlig teilnahmlos lassen die drei diese Verlesung des Anklageakts, der die empörenden Einzelheiten der am Dorfschmied verübten Verstümmelung zur Kenntnis aller Anwesenden bringt, über sich ergehen. Auf die vom Gerichtspräsidenten an einen jeden der Angeklagten gerichtete Frage, ob er sich des ihm zur Last gelegten Verbrechens schuldig bekenne, antworten alle drei Angeklagten – verneinend.

Wie jeder, der zum erstenmal einer öffentlichen Schwurgerichtsverhandlung beiwohnt, ist die junge Lorgnettendame allen Vorgängen bisher mit großer Aufmerksamkeit gefolgt, hat natürlich alles ›höchst interessant‹ gefunden und sich mehrmals in diesem Sinne zu ihrer Nachbarin geäußert. Die Vereidigung der Zeugen und des Experten, die eindringliche Vermahnung derselben von seiten des Priesters und nachher noch von seiten des Gerichtspräsidenten, in allen ihren Aussagen streng bei der Wahrheit zu bleiben, sich vor Gott und Gewissen nicht des Meineids schuldig zu machen und nicht zu vergessen, daß sie für wissentlich falsches Zeugnis auch nach dem Gesetz schon schwere Strafe zu gewärtigen haben, erweckte ihr Interesse in schon weit geringerem Grade.

Nachdem die Zeugen, mit Ausnahme des Dorfschmieds, wieder abgetreten und der Kreisarzt als Sachverständiger in der Nähe des Verteidigers Platz genommen, konzentriert sich das Interesse des ganzen Saales auf den vor der Gerichtsestrade stehen gebliebenen Hauptzeugen, den Dorfschmied Ilja Platonow selbst.

Seine hochgewachsene, ziemlich kräftige Gestalt, sein von einem kurzen aschblonden Vollbart umrahmtes, äußerst angenehmes Gesicht in seiner krankhaften Blässe, seine verstümmelten und, mit Ausnahme des erhalten gebliebenen Daumens der linken Hand, völlig fingerlosen Hände mit den häßlichen, tiefgefurchten Narben am Fingerrande der Mittelhand, all das redet an sich schon eindringlich genug zu den Herzen der Anwesenden. In schlichten Worten erzählt er von der an ihm verübten Untat. Dabei äußert er sein Bedauern, daß die Unmenschen, die ihn damals überfielen und marterten, ihn leider nicht vollends getötet, sondern ihn, der allein mit seiner Hände Arbeit sich und seine Familie bis dahin gut erhalten habe, eben dieser ihm so nötigen Hände beraubt und dadurch zu einem völlig arbeitsunfähigen und hilflosen Bettler gemacht, den jetzt sein noch junges Weib und die Kinder ernähren und buchstäblich sein ganzes Leben hindurch mit dem Löffel füttern müßten. Seinen Worten sekundiert das leise Weinen und Schluchzen seines auf der ersten Bank des Zuhörerraums sitzenden Weibes, an das die beiden Kinderchen sich schmiegen mit ihren scheublickenden, ebenfalls verweinten Gesichtchen. In den Mienen der meisten Anwesenden liest man das tiefste Mitleid mit dem armen Menschen und seiner Familie, gepaart mit dem Ausdruck unverhohlener Entrüstung. Einige der Geschworenen schneuzen sich in etwas auffallender Weise, ja trocknen sich verstohlen die feuchtgewordenen Augen. »Zwei der dort sitzenden Angeklagten,« schließt der Schmied seine Aussage, »habe ich in jener Nacht nur zu gut erkannt, das Gesicht des dritten habe ich damals nicht deutlich genug sehen können, habe aber, der Gestalt nach und an der eigentümlich knarrenden Baßstimme, in ihm einen mir persönlich bekannten Arbeiter der nahen Eisenbahnstation vermutet; heute, wo ich den Menschen wieder leibhaftig vor mir sehe und vorhin ihn auf die Fragen Eurer Exzellenz habe antworten hören, bin ich mehr als je davon überzeugt, daß ich mich damals nicht geirrt.«

Durch Vermittlung des Gerichtspräsidenten frägt ihn der Obmann der Geschworenen, ob er denn gar nicht angeben könne, aus welchen Gründen jene Menschen ihn seiner Finger beraubt, ob sie aus eigenem Antrieb oder im Auftrag anderer Personen gehandelt hätten, und ob er denn wirklich solche Feinde habe, denen er die Absicht zutraue, ihn auf irgend eine Weise zum arbeitsunfähigen Krüppel zu machen? Achselzuckend antwortet ihm Ilja Platonow, daß er auch heute zur Stunde nicht genau wisse, aus welchem Grunde gerade jene drei heute auf der Anklagebank Sitzenden, mit denen er vorher nie etwas zu tun gehabt und denen er keinerlei Veranlassung gegeben, an ihm irgend welche Rache zu üben, ihn damals überfielen und verstümmelten; gerade deswegen neige er aber zu dem Glauben, daß sie ihn nur im Auftrag anderer, ihm feindlich gesinnter Personen so schrecklich zugerichtet. – Seit er als arbeitsunfähiger Krüppel seine Schmiede in Golubowo geschlossen, hätten die beiden andern in jener Gegend ansässigen Schmiede nicht mehr über Schmälerung ihres Verdienstes zu klagen gehabt. Er selbst hätte seine Golubowosche Schmiede jetzt gern jemand anderem verkaufen wollen. Das Schicksal, das ihn betroffen, habe aber bis jetzt noch jeden Kaufliebhaber abgeschreckt. Anfangs habe er jene anderen Schmiede wohl stark im Verdacht gehabt, daß sie in irgend einer Weise an dem an ihm verübten Verbrechen beteiligt gewesen. Er habe aber bis zum heutigen Tage nicht die geringsten Beweise dafür, daß jene Schmiede nur aus Brotneid ihm wirklich nach dem Leben getrachtet oder durch gewaltsame Verstümmelung seiner Hände sich von ihm, als einem zu geschickten, zu glücklichen Konkurrenten hätten befreien wollen. Er könne sie daher auch heute nicht verantwortlich machen für die ihm widerfahrene Verstümmelung. Zudem kenne er sie eigentlich so gut wie gar nicht, habe in gar keinem Verkehr mit ihnen gestanden. »Gott mit ihnen!« äußert er zum Schluß, als der Präsident ihm erlaubt, sich auf der Zeugenbank niederzulassen.

Den Aussagen der nun vorgerufenen übrigen Zeugen wandte das Publikum weit weniger Aufmerksamkeit zu. Die Glaubwürdigkeit jener Zeugen, die jeden der drei Angeklagten am 4. Februar abends zu Hause oder an andern Orten gesehen haben wollten, wurde durch den Prokureur unter Konfrontierung mit andern Zeugen, stark erschüttert. Die vom Prokureur ohne alle Schonung bloßgestellten amtlichen Zeugen, der örtliche Urädnik und der örtliche Feldscher, erregten, ob ihrer pflichtvergessenen Handlungsweise, bei den Geschworenen und im Publikum sichtlichen Unwillen. Die einzige Zeugin, die den Dorfschmied einige Stunden nach der an ihm verübten Untat gesehen, die alte im nächsten Dorfe wohnende Witwe, die ihn in der Nacht beherbergt, ihm Wasserumschläge gemacht und die Hände verbunden hatte, wurde durch den Kreisarzt mit Bewilligung des Gerichtspräsidenten, noch ausführlicher befragt. Sie mußte zugeben, daß sie an den Fingern ihres nächtlichen Gastes außer bläulichroter, offenbar stark geschundener und zerquetschter Hautstellen, auch reines geronnenes Blut und längliche schmale Wunden bemerkt habe, die wohl von Schnitten mit einem Taschenmesser herrühren konnten. Durch andere Zeugen, die auf Veranlassung des Kreisarztes ebenfalls ausführlicher befragt wurden, konnte festgestellt werden, daß der stets nüchterne Dorfschmied auch am 4. Februar weder in der Stadt noch unterwegs angetrunken gewesen sei, daß er tatsächlich mit bloßen Händen und in gewöhnlichen hohen Lederstiefeln und nicht sonderlich warmer Kleidung rittlings auf seinem Schlittchen gefahren sei, und daß an ihm trotzdem, außer den Zerstörungen der Finger, weder an den Füßen noch an Ohren, Nase oder Wangen irgendwelche andern Zeichen eines auch nur leichten Frostschadens zu bemerken gewesen wären, daß ferner an jenem Nachmittag und Abend die Kälte nicht bedeutend gewesen und reichlicher Schnee gefallen wäre.

Der nach den Zeugen vorgerufene Expert resümierte in kurzem alles, was für die Glaubwürdigkeit der Aussagen des Schmieds von gerichtlich-medizinischem Standpunkt aus, auf Grundlage des soeben beendeten Zeugenverhörs und der von ihm selbst im März in der Polizeiverwaltung und später beim Untersuchungsrichter vorgenommenen ärztlichen Untersuchung desselben, zu verwerten war. Selbst die geringste Möglichkeit, daß der Schmied seine Finger nur infolge zufälliger starker Erfrierung derselben eingebüßt haben könne, stellte er strikt in Abrede – mit dem Hinweis auf das völlige Fehlen irgend welcher Erfrierungsspuren an andern Körperteilen, auf die Aussage des Weibes, das ihm die erste Hilfe geleistet, und auf die tatsächlich nicht allzuwarme Kleidung und den völlig nüchternen Zustand des Mannes in jener nicht sonderlich kalten Februarnacht. Er erwähnte, daß er, so lange er im Dienste stehe, sich im Kalender tägliche Aufzeichnungen über die Witterungsverhältnisse mache. Für den 4. Februar sei in seinem Kalender notiert – morgens wohl noch zehn Grad, aber abends nur zwei Grad Kälte. Des weitern hob er hervor, daß dem Schmied, wenn ihm am 4. Februar nur die Weichteile der Fingerenden und Stücke der Nägel mit dem Messer abgeschält worden wären und er damals keine weiteren Mißhandlungen der angeschnittenen Finger zu erdulden gehabt hätte, wahrscheinlich nur die Nagelglieder einiger Finger verloren gegangen wären, und daß der Verlust aller drei Glieder seiner Finger, infolge brandig gewordener Entzündung der zerquetschten Weichteile und teilweise gebrochener Knochen, an sich eigentlich schon die weiteren Aussagen des Schmieds über die in dem kalten Wasser des Flusses bewirkte Erstarrung der angeschnittenen Finger und die darauf erfolgten schweren Verletzungen derselben durch die auf ihnen herumtretenden Füße seiner Peiniger bestätige. Schließlich betonte er noch, daß Ilja Platonow durch die an ihm verübten barbarischen Mißhandlungen auch dann ein arbeitsunfähiger Krüppel geblieben wäre, wenn er genügend früh ins Krankenhaus abgefertigt worden oder sonst ausreichende chirurgisch-ärztliche Pflege gehabt hätte, nur daß in solchem Fall die Heilung der Handstümpfe schneller vor sich gegangen wäre und sich an ihnen weniger häßliche Narben gebildet hätten.

Mit dieser Meinungsäußerung des Experten war die Zeugenverhandlung der Sache erledigt.

Die Glieder des Gerichtshofs zogen sich auf ein Viertelstündchen in ihr Zimmer zurück, um sich bei einem Glase Tee und einigen Zigaretten etwas zu erholen. Auch die Geschworenen begaben sich in ihr Beratungszimmer, um die kleine Gerichtspause in ähnlicher Weise auszunutzen.

Im Begriff, den Gerichtssaal ebenfalls auf eine kleine Weile zu verlassen, wurde der Kreisarzt aufs freudigste überrascht durch den unerwarteten Anblick seines, den Lesern dieser Zeilen schon bekannten Jugendfreundes, des baltischen Doktors! Unbemerkt vom Kreisarzt war jener zu Anfang des Zeugenverhörs in den Saal gelangt, und hatte auf der hintersten Bank des Zuhörerraums ein bescheidenes Eckplätzchen gefunden. Jetzt drängte er sich durch die im Seitengang stehenden Personen dem Freunde entgegen.

»Na, das hättest du dir wohl nicht träumen lassen, alter Junge,« rief er, ihn herzlichst begrüßend, »daß du bei deiner soeben vom Stapel gelassenen Expertise gerade noch mich zum Zuhörer haben würdest? Hast deine Sache übrigens gut gemacht, sehr gut! In dieser Sache war ein Expert, der dem Prokureur, so wie du es soeben getan, freie Bahn schuf, gewiß vonnöten. Bist und bleibst in meinen Augen – ein Professor in partibus infidelium!«

»Ach, Bester, verschone mich nur mit deinen ironischen Lobpreisungen!« wehrte der Kreisarzt ab, unwillkürlich auflachend beim Anschauen des glücklichen Gesichts seines Freundes und seiner arg vernachlässigten Reisefrisur. »Ich würde mich ja gewiß freuen, wenn durch meine Mithilfe die Scheusale dort um so sicherer verdonnert werden sollten, doch viel, viel mehr freue ich mich über dein Erscheinen! Wie, ins Himmels Namen, bist du denn gerade heute in unser Städtchen gekommen, und sofort auch hierher in den Sitzungssaal geraten?«

»Sehr einfach,« erklärte der baltische Doktor, mit dem Kreisarzt im Saale vor der jetzt leeren Estrade langsam auf und abgehend. »Du hast's wohl vergessen, daß du in deinem Brief, in welchem du mir einiges über den armen Verstümmelten, den ich im März bei meiner Durchreise flüchtig in deiner Wohnung gesehen, mitteiltest, beiläufig auch erwähnt hattest, daß Mitte November die Verhandlung der Sache im hiesigen Bezirksgericht vor sich gehen würde. Nach dieser Notiz richtete ich mich beim Antritt meiner zweiten Moskauer Fahrt. Jetzt ist dort, gottlob, alles geordnet; ich bin auf der Rückreise und habe noch über einige freie Tage zu verfügen.«

»Warst du denn schon in meiner Wohnung? Meine Frau ...« unterbrach der Kreisarzt den lebhaft Redenden.

»Na, mein Bester, ich hatte dir doch damals im März fest versprochen, dir im Fall einer nochmaligen Reise nach Moskau einen etwas längeren Besuch zu machen!« fuhr der Balte in seiner Erklärung fort. »Also, von der Bahn fuhr ich direkt in dein Quartier! Habe mich da deiner Frau vorgestellt, die mich nach Nennung meines Namens äußerst liebenswürdig empfing. Sie bedauerte, daß du heute schon so früh von Hause fortgefahren, weil du als Expert ins Bezirksgericht zitiert worden, wo ja heute der interessante Fall des Schmieds mit den abgeschnittenen Fingern ... Kaum das hören, aufspringen, ich glaube sogar ohne Adieu, hierhereilen, nun, so etwas kriegt meines Vaters Sohn schon fertig!«

»Aber da wollen wir doch lieber sofort nach Hause!« schlug der Kreisarzt vor. »Meine Anwesenheit ist hier nicht mehr nötig. Komm also, wir ...«

»Aber nicht doch, alter Freund,« wehrte der baltische Doktor ab; »wir sind doch beide – vom Handwerk! Ich schlage vor noch ein Weilchen hier auszuhalten. Es gibt hier ja sogar manche Augenweide ... Die kleine Stumpfnase, die uns schon eine Weile scharf lorgnettiert, ist nicht übel ... Und dann möchte ich doch noch gern den Prokureur hören, den Verteidiger ... möchte überhaupt das Ende der Sache abwarten.«

»Nun, wie du willst,« gab der Kreisarzt nach, der übrigens ganz genau wußte, daß den Freund jetzt keine zehn Pferde aus dem Saale bringen würden, ehe er nicht die ganze Geschichte bis zu Ende genossen.

Er besorgte sich und dem Freunde bessere Plätze, von wo aus sie den ganzen Saal bequemer übersehen konnten. Sie setzten sich, plaudern konnten sie aber nicht mehr miteinander, die Gerichtspause war zu Ende.

Siebentes Kapitel.

Nach dem Wiedererscheinen des Gerichtshofes und der Geschworenen im Saale, erteilte der Präsident das Wort dem Prokureur.

Bei der im ganzen sehr einfachen Sachlage konnte der Prokureur sich ziemlich kurz fassen. Es sei, betonte er, kein einziger Grund vorhanden, dem Hauptzeugen, dem an seinem Leibe so grausam Geschädigten, der die Wahrhaftigkeit seiner Aussagen vorher noch mit feierlichem Eide beschworen, keinen Glauben zu schenken. Nach den Ausführungen des ärztlichen Experten sei die Verstümmelung der Hände tatsächlich in der vom Geschädigten angegebenen Weise erfolgt, und sei im vorliegenden Fall gar keine Möglichkeit vorhanden, die Zerstörung und den Verlust der Finger als zufällige Abfrierung mit darauffolgender brandiger Entzündung anzusehen. Der Alibibeweis, den die Angeklagten zu führen versucht hätten, sei zu lückenhaft und überhaupt total ungenügend ausgefallen. Beteiligt seien an der ruchlosen Tat alle drei Angeklagten, die ja auch soeben hier im Saale alle drei von dem Geschädigten wiedererkannt worden seien. Zwei Menschen hätten ohne Hilfe eines dritten den selbst ziemlich kräftigen Schmied niemals in der von ihm geschilderten Weise vergewaltigen und verstümmeln können. Er, als Prokureur, halte die Anklage wider alle drei Angeklagten in ihrem vollen Umfange aufrecht, und ersuche die Geschworenen um ein die Schuldfrage bejahendes Verdikt.

Nach ihm erhielt das Wort der Verteidiger.

Die Angeklagten befanden sich von Hause aus in ziemlich dürftigen Verhältnissen. Trotzdem hatten sie Mittel gefunden, ihre Sache einem der besten Advokaten der Gouvernementsstadt zu übertragen. Es war ein wirklich tüchtiger Jurist, der in Kriminalprozessen oft genug die Geschworenen zu einem freisprechenden oder wenigstens die Schuldfrage sehr mildernden Verdikt zu bewegen wußte.

Heute, in der Sache des Dorfschmieds, sprach er augenscheinlich vor ziemlich tauben Ohren. Sein Versuch, das Alibi der Angeklagten aufrecht zu erhalten, machte auf die Geschworenen fast gar keinen Eindruck. Noch weniger gelang es ihm, die Geschworenen zu überzeugen, daß der Schmied sich einfach durch eigene Schuld die Finger abgefroren habe, und damit den armen Menschen, ohne Rücksicht auf den von ihm geleisteten Zeugeneid, als gewissenlosen, meineidigen Ankläger dreier an seinem Unglück ganz unschuldiger Menschen, gegen die er vielleicht aus irgend welch anderem Grunde einen furchtbaren Haß nähre, zu brandmarken. Geradezu unangenehm berührte die Geschworenen seine, in striktem Widerspruch mit der vorangegangenen ärztlichen Expertise aufgestellte Behauptung, daß starke Erfrierungen schon in den nächsten Stunden nach dem Unfall solch ein Aussehen annehmen könnten, wie es die alte Witwe damals an den blutigen Fingern ihres nächtlichen Gastes bemerkt haben wolle, – und sein in der Erregung des Augenblicks gegen den Experten gemachter Ausfall, als ob dieser Arzt solch allbekanntes Faktum absichtlich und wider besseres Wissen nicht zugeben wolle, weil es eben mit seinen übrigen Ausführungen und Schlüssen unvereinbar sei! Sollten aber die Geschworenen unerschütterlich an der Ueberzeugung festhalten, daß der Schmied von fremder Hand absichtlich verstümmelt worden sei, so bäte er sie doch dringend, in keinem Fall die heute auf der Anklagebank Sitzenden dieser Tat zu bezichtigen. Diese Menschen hätten nie die geringste Ursache gehabt, dem Schmied Böses zu wünschen oder an ihm gar irgend einen Racheakt zu verüben. Wenn die Sache sich wirklich so verhalte, wie sie der Schmied darstelle, so sei es doch sehr unwahrscheinlich, daß der im Dunkel der Nacht so unverhofft überfallene, gewaltsam am Schreien verhinderte und bis zur Bewußtlosigkeit mißhandelte Unglückliche die Uebeltäter auch wirklich mit voller Sicherheit erkannt habe.

Der Prokureur verzichtete auf irgend welche Entgegnung.

Das ihnen zustehende ›letzte Wort‹ benutzten die Angeklagten nur zu einem etwas plötzlichen Fußfall und zu der Bitte, die Geschworenen möchten sie schonen und ihre Familien nicht der Ernährer berauben, da sie sich wirklich keiner Schuld bewußt seien.

Vor Uebergabe des Fragebogens resümierte der Präsident in einigen kurzen Worten den Gang und das Ergebnis der soeben abgeschlossenen Gerichtsverhandlung, erinnerte die Geschworenen an die bei Beantwortung der im Fragebogen enthaltenen Punkte zu beobachtende Ordnung, und namentlich noch daran, daß sie das Für und Wider in der Sache der Angeklagten nur nach gewissenhafter Prüfung der vorhin vernommenen Zeugenaussagen abzuwägen, ihr Verdikt zu fällen hätten ohne alle Voreingenommenheit, und ohne sich durch die vom Experten abgegebene Meinungsäußerung oder durch die vom Prokureur und Verteidiger vorgebrachten Ansichten zu sehr beeinflussen zu lassen. Sie hätten nur die eine Frage zu entscheiden: haben die Angeklagten den Schmied meuchlings überfallen und verstümmelt – oder haben sie es nicht getan? Wenn sie zu der Ueberzeugung kämen, daß die Angeklagten tatsächlich das Verbrechen verübt, so hätten sie die etwaigen Motive der Tat, ob sie im Auftrag anderer und gegen Bezahlung geschehen sei, oder ob es sich um irgend welche persönliche Rache handle, gar nicht in den Kreis ihrer Betrachtung zu ziehen, da weder die Voruntersuchung noch die heutige Verhandlung über solche Motive etwas Positives erbracht habe. Sie, die Geschworenen, sollten nur daran festhalten, daß die Angeklagten das ihnen zur Last gelegte unerhörte Verbrechen in keinem Fall verüben durften, einerlei welche Motive dabei auch mitgewirkt haben mochten. Die innersten geheimsten Triebfedern, die zu einem Verbrechen geführt, blieben ja oft genug den Geschworenen und Richtern völlig unbekannt; dieser geheimsten Motive wegen hätten sich die Uebeltäter nicht vor uns Menschen zu verantworten, vor Geschworenen und Richtern, sondern nur vor dem allwissenden Gott! –

Die Geschworenen entfernten sich zur Beratung.

Auch der Gerichtshof und Prokureur und Verteidiger verließen den Saal, in welchem es, trotz der sich unermüdlich drehenden kleinen Schornsteinventilatore und trotz Offenstehens der im Rücken der Zuhörer befindlichen Luftfensterchen, doch schon recht schwül geworden war.

In der festen Voraussetzung, daß die Beratung der Geschworenen nicht allzulange dauern werde, blieb der Kreisarzt mit seinem Freunde im Saale zurück.

Anknüpfend an das Resümee des Gerichtspräsidenten sprachen sie über die Motive des Attentats, dessen Opfer der Dorfschmied geworden. Beide stimmten darin überein, daß keine Strafe zu hoch sei für das scheußlichste aller Verbrechen, einen Menschen zu morden oder zu verstümmeln im Auftrag anderer im Hintergrund bleibender Personen, und für eine von jenen in Aussicht gestellte klingende Belohnung!

»Ich habe seit dem März dieses Jahres,« gestand der baltische Doktor mit dem ihm eigenen Freimut, »durch meine zweimalige Reise nach Moskau das eigentliche Rußland doch besser kennen und gerechter beurteilen gelernt. Meine frühere ›Russenfresserei‹ hat einen argen Stoß erlitten ... Habe mich auch etwas eingehender beschäftigt mit Kriminalstatistik bei uns und anderswo. Selbst heute, unter dem Eindruck dieser Gerichtsverhandlung, die alle Einzelheiten einer beispiellos bestialischen Tat zur öffentlichen Kenntnis brachte, kann ich die Russen, speziell die russischen Bauern, nicht mehr verantwortlich machen für die grausamen Handlungen einzelner Auswürflinge.«

»Jeder dieser drei Kerle,« sekundierte ihm der Kreisarzt, »hat gehandelt wie der berüchtigte, nur ins russische übersetzte italienische Bravo, der um klingenden Lohn bereit ist, jeden beliebigen Menschen aus dem Hinterhalte zu meucheln. Im übrigen aber dürfte der heute verhandelte Fall, der ein aus reinem Brotneid geplantes Radikalmittel gegen mißliebige Konkurrenz illustriert, eben dieses Motivs wegen und wegen der absonderlichen Bauernschlauheit, mit der einem schändlichen Verbrechen der Schein eines selbstverschuldeten Unglücksfalls gegeben werden sollte, in der Kriminalkasuistik ziemlich vereinzelt dastehen!«

»Und was die unter Umständen zu Tage tretende Grausamkeit des Landvolks anlangt,« beendete der baltische Doktor sein Geständnis, ... »na, in meinem Koffer habe ich einige Gerichtsverhandlungen aus Rigaschen Zeitungen, da findest du hübsche Pendants zu der heutigen Dorfschmiedsache. Haarsträubend ist die Grausamkeit, mit der auch unsere lettischen Bauern die in ihre Hände gefallenen gewerbsmäßigen Pferdediebe zuweilen martern und lynchen! Freilich ist die grausame Rache des Bestohlenen, der durch den Verlust seines Pferdes sich seines allernötigsten Existenzmittels beraubt sieht, eher zu begreifen, als die kaltblütige Grausamkeit, mit der die heute zu richtenden Schurken ihren einmal gefaßten Vorsatz ausführten, aber ...«

Ihr Gespräch wurde abgeschnitten durch den plötzlich erklingenden sonderbar schrillen Ton der an der Tür des Geschworenenzimmers angebrachten Glocke. Es war das Zeichen, daß die Geschworenen sich über ihren Urteilsspruch geeinigt hatten.

In den Gesichtern der Angeklagten, welche die ganze Zeit nach dem Abgang der Geschworenen wieder in stumpfer Gleichgültigkeit vor sich hingestarrt hatten, malte sich doch etwas wie Spannung, als jetzt die Glieder des Gerichts und gleich nach ihnen die Geschworenen wieder im Saale erschienen.

Unter lautloser Stille überreichte der Obmann der Geschworenen den Fragebogen dem Präsidenten, der ihn nach schnellem Einblick wieder zurückgab. Dann verlas er mit fester Stimme die in Betreff jedes der drei Angeklagten besonders gestellte Schuldfrage, dreimal das schicksalsschwere Wort ›ja, schuldig!‹ betonend.

Zwei der Angeklagten waren dabei auffallend erbleicht, der dritte hatte das ›Schuldig‹ mit einem bösen Aufleuchten der Augen quittiert.

Der Prokureur teilte dem Gerichtshof mit, auf Grundlage welcher Paragraphen des Strafgesetzes das Urteil seiner Meinung nach zu fällen wäre. Der Präsident und die beiden Glieder des Gerichts zogen sich zu einer kurzen Schlußberatung zurück. Der Prokureur war im Saale zurückgeblieben, auf dem hintern Teil der Estrade mit dem Kreisarzt und dessen Freunde plaudernd.

Im Saale entstand eine kleine Bewegung. Das Weib des Schmieds war von einer leichten Ohnmacht befallen worden. Ein ihr vom Gerichtsexekutor gereichtes Glas Wasser brachte sie indes schnell wieder zum Bewußtsein. Der auf der Zeugenbank sitzen gebliebene Dorfschmied hatte, in trübem Sinnen auf seine verunstalteten Hände starrend, die kleine sich hinter seinem Rücken abspielende Szene nicht einmal bemerkt.

Zum letztenmal betrat der Gerichtshof die Estrade – zur Verkündigung des Urteils. Es lautete für alle drei Angeklagten auf Verschickung nach Sibirien zu mehrjähriger Zwangsarbeit!

Das Drama war zu Ende. Rasch leerte sich der Saal. Die Verurteilten wurden abgeführt – zurück ins Gefängnis. –

Eine Fuhrmannsdroschke brachte die beiden Freunde schnell nach Hause.

»Schön guten Abend, gnädige Frau!« rief der baltische Doktor, hinaufgrüßend zum Fenster der Kreisarztwohnung, an welchem er die ihrer harrende Frau seines alten Freundes erblickt hatte.

Beide eilten die Treppe hinauf. Aus der Küche duftete es gar gastlich nach kräftigem Braten und andern guten Gottesgaben.

»Wir kommen gerade zu rechter Zeit,« schmunzelte der Kreisarzt, seinen Gast ins Speisezimmer dirigierend, wo auf der sauber gedeckten Mittagstafel, der Novemberdämmerung zu Ehren, die Kerzen zweier Armleuchter von der Hausfrau soeben angezündet wurden. –

*

In einer weit entfernten Gegend des benachbarten Kreises hat sich bald nach den in diesen Blättern geschilderten Vorgängen ein neuer Schmied niedergelassen, ein Schmied mit Familie und zwei Gehilfen, einem alten und einem jungen. Da er keine Finger besaß, sondern nur unregelmäßig vernarbte Handstümpfe, erregte er anfangs berechtigtes Aufsehen. Selbst arbeitet er natürlich nicht. Aber vom Morgen bis zum Abend weilt er in seiner musterhaft eingerichteten Schmiede, und leitet und überwacht die Arbeiten seiner Gehilfen mit solcher Sachkenntnis, daß er mit dieser Schmiede sein Fortkommen hat, wenn auch nicht gerade sehr glänzend, so doch ohne daß es ihm und seiner Familie an irgend etwas mangelt.

Auf die Fragen, wie und wo er seiner Finger verlustig gegangen, soll er, als er in jener Gegend erschien, nur kurzausweichende Antworten gegeben, niemals aber darauf angespielt haben, daß ihm die Finger durch meuchlerische Messerschnitte und sonstige Mißhandlungen verstümmelt worden, und daß die Unmenschen, die ihm solches angetan, in Sibirien bei Zwangsarbeit ihre Schuld verbüßen.

Jetzt fragt ihn niemand mehr nach seinen früheren Schicksalen. Die Bevölkerung hat sich an ihn gewöhnt und findet jetzt weiter nichts Wunderbares daran, daß ein Mensch ohne Hände mit seiner Schmiedearbeit sich und die Seinen ernährt und ehrlich durchbringt.


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