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Die ›Jerichoposaune‹

Erstes Kapitel.

Wolkenlos blau der Himmel, herzerfreuender Frühsonnenschein. Die frische Frühlingsluft voll würzigen Duftes der jungen, hellgrünen, wie lackiert aussehenden Blätter der Birken und Pappeln in der Nähe des Weges. Und kräftiger Erdgeruch aus den soeben vom Pfluge frisch umgelegten Schollen. In den Chausseegräben, an Feldrainen, und unter den in kleinen Gruppen verstreuten Bäumen kurze Halme aufsprießenden Grases mit neugierig hervorlugenden Frühblümchen. In Niederungen und am Nordabhang einiger Bodenerhöhungen weißblinkende Reste unaufgetauten Schnees. Gaukelnde Schmetterlinge, gelbweiß mit schwarzen Ecktupfen oder braunschwarz mit rostfarbenen Randfiguren, – rundum munteres Vogelgezwitscher, langsam vorübersegelnde Störche, vom Saume des Waldes Kuckuckruf, schier unermüdlich sich wiederholend und ›langes Leben‹ verheißend jedem, der fragend hinhorcht.

In dem gelbgetünchten, steinernen, einstöckigen Stationsgebäude an der, zwei Kreisstädte des Gouvernements miteinander verbindenden Chaussee, im besten der für die Durchreisenden reservierten Zimmer, sind die Fenster weit geöffnet. Die drinnen Beschäftigten wollen auch ihr Teil haben an dem freundlichen Frühlingszauber draußen.

Vor der aus dem Flur in jenes Zimmer führenden Tür steht ein baumlanger Ssotzki (Dorfpolizist), die Klinke in der Hand. Er läßt nur diejenigen Leute passieren, die vom Untersuchungsrichter auf den heutigen Tag hierher beschieden sind, einzeln nach namentlichem Aufruf. Draußen, in der Nähe der Stationstreppe, auf dem Hofe der Station und in der nahen Schenke, warten die auf heute Zitierten, viele von ihnen bei ihren Wagen und Pferden. Ein zweiter Ssotzki steht an der Pforte des Stationshofs, als Hüter der öffentlichen Ordnung.

Drin im Zimmer, auf dem harten Sofa, hinter dem runden, jetzt mit Papieren und Aktenheften bedeckten Tische, sitzt der Untersuchungsrichter in einfachem Dienstanzug. Groß von Wuchs, breitschultrig, von militärisch strammer Haltung, trotz seiner kaum 35 Jahre mit äußerst dünnem Haarwuchs und kleiner Glatze, – in dem großen, hochstirnigen, länglichen, stets blassen Gesichte, mit seinen nicht großen aber lebhaft blickenden Augen, der Ausdruck nicht gewöhnlicher Intelligenz und Willensenergie. Er hat sich zurückgelehnt an die steile Hinterwand des Sofas und fixiert ernsten Blickes die drei vor ihm stehenden Personen. Es sind das ein ziemlich dürftig gekleideter Bauer mit fast kahlem Kopfe und gelblich weißem Vollbart um das kleine, äußerst gutmütig dreinschauende Gesicht, – der Sohn des Alten, ein kräftiger, ziemlich wohlgenährter Mensch von kaum 23 Jahren, mit ebenfalls gutmütigen, jetzt aber durch finster zusammengezogene Augenbrauen und aufgeworfene Lippen etwas entstelltem Gesicht, – und sein neben ihm stehendes, junges, auffallend hübsches Weib, das den Untersuchungsrichter mit seinen nußbraunen Augen in dreister Weise anstarrt, und dem offenbar der aus der Stadt herübergekommene Herr weit weniger zu imponieren scheint als ihrem Manne und Schwiegervater. Das junge Paar ist gut gekleidet, fast etwas stutzerhaft.

Neben dem Untersuchungsrichter sitzt der Arzt, der mit ihm zusammen heute morgen auf der Station eingetroffen, um den Gesundheitszustand verschiedener Personen, die in der letzten Zeit wegen allerlei Mißhandlungen oder Verletzungen klagbar geworden waren, zu untersuchen. Soeben hatte er den vor ihm stehenden alten Bauern besichtigt, und auf den Armen und dem kahlen Kopfe desselben mehrere blaue Flecken und Schrammen gefunden. Seiner Meinung nach rührten diese Spuren von Schlägen her, die dem Alten vor etwa einer Woche beigebracht worden. Sie wären, da zum Glück die Armknochen und der Schädel keinen Schaden genommen, als leichte Verletzungen zu bezeichnen, trotz des hohen Alters des Mißhandelten.

Das Verhör des alten Bauern, seines Sohnes und der Schwiegertochter hatte der Untersuchungsrichter schon vorher beendet, und ihre Aussagen protokolliert.

Der ältere Sohn des Bauern diente zur Zeit in Warschau als Soldat, vorläufig wollte der Alte sein Anwesen noch selbst bewirtschaften, dann aber, nach der Heimkehr des älteren Sohnes, seinen Besitz unter beide Söhne teilen, sich nur freie Verpflegung bis zum Tode vorbehaltend. Bis zu seiner vor einiger Zeit erfolgten Verheiratung war das Verhältnis des jüngeren Sohnes zum Vater kein schlechtes gewesen. Seit seiner Verheiratung aber empfand er, hauptsächlich wohl auf Anstiften seines jungen, herrschsüchtigen Weibes, den Vater als unangenehme Zugabe, warf ihm vor, daß er bei seiner Schwäche nicht mehr ordentlich arbeiten könne, und also ein unnützer Brotesser sei, – und wollte nicht, daß er sich einmische in die Wirtschaft und Arbeitseinteilung, oder mitrede beim Verkauf der Ernteüberschüsse und Ankauf der Haushaltsbedürfnisse und Haustiere. Wenn Worte allein nichts fruchten wollten, hatte er auch schon öfters die Hand gegen den Vater erhoben, ihn gestoßen und geschlagen, ja bei dem letzten Anlaß dieser Art den Vater gar mit dem Stocke empfindlich mißhandelt. Dadurch zum äußersten gebracht, bittet der Alte jetzt den Untersuchungsrichter, den unbotmäßigen Sohn nach dem Gesetz zu der üblichen Strafe verurteilen zu lassen, und ihn zu zwingen, in Zukunft Frieden zu halten, und sich nicht mehr tätlich an ihm zu vergreifen. – Der Sohn hatte dem Untersuchungsrichter zugegeben, daß er gegen den Vater oft ungehorsam gewesen und ihn auch mehrmals geschlagen habe, das letzte Mal sogar mit einem Stock. Er könne es sich aber nicht gefallen lassen, als erwachsener und verheirateter Mensch, der selbst bald Vater eines Kindes sein werde, daß der alte Vater ihm nicht die nötige Freiheit gebe, zu tun, was ihm beliebe. Er sei eben ein hitziger Mensch. Es tue ihm natürlich auch leid, den Vater das letzte Mal zu sehr geschlagen zu haben. Aber der Vater solle ihn eben in Ruhe lassen, dann würde er ihn mit keinem Finger mehr anrühren. – Das junge Weib hatte vollständig in Abrede gestellt, ihren Mann gegen den Alten aufgehetzt zu haben. Ihr Mann wisse selbst, was er zu tun habe. Der Alte sei ein rechthaberischer, zanksüchtiger Mensch, und habe auch an ihr immerfort allerlei auszusetzen. Sie selbst habe den Alten nie mißhandelt.

Von dem Verhör der übrigen, in dieser Sache zitierten Zeugen nimmt der Untersuchungsrichter vorläufig Abstand.

Im Bestreben, diesen Familienzwist in Güte beizulegen, ihn gar nicht vors Gericht zu bringen, schickt er den Alten wie den Sohn aus dem Zimmer hinaus, – und beginnt auf das junge Weib einzureden.

Seine Stimme, an sich ein angenehmer, nicht zu tiefer Baß, klingt bei solchen Anlässen immer viel lauter, als gerade nötig, und schwillt dazwischen zu ganz respektabler Klangfülle an.

»Deinen Mann liebst du doch, Törin, die du bist? Möchtest nicht ohne ihn zu Hause versauern? Und wenn dir Gott vielleicht bald ein Kind schenkt, so möchtest du das Kind nicht allein erziehen, ohne Hilfe deines Mannes? – Bei deinen langen Flechten und kurzem Verstände hast du wohl geglaubt, daß es nicht viel zu bedeuten habe, wenn der Sohn gegen seinen Vater die Hand erhebt, ihn schlägt? – Ich will's dir sagen, welche Strafe darauf steht: deinen Mann erwartet die Arrestantenrotte, ja Sibirien! – Wenn du an meinen Worten zweifelst, laufe doch in die Stadt zu den Advokaten, – sie werden dir alle dasselbe sagen. In solchen Sachen braucht der alte Vater gar keine Zeugen. Seine eigene Aussage genügt – und die Meinung des Doktors. Siehst du, so steht jetzt eure Sache! Nur wenn der Alte diesmal noch verzeiht, nur dann bleibt dein Mann diesmal noch straflos. – Freilich muß er sich in Zukunft dann sehr zusammennehmen, nicht wieder in so grober Weise zu sündigen – gegen das fünfte Im evangelisch-lutherischen Katechismus das vierte Gebot. Gebot! – Wie heißt der Priester in eurem Pogost? Pogost – heißt die ganze Gruppe der in nächster Nähe der Kirche gelegenen Wohnhäuser des Priesters und der sonstigen Diener der Kirche, mit Einschluß der Häuser aller andern Personen, die sich im Laufe der Zeit dort niedergelassen. Vater Pawel? – Geh hin zu ihm, du arme Törin, laß es dir von ihm erklären, was es mit diesem fünften Gebot auf sich hat. – Und wenn du selbst Kinder haben wirst, so siehe zu, daß du sie von Jugend auf erziehst – streng nach dem fünften Gebot. Bei aller Liebe zu ihnen, gib ihnen früh die Rute zu kosten, wenn sie die Ehrfurcht, die sie ihren Eltern schuldig sind, auch nur im geringsten zu verletzen wagen. Nur dann – wirst du Freude haben an deinen Kindern! – Und wenn einst du und dein Mann alt und schwach geworden, so werdet ihr dann nicht das zu erleben brauchen, was dein alter Schwiegervater jetzt an seinem Sohne erlebt. – Na, ich glaube, du hast begriffen, was du jetzt zu tun hast?«

Er trat ganz nahe an das Weib heran.

»Ich glaube, dein Mann ist noch – recht verliebt in dich! Er wird dir in allem zu Willen sein. Geh also jetzt zu ihm, wasch ihm tüchtig den Kopf! – Laß ihn den Alten bitten, ihm dieses eine Mal noch zu verzeihen, – heilig soll er ihm dabei versprechen, ihn nicht mehr so schlecht zu behandeln! – Rede auch du dem Alten zu, so gut du es verstehst. Er sieht ja gutmütig genug aus. Sein Herz wird gewiß kein Stein bleiben, wenn du selbst ihn hübsch bittest. – Geh jetzt, mach deine Sache gut! – Und schicke dann den Alten und deinen Mann hierher zu mir, damit ich ihre Versöhnung auch hier,« er wies auf die in braunem Umschlag vor ihm liegenden Akten des Falls, »in gültiger Weise verschreibe. Geh jetzt mit Gott, meine Liebe! Du selbst brauchst nicht mehr hierherzukommen. Ich wünsche dir und deinem Mann – alles Gute!«

Das junge Weib hatte bei des Untersuchungsrichters eindringlichem, laut wie eine Kirchenglocke tönendem Zuspruch – seine dreiste Zurückhaltung sehr bald verloren, hatte sogar ein paar Tränen vergossen. Mit mehrmals wiederholtem ›Dank, Euer Wohlgeboren, vielen Dank!‹ verläßt das junge Weib das Zimmer unter tiefen Verbeugungen.

Während der überlauten Vermahnung des Weibes ist es im Nebenzimmer, wo vorhin, hinter der schlechtschließenden Tür, zufällig passierende Reisende sich sehr ungeniert miteinander unterhalten hatten, mäuschenstill geworden. Ebenso still ist es geworden – auf der Straße, unter den offenen Fenstern. Auch dort hat man den weithinschallenden Versöhnungsversuch des Untersuchungsrichters offenbar mit großer Teilnahme verfolgt.

»Na, da habe ich wieder einmal meinem Spitznamen Ehre gemacht,« wendet sich der Untersuchungsrichter an den Arzt, »nicht wahr, ich bin und bleibe die unverbesserliche Jerichoposaune?«

Der Arzt antwortet nichts, schüttelt ihm nur lächelnd die Hand.

Beide Herren stehen am offenen Fenster, dem Schwalbenpaar zuschauend, das mit allerlei winzigem Remontematerial im Schnabel in das oben am Fenstersims befindliche Nest hineinschlüpft, und sich dann wieder hinausschwingt zu neuer Suche. Ein kleines, barfüßiges Mädchen draußen schlägt mit einigen frischabgerissenen Faulbaumzweigen nach vorübersummenden Fliegen. Der Untersuchungsrichter, ein großer Kinderfreund, ruft die Kleine zum Fenster. Gegen einen silbernen Zehner empfängt er von ihr die wenigen Zweiglein mit den kaum geöffneten Blütenknospen, voll schwachen Bittermandelngeruchs. Eine andere barfüßige Kleine spielt mit einem Sträußchen Apfelbaumblüten. Als sie bemerkt, daß die Herren am Fenster für die Faulbaumzweige Geld gegeben, trippelt sie eilends heran ihr Sträußchen anbietend. Die Herren geben auch diesem blauäugigen Krauskopf ein kleines Geldstück, ihr Sträußchen aber nehmen sie nicht. Der Untersuchungsrichter bemerkt der Kleinen, daß sie solche Blüten nicht abreißen dürfe, daß sie eigentlich so eben Aepfel gestohlen, – und gibt dem draußen stehenden Ssotzki mit möglichst sanftem Tone und lustigem Augenzwinkern den Befehl, die kleine Sünderin zu arretieren. Obgleich der Ssotzki, den Scherz des Untersuchungsrichters verstehend, sich von seinem Platze am Hoftor nicht rührt, ist die kleine dralle Dirne durch die wenigen Worte des fremden Herrn doch so erschreckt worden, daß sie mit lautem Geschrei sich zur eiligsten Flucht wendet, und um so schneller läuft, je lauter das urkräftige Lachen der ›Jerichoposaune‹ zu ihr herüberschallt.

Da meldet der an der Zimmertür stehende Ssotzki, daß der alte Mann und sein Sohn wieder um Einlaß bitten. Sie treten ein.

»Euer Wohlgeboren,« sagt der Alte, »mein Sohn und sein Weib haben mich um Verzeihung gebeten, haben mir – heilig versprochen, fortab besser mit mir umzugehen. Da will ich denn – diesmal dem Sohne noch verzeihen, wegen der paar Schläge, die er mir versetzt hat, kann ich – ihn doch nicht nach Sibirien treiben. Er bleibt doch immer mein leiblich Kind, und,« der Alte wischt sich die Tränen aus den Augen, »wie lange habe ich denn noch zu leben?«

Der Untersuchungsrichter unterbricht ihn, sich brüsk zu dem verlegen dastehenden jungen Bauern wendend: »Und du, infamer Kerl,« apostrophiert er ihn mit allem ihm zu Gebote stehendem Nachdruck, »du wärst auf ein Haar am vorigen Mittwoch zum Vatermörder geworden! Der Schädel deines Vaters ist nicht mehr so dick und so stark wie der deine. Ich soll dir also jetzt glauben, daß du dein Versprechen auch wirklich halten, mit deinen plumpen Fäusten dem alten gebrechlichen Manne nicht mehr zu Leibe gehen wirst? Sieh mir einmal voll in die Augen, – kannst du das mit gutem Gewissen versprechen? Nun gut, ich will dir diesmal glauben! – Brichst du aber doch dein Wort, kommt dein Alter wieder klagen über dich, dann ist's aus mit allem Verzeihen! Dann kommst du, Erztaugenichts, in das allerentfernteste, allerkälteste Sibirien, auf das allerdunkelste, allerschrecklichste Bergwerk! Merke dir das, mein Sohn! Und jetzt,« mit leichtem Druck auf die Schulter dreht er ihn in die Richtung gegen das oben in der Zimmerecke befindliche Erlöser-Heiligenbild, »bekreuzige dich als guter Christ vor dem Bilde da – so,« die Hand des Untersuchungsrichters lastet noch schwerer als anfangs auf seiner Schulter, so daß der robuste Mensch unter ihrem Drucke in die Kniee sinkt, »kniee nieder vor deinem Vater, mein Bester, so! berühre dreimal mit der Stirn den Boden, so! bitte den Alten recht herzlich, er möge dir verzeihen, er möchte Glauben schenken deinem Versprechen, daß du ihn fortab nie mehr beleidigen, nie mehr schlagen wirst, so! Und jetzt bitte auch ich, von mir aus, daß dein Vater dir dieses letzte Mal noch verzeihen wolle, – na ja, Alterchen, so ist's recht!«

Der Alte hebt den Knieenden auf, Vater und Sohn küssen einander dreimal, der Friede ist geschlossen.

Erst gegen das Ende seiner Ansprache hatte die Stimme des Untersuchungsrichters etwas ruhiger und milder geklungen. Im Anfang seiner Philippika hatte er noch gewaltiger gedonnert als bei seiner Ermahnung des Weibes, abermals ohne die geringste Rücksicht auf alle die unfreiwilligen Zeugen im Nebenzimmer, im Flur und draußen vor den offenen Fenstern. Während dieser letzten Philippika war draußen auf einem Dreigespann ein höherer Militär mit Generalsabzeichen vorgefahren. Wohl nicht das erstemal hier durchreisend, war er von der Treppe direkt auf die ins vordere Passagierzimmer führende, vom Ssotzki bewachte Tür zugeschritten, und war dann verwundert stehen geblieben, als der Ssotzki rapportierte: »Eure Exzellenz, heute kann man nicht da hinein! Der Untersuchungsrichter verhört da!« Als nun der General gleichzeitig die gewaltige, laut scheltende Stimme des Untersuchungsrichters vernahm, fügte er sich sofort in die Situation, machte schmunzelnd kehrt, und schritt zur zweiten Tür, die in das hintere Passagierzimmer führte.

Die andern auf heute angesetzten Sachen, in denen der Arzt auch mehr oder weniger zu tun gehabt hatte, waren schon in den frühen Vormittagsstunden beendet worden, ohne daß es seitens des Untersuchungsrichters zu besonderen Vermittlungsversuchen oder Friedensstiftungen und dazu gehöriger lauter Ansprache gekommen wäre. Es standen jetzt noch einige weitere Sachen auf der Tagesordnung, wo bei einigem guten Willen es wohl zu friedlicher Einigung kommen konnte, unter anderen auch die Sache eines flotten Burschen, der auf Bruch des Eheversprechens verklagt worden war. In diesem Falle hoffte der Untersuchungsrichter ziemlich sicher, daß es ihm gelingen würde, eine ehrbare Heirat zwischen dem mit einem Kinde sitzen gebliebenen Mädchen und ihrem Verführer zustande zu bringen.

Vorläufig machte er jetzt eine längere Pause, um mit dem Arzt vor dessen Heimfahrt noch zu speisen und Tee zu trinken.

Zweites Kapitel.

Als beide gemütlich einander gegenübersaßen, das Stationsmenu diesmal etwas genießbarer findend als sonst, und in leichtem Plaudertone über allerlei kleine Vorkommnisse aus ihrem früheren Leben redend, überraschte der Arzt den Untersuchungsrichter plötzlich mit der Frage: »Warum eigentlich sind Sie nicht Offizier geblieben? Sie mit Ihrer prächtigen Figur, robuster Gesundheit, ungewöhnlicher Körperkraft, mit Ihrer Stimme, die, wenn es galt, sich auch unter Trommelwirbel und Salvenfeuer geltend zu machen wußte? Bei Ihrer guten allgemeinen Bildung, bei Ihren Sprachkenntnissen, konnten Sie doch auf eine glatte, günstige Dienstkarriere rechnen!«

Der Untersuchungsrichter blickte eine Weile vor sich hin, ohne zu antworten. Endlich sagte er: »Ja, bester Doktor, ich war sogar gern Offizier! Mit ordentlicher Lust am Handwerk habe ich den ganzen Chiwafeldzug mitgemacht. Mit meinen Untergebenen, meinen Soldaten, einerlei wo, im Lager, auf dem Marsch, auf Vorposten, beim Angriff, kam ich immer brillant durch. Die Kerls liebten mich, gingen für mich durch Feuer und Wasser. Sie waren geradezu stolz auf mich. Und das nicht nur deshalb, weil meine Stimme lauter schallte als die irgend eines andern unserer Offiziere. Aber nach oben hin, da war das Verhältnis eben nicht zum besten. Ich hatte damals schon, vielleicht gar in noch höherem Grade als jetzt, die leidige Gewohnheit, auf ›alles‹ zu achten, ›alles‹ zu bemerken. Ich hatte schon damals eine vorwitzige Zunge, die über das Bemerkte reden mußte und laut reden mußte, ohne zu bedenken, ob ich damit bei meinen Kameraden und Vorgesetzten Anstoß erregte oder nicht. Sogar Dinge, die andere als Kleinigkeiten leicht entschuldigten, konnten mich furchtbar in Harnisch bringen. Händelsucher, Raufbold, bin ich trotzdem nie gewesen. Die paar Duelle, die ich als Offizier auszufechten hatte, waren mir fast aufgezwungen worden. Mit das Schlimmste war, daß ich gar kein Talent hatte zum Schöntun, zum Sichliebkindmachen.«

Während des Redens hatte er sich ein Glas starken Tees gemischt, die dunkle Farbe desselben durch dickgeschnittene Zitronenscheiben aufhellend. In kleinen Pausen das Glas allmählich leerend, fuhr er in seinen Bekenntnissen fort: »Na, da mußte ich mir bald sagen, daß ich als Offizier nur schwer vorwärts kommen würde, namentlich in Friedenszeiten. Der Chiwafeldzug ging zu Ende, zu einem neuen Kriege war so bald keine Aussicht. Ich kam um meinen Abschied ein und ging nach St. Petersburg. Zuerst hatte ich die Absicht, mich im Zivildienst verwenden zu lassen, wurde aber bald andern Sinnes. Bei meiner Schwärmerei für das Recht per se ließ ich mich, kurz entschlossen, als Student der juristischen Fakultät immatrikulieren, absolvierte meine Kurse Jahr für Jahr, wurde als Kandidat dem Bezirksgericht in N. zukommandiert, und sitze jetzt hier, in Ihrer Kreisstadt, als Untersuchungsrichter. Voilà tout!«

»Und hat es Ihnen später nie leid getan, daß Sie die Offiziersuniform mit dem Gerichtsbeamtenrock und dem Dreispitz vertauschten?« fragte der heute sehr wißbegierige Arzt, »empfinden Sie in Ihrem jetzigen Dienst auch so große ›Lust am Handwerk‹ wie einst im Feldzug als Offizier? Ich weiß, daß Sie, selbst stets offen und rücksichtslos redend, mir meine offene Sprache nicht übelnehmen, – glauben Sie selbst, daß Sie jetzt als Untersuchungsrichter an dem für Sie völlig geeigneten Platze sind?«

Da der Untersuchungsrichter mit der Antwort zögerte, sprach der Arzt weiter, zuerst noch etwas stockend, dann aber mit um so größerer Entschiedenheit: »Ich habe, wo Sie in meiner Gegenwart die Zeugen in irgend einer Sache befragten, nicht selten den Eindruck empfangen, daß Sie bei Ihrem sanguinischen Temperament und durch den ganzen Eindruck Ihrer Persönlichkeit manche Zeugen beim Verhör in einer fast an Suggestion grenzenden Weise beeinflussen, natürlich ohne dergleichen zu wollen, und, meistens wohl auch, ohne es zu bemerken ...«

Der Untersuchungsrichter wollte hier etwas erwidern, der Arzt jedoch sprach schnell weiter: »Ganz abgesehen auch von Ihren gewaltigen Stimmitteln, besitzen Sie ein ganz eigenartiges Talent, mit Ihrer Rede auch störrige und leidenschaftlich erregte Menschen zu überzeugen und Ihrem Willen gefügig zu machen ...«

Wieder wollte der Untersuchungsrichter den Redefluß des Arztes unterbrechen, aber sein Gegenüber war einmal im Zuge: »Und wenn Sie an eine neue Untersuchung, an ein neues Verbrechen herantreten, so scheint es mir, daß Sie, im Vertrauen auf Ihre schon als Feldoffizier erprobte Findigkeit und Entschlossenheit, im Vertrauen auf Ihre Menschenkenntnis, Ihren sichern Blick, Ihren – Sie entschuldigen den Ausdruck! – ›guten Riecher‹ nicht selten geneigt sind, sich die ganze Sache a priori so zu konstruieren, wie sie Ihrer Meinung nach sich durchaus abgespielt haben mußte, und die Zeugenaussagen und sonstigen Untersuchungsergebnisse dem entsprechend zu gruppieren und abzuwägen. Im Gegensatze zu Ihnen arbeiten die meisten Ihrer Kollegen, die ich in meiner langjährigen Gerichtspraxis kennen gelernt, den von ihnen zu untersuchenden Fällen gegenüber, fast immer streng objektiv und in aller Kaltblütigkeit, ja Gleichgültigkeit!«

»Na, Doktor,« kam der Untersuchungsrichter endlich zu Wort und fixierte sein Gegenüber dabei mit vielsagendem Lächeln, »Sie sind ein feiner Beobachter! Künftighin muß ich, wenn Sie zugegen sind, meine Impulsivität ein wenig zu zügeln versuchen. Sie mögen, Doktor, bei der Beurteilung meines Untersuchungsverfahrens, in vielem recht haben; die Prokuratur und das Gericht haben mir auch schon zuweilen dahin zielende Vorstellungen gemacht. Aber sagen Sie mal, wer von uns hat hier am Ort mehr Glück gehabt in der Entwirrung und im Spruchreifmachen mancher recht verzwickter Fälle? Ich, oder meine musterhaft objektiven, fischblütigen Kollegen?« Dabei lachte er fröhlich auf, und dehnte laut gähnend die kräftigen Arme.

»Ihre Erfolge,« beeilte sich der Arzt zu versichern, »kann Ihnen niemand abstreiten. Die meisten Sachen, in denen Sie die Untersuchung geführt, sind nachher im Bezirksgericht prächtig durchgegangen. In Ihren Sachen – ich bin ja selbst oft genug Geschworener gewesen – haben sich die Geschworenen meist immer leicht zurechtgefunden, und ihr Verdikt hat gewöhnlich der durch die Untersuchung geschaffenen Sachlage entsprochen. Von allen Untersuchungsrichtern unseres und des Nachbarkreises sind Sie zur Zeit der vom Landvolk am meisten gefürchtete. Das Glück, das Sie gehabt in so manch schwieriger Untersuchungssache, das muß Ihnen eine große moralische Genugtuung sein – in der immer noch recht undankbaren und unbefriedigenden amtlichen Stellung des Untersuchungsrichters.«

»Bis jetzt, Doktor,« äußerte hierauf der Untersuchungsrichter in voller Gemütsruhe, »befriedigt mich mein Amt noch so ziemlich. Ich bleibe ja auch nicht immer der schablonenmäßige Verhörsprotokollschreiber. Ich spiele ja auch, so weit ich kann, den Anwalt für die eine oder andere der gegen einander klagbar gewordenen Parteien, ich suche die Leute mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln dazu zu bringen, daß sie einander verzeihen und aufrichtig sich versöhnen, trotz der bei unserem Landvolk nur geringen Neigung zu friedlicher Austragung ihrer Differenzen. Und diese Seite meiner Tätigkeit macht mir oft Freude genug. Natürlich möchte ich nicht ewig Untersuchungsrichter bleiben. Möchte ganz gern auch eine Zeitlang als Stadtrichter dienen, als Glied des Bezirksgerichts ...«

Wieder mischte er sich ein Glas Tee, noch stärker als vorhin – und leerte es in einem Zuge.

»Ich fürchte nur,« fuhr er fort, »daß ich auch in meinem jetzigen Dienst ebensowenig vorwärts kommen werde, wie früher beim Militär, und zwar aus demselben Grunde. Meine gar zu offenherzige, gar zu schnelle Zunge geht auch jetzt noch zu leicht mit mir durch. Ich verstehe es nicht, den einen oder andern Beamten oder gar Vorgesetzten unter Umständen auch mal als über dem Gesetz stehend anzusehen. Ich weiß ganz genau, daß ich auch hier, in der kleinen Kreisstadt, offene und noch mehr heimliche Feinde habe, in der Landschaft, in der Polizei, in diversen andern Verwaltungs- und Beamtensphären, ja selbst in der Geistlichkeit. Und warum? Weil ich eben meine Augen und Ohren nie verschließe, weil ich über alles, was ich höre und sehe, auch ein Urteil fälle, und meist ein recht rücksichtsloses, und weil ich mich, nach der Meinung vieler, dabei in manche Dinge mische, die mich gar nichts angehen. Daß meine kleinen Schwächen und Fehler und meine ganze Eigenart von Leuten, mit denen ich irgend einmal in Kollision geraten, in übertriebener Weise geschildert werden, und in der denkbar ungünstigsten Beleuchtung auch zur Kenntnis meiner Obrigkeit gelangen, darüber habe ich Beweise genug!«

Er stand auf, wie es schien, doch etwas erregt, und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Der Arzt war schweigend ans Fenster getreten und zog seine Uhr zu Rate.

Draußen auf dem Vorplatz der Station war es wieder etwas lebendiger geworden. Die zwischen beiden Kreisstädten verkehrenden Postkutschen waren angelangt, und zwar fast gleichzeitig, da die Station so ziemlich in der Mitte des Weges lag. Hier leisteten sich die Reisenden meist eine kleine Mittagsrast, ehe sie sich mit frischem Vorspann wieder auf den Weg machten. Der Arzt, der sich einmal bei gar zu argem Regenwetter auch diesem Gefährt anvertraut hatte, kannte aus eigener trauriger Erfahrung den Zotteltrab des Viergespanns, das den schweren Kutschkasten höchst respektablen Alters nur langsam vorwärts brachte, und das um so langsamer, je häufiger die armen Tiere, auf den zahlreichen frischen Steinschüttungen der in fast unaufhörlicher Reparatur befindlichen Chaussee, aus ihrem Trab in lässigen Schritt übergingen.

Dem Innern der beiden Postkutschen entstiegen zuerst Vertreterinnen des zarten Geschlechts, einige der jüngeren in hellen Kleidern und braunen Stiefeletten, mit kleinen Maiglöckchensträußchen in der Hand oder an der Schulter. Besondere Sensation erregte, sogar bei den draußen herumstehenden Bauern, eine etwas reifere Schönheit: zu einem grasgrünen Kleide trug sie einen knallroten Sonnenschirm. Auch unter den männlichen Passagieren konnte man einige Provinzstutzer bemerken: nach Hause reisende Schüler älterer Klassen mit schüchtern sprießendem Schnurrbärtchen, und ›junge Leute‹ aus verschiedenen Magazinen und Kontoren in auffallenden Krawatten. Alle diese jungen Herrn hatten sich irgend ein Feldblümchen links oben ins Knopfloch gesteckt, und balancierten auf ihren Köpfen die Mütze oder den Hut mit ganz besonderem Frühlingsschwunge.

Im Flur der Station murrten einige der Postkutschenpassagiere in ziemlich lauter Weise über die Beschlagnahme des besten und größten Passagierzimmers durch den Untersuchungsrichter, und nahmen sich vor, darüber gehörigen Orts klagbar zu werden. Heute mußten sie sich schon mit dem hintern kleinen Passagierzimmer behelfen. Zum Glück war der General schon weiter gereist.

Da rasselte auch schon der offene Postwagen, den der Arzt sich zur Heimfahrt bestellt hatte, vor die Freitreppe der Station, vorn auf dem Kutschersitz hockte ein hübscher Bursche im roten Hemde, auf dem Kopf ein schwarzes, mit zwei Pfauenfedern geschmücktes Barett. Sich vom Untersuchungsrichter verabschiedend, empfahl der Arzt ihm, seine Kehle heute ausnahmsweise etwas zu schonen, in Rücksicht auf das im Nebenzimmer und im Flur verkehrende Reisepublikum, und namentlich in Rücksicht darauf, daß beim Zeugenverhör öfters Dinge zur Sprache kämen, die für Damenohren, wenigstens bei gleichzeitiger Anwesenheit männlicher Passagiere, doch etwas ungeeignet wären.

Der Untersuchungsrichter reagierte auf diesen guten Rat in bester Laune: »Wissen Sie, Doktor, mir schwant es, daß wir beide heute zum letztenmal in diesem Zimmer gearbeitet haben, wahrscheinlich schmeißt man mich bald in aller Höflichkeit von hier hinaus, wenn ich es mir wieder einfallen lassen sollte, mich hier zu installieren mit meinen zahlreichen Klienten, mit meinen Ssotzkis und meiner Aeolsharfenstimme! Glückliche Reise, Doktor!« –

Der Arzt hat die Chaussee von hier bis zur Kreisstadt schon viele Mal passiert, zu jeder Jahreszeit, auch im Frühling. Und doch empfindet er heute wieder in voller Frische den eigenartigen Zauber, den der Frühling auch über diese, an sich eigentlich ziemlich reizlose und monotone Landschaft auszugießen vermag, und der jetzt am Abend, unter Beleuchtung durch die sinkende Sonne, noch intensiver wirkt als am Morgen. Das Zweigespann nähert sich einem dichten Gebüsch, das den weiter zurückgetretenen Wald von der Chaussee trennt. Er erinnert sich, an dieser Stelle auch in früheren Jahren öfters Nachtigallenschlag gehört zu haben. »Fort mit den Postglocken! Fahre Schritt!« ruft er dem Kutscher zu. Und richtig! Aus dem vom zarten Licht des eben aufgegangenen Mondes umwobenen Gebüsch locken und schmeicheln, schluchzen und jauchzen auch heute wieder die ewigen Liebesnoten der kleinen Solisten unseres gefiederten Frühlingschores, herüberklingend in unsere arm gewordene, öde Welt – wie aus dem Traumland des Paradieses.

Drittes Kapitel.

Wunderschön ist der Sommer gewesen. Auch jetzt, gegen Mitte August, sind die Tage oft noch sommerlich warm, wenn auch die Nächte zuweilen empfindliche Kühle bringen. Der Laubschmuck der Bäume zeigt nur hin und wieder einige Verfärbung. Die Stimmung der Landwirte ist eine sehr gehobene. Der eingebrachte Vorrat an Heu und Klee reicht für den Winter und darüber hinaus, die Roggenernte ist gut ausgefallen, in üppigem Grün prangt die Wintersaat, Hafer und Gerste und besonders der Flachs versprechen reichliche Erträge. In den Dörfern lebt man herrlich und in Freuden. Das Jubilieren und Trinken, das Liebeln und Freien ist im besten Schwunge. Kommt es dabei auch oft genug zu tüchtigen Schlägereien, was tut's? Ohne solche fehlt doch dem ganzen Vergnügen die rechte Würze. Mitunter hört man auch von größeren Ausschreitungen, von schweren Körperverletzungen. Gemeindeverwaltung, die Polizei in Stadt und Land, Landhauptleute, Untersuchungsrichter, Gerichte aller Instanzen, auch sie merken die Segnungen des fruchtbaren Jahres in vielfach gesteigerter Amtstätigkeit. Der Bauer hat ja auch im ganzen keine besondere Furcht vor all den großen Herren. In schlimmen Fällen hofft er auf milde Geschworene und, wenn er das Geld nicht sonderlich zu sparen braucht, auf gewandte Verteidiger.

In einer ziemlich entlegenen Gegend des Kreises, wo die örtliche Gemeindeverwaltung und der Pogost mit seinem Kirchhof nahe beeinander liegen und um sie herum sich mehrere große Dörfer mit zahlreicher und meist gut situierter Bevölkerung gruppieren, werden die Augustfeiertage ebenfalls ausgiebiger als sonst gefeiert. Besonders hoch wird es diesmal hergehen in dem größten dieser Dörfer, – zum Fest der Himmelfahrt der Mutter Gottes am 15. August. Die jungen Leute dieses Dorfs sind übereingekommen, an diesem Feiertage alle Nachbardörfer zu übertrumpfen. Und sie halten ihr Wort. Ihr Führer ist diesmal der allbekannte Iwan Prokofjew, der einzige Sohn des reichen Prokofji Dementjew, der in jener Gegend eine weitverzweigte Verwandtschaft und auch sonst großen Anhang besitzt.

Iwan ist beliebt bei alt und jung, ist aber ein sehr windiger Patron und ein rücksichtsloser Schürzenjäger. Ihn kümmert es wenig, daß sein Vater ihm streng verboten hat, mit dem alten Wassilji Kusmitsch und dessen Familie zu verkehren, da er mit diesem Nachbar, einem ebenfalls recht wohlhabenden Manne, schon längst in bitterer Fehde liegt. Er weiß, daß wegen Grenzstreitigkeiten, unbefugter Benutzung von Weideland und sonstiger Schikanen, sein Vater und Wassilji Kusmitsch einander schon mehrmals in verschiedenen Gerichtsinstanzen verklagt haben, oft abgewiesen, zuweilen aber auch bestraft worden sind, und daß ihr Verhältnis gerade jetzt das denkbar schlechteste ist. Trotzdem besucht er den Nachbarn und verkehrt mit dessen Sohn Pawel und der Tochter Lisa ganz harmlos. Scheint ja auch der alte Wassilji die Feindschaft, die er gegen seinen Vater hegt, auf ihn, den lustigen Iwan, bis jetzt nicht übertragen zu haben.

Seines schmucken Aeußern wegen ist Iwan, der einzige Sohn und einstige Erbe des alten Prokofji, in allen Häusern, namentlich wo es heiratsfähige Mädchen gibt, sehr gern gesehen. Er denkt freilich noch an nichts weniger als ans Heiraten, obgleich die Eltern ihn schon längst gern als soliden Ehemann gesehen hätten. Noch gefällt er sich prächtig in der Rolle eines dörflichen Don Juans, der bald mit diesem, bald mit jenem Mädchen ›anbandelt‹, und auch bei verheirateten Frauen, wenn sie ihm der Sünde wert erscheinen, den Tröster zu spielen liebt. So hat er auch seit einiger Zeit mit Wassilji Kusmitschs Tochter ›angebandelt‹, mit der Lisa, einem blutjungen, allerliebst aussehenden Mädchen, das naiv genug ist, in ihm sogar einen ernsten Bewerber zu sehen, trotz der zwischen ihren Vätern bestehenden grimmigen Feindschaft, und trotzdem daß er, der unverbesserliche Leichtfuß, gleichzeitig auch ihrer jungen, äußerst stattlichen Stiefmutter stark den Hof macht. Der alte Wassilji Kusmitsch war nämlich, nachdem er längere Zeit als Witwer gelebt, vor einigen Jahren eine zweite Ehe eingegangen, mit einer elternlosen Waise Katja Terentjewa, die als sehr lebenslustig bekannt war, und den alten wohlhabenden Witwer nur geheiratet hatte, um als Frau noch bequemer als früher ihren Gelüsten zu fröhnen. Ob dem alten schweigsamen Wassilji die kleinen Seitensprünge seiner Katja bekannt sind, oder ob er sich noch immer ihrer dankbaren Treue ganz sicher glaubt, das weiß niemand im Dorf.

Für diesen vielumworbenen und vielbeneideten Iwan ist sein ganzes Leben bis jetzt eigentlich nur ein nie endender Feiertag gewesen. Zum Arbeiten hat er nie sonderliche Lust gehabt, ist auch von den Eltern nie in ernstlicher Weise dazu angehalten worden, weil er schon seit seinen Knabenjahren über allerlei Brust- und Herzschmerzen klagte, und diese Schmerzen sich nach körperlichen Anstrengungen zu verstärken pflegten. Wenn er nicht gerade hinter den Mädchen her war, hat er seine Zeit eigentlich stets mit Nichtstun ausgefüllt, mit Rauchen, Zeitunglesen, Kartenspielen und Trinken. Im Trinken muß er übrigens immer mäßiger sein, als ihm lieb ist. Er verträgt nicht viel. Beim Trinken verspürt er leicht heftiges Herzklopfen und beängstigende Stiche in der linken Seite.

Heute am 15. August, wo das ganze Dorf und seine Umgebung so außerordentlich belebt ist und gegen Abend schon überall die ungebundenste Fröhlichkeit herrscht, da ist der Iwan so recht in seinem Element. Er bringt es fertig, überall mitzuhalten und überall sich hervorzutun.

Die nahe Schenke versorgt die Feiernden mit Branntwein und Bier und Meth, so lange sie noch einiges Kleingeld in der Tasche haben oder ihr Kredit noch nicht zu sehr belastet ist. Wer sorgt aber für diejenigen Gäste, deren Geld oder Kredit schon zu Ende, deren Durst aber noch lange nicht befriedigt ist? Wer anders – als Iwan? Auf seine Kosten läßt er einen Schub Flaschen nach dem andern aus der Schenke herbeischaffen, damit niemand leer ausgehe. Wer ist der beste Kunde in den Zelten, die mit Pfefferkuchen, diversen Kringeln und billigem Konfekt handeln, oder an den Wagen der Aepfelhändler? Natürlich – Iwan. Mit freigebigen Händen verteilt er seine Einkäufe an alle, die ihm in den Wurf kommen, besonders an alle Mädchen, hübsche wie häßliche. – Die Bursche, die Mädchen, schön geputzt, zu zweien und dreien, oder Arm in Arm lange Reihen bildend, schlendern aneinander vorüber, oft stehen bleibend und sich in bunten Gruppen mischend. Derbe Scherzworte, Neckereien fliegen hin und her, lautes Lachen ertönt oder kräftiges Aufkreischen, wo eine der jungen Schönen besonders umschwärmt ist. Wer gibt in diesem Gewoge junger Menschenkinder den Ton an? Wer macht den Vorsänger, wenn wieder ein Lied angestimmt werden soll? Wer versteht das besser als eben – Iwan!? Und dort, wo sich um tanzende Paare ein lärmender Zuschauerkreis gebildet hat, wer umtanzt seine Schöne am flottesten und gelenkigsten, bald in hockender Stellung die Beine dahinschleudernd, bald jubelnd aufspringend und in immer wilderem Tempo herumwirbelnd, während das Mädchen sich in leichtgleitender Tanzbewegung anmutig hin und her wendet, mit den Schultern nur ab und zu wie in Ungeduld aufzuckend und den Partner dabei von der Seite her mit plötzlichem Augenaufschlag anblitzend? Das ist ja wieder – der Iwan! Und seine Tanzdame ist des alten Wassilji Töchterlein, die blühende Lisa! – Und wie prächtig spielt er bald darauf, um sich etwas zu erholen, die Harmonika! Auch darin ist er Meister. Ein großes Stück Geld hat seine Harmonika dem alten Prokofji gekostet. Kein Wunder, daß es mit ihr kein anderes Instrument im Dorfe aufnehmen kann. Im Gehen weiter spielend schwenkt er plötzlich ab in eine der stilleren, dichter belaubten Dorfgassen. In gewissem Abstand folgen ihm einige andere Bursche, ihre Mädchen mit der einen Hand fest an den Schultern haltend. An Iwans Seite hat sich, unversehens aus einem dunklen Hoftor tretend, eine weibliche Gestalt geschmiegt. Das Kopftuch, knisternde Seide, hat sie tief in die Stirn gezogen; dem schlanken Wuchse, der gewählten Kleidung nach scheint es Wassilji Kusmitschs leichtsinnige Zweite zu sein, die Katja! Iwans Harmonika bringt es nur noch zu einigen schrillen Dissonanzen ... und schweigt dann vollends.

Bald darauf erscheint er wieder auf der Hauptstraße des Dorfs, inmitten der schon recht animierten Bursche und Mädchen. Einige Heißsporne sind einander plötzlich in die Haare geraten. Lautes Gezänk, wilde Drohworte der angetrunkenen Kämpfer, aufhetzende Zurufe aus der sie umgebenden Menge. Das ist nicht nach Iwans Geschmack. Er schlängelt sich abseits. Seine Körperkraft ist nicht sonderlich groß. Er weiß auch ganz gut, daß er bei manchem Bräutigam, bei manchem Ehemann im geheimen nicht wenig auf dem Kerbholz hat. Wenn sich auch niemand so leicht offen an ihn heranwagen wird, bei seiner Allbeliebtheit und teils wohl auch aus Furcht vor seinem einflußreichen und sehr prozeßsüchtigen Vater, könnte bei einer Straßenprügelei aber, im Abenddunkel, doch unversehens auch auf sein Teil etwas abfallen. Wozu soll er da seine Haut unnütz zu Markte tragen? Er zieht es vor, sich auf der Flurtreppe eines etwas entfernteren Hauses niederzulassen, mit den dort diskurierenden älteren Bauern einen kleinen Schwatz zu machen.

Als er aufsteht und weiter gehen will, drängen sich Kinder an ihn heran. »Onkelchen Iwan, gib uns etwas! gib uns Konfekt!« betteln sie ihn an, singenden Tones, und folgen ihm, ihre Bitten noch nachdrücklicher wiederholend. Aus seiner Tasche nimmt er eine Handvoll Bonbons, wirft sie mitten in die Gruppe der kleinen Leckermäuler. Während unter den so Beschenkten eine hübsche Balgerei entsteht, entweicht er ihnen und mischt sich wieder unter die lachenden, johlenden Gruppen. Ihm ist aber nicht wohl zu Mute. Die Mädchen, die ihn neckend auffordern, mit ihnen noch etwas in das nahe Wäldchen zu gehen, die Bursche, die ihn in die Schenke lotsen wollen, sie wundern sich, daß er nicht mehr mittun will, daß er, sonst einer der ausdauerndsten, des Trubels schon überdrüssig zu sein scheint. Er fühlt sich plötzlich so merkwürdig müde, so elend! Durch allerlei Umwege sucht er sein Verschwinden zu maskieren, schleicht sich aber doch in aller Heimlichkeit, nach Hause. Offenbar hat er im Laufe des Abends seiner schwachen Gesundheit wieder zu viel zugemutet.

Auf den Straßen des Dorfes wird es erst gegen Mitternacht ein wenig leerer und stiller. Keiner der Feiernden glaubt es, daß sich Iwan wirklich schon nach Hause begeben. Sie wetten untereinander, mit welcher gefälligen Schönen er schließlich abgezogen, hinter welchen Büschen oder in wessen verschwiegener Kammer er jetzt den schönen Feiertag beschließe. Ueber solchem Wetten und Reden erhitzen sich zuletzt die Köpfe dermaßen, daß die Leutchen das schöne Dorffest in einer solennen, freundnachbarlichen Prügelei ausklingen lassen. –

An jenem Festabend hatte sich der alte Prokofji Dementjew, der das laute und oft recht wüste Treiben auf der Straße nicht liebte, schon früh zur Ruhe begeben. Als Iwan nach Hause kam, empfing ihn nur die Mutter, die immer auf ihn zu warten pflegte, wenn er des Abends sich auswärts vergnügte. An diesem Abend mußte sie übrigens auch schon deshalb wach bleiben, weil die Knechte und Mägde ebenfalls erst spät nach Hause kommen würden. Der Mutter war es aufgefallen, daß Iwan sich vor Müdigkeit nur mit Mühe aufrecht hielt, und unheimlich blaß aussah. Er roch wohl nach Branntwein, schien aber eigentlich völlig nüchtern zu sein. Er klagte über starkes Herzklopfen und auffallend heftige Stiche in der linken Seite, außerdem noch über starkes Sausen in den Ohren und Kopfschmerz. Auf die Frage der erschreckten Mutter, ob er nicht am Ende heut abend heftig gestoßen und geschlagen oder schwer gefallen sei, antwortete er verneinend. Er beruhigte die Mutter damit, daß er ja, wenn er etwas jubiliert und getrunken, sich schon oft ebenso schlecht gefühlt habe wie heute. Morgen, wenn er sich gut ausgeschlafen, werde er wieder ganz gesund sein. Die Mutter half ihm sich entkleiden und machte ihm, nachdem er sich niedergelegt, Kaltwasserumschläge auf die Herzgegend und auf die Stirn, wie sie es bei solchen Anlässen auch schon früher öfters getan. Eine Weile saß sie dann noch an seinem Bette. Er lag mit geschlossenen Augen, schien zu schlummern. Sie schlug über ihm das Zeichen des Kreuzes und ging dann endlich auch selbst zur Ruhe. –

Als sie des andern Tages in der Frühe die Tür zur Schlafkammer ihres Sohnes öffnete, prallte sie in starrem Entsetzen zurück. Auf dem Bette lag ihr einziger Sohn, ihr schmucker, allzeit lustiger Iwan, ihr Abgott – tot – schon ganz erkaltet, die Glieder erstarrt! Von seiner Stirn war der Umschlag herabgeglitten, auf der Herzgegend lag noch das schwere nasse Tuch, von den geballten Fäusten des Toten fest an den Körper gepreßt. – –

Der alte Prokofji wütete vor Grimm und Schmerz.

Bei seinem Charakter wäre es ihm eine große Wohltat gewesen, wenn er irgend jemand gefunden hätte, dem der Tod seines Sohnes zur Last gelegt werden konnte. Leider hatte ja der Iwan beim Nachhausekommen über keinerlei Vergewaltigung, keinerlei Mißhandlung geklagt. Leider hatte man ja auch an dem Körper des Toten nicht die geringsten Spuren etwaiger Schläge oder sonstiger Verletzungen entdeckt. Der Stanowoi Stanowoi Pristaw heißt der Vorsteher eines Polizeidistrikts des Kreises., der den Toten noch an demselben Tage besichtigte, hatte ebenfalls weder an dem Toten selbst, noch in der ganzen Sachlage irgend etwas Verdächtiges gefunden, und hatte dann in der Voraussetzung, daß der junge Mensch an seinem alten Brustübel oder Herzfehler gestorben sei, den Erlaubnisschein zur Beerdigung des Toten ohne weiteres ausgestellt.

Der Tote wurde in einer kühlen, von hohen Bäumen beschatteten Klete Vorratskammer aufgebahrt, und am Morgen des zweiten Tages auf dem Kirchhof des nahen Pogosts unter ungeheurem Menschenandrange beerdigt.

Einen eigentümlich rührenden Eindruck machten an jenem sonnenklaren Augustmorgen die vielen jungen Mädchen aus dem Heimatsdorf Iwans und den andern nahe gelegenen Dörfern, die sich dem Beerdigungszuge angeschlossen hatten und, nachdem sie dem Toten bis in die Kirche das letzte Geleite gegeben, sich während der Funeralien mit brennenden Wachslichtern zu dem noch offenen Sarge drängten, um von dem lieben Gefährten so vieler lustig verlebter Stunden den letzten Abschied zu nehmen. Und diejenigen Mädchen, die bei diesem Abschied besonders tief bewegt erschienen, schämten sich durchaus nicht ihrer reichlichen Tränen, ihres heftigen Schluchzens.

Viertes Kapitel.

Der alte Prokofji war von seiner Ueberzeugung, daß Iwan infolge einer Mißhandlung gestorben, nicht abzubringen. Nachträglich spürte er jetzt nach allen, selbst den unbedeutendsten Vorkommnissen im Leben und Treiben seines Sohnes, namentlich während seiner letzten Lebenstage. Er ließ sich von den verschiedensten Leuten über alle Vorgänge am Abend des 15. August, und über die Teilnahme Iwans an dem Festtrubel, in allen Einzelheiten aufklären. Als er bei diesen Nachforschungen nun gar erfuhr, daß Iwan in letzter Zeit gleichzeitig zwei Liebschaften gehabt, die eine mit der Tochter, die andere mit der Frau seines Todfeindes, – da stand es bei ihm unerschütterlich fest, daß der junge Mensch an jenem Abend bei seinen doppelten Liebesabenteuern vom alten Wassilji Kusmitsch und dessen Sohn Pawel ertappt und gründlich mißhandelt worden sei, natürlich aber in so schlauberechneter Weise, daß äußerlich sichtbare Spuren auf der Haut dabei gänzlich fehlen mußten, ihm aber um so gefährlichere innere Verletzungen beigebracht wurden. Und infolge dieser inneren Verletzungen sei dann der Arme noch in derselben Nacht gestorben. Daß Iwan von diesen Mißhandlungen, da sie durch seine Liebesabenteuer veranlaßt waren, seiner Mutter damals nichts gesagt, fand er ganz natürlich. Er hätte, an seines Sohnes Stelle, sich über solche Dinge ebenfalls ausgeschwiegen. Von sich auf andere schließend, war er außerdem völlig überzeugt, daß der alte Wassilji Kusmitsch wohl nicht versäumt haben würde, die ganze Landpolizei bis hinauf zum Stanowoi durch allerlei klingende Mittelchen sich günstig zu stimmen, für den Fall, daß die schwere Mißhandlung seines Sohnes doch noch einmal an den Tag kommen sollte.

Aufs eifrigste suchte er nun seine Verwandten und sonstigen zahlreichen Anhänger dahin zu beeinflussen, daß auch sie seinen Voraussetzungen Glauben schenken möchten. Bei vielen derselben gelang ihm das auch zur Genüge. Ja, er konnte zuletzt sogar auf eigens dazu präparierte Zeugen rechnen, die jene Mißhandlung mit angesehen haben wollten, und nur aus Furcht vor der Rache des alten Wassilji bis jetzt geschwiegen hätten. Die lockende Aussicht, seinem Todfeinde und dessen Sohne jetzt ein für allemal einen gründlichen Denkzettel geben zu können, oder vielleicht gar ihre Verschickung nach Sibirien zu erleben, diese Aussicht erfüllte ihn mit so unheimlicher Freude, ja verjüngte den Alten dermaßen, daß er zuletzt den plötzlichen Tod seines einzigen Kindes fast wie einen besonderen Glücksfall zu betrachten anfing. In weiterer Verfolgung dieses Zieles reiste er zuletzt sogar in die Gouvernementsstadt und wandte sich an die Staatsanwaltschaft. Dort jammerte er in so lebhafter und glaubwürdiger Weise über das an seinem Sohne verübte Verbrechen und über die ohne vorherige gerichtsärztliche Untersuchung verfügte Beerdigung des Verstorbenen, und bat so nachdrücklich um Wiederausgrabung und Sektion der Leiche, daß die Exhumation der Leiche tatsächlich verfügt und der örtliche Untersuchungsrichter von dieser Verfügung in Kenntnis gesetzt wurde.

Nach des alten Prokofji Rückkehr aus der Gouvernementsstadt und nachdem es bekannt geworden, daß binnen kurzem die Wiederausgrabung und ärztliche Untersuchung der Leiche stattfinden werde, hatte sich die Stimmung der örtlichen Bevölkerung, die schon vorher in geschickter Weise bearbeitet worden war, erst recht zu gunsten des seines einzigen Sohnes beraubten Vaters entschieden. Man schien eine große Genugtuung zu empfinden, ja sich ordentlich zu freuen darüber, daß der Tod des jungen, bei aller Welt beliebt gewesenen Menschen nicht ungerächt bleiben sollte. Man sah in dem alten Wassilji Kusmitsch und seinem Sohne fast schon überführte Verbrecher. Nur wenige Dorfinsassen wagten es, offen für den alten Wassilji, der ja seit langen Jahren schon vom alten Prokofji angefeindet wurde, einzutreten. Nur wenige glaubten nach den Versicherungen der beiden Verdächtigten, daß die schwere gegen sie erhobene Anschuldigung ganz aus der Luft gegriffen wäre. Auch die örtlichen Polizeibeamten, namentlich den Stanowoi beschuldigte man jetzt ganz offen grober Pflichtverletzung, weil die Beerdigung des plötzlich verstorbenen ohne vorherige ärztliche Besichtigung von ihnen zugelassen worden war. Dabei nahm man es als ganz selbstverständlich an, daß der Untersuchungsrichter und Arzt den durch Mißhandlung erfolgten Tod desselben, nach der Wiederausgrabung der Leiche, mit leichter Mühe sofort konstatieren würden. Die Herren würden sich überhaupt, so folgerte man, angesichts der jetzigen Lage der Sache wohlweislich hüten, die Todesursache als natürliche, durch irgend welchen innerlichen Fehler hervorgerufene zu bezeichnen. Denn in solchem Fall würden sie sich bei dem bekannten Reichtum des Wassilji Kusmitsch in ein eben solch schlechtes Licht setzen, wie es der Stanowoi getan. Nun, man werde ja schon beim Beginn der Untersuchung der ausgegrabenen Leiche sofort merken, wessen man sich von den Herren zu versehen habe! Man werde nötigenfalls vor keinem Mittel, vor keinerlei Selbsthilfe, ja selbst vor Gewalttätigkeiten nicht zurückschrecken, um die Wahrheit an den Tag zu bringen! –

Passiert war die Sache im Amtsbezirk des Untersuchungsrichters, den wir schon zu Beginn dieser Aufzeichnungen kennen gelernt haben.

Nach Empfang der Verfügung des Staatsanwalts hatte der Untersuchungsrichter den Stanowoi, die örtliche Gemeindeverwaltung und den Priester des Pogosts darüber benachrichtigt, an welchem Tage die Wiederausgrabung der Leiche stattfinden werde. Bei dem großen Interesse, das die Sache erregt hatte, war dieser Termin überall in der Gegend bekannt geworden. –

Ein ungewöhnlich warmer, fast schwüler Tag in der zweiten Woche des September. Schon in den ersten Morgenstunden hat sich in der Nähe der Gemeindeverwaltung, im Pogost und beim Kirchhof eine merkwürdig große Menschenmenge, die noch in stetem Zunehmen begriffen ist, versammelt. Die beiden Schenken der Gegend machen brillante Geschäfte, der Konsum von Branntwein und Bier ist ein ungewöhnlich großer. Schon am frühen Vormittag sieht man viele mehr oder weniger Angetrunkene, unter ihnen auch notorische Vagabunden und Bettler, die sonst keinen Groschen übrig haben, heute aber zum Erstaunen vieler ihre Zeche am Schenktisch in klingender Münze bezahlen. Ueberall in der Menge wird lebhaft diskuriert, hier laut und mit lebhaften Gestikulationen, dort mit gedämpfter Stimme oder scheu flüsternd. Ueberall bilden sich Gruppen, zerstreuen sich indes bald, um sich an andern Stellen wieder zu sammeln. Auch zahlreiche Weiber und Mädchen sieht man, alle in Sonntagskleidern, als ob sie zu einem Feste gekommen seien. Und zwischen den Erwachsenen treiben ihr Wesen auch Kinder verschiedenen Alters. Zahlreiche Dorfpolizisten streifen durch die Menge, an der Kirchhofspforte halten zwei Urädniks Berittener Landgendarm. zu Pferde, ein dritter ist postiert unweit des Eingangs zur Gemeindeverwaltung. Die Vertreter der Polizei, sonst bei dem Landvolk eigentlich ziemlich populär, werden heute mit sehr unfreundlichen, ja drohenden Blicken betrachtet.

Im Hauptzimmer der Gemeindeverwaltung befinden sich, außer dem Stanowoi und Gemeindeältesten, noch einige Glieder des Gemeindegerichts und zwei Gemeindeschreiber. Auf einem Seitentisch brodelt der Ssamowar, gefüllte Teegläser sind soeben den Anwesenden angeboten worden. Der Tee scheint aber niemanden zu schmecken. Kein Scherzwort, keine Neckerei, kein behäbiges Auflachen. Auf allen lastet eine recht gedrückte Stimmung. Es ist ihnen das sonderbare Verhalten der teilweise nicht mehr nüchternen, offenbar aufgewiegelten Massen da draußen nicht entgangen. Der Stanowoi spricht geradezu die Befürchtung aus, daß es heute zu mancherlei Exzessen kommen könnte, daß der Untersuchungsrichter und Arzt von trunkenen Schreiern an der Durchführung der Sektion und Protokollierung des Sektionsergebnisses gehindert werden könnten, falls der Arzt an der Leiche tatsächlich keinerlei äußere oder innere Zeichen eines gewaltsamen Todes finden sollte. Der Gemeindeälteste muß zugeben, daß der Zutritt der aufgeregten Volksmassen zum Kirchhof und in die nächste Nähe des Untersuchungsrichters und Arztes mit den wenigen, jetzt hier am Ort zur Verfügung stehenden Polizeikräften auf keinerlei Weise zu verhindern sei. Die Glieder des Gemeindegerichts bedauern es lebhaft, daß der heutige Termin zu allseitiger Kenntnis der hiesigen Bevölkerung gelangt sei. In Anbetracht der schon beträchtlich vorgerückten Tageszeit meint der ältere Schreiber, daß Untersuchungsrichter und Arzt, vielleicht noch im letzten Moment, durch irgend etwas verhindert worden wären, heute herauszukommen, und daß man, wenn dem so wäre, eigentlich von Glück sagen könne ... Da, helle Postglocken, Schellengebimmel, – ein Dreigespann fährt vor, da sind sie!

Die uns schon bekannten Herrn treten ins Zimmer, hinter ihnen der Kreisfeldscher mit dem Instrumentenkasten.

Nach kurzer Begrüßung veranlaßt der Untersuchungsrichter den Stanowoi, zum Kirchhof vorauszueilen, sich vom Priester und den wohl schon eingetroffenen Verwandten das Grab genau bezeichnen, den Grabhügel und die den Sarg bedeckende Erde wegschaufeln und alles zur Sektion nötige beschaffen zu lassen, und ihm dann Nachricht zu senden, daß alles bereit sei. Daß der Stanowoi, ein schon ältlicher Herr, so eigentümlich besorgt aussieht und offenbar dem Untersuchungsrichter noch etwas Besonderes Mitteilen möchte, scheint der letztere gar nicht zu bemerken. Der Stanowoi entfernt sich. Mit ihm geht auf Anordnung des Arztes auch der Feldscher, dessen Instrumentenkasten ein Ssotzki zu tragen übernimmt. Nach ihnen verlassen das Zimmer auch die Gemeindegerichtsglieder und die Schreiber. Den Arzt, der einen fragenden Blick auf den Untersuchungsrichter geworfen und dessen leichtes Kopfnicken verstanden hat, wandelt plötzlich auch die Lust an, nach der langen Fahrt und vor der ihm heut obliegenden, unangenehmen Arbeit, draußen noch ein wenig zu promenieren.

Die Schwüle draußen ist fast noch ärger als während der Fahrt hierher. Ein leichter Wind hat sich erhoben, in der Ferne hört man schwaches Donnern, am Waldrand sind eigentümlich gefärbte Wolken aufgestiegen. Mit der Mütze sich Kühlung zufächelnd hat der Arzt den Schatten der alten Obstbäume im Garten der Gemeindeverwaltung aufgesucht, und ergeht sich barhaupt auf den grasüberwucherten Wegen. Die höher heraufziehenden Wolken lassen ihn hoffen, daß das Gewitter sich bald nähern und ein wohltuender Regen die Luft erfrischen wird. Die abendliche Rückfahrt zur Stadt verspricht dadurch weniger unangenehm zu werden, als die eben überstandene Herfahrt.

In der Gemeindeverwaltung ist der Untersuchungsrichter mit dem Gemeindeältesten zurückgeblieben. In der Mitte der fünfzig stehend, mit gesunder sonnengebräunter Gesichtsfarbe und graumeliertem Haar und Bart, macht der Gemeindeälteste in seinem ganzen Wesen einen sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Der Untersuchungsrichter fordert ihn auf, sich zu setzen, spricht mit ihm über dies und jenes, Ernteaussichten, Steuerrückstände, Pferdediebstahl. Dann erkundigt er sich bei ihm, was es mit der auffallend großen, zur heutigen Leichenausgrabung zusammengeströmten Menschenmenge für eine Bewandtnis habe, und worauf die unverkennbare Aufregung der Leute zu beziehen sei. Der Gemeindeälteste berichtet in knappen, vorsichtig gewählten Worten, worum es sich handelt und was heute zu befürchten sei, wenn das Sektionsergebnis den Vater des Toten und die übrigen, äußerst zahlreichen Verwandten und Freunde desselben nicht befriedigen sollte, »Vielleicht würde es sich doch empfehlen,« schließt er zögernd, »durch einen sofort abzusendenden Boten den Isprawnik Polizeichef des ganzen Kreises. zu ersuchen, sich telegraphisch mit der Bitte um unverzügliche Herübersendung von Militär an den Gouverneur zu wenden. Die Soldaten könnten schon morgen Abend hier sein, die Ausgrabung der Leiche ließe sich vielleicht bis übermorgen aufschieben.« Der Untersuchungsrichter dankt dem Gemeindeältesten für seine Mitteilungen, die so ziemlich dem entsprächen, was er hier zu finden erwartet habe. Waren ihm doch sogar – das erste Mal in seiner Dienstzeit! – in dieser Sache mehrere anonyme Warnungs- und Drohbriefe zugegangen. »Ich hoffe trotzdem,« beruhigt er den Gemeindeältesten, »unter Mitwirkung der Gemeindeverwaltung, der vernünftig gebliebenen älteren Bauern und der örtlichen Polizei, mit den angetrunkenen Randalisten auch ohne militärische Hilfe auf meine eigene Manier fertig zu werden.« Die Unterredung hiemit beendend, bittet er, daß ihm im Nebenzimmer ein Sofa angewiesen werde, auf dem er sich etwas ausstrecken könne.

Nicht lange darauf verkünden ruhige, leicht schnarchende Atemzüge, daß der Untersuchungsrichter in jenem Zimmer fest eingeschlafen.

Fünftes Kapitel.

Nach einer guten Stunde erst kommt vom Kirchhof die Meldung, daß alles bereit. Der Arzt weckt den Schlafenden. In schnellem Trabe ihres guten Dreigespanns sind die Herren bald zur Stelle.

Der Pogost und namentlich der freie Platz vor dem Kirchhof bieten das Bild eines starkbesuchten, ungewöhnlich lebhaften Dorfjahrmarkts. Nur mit großer Mühe bahnen die Landgendarmen und Ssotzkis den Herren einen Zugang zum Kirchhof und, quer durch den ebenso menschenerfüllten Kirchhof, zum Grabe mit dem in seiner Tiefe schon bloßgelegten Sarge. In nächster Nähe des Grabes ist ein nur kleiner Raum freigeblieben, eingenommen von einem Tisch und kleinen Holzbänkchen für die beiden Herren, von einer breiten Bank zur Sektion der Leiche, von einigen Spännen kalten und heißen Wassers und einer zum Reinigen der Hände improvisierten Waschtoilette. Um diesen an sich schon sehr engen Raum drängen sich die Neugierigen in dichten Massen, ohne jegliche Rücksicht auf Gräber und Grabgitter und Grabkreuze. Manche Bäume sind sogar bis über die Hälfte mit hinaufgekletterten Kindern besetzt. Auf dem niedrigen Kirchhofszaun, und vor und hinter demselben, haben sich die bescheideneren Zuschauer postiert, darunter vornehmlich Weiber und Mädchen. Ueber der ganzen unruhigen Menschenmenge wogt ein ununterbrochenes, dumpfes, vorläufig noch etwas verhaltenes Stimmengewirr. Nur als beim Erscheinen des örtlichen Priesters, eines hochgewachsenen aber schon ziemlich gebückt gehenden, eisgrauen Mannes der Untersuchungsrichter diesem entgegentritt, mit einer gewissen Ostentation den Segen erbittet und die segnende Rechte des Alten ehrfurchtsvoll küßt, wird es auf einige Augenblicke ringsum ganz still.

Der Sarg wird aus der Gruft heraufgeholt, der Deckel entfernt und die Leiche vom Priester und mehreren der nächsten Angehörigen, die unter lautem Wehklagen näher herangetreten sind, rekognosziert. Nachdem das kurze Protokoll über die Lage des Grabes, Tiefe der Gruft, Beschaffenheit des Kirchhofgrundes und Sarges und über die Identität der Leiche von den dazu berufenen Anwesenden unterschrieben ist, zieht sich der Priester zurück, vorschützend, daß seine schwachen Nerven ihm nicht erlauben, bei der Leichenöffnung zugegen zu sein.

Mittlerweile ist die Leiche schon entkleidet und auf der Sektionsbank plaziert worden. Zur nicht geringen Verwunderung der Umstehenden verbreitet sie durchaus nicht den starken Fäulnisgeruch, den man erwartet hatte, wer sich anfangs die Nase mit der Hand oder mit dem Taschentuch zu schützen versuchte, unterläßt dies Manöver bald genug. Denn nur ein eigentümlich muffiger Geruch macht sich bemerkbar, ein Geruch – wie der Arzt sich äußert – spezifisch unterirdisch und nicht von dieser Welt. Dank dem Umstande, daß der Verstorbene sofort in der kühlen Klete aufgebahrt und überhaupt schnell beerdigt worden war, hat die Leiche sich verhältnismäßig gut erhalten. Die Gesichtszüge sind gut erkennbar, die Haut des ganzen Körpers noch ziemlich hellfarbig. Nach Abscherung des dichten Haupthaares wird die Kopfhaut, Gesicht, Hals, Brust, Rücken, kurz der ganze Körper aufs sorgfältigste betrachtet. Hautabschürfungen, Kratzspuren, blutunterlaufene Flecke, die von Mißhandlungen herrühren könnten, finden sich nirgends, die Rippen sind durchweg unbeschädigt. Freilich präsentieren sich auf Rücken und Nacken und auf der hinteren Seite der Arme und Oberschenkel große, teilweise ineinander übergehende, dunkelviolette oder bläulichrote Flecke. An ihnen ist aber beim Anschneiden mit dem Sektionsskalpell nicht die geringste Blutunterlaufung zu entdecken. Den bisherigen Befund dem Untersuchungsrichter in die Feder diktierend, fügt der Arzt ausdrücklich hinzu, daß diese Flecken, von denen ja auch an dem Verstorbenen am Morgen nach dem Tode gar nichts zu sehen gewesen, nicht durch Schläge oder sonstige Mißhandlungen hervorgerufen sein können, sondern daß sie als ganz gewöhnliche Totenflecke, wie sie sich an der Hinterseite des Körpers bei den meisten auf dem Rücken liegenden Verstorbenen zu bilden pflegen, anzusehen sind.

Bei dieser Aeußerung des Arztes verstärkt sich zusehends die Aufregung unter den am nächsten stehenden Zuschauern. Einige unter ihnen murren und zetern ganz ungeniert darüber, daß der Arzt diese Spuren, die doch vollständig den ihnen allen so wohlbekannten blauen Flecken nach tüchtigen Mißhandlungen glichen, plötzlich als natürliche Totenflecke zu bezeichnen wage. Warnende Zurufe des Stanowoi, der Landgendarmen ertönen: »Haltet Ruhe, – stört nicht die Herren in ihrer Arbeit! Ruhe da hinten, Ruhe!« Aber einige der frechsten jungen Kerle aus den vordersten Reihen, offenbar die Hauptanstifter des drohenden Krawalls, antworten höhnend: »Haltet nur selbst das Maul, ihr verdammten Polizeifratzen!« Andere Stimmen sekundieren ihnen: »Schweigen sollen wir? Oho! Klagen werden wir, beim Gouverneur, beim Minister!«

Der Untersuchungsrichter hält einen Augenblick im Schreiben inne. Scharf fixiert er die gegenüberstehenden Schreier. Das scheint auf die Leute etwas ernüchternd zu wirken. Um ein weniges vermindert sich das wüste Lärmen. Zudem nähert sich das längst schon drohende Gewitter ziemlich rasch. Der Himmel hat sich dunkel bewölkt, das Grollen des Donners ist lauter geworden, – auch eine Mahnung zur Ruhe!

Arzt und Feldscher haben ihre Arbeit wieder aufgenommen.

Aber nach wie vor wird jedes Detail der Sektion, jedes Wort, das der Arzt dem Untersuchungsrichter zu Protokoll gibt, von den Näherstehenden den Hintermännern übermittelt, und in der darob wieder in neue Aufregung geratenden Menge in frecher Weise besprochen und glossiert. Zudem scheint den Leuten eine Extraspende von Branntwein und Bier zugegangen zu sein. Zahlreiche Flaschen gehen von Hand zu Hand, von Mund zu Mund. Das erweckt auch in den weniger Entschlossenen neue Begeisterung, neuen Tatendrang. Drohender werden die Worte, die Gebärden. Die Leute versuchen, sich noch näher heranzudrängen. Einige gleiten dabei unversehens hinab in die offene Gruft. Unter rohen Scherzen wird ihnen von andern wieder herausgeholfen.

Der Tisch, an welchem der Untersuchungsrichter und der Arzt Platz genommen, ist zum Glück im Rücken durch die Wand der kleinen Kirchhofskapelle gedeckt. Aber nach vorn und seitlich sind die Herren, da alle Bemühungen der Dorfpolizisten das immer rücksichtslosere Herandrängen der Leute nicht abzuwehren vermögen, eigentlich nur durch die Breite des Tisches, des offenen Grabes und der Sektionsbank von der immer dreister werdenden, branntweinerhitzten Volksmenge getrennt. Der Feldscher ist in seiner Bewegungsfreiheit so gehemmt, daß er die übliche Durchsägung des Schädels nur mit größter Mühe zu Ende bringt.

Der Arzt diktiert dem Untersuchungsrichter, daß die Knochen der Schädeldecke und Schädelbasis nicht die geringsten Risse oder Sprünge, die Muskeln und Sehnenhäute auf dem Schädel und ebenso auch die Hirnhäute und das Hirn nicht die geringsten Spuren irgend einer gewaltsamen Erschütterung aufweisen. Nach der vom Feldscher, trotz alles Drängens um ihn her, doch noch glücklich ausgeführten Eröffnung der Brust- und Bauchhöhle findet der Arzt die Leichenveränderung der innern Organe zum Glück so wenig vorgeschritten, daß einer genauen Untersuchung derselben nichts im Wege steht. Er kann feststellen, daß in den inneren Teilen des Halses, an der Innenfläche der Brust- und Bauchwand, am Herzbeutel und an den Lungen, desgleichen auch im Magen, in der Leber und in den übrigen Bauchorganen tatsächlich keinerlei Merkmale irgend einer Vergewaltigung zu entdecken sind. Die Untersuchung des Herzens hat er sich bis zuletzt aufgespart, da er von vornherein, auf Grundlage des ihm vom Untersuchungsrichter mitgeteilten Sachverhalts, gehofft hatte, die Todesursache im Herzen zu finden. Seine Hoffnung hat ihn auch nicht getäuscht. Der Herzbeutel erweist sich, infolge früherer, längst abgelaufener Entzündungen teilweise mit der Brustwand verwachsen. Zugleich ist er aber straff gefüllt mit einer ansehnlichen Menge dunklen geronnenen Blutes. Die Herzkammern hingegen erscheinen ganz blutleer, die Wände des Herzens äußerst welk und schlaff, dabei ungewöhnlich dünn und stellenweise gelblichgrau verfärbt. An der hintern Seite des Herzens, an einer besonders dünnen Stelle der Herzwand, findet sich ein kleiner Riß, durch den sich das Blut aus dem Herzen in den Herzbeutel ergossen hatte, plötzliche Herzlähmung und damit auch den plötzlichen Tod veranlassend!

Diesen allerwichtigsten Teil des Sektionsbefundes zu Protokoll gebend, erklärte der Arzt dem Untersuchungsrichter, daß seiner Meinung nach dieser Herzriß nicht als Folge irgend eines Schlages oder Stoßes oder Falles aufgetreten, sondern bei dem längst kranken und morschen Herzen des jungen Menschen ganz von selbst erfolgt sei, nach der ungewöhnlich hochgradigen Steigerung der Herztätigkeit durch das häufige Trinken und das viele Singen und Tanzen und sonstige Extravaganzen Iwans an jenem verhängnisvollen letzten Dorffeiertage. Das schwere Herzübel, dem der junge Mensch bei seiner leichtsinnigen Lebensführung jeden Augenblick zum Opfer fallen konnte, bezeichnte der Arzt, auf einige spezielle Fragen des Untersuchungsrichters, als Folge seines müßiggängerischen, unregelmäßigen Lebens, gar zu frühen Tabak- und Branntweingenusses und gar zu frühen Umgangs mit Frauenzimmern, – bei angeborener, oder nach irgend einer Kinderkrankheit zur Entwicklung gekommener, organischer Herzschwäche.

Während nun der Untersuchungsrichter sich beeilt, das Sektionsprotokoll zu Ende zu führen, und der Arzt sich anschickt, seine soeben verlautbarte Schlußfolgerung über den in keinem Fall gewaltsamen, sondern ganz natürlichen Tod des jungen Iwan Prokofjew eigenhändig niederzuschreiben, ist die sie umdrängende Volksmenge ganz aus Rand und Band geraten.

»Was für schrecklichen Unsinn die Herren da reden und schreiben!« toben die Stimmen der Hauptschreier durcheinander. »Wenn dem Iwan das Herz geplatzt ist, so hat man ihn eben vorher vergewaltigt – mit wohlgezielten Stößen, gerade in die Herzgegend! – Sind wir kleine Kinder, daß wir uns die Komödie da vor uns noch länger gefallen lassen sollen? ... Drauf, Jungens, drauf! Zerreißt ihre Protokolle! – Und den armen Iwan – den laßt uns in den Sarg zurücklegen, ihn wieder einscharren! – Und dann – laßt uns gute Wache halten hier auf dem Kirchhof, bis man uns aus der Gouvernementsstadt bessere Beamten schickt – als diese Pfuscher! ... Drauf! Zum Teufel mit diesen Spitzbuben! Verjagt sie! Sie haben sich vom alten Wassilji ebenso schmieren lassen, wie der Stanowoi! Drauf, faßt sie!«

Der Arzt, in der berechtigten Annahme, daß die rasend gewordenen Menschen in der nächsten Minute sich faktisch auf die Protokolle, auf den Instrumentenkasten, auf ihn selbst stürzen werden, greift instinktiv in die linke Brusttasche seines Paletots nach seinem Revolver, dem treuen Begleiter auf allen Dienstfahrten, – obgleich er sich vollkommen klar darüber ist, daß heute ihre Lage durch den Gebrauch des Revolvers nur noch mehr verschlechtert werden kann. Der Untersuchungsrichter, der die Armbewegung des Arztes bemerkt und sofort verstanden hat, ruft ihm zu: »Noch nicht! Lassen Sie das, ich ...« In diesem Augenblicke fliegt von links aus der Menge ein Stein, der hart über dem Kopfe des Untersuchungsrichters die Kapellenmauer trifft und dann in schrägem Abprall zu Boden fällt. Gleichzeitig aber erhebt sich plötzlich der Untersuchungsrichter in seiner ganzen stattlichen Größe, wirft seine Dienstmütze auf die auf dem Tische liegenden Protokolle, und tritt der aufrührerischen Menge entgegen, waffenlos, mit festgeballten Fäusten, das Gesicht unheimlich bleich, aber seinem Ausdruck nach zu allem entschlossen, vor nichts zurückschreckend.

Sechstes Kapitel.

Mit voller Kraft seiner gewaltigen Stimme donnert der Untersuchungsrichter auf die Ueberraschten ein: » Rechtgläubige Bauern nennt ihr euch, Rechtgläubige? Ihr schlechtgläubigen, ungläubigen Wegelagerer, ihr seid ja schlimmer als tolle Hunde!«

Nach der einen wie nach der andern Seite schafft er sich Luft durch einige rücksichtslose Schritte – mitten hinein in die verdutzte, plötzlich verstummte Volksmenge. Die vordersten Reihen drängen in plötzlicher Rückstauung mit elementarer Gewalt auf die hinteren Reihen, auch jene zum Weichen bringend. Und als ob das Gewitter nur auf sein Stichwort gewartet, erdröhnt der ganze Kirchhof, plötzlich in falbes Dämmerlicht getaucht, von furchtbar nahen, scharf knatternden Donnerschlägen. Vor der Gewalt eines jäh heranbrausenden Windstoßes, blendendhell umleuchtet von jäh herniederzuckendem Blitzstrahl, beugen sich tief die Wipfel der Bäume, vereinzelte Regentropfen klatschen schwer in das Laub, auf die Köpfe der Menschen. Einige der besonders Erschreckten entblößen das Haupt, sich angstvoll bekreuzend, ein Stoßgebet murmelnd ... Die regenschwangeren Wolken schwenken aber plötzlich ab, von mehreren, fast gleichzeitig aufzuckenden, zackigen Blitzen durchfurcht ... und wieder ertönt das gewaltige Rollen des Donners, doch etwas langatmiger schon und wie aus weiter Ferne.

Und in das Toben des Gewitters dröhnt die Stimme des bleichen Mannes wie im Wettstreit mit dem Donner des Himmels: »Ein rechtgläubiger Bauer ehrt seine Kirche und ebenso seinen Kirchhof. Da ruhen seine Eltern, da sollen auch seine eigenen müden Knochen einst zur Ruhe kommen. Ein gut rechtgläubiger Bauer hält jede Wiederausgrabung eines schon Beerdigten für schwere Sünde, für Kirchhofschändung. Und wenn er auch fest davon überzeugt sein sollte, daß die Kirchhofserde ein Verbrechen deckt, so wird er es Gott überlassen, dieses Verbrechen zu strafen an dem Schuldigen, noch hier auf Erden oder in jener Welt, von sich aus wird er nie verlangen, daß das Opfer des Verbrechens, und wäre es auch sein leiblicher Sohn, aus seinem Grabe wieder emporgezerrt werde, damit der Arzt mit seinen Sägen und Messern den teuren Toten verunstalte. Wer bürgt denn auch im voraus dafür, daß der Arzt in der schon verwesenden Leiche wirklich etwas findet, was den gewaltsamen Tod beweisen könnte? – Wo aber die von Gott und dem Kaiser eingesetzte Obrigkeit sich doch einmal gezwungen sieht, schweren Herzens ihre traurige Pflicht zu tun, einen armen Beerdigten wieder auszugraben und den Messern des Arztes auszuliefern, – was tut da ein rechtgläubiger Bauer? Er, der vor jedem Toten sein Haupt entblößt, in scheuer Andacht und in ernstem Gedenken an sein eigenes vielleicht schon nahes Ende, er wird einer solchen feierlichen Handlung auf seinem Kirchhof in Ehrfurcht und Stille beiwohnen, wie in der Kirche! ... Ich selbst bin ein gut rechtgläubiger Christ – und bin zum erstenmal in eurer Gegend. Euer ruchloses Gebaren vorhin während unserer ernsten Amtshandlung auf geweihtem Boden hat mich zweifeln lassen, daß ich zu Menschen gekommen, die sich eines Glaubens nennen mit mir. Heute mußte ich mich schämen, schämen bis in die Seele hinein, daß ich ein rechtgläubiger Christ bin, – habe ich doch heute hier so viele Glaubensbrüder gesehen, die es nicht einmal wert sind, daß man ausspeit vor ihnen ...«

Dem Untersuchungsrichter ist etwas in die Kehle gekommen. Er muß stark aufhusten und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Mit großer Genugtuung bemerkt er die günstige Veränderung, die in den Gesichtern, in der ganzen Haltung der vor kurzem noch so bedrohlich lärmenden, zu jeder Gewalttat bereiten Volksmasse vor sich gegangen. Er liest in den Mienen vieler, daß seine Worte sie zur Besinnung gebracht, daß sein Auftreten ihre Billigung gefunden, ja ihnen gewaltig imponiert hat.

Seinen Erfolg ausnutzend fährt er fort, seine strengen Blicke vornehmlich auf die Hauptschreier von vorhin richtend: »Was habt ihr eigentlich im Sinne gehabt, ihr nichtswürdigen Hunde? – Zuerst drängt ihr mit böswilligem, lügenhaften Geträtsch die Obrigkeit zur Verunreinigung eures Kirchhofs, zur Wiederausgrabung eines vor kurzem beerdigten, euch allen wohlbekannten jungen Mannes, der bei angeborener Schwächlichkeit und grundfalscher Erziehung seine Gesundheit durch gar zu lockeres Leben beständig noch mehr schädigte, der sich zuletzt selbst zu Tode gejubelt hat! – Und dann, als die Wiederausgrabung und amtliche Besichtigung der Leiche wirklich vor sich geht, betragt ihr euch wie Halbverrückte, schreit und tobet und drohet ohne Aufhören, und zuletzt? Zuletzt, wo ihr merkt, daß keine Gewalttat an ihm verübt worden ist, daß die aus persönlicher Feindschaft erhobene Beschuldigung gegen einen eurer Dorfinsassen und seinen Sohn sich also als vollständig grundlos erweist, – wo ihr merkt, daß man euch ganz unnütz mit kostenfreiem Branntwein getränkt hat, und ihr in dieser Sache auf keine weitere Bewirtung, kein weiteres Trinkgeld mehr zu hoffen habt, – da wollt ihr euch nicht zufrieden geben mit dem, was der erfahrene, euch allen wohlbekannte Gerichtsarzt als einzige Ursache des unerwarteten, plötzlichen Todes eures Iwan bezeichnet, mit seinem Amtseid bekräftigt?! Da schickt ihr euch an, ihr Bestien, herzufallen über den Arzt und Feldscher und über mich, – da wollt ihr unsere Protokolle zerreißen, den armen zerschnittenen blutbesudelten Toten unvernäht und ungereinigt wieder in den Sarg zurücklegen, und in seiner Gruft verscharren, – da hofft ihr beim Gouverneur oder Gott weiß wo sonst noch, eine abermalige Ausgrabung und Besichtigung, ein abermaliges Zerschneiden des heut schon gänzlich verunstalteten Leichnams durchsetzen zu können? ... Ihr betrunkenen Narren! ... Warum seid ihr denn mit einem Mal so still geworden? – Warum beendet ihr denn nicht auf eure Art unsere, von euch schon genügend gestörte Amtshandlung? – Da! nehmt doch die Protokolle vom Tisch da, zerreißt sie! – Zertrümmert doch den Kasten mit den Kronsinstrumenten, die der Feldscher da eben reinigt und ordnet. Schlagt ihn doch tot – zum Dank für seine mühevolle Arbeit! Schlagt doch den Doktor tot – und mich dazu! – Ihr habt ja noch Steine genug in euren Taschen, – warum schleudert ihr denn nicht noch mehr Steine auf uns? – Versteht denn niemand von euch besser zu zielen wie der betrunkene Schuft, der vorhin den ersten Stein nach meinem Kopfe warf? Der Euren sind ja viele Hunderte, wir sind nur zwei oder drei! – Was zögert ihr denn noch, ihr erbärmlichen Feiglinge? Ich tue euch nichts, – ich stehe vor euch mit bloßem Kopfe, bloßen Händen, ohne Waffe! – Ihr aber? – Ist eure Courage schon so ganz zu Ende? – Es scheint fast so, denn eure Reihen lichten sich ganz merkwürdig rasch. Wie sie hübsch davonschleichen, eure mutigen Kameraden! – Und ihr namentlich, ihr großen Maulhelden da vorn, warum sind denn eure Gesichter so blaß geworden? Vorhin hattet ihr alle recht rote Köpfe. Warum klebt euch denn jetzt die Zunge so fest am Gaumen? Warum redet ihr denn jetzt kein einziges Wörtlein mehr? ... Ihr schämt euch wohl gar ob eures Gebarens von vorhin, ihr dummen, dummen Jungen? – Komm mal her, du da ...!«

Er faßt einen der in seiner Nähe stehenden Burschen am Kragen seiner Jacke, hebt ihn steifen Arms empor und übergibt ihn den Landgendarmen und Ssotzkis, die sich, seit er zu reden begann, in seiner unmittelbaren Nähe postiert hatten.

»Komm mal her, auch du da ...!«

Er macht es mit dem zweiten der Großmäuler genau ebenso wie mit dem ersten.

»Da, nehmt sie! Bringt sie ins Arrestlokal der Gemeindeverwaltung, daß sie sich da bis morgen hübsch ausnüchtern nach dem heutigen Rausch. – Binden? – Nein, bindet sie nicht! Sie sind ja, Gottlob, noch nicht zu Verbrechern geworden. Davor habe ich sie noch gerettet! – Es sind dumme trunkene Knaben, Kinder – weiter nichts. Sie werden gutwillig mit euch gehen. – Ich habe mir vorhin gut gemerkt, wer am lautesten tobte. Ihr da, Ssotzkis, nehmt mal den noch mit euch, den Rotkopf, – und den da, den Langnasigen – und den noch, der da aussieht wie ein richtiger Zigeuner! ... Persönlich brauche ich mir wohl keinen der Herren mehr herauszugreifen? ... So, Kinder, geht mit Gott! – Wünsche euch wohl zu ruhen!« –

Mit der Festnahme und widerstandslosen Abführung der Hauptschreier leert sich der Kirchhof in überraschend schnellem Tempo. Die meisten der Fliehenden vermeiden sogar die Wege und das Tor. Sie schwingen sich gewandt über den niedrigen Zaun – hinaus ins freie Feld, verschwunden sind im Nu die auf den Bäumen hockenden Kinder, verschwunden ist das bunte weibliche Zaunpublikum. Zertretene Gräber, zerbrochene Holzkreuze, umgestürzte Grabgitter, leergetrunkene Flaschen, fortgeworfene Steine bezeichnen die Stätte, wo soeben noch der helle Aufruhr tobte. Still ist's ringsum, so wohltuend still – nach all dem wüsten Lärm. –

Der Leichnam Iwans liegt, sorgfältig gereinigt und frisch angekleidet, wieder in seinem Sarge. Der alte Priester, den innere Unruhe schon längst wieder zum Kirchhof zurückgeführt, schickt sich an, den Sarg wieder in die Gruft versenken zu lassen, und das von der Kirche für Fälle dieser Art vorgeschriebene Gebet zu sprechen. Vorher aber nähert er sich dem müde und abgespannt neben dem Protokolltisch stehenden Untersuchungsrichter, umarmt ihn herzlich und küßt ihn dreimal, Tränen in den Augen, – mit einigen aus tiefstem Herzen kommenden Worten des Dankes für sein energisches Auftreten, seine furchtlose Sprache in der gefahrvollen Stunde, die sie alle hier eben durchlebt haben, in den kritischen Augenblicken, wo alles auf dem Spiel stand, für die Beamten wie für die aufgewiegelten Bauern. –

Zum erstenmal hat man heute in dieser Gegend die ›Jerichoposaune‹ gehört!

Der Priester aber wird Zeit seines Lebens diese gewaltige Stegreifrede nicht vergessen – und ihre augenblickliche, fast ans Wunderbare grenzende Wirkung auf die Tumultanten. Er nimmt sich im stillen vor, bei seiner nächsten Anwesenheit in der Gouvernementsstadt dem Archierei Erzbischof. über diese Kirchhofspredigt der ›Jerichoposaune‹ ausführlich zu berichten.

Siebentes Kapitel.

Der Untersuchungsrichter und der Arzt verlassen den Kirchhof. Sie gehen zu Fuß bis zur Gemeindeverwaltung. Ihr Dreigespann folgt im Schritt, mit dem Feldscher und dem Postknecht auf dem Kutschersitz. Wo der Untersuchungsrichter an den zahlreichen Gruppen Heimkehrender vorbeikommt, entblößen die Leute ihr Haupt und rufen ihm Segenswünsche nach: »Dank, Euer Wohlgeboren, von ganzer Seele – Dank! Ruhigen Herzens können wir nun nach Hause gehen, ruhigen Herzens uns schlafen legen. An unsern dummen, jungen Narren habt Ihr gehandelt wie ein Vater, wie ein leiblicher Vater! Gott schenke Euch Gesundheit – und langes Leben!«

In der Gemeindeverwaltung danken ihm in ähnlicher Weise viele der angesehensten älteren Bauern, die Glieder des Gemeindegerichts und namentlich der Gemeindeälteste, dessen eigener Sohn sich auch unter den Arretierten befindet. Herzlich dankt ihm auch der Stanowoi, dessen Prestige durch die Vorgänge auf dem Kirchhof wieder hergestellt ist. Die Landgendarmen, die Ssotzkis schauen jetzt wieder sehr zuversichtlich drein.

Während draußen ein leichter Regen niedergeht, erholen sich die Herren in der Gemeindeverwaltung und stärken sich durch Speise und Trank aus ihren aus der Stadt mitgenommenen, kleinen aber wohlgefüllten Speisekörben. Zur Heimfahrt sich rüstend, wendet sich der Untersuchungsrichter plötzlich zum Arzte: »Morgen ist ja Sonntag! Sollen die fünf dummen Jungen die ganze kühle Septembernacht und vielleicht gar auch den Sonntag in dem äußerst primitiv eingerichteten Arrestlokal sitzen bleiben? – Getobt und geschrieen haben vorhin noch unzählige andere, vielleicht noch mehr als diese, die sich nachher wenigstens nicht versteckten, nicht feige davon schlichen. Zudem ... der Steinwerfer ist ja so wie so nicht gefaßt worden! – Was meinen Sie, Doktor?« Und ohne erst die Antwort des Arztes abzuwarten, gibt er den Befehl: »Bringt mir mal die Jungens hierher, alle fünf!«

Die bald darauf Eintretenden mustert er scharf: »Nun, ihr Galgenvögel? Ich will bloß Abschied nehmen von euch. Laßt euch mal ordentlich anschauen, damit ich mir eure Gesichter gut einpräge – für den Fall, daß einer von euch mir wieder unter die Finger kommen sollte. Dann gibt's natürlich keinen Pardon mehr! Aber heute lasse ich euch laufen! Geht mit Gott! Ich will nicht, daß ihr diesmal gestraft werdet, ihr törichten, verführten Kinder! Geht – ihr seid frei!«

Alle die so unerwartet Befreiten fallen ihm dankend zu Füßen. Ernsten Blickes ihnen mit dem Finger drohend, schreitet er mitten durch sie hindurch – dem Wagen zu, auf dem der Arzt schon Platz genommen und seiner wartet. –

»Nach Hause, ihr Täubchen, ihr Falken, – ihr Schelme! – Nach Hause!« unterhält sich der Postknecht mit seinen Tieren, sie mit dem Ende der Peitschenschnur nur leicht zwischen den Ohren kitzelnd. Durch den leichten Regen vorhin werden die Fahrenden vom Staube nur wenig belästigt. Die Luft ist frisch, sogar kühl; fester hüllen die Herren sich in ihre Mäntel. Die durch das lange Stehen ungeduldig gewordenen Pferde gehen anfangs in vollem Galopp. Allmählich beruhigen sie sich, fallen in ihren gewöhnlichen Posttrab. Der Weg ist ja auch keiner von den besten. Und die Herbstnacht, bei immer noch ziemlich schwer bewölktem Himmel, ist dunkel genug.

Den halben Weg haben die Fahrenden schon hinter sich. Ihren eigenen Gedanken nachhängend, haben sie miteinander nur wenig gesprochen, plötzlich wird es von rechts her unheimlich hell. Ach Gott, da brennt ja schon wieder ein Dorf! Nicht gar zu weit vom Wege, von einer kleinen Bodenerhöhung aus, die sie soeben passieren, sehen sie deutlich die emporzüngelnden Flammen, Funkengarben, rotgrauen Rauch.

Angesichts dieses brennenden Dorfs wird die Unterhaltung der beiden Herren wieder etwas reger. Die Hauptkosten derselben trägt aber eigentlich nur der Arzt, da der Untersuchungsrichter nach der hohen Erregung bei den Kirchhofsvorgängen sich noch immer etwas ermüdet fühlt. Nur ab und zu unterbricht er mit kurzen Bemerkungen seinen Begleiter, der beim Anblick des brennenden Dorfes in lebhaftes Räsonnieren geraten ist und sich darüber ereifert, daß, außer den vielen Feuerschäden durch Unvorsichtigkeit und dem noch immer so sehr feuergefährlichen Charakter unserer Bauernhäuser, die Feuerschäden infolge von Brandstiftung von Jahr zu Jahr immer mehr zunehmen ..., daß unsere Bauern so leichten Herzens den roten Hahn auf das Dach eines Nachbars loslassen, wenn sie sich an ihm rächen wollen, oder aufs eigene Dach, wenn sie glauben, daß die in Aussicht stehende Versicherungssumme ihnen irgend einen Vorteil zuwenden könnte ..., daß es seit der Einführung der landschaftlichen Feuerversicherung in den Dörfern eigentlich noch häufiger brennt als früher, trotz der niedrigen Taxierung der Baulichkeiten und der entsprechend geringen Versicherungssumme ..., daß die Landschaften in manchen Gegenden durch ihre Versicherungsoperationen ihre Mittel total schon erschöpft haben ...: »Und wie schlimm steht es,« ruft er aus, »mit dem Nachweis der Brandstiftung! Sie müssen mir doch zugeben, daß die Polizeiorgane und Untersuchungsrichter, bei der Neigung unserer Bauern, das faktisch von ihnen Gesehene oder Gehörte zu verschweigen und lügenhaften Aussagen erkaufter Zeugen willig das Feld zu überlassen, in den meisten Brandstiftungssachen eine wahre Danaidenarbeit verrichten. Und wo der Nachweis einer Brandstiftung ausnahmsweise einmal auch gelingt, da pflegen, nicht wahr?, meist Kinder oder notorisch Schwachsinnige das Feuer angelegt zu haben!«

Wie der Arzt in seiner Jeremiade hier eine kleine Pause macht, erinnert ihn der Untersuchungsrichter daran, daß in einigen Gouvernements, namentlich im Südosten des Reichs, die Brandstiftungen einen noch viel schlimmeren Charakter haben, daß dort, in den Städten wie auf dem Lande, geradezu ganze Brandstifterbanden ihr Wesen treiben, und trotz aller Anstrengungen von den Behörden nicht gefaßt werden können.

Unterdes sind die Lichter des Bahnhofs, die farbigen Signallaternen auf bestimmten Stellen der Schienengeleise schon in Sicht gekommen. Die Wolken haben sich verzogen, freundlich schimmern die Sterne am tiefdunklen Himmel. Die Pferde wittern die Nähe des Stalles. In schnellerem Trabe sputen sie sich nach Hause – ohne jeglichen Zuruf des Postknechts, der sich auf seinem unbequemen Sitze ein kleines Schläfchen zu leisten scheint.

»Ja ja, bester Doktor,« äußerte der Untersuchungsrichter mit ganz besonderem Nachdruck, als sie schon die ersten Häuser der Stadt passierten, »für mein Leben gern möchte ich einmal in der Lage sein, so eine ins große gehende Brandstiftungssache, wo es sich um planmäßiges, raffiniertes Vorgehen einer gut organisierten Bande handelt, ex officio untersuchen zu können. Solch eine gefährliche Bande wäre ein Feind, der mich zur äußersten Anspannung aller meiner Fähigkeiten und Kräfte reizen könnte, ein Feind, mit dem ich kämpfen möchte auf Leben und Tod! Ich könnte dann meinen wenigen Freunden und zahlreichen Feinden beweisen, daß ich imstande bin, noch höheres zu leisten als – wie heute wieder einmal! – eine trunkene, arg randalierende Bauernrotte durch eine Rede à la Jerichoposaune – im Handumdrehen zur Vernunft zu bringen!« –

*

Nach den in diesen Blättern geschilderten Ereignissen blieb der Untersuchungsrichter nicht lange mehr in seinem Amte. Verschiedene Ursachen, deren wir schon im Beginn dieser Aufzeichnungen gedachten, verleideten ihm zuletzt den Dienst in solchem Grade, daß er um Ueberführung in eine andere Stadt nachsuchte. Es gab unter seinen offenen und geheimen Feinden einige einflußreiche Personen, die das Bezirksgericht, den Prokureur, ja sogar die Gerichtspalate Oberste Gerichtsbehörde eines aus mehreren Gouvernements bestehenden Gerichtsbezirks in Petersburg geradezu baten: »Seid so gut, befreit uns von diesem Untersuchungsrichter!«

Er erhielt den Posten eines der in der Gouvernementsstadt wohnenden Prokureursgehilfen.

Doch auch dort und im neuen Dienst erging es ihm bald ähnlich wie an seinem früheren Wohnort als Untersuchungsrichter. Sein Verhältnis zur Majorität des Bezirksgerichts, ja sogar zu seinem direkten Vorgesetzten, spitzte sich schließlich so zu, daß man es ihm nahe legte, um Versetzung in einen ganz andern Gerichtsbezirk einzukommen. Er ging darauf in eine ziemlich entlegene Stadt im Innern des Reichs, und zwar nicht als Prokureursgehilfe, sondern wieder als Untersuchungsrichter. Es wurde nicht allgemein bekannt, welche Umstände ihn dazu veranlaßten, trotz seiner schlimmen Erfahrungen im Justizressort noch weiter zu dienen. Seine Frau war die Tochter eines angesehenen und recht wohlhabenden Kaufmanns in Moskau, von Kindern besaßen sie nur ein einziges Töchterchen. Pekuniär hätte er es eine gute Weile aushalten können – auch ohne den Untersuchungsrichtergehalt. Wahrscheinlich konnte er bei seinem Charakter, seiner Impulsivität, seinem Drange nach steter Betätigung seiner Arbeitskraft, sich eben nicht entschließen, auch nur auf kurze Zeit ganz ohne Amt und amtliche Beschäftigung zu bleiben.

Aus seinem neuen Wirkungskreis hörte man anfangs nur sehr wenig von ihm, bis endlich eine unerwartete günstige Wendung seiner dienstlichen Laufbahn eintrat, eine Wendung, deren Ursachen seinerzeit sogar in mehreren größeren Zeitungen besprochen wurden!

Es waren nämlich in jener Gegend im Laufe der letzten Jahre eine so erhebliche Anzahl größerer Brände vorgekommen, vorherrschend die von der Landschaft in Städten und Dörfern versicherten Gebäude heimsuchend, daß die Landschaft dadurch in die äußerste pekuniäre Bedrängnis geraten war und fast vor dem Bankerott stand, – und daß man die Massenbrände nur einer großen, wohlorganisierten Brandstifterbande zuschreiben konnte. Einer solchen Bande hatten aber weder die örtlichen Polizeiorgane noch die früheren Untersuchungsrichter habhaft werden können. Unseren, gerade zu jener Zeit dahin versetzten Untersuchungsrichter reizte gerade diese Aufgabe, diese große und dem Anscheine nach arg verfahrene Sache, in ganz besonderer Weise. Er verbat sich von Hause aus jegliche Einmischung der örtlichen Polizeibeamten in die von ihm von neuem wieder aufgenommene Untersuchung früherer, meist schon niedergeschlagener Brandstiftungssachen und aller neuer, seit seinem Amtsantritt vorgekommener, ließ sich auf eigene Kosten aus der Residenz gewandte Detektivs kommen, scheute nicht die anstrengendsten, oft ganz plötzlich mitten in der Nacht unternommenen Fahrten, und ruhte nicht eher, als bis er schließlich die ganze Brandstifterbande gefaßt und im Bestande von mehr als hundert Personen auf die Anklagebank gebracht hatte. Seit diese Verbrecher hinter Schloß und Riegel saßen, hörten mit einem Schlage alle Brandstiftungen dort auf. Ein besonderes Nachspiel erlebte diese große, viel Staub aufwirbelnde Sache noch durch die etwas plötzlich erfolgende Verabschiedung einer ganzen Reihe von Polizeibeamten verschiedener Grade.

Die Landschaft, welche durch die außerordentlichen Mühen und Anstrengungen und persönlichen Geldopfer des Untersuchungsrichters sich vor dem völligen pekuniären Ruin gerettet sah, wollte sich diesem Retter dankbar erweisen. Sie offerierte ihm eine Ehrengabe von fünftausend Rubeln, vom Untersuchungsrichter darüber verständigt, daß er diese Ehrengabe auf keinen Fall annehmen könne, suchte die Landschaft sich ihm in anderer Weise erkenntlich zu zeigen. Sie sandte eine Deputation nach Petersburg zum Justizminister, um bei demselben irgend eine entsprechende Dienstbelohnung auszuwirken – für den Mann, welcher der Landschaft, weit über den Rahmen seiner amtlichen Obliegenheiten hinaus, so immense Dienste geleistet hatte.

Infolge dieses Schrittes der Landschaft wurde der Untersuchungsrichter bald darauf zum Glied des Bezirksgerichts der benachbarten Gouvernementsstadt ernannt. Eine derartige Stellung, die er sich im stillen schon lange gewünscht hatte, würde ihm im gewöhnlichen Laufe der Dinge schwerlich zu teil geworden sein. –

Leider erfreute er sich dieser ruhigen, angenehmen Stellung nur kurze Zeit.

Wohl infolge früherer Strapazen bei der Erfüllung seiner Berufspflichten, und wohl namentlich auch infolge der ungewöhnlichen Mühen und Anstrengungen, die er sich in jener großen Brandstiftungssache zugemutet hatte, begann er, der stets gesunde und beneidenswert kräftige Mann, plötzlich zu kränkeln. Und bald darauf – starb er. Es hieß, daß ein Magenleiden und Kehlkopfleiden krebsiger Natur seinem Leben ein Ende gemacht, daß es zuletzt zu einer äußerst akut verlaufenden eitrigen Zerstörung des Kehlkopfs gekommen sei. Nach einer andern Version – soll von gewissen Helfershelfern jener großen Brandstifterbande ein Versuch gemacht worden sein, ihn zu vergiften. Das Leiden, dem er binnen kurzer Zeit erlag, soll tatsächlich von einer ganz plötzlich und sehr heftig auftretenden Erkrankung, deren Vergiftungscharakter er selbst aber durchaus nicht anerkennen wollte, ausgegangen sein.

Wie dem nun auch sei, einen so baldigen Tod dieses Mannes, ein so frühes verstummen der ›Jerichoposaune‹ hätte niemand von uns für möglich gehalten. Die Nachrichten von seiner hoffnungslosen Erkrankung und bald darauf gar von seinem Tode fand anfangs in unserer Gegend, namentlich auf dem Lande, in den Dörfern und Gemeindeverwaltungen, gar keinen Glauben. Gar zu lebhaft stand er noch in der Erinnerung aller, mit denen er amtlich verkehrt hatte, – er, der energische zielbewußte Untersuchungsrichter, der, wo es galt, in so unwiderstehlich packender Weise zu reden wußte, und dessen gewaltige Stimme niemand, der sie einmal in Momenten besonderen Affekts gehört, jemals vergessen konnte.

Sein eigentümlich tragisches Schicksal entwaffnete in der Folge manche seiner früheren Feinde. Sie beurteilen ihn jetzt gerechter als damals, wo er noch leibhaftig unter ihnen weilte, sie finden jetzt sogar manch Wort der Anerkennung, des Lobes – für den einst bitter Gehaßten.


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