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Das Königskind

Zwischen Guatemala und dem mexikanischen Staat Yucatan erstreckt sich eine Hochebene. Das Land ist rauh, von Felsen zerrissen, mit dornigem Buschwerk, spärlichem Gras und vereinzelten Bäumen bestanden, vulkanischer Boden, wild und zerklüftet.

Über diese Hochebene jagten an einem stürmischen Abend, die Nacht war nicht mehr fern, zwei Reiter in südlicher Richtung dahin. Sie schienen gehetzt, verfolgt vielleicht, denn sie trieben ihre edlen Tiere zu rasendem Lauf, ihnen keine Minute der Rast gönnend. Kleidung und Aussehen verrieten sie als Indianer, Ureingeborene des Landes. Ihre dunklen, hart geschnittenen Gesichter waren finster und verschlossen, unter den Stirnbögen glühten die Augen, das lange, strähnig schwarze Haar flatterte im scharfen Luftzug, der von der See herüberkam.

Der eine der Reiter trug in seinen Poncho gewickelt ein Kind.

Sie ritten schweigend, verkrampft, Schatten gleich, stundenlang, ohne des Weges zu achten, dessen sie sicher schienen. Schließlich wurde in der Ferne ein dunkler Waldstreifen sichtbar; auf ihn hielten sie zu. Über dem Schattenriß des Waldes glühten einige phantastische Bergzacken im violett schimmernden Licht des Abends. Der ältere der Reiter verlangsamte den Lauf seines Pferdes.

»Wie lange willst du das Kind noch tragen?« wandte er sich an seinen Begleiter. Die Frage wurde in der Sprache der Mayas gestellt; die Antwort kam in der gleichen Sprache:

»Bis ich es in sichere Obhut geben kann, Kazike. Keinen Augenblick länger.«

Über das Gesicht des Kaziken, eines finster blickenden, nicht mehr jungen Mannes, flog ein Schatten. »Du bist ein Narr, Azual«, sagte er. »Zieh dem Balg die Machete durch die Kehle, und es ist alles vorbei.«

»Azual vergießt das Blut der Könige nicht.« Der andere schüttelte den Kopf. »Der junge Panther wird sterben, wenn die Unsichtbaren es wollen«, sagte er, »durch Azuals Hand stirbt er nicht.«

»Dann also durch meine.« Der Kazike streckte die Hand aus. »Gib ihn her.«

Azual wandte nicht einmal den Kopf; sie ritten in langsamerer Gangart nun nebeneinander. »Du wirst dann auch mich töten müssen, Kazike«, sagte er. »Sei aber sicher: stirbt der Enkel der Könige durch deine Hand, sind alle deine Pläne zunichte, und dein Leben ist verwirkt. Die Mayas werden von dir abfallen, als hätten sie nie auf deine Stimme gehört, du wirst keinen Winkel im Lande finden, der dich verbirgt.«

»Ich will, daß Ruhe wird!« stieß der Kazike heraus. »Wozu all die Mühe, wenn die Quelle der Gefahr nicht verstopft werden soll? Haben wir den kleinen Burschen Arana entrissen, das Leben aufs Spiel gesetzt, um schließlich die Natter am eigenen Busen zu züchten?«

»Komm zur Vernunft, Chamulpo« – der Mann mit dem Kind ritt etwas näher an den anderen heran – »du willst König der Mayas werden, und du sollst es. Die Mayas brauchen an ihrer Spitze einen Mann, kein Kind, und du bist der Mann, den sie brauchen. Du bist dem alten Königsgeschlecht verwandt; lebte dieses Kind nicht, du wärest der rechtmäßige Erbe der Königswürde. Wir haben das Kind – in Aranas Hand ein gefährliches Pfand; es wird nicht mehr gefährlich werden. Den letzten Sproß des alten Königsgeschlechtes töten, das wäre ein Frevel, den die Unsichtbaren furchtbar rächen würden, aber es bedarf dessen auch nicht. Gib das Kind zu den armseligen Indios an der Küste; dort wird es untertauchen, und niemand wird von ihm wissen.«

»Narr!« Der Kazike stieß ein rauhes Lachen aus. »Der Bursche trägt das Zeichen der Könige auf der Brust.«

Azual schwieg betroffen. »Mag er sterben«, sagte er nach einer Weile finsteren Nachdenkens, »aber nicht durch meine Hand. Und nicht mit meinem Wissen.«

Die Reiter näherten sich jetzt einer Bodensenke, die hohen Baumwuchs zeigte; jenseits des tiefen Einschnittes setzte sich die fast kahle Hochebene fort.

Bevor sie in die Senke ritten, wandte der Kazike sich um und stieß einen unterdrückten Schreckensruf aus. Azual, seinem Blick folgend, sah, daß eine stattliche Reiterschar in gestrecktem Galopp hinter ihnen her jagte; sie mußte, unbemerkt von beiden, aus einer Seitenschlucht aufgetaucht sein.

»Das ist Arana«, knirschte Azual, »er will sich den kleinen Panther wieder holen; jetzt heißt es, die Pferde laufen lassen.«

»Schneid' der kleinen Bestie den Hals ab!« knirschte Chamulpo. Der andere antwortete nicht.

Sie tauchten in der Talsenke unter und mußten sich nun ihren Weg zwischen gewaltigen Baumriesen bahnen; hier unten war es schon fast dunkel und das Reiten durch allerlei Hindernisse sehr erschwert. Plötzlich sprang wenige Schritte vor den Hufen ihrer Pferde ein Panther auf, der über einem erlegten Reh kauerte; mit ein paar langen Sprüngen verschwand die aufgeschreckte Bestie im Dunkel. Von der Höhe drang das wilde Geschrei der Verfolger herunter.

»Erwischen sie uns mit dem Kind, sind wir verloren!« schrie der Kazike. »Du bringst mich und dich ins Verderben.«

Einen Augenblick zögerte Azual, dann warf er in schnellem Entschluß das vom Poncho umhüllte Kind in das dunkle Gebüsch, eben dorthin, wo der Panther verschwunden war. »Der Panther ist sein Schutzgeist«, rief er, »mag er ihn vor Unheil bewahren!« Der Kazike stieß ein rauhes Lachen aus. Sie spornten die Pferde. An die dreißig Reiter, wilde, dunkle Gestalten in flatternden Ponchos, jagten hinter ihnen her. Verfolgte und Verfolger tauchten unter im samtenen Dunkel der Nacht.

*

»Was ist das?« rief einige Zeit später eine Stimme in spanischer Sprache. Ein schlanker, noch jüngerer Mann trat aus den Büschen heraus; im Arm hielt er ein Bündel, ein Indianerkind, wie man gleich darauf sah, von einem Poncho umhüllt. Verblüffung im Gesicht, betrachtete der Mann seinen Fund. »Der Panther entspringt und hinterläßt mir einen braunen Infanten«, sagte er. »Was hat das zu bedeuten?«

Zwei andere Männer, Weiße wie der Sprecher, traten heran. Aus der Umhüllung blickten zwei dunkle Augen, fragende, etwas ängstliche Kinderaugen, auf die Männer. »Die Katze habe ich verscheucht und statt ihrer den kleinen Burschen hier erbeutet«, sagte der Mann mit dem Kind. »Wahrhaftig die sonderbarste Jagdbeute, die mir jemals beschieden war.«

»Den Panther haben die Reiter verscheucht, die unseren Weg kreuzten, Don Diego«, sagte einer der Hinzugetretenen.

»Reiter?« Der mit dem Kind horchte auf. »Wie viele?« fragte er.

»An die dreißig etwa.«

»Von woher kamen sie?«

»Von Norden, Señor.«

»Dann galt es nicht mir. Waren es Weiße?«

»Nein, Indios. Wahrscheinlich gehörte ihnen das Kind.«

»Ja, wahrscheinlich.« Don Diego betrachtete nachdenklich das kleine Gesicht in der Ponchoumhüllung. Die dunklen Augen sahen ihn sonderbar an, durchdringend, fremd, unheimlich für so einen kleinen Burschen. Der Junge mochte eben ein Jahr alt sein.

Fast verwirrt wandte der Mann den Blick. »Habt ihr sonst etwas bemerkt, was auf nahe Gefahr schließen ließe?« fragte er.

»Nichts, Señor.«

»Die Ebene ist frei?«

»Soweit wir sehen konnten. Die Indioreiter sind nach Süden davongejagt.«

»Gut.« Don Diego sann einen Augenblick nach. »Bleibe noch oben, Francisco«, sagte er dann, »halte die Ebene im Auge, achte sorgfältig auf jedes bedrohliche Anzeichen. Ich will meinen merkwürdigen Fund der Señora bringen.«

Den Knaben auf dem Arm ging er ins Tal hinab und betrat gleich darauf eine Lichtung, auf der einige Pferde und Maultiere weideten. Neben einer Indianerin saß eine junge Frau mit einem erst wenige Monate alten Säugling auf dem Arm. Zwei Neger und ein Indianer waren damit beschäftigt, einige weitere Tiere an einer Quelle zu tränken.

Don Diego trat auf die junge Frau zu. »Sieh her«, sagte er, »ich bringe dir eine absonderliche Jagdbeute. Nein, keine Pantherkatze, sondern ein Menschenkind, einen kleinen Indio.« Er wickelte den Poncho los und stellte den kleinen Jungen behutsam auf die Erde. Er stand schon recht fest auf seinen stämmigen Beinchen.

Die Frau sah staunend auf das Kind. »Mein Gott«, sagte sie, »du hast ihn gefunden? Allein hier in der Wildnis? Er wird sich verlaufen haben. Es müssen demnach Menschen hier in der Nähe wohnen.«

Don Diego schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »auf viele Meilen keine Menschenseele. Aber Francisco hat braune Reiter gesehen vorhin, sie sind von Norden nach Süden geritten und müssen ihn verloren oder aus irgendeinem Grunde zurückgelassen haben.«

Der alte Peon, der mit Don Diego gekommen war, trat heran. »Zurückgelassen«, sagte er und schüttelte den Kopf, »nein, Señor, zurückgelassen ist wohl nicht der richtige Ausdruck; sie haben das Kind dem Panther vorgeworfen, die roten Schufte!« Die Dame schrie auf. »Was sagst du da, Juan? Das ist doch nicht möglich!«

»Nicht möglich?« Der Peon lachte rauh. »Bei diesen Indios sind noch ganz andere Dinge möglich, Señora!« sagte er.

Don Diego schaltete sich ein: »Zur Sache, Juan«, sagte er, »was hast du gesehen? Du sagst das doch nicht von ungefähr mit dem Panther.«

Der Peon zuckte die Achseln. »Ich stand ziemlich weit weg im Gebüsch«, berichtete er, »zwei Indianer auf Pferden jagten an mir vorbei, sie schienen es verdammt eilig zu haben; ich sah, daß einer von ihnen ein Bündel in den Busch warf, kurz nachdem ein aufgeschreckter Panther dort verschwunden war. Sie jagten weiter, und gleich darauf kamen an die dreißig Reiter, ebenfalls Indios, hinter ihnen her.«

»Sonderbar!« Don Diego schüttelte den Kopf; sein Blick richtete sich auf das Kind. »Ein richtiger kleiner Vollblutindianer«, sagte er.

»Ein hübsches Kind, Diego.« Auf dem blassen Gesicht der jungen Frau spielte ein Lächeln; sie zog den Jungen an sich heran.

»Irgendein heidnischer Zauber«, knurrte der Mann. »Wahrscheinlich sollte der kleine Bursche irgendeiner dieser verruchten Gottheiten geopfert werden. Unsere Indios stecken ja noch immer voll von wüstem Aberglauben; ihr Christentum ist ihnen kaum hinter die Hirnrinde gedrungen.«

Von der Talsenke her näherte sich der Peon Francisco, den Diego zurückgelassen hatte. »Die Indios sind verschwunden, Señor«, berichtete er, »sie schienen große Eile zu haben.«

»Wir müssen uns auch auf den Weg machen«, sagte Don Diego. Die Frau sah ihn an. »Und das Kind?« fragte sie, »was machen wir mit dem armen Kind?«

»Wir werden es wohl oder übel mitnehmen müssen.« Der Mann runzelte die Stirn. »Wir können es ja in der ersten Wohnstätte, die wir erreichen, abgeben«, setzte er hinzu.

Das kleine Mädchen auf dem Schoß der Frau streckte die winzigen Ärmchen aus. Es erwischte ein paar Strähnen von dem schon ziemlich langen schwarzen Haar des kleinen Indianerjungen und krallte die Händchen darin fest; dabei krähte es vor Vergnügen. Der kleine Bursche aber ließ sich die ein wenig rauhe Liebkosung gefallen, ohne mit der Wimper zu zucken. Aus seinen dunklen Augen sah er unverwandt auf das kleine Wesen im Schoß der Frau. »Sieh da, Maria schließt schon Freundschaft mit dem braunen Prinzen«, lachte Don Diego. »Also nehmen wir ihn einstweilen mit; Nina«, – er wandte sich der Indianerin zu, »nimm dich deines kleinen Stammesgenossen an. – Wir müssen aufbrechen, Mercedes. Man weiß nicht, was noch kommen kann. Ich habe keine Lust, noch im letzten Augenblick den Libertados in die Hände zu fallen. Wir müssen die mexikanische Grenze sobald wie möglich hinter uns bringen.«

»Ich bin bereit, Diego«, antwortete die Frau. Sie sah tapfer und klar zu ihm auf, aber in ihren Augen schimmerten Tränen. Don Diego biß sich die Unterlippe blutig. Mit einer abrupten Bewegung wandte er sich ab. »Vorwärts, Jungen«, rief er den Negern zu, »die Mulos gesattelt; wir wollen weiter.«

Minuten später war alles zum Aufbruch bereit. Die Señora saß auf ihrem Maultier, ihr Kind im Arm, neben ihr ritt die Indianerin, den braunen Jungen auf der Kruppe ihres Pferdes. Don Diego und die Peons folgten, und ihnen schlossen sich die Neger an, die beladenen Saumtiere führend. Die Kavalkade setzte sich in Bewegung und schlug, auf der Hochebene angelangt, den Weg nach Norden ein. Nach einigen Stunden ritt ein Trupp Lanceros auf die Lichtung zu. Der Anführer sprang vom Pferde und untersuchte aufmerksam den Boden. »Matteo hatte recht«, sagte er, sich nach einer Weile aufrichtend, »hier haben sie gerastet. Also ist der Verräter entwischt, und der Preis, der auf seinen Kopf gesetzt ist, dahin. Aber die Feuer glühen noch, sie können nicht allzuweit sein. Adelante, companeros! Ihnen nach! Setzt die Sporen ein. Vielleicht erreichen wir sie doch.«

Sie wandten die Pferde und jagten die Anhöhe hinauf. Die Nacht verschluckte sie und breitete ihren dunklen Mantel über das zerklüftete Land.


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