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In Aranas Haus

Wenige Tage nach den spukhaften Ereignissen bei der alten Tempelpyramide brachen Pablo und Tenanga, von den zurückgebliebenen Indianern begleitet, auf, um die Reise zu General Arana fortzusetzen. Der Jüngling verabschiedete sich herzlich von den beiden Deutschen; der alte Tanub saß mehr oder weniger geistesabwesend in seinem Haus; er nahm wohl nicht einmal wahr, daß Pablo ging.

Der Weg durch die Wälder verlief ohne Schwierigkeiten; Huntohs Leute schienen sich nach dem Verschwinden ihres Anführers entfernt und die Verfolgung aufgegeben zu haben. An einem strahlenden Vormittag erreichte Pablo mit seinen Begleitern eine große Hazienda, deren Wohnhaus am Rio San Indro lag, die Besitzung des Generals aus indianischem Blut.

Pablo, der einen der Maultiertreiber vorausgeschickt hatte, um ihn anzumelden, wurde auf der Terrasse von dem General empfangen. Arana legte ihm beide Hände auf die Schultern und sah ihm lange in die Augen. »Ja«, sagte er mit seiner warmen Stimme, »du bist Jungunas Sohn; es ist sein Gesicht, das mich aus deinen Zügen grüßt. Sei herzlich willkommen! Du bist nun zu Hause; alle Entscheidungen über dein ferneres Leben werden wir gemeinsam treffen.«

Nach den strapaziösen Erlebnissen der letzten Wochen fand der Junge nun endlich Gelegenheit, sich in gewohnter Weise zu erfrischen und umzukleiden. Der General hatte einen Sohn seines Alters, dessen Kleider ihm ausgezeichnet paßten. Nach einem erfrischenden Bad fühlte er sich wie neugeboren. Bald saß er dem alten Indianer an der reich bestellten Tafel gegenüber und mußte nun ausführlich von seinen Erlebnissen erzählen.

Die Darstellung der Vorgänge bei der Tempelpyramide erschütterte Arana sehr. »Es gibt, wie überall, so auch bei uns Menschen, die den Fortgang der Zeit nicht sehen und wahrhaben wollen«, sagte er; »wie die Dinge einmal liegen, schaden sie der indianischen Sache mehr, als sie auch nur zu ahnen vermögen. Sie geben den Weißen immer wieder Gelegenheit, den Indianer als zweitrangig, minderwertig und barbarisch hinzustellen. Wir können das Rad nicht zurückdrehen, und wir können unser Lebensrecht nur behaupten, wenn wir uns als Bürger des Landes fühlen und uns als solche bewegen.«

Im Verlauf der weiteren Unterhaltung erfuhr Pablo von dem General, sein eigenes Leben betreffend, nun erst Dinge, von denen er nichts geahnt und an die er bisher auch nicht im entferntesten gedacht hatte. Antonio d'Irala hatte dem kleinen braunen Jungen, der seinerzeit zusammen mit dem Mädchen Maria von einer Schiffsplanke geborgen worden war, den Namen del Roca gegeben, während er Maria adoptierte. Von Tenanga hatte er erfahren, daß er den indianischen Namen Hualpa führe. Nun sagte Arana ihm, daß, den Landesgesetzen entsprechend, auch die Indianer bürgerliche Vor- und Familiennamen zu führen hätten und daß er, Pablo, wie seine Vorfahren schon seit mehreren Generationen, den Namen Reynador führten. Sein Vater, indianisch Junguna genannt, habe bürgerlich Pedro Reynador geheißen und sei Besitzer umfangreicher Ländereien in Guatemala und Yucatan gewesen, die er, Arana, seither für den verschollenen Erben verwaltet habe. Er selber, bisher von den Weißen Pablo, von den Indianern Hualpa genannt, führe landesrechtlich den Namen Diego Reynador. Die Verwaltung seiner Besitzungen habe im Laufe der Jahre einen nicht unbeträchtlichen Gewinn abgeworfen, so daß eine ziemlich große Summe auf der Bank in Merida zu seiner Verfügung stehe. Den Namen Reynador (Herrscher) habe vor Menschenaltern ein Gobernador einem seiner Vorfahren zur Erinnerung an seine königliche Abkunft verliehen. Die indianischen Namen Junguna und Hualpa lebten nur im Munde der Mayas, die sich den uralten Sitten noch immer verbunden fühlten und insbesondere leidenschaftlich an ihrem alten Königshaus hingen; rechtlich hätten sie keine Bedeutung mehr.

Das wäre also der dritte Name, unter dem ich mich selbst begreifen soll, dachte der Jüngling ein wenig bitter, und ein tiefes Gefühl seiner Verlorenheit – fremd hier und fremd dort – drohte ihn zu übermannen. Aber ein Blick in Aranas gute alte Augen sagte ihm, daß er nun wohl geborgen sei.

Der General sprach dann von dem im Lande tobenden Bürgerkrieg. »Chamulpo wird von einem rasenden Ehrgeiz aufgefressen«, sagte er, »das macht ihn blind für die Wirklichkeit. Immerhin begreift er gut, von welch entscheidender Bedeutung seine Position ist. Tatsächlich stellen die Indianer gegenwärtig eine Macht dar, die niemand, auch gewiß kein weißer General, unterschätzen wird. Chamulpo stützt sich auf diese Macht. Er pocht auf das Königsblut, das angeblich in seinen Adern fließt, und das sichert ihm seinen Einfluß, den sich ein Weißer nicht vorstellen kann. Aber Chamulpo geht es nicht darum, den Indianern zu besseren Lebensbedingungen zu verhelfen, ihre Position und ihre rechtliche Stellung gegenüber den Weißen zu stärken, ihm geht es nur darum, selbst eine Rolle im Staat Guatemala zu spielen.«

Pablo, der nun plötzlich Diego Reynador hieß, ging für den Rest des Tages wie verwandelt umher. Er hatte nach der ersten entscheidenden Unterredung mit dem General auch dessen Frau und Tochter kennengelernt – der Sohn befand sich bei der Truppe – und hatte zu seinem Erstaunen festgestellt, daß sich das Leben auf dieser, einem Indianer gehörenden Hazienda, bis auf die andere Behandlung und Rechtsstellung der indianischen Arbeiterschaft, in nichts von dem Leben in del Roca unterschied. Daß er selbst Eigentümer großer Landbesitzungen sein sollte, begriff er einstweilen noch nicht.

Er schlief in dieser Nacht wunderbar, traumlos und tief. Am nächsten Morgen setzte er sich hin und schrieb einen langen Brief an Maria, in dem er ihr alle seine wechselvollen und sonderbaren Erlebnisse mitteilte und seiner Freude Ausdruck gab, sie in aller Kürze wiederzusehen. Auch an Don Antonio richtete er einige herzliche Zeilen des Dankes für alles Gute, das er im Verlauf langer Jahre auf del Roca erfahren habe. General Arana versprach ihm, die Briefe sofort durch einen seiner erfahrensten und landeskundigsten Vaqueros besorgen zu lassen.

»Und nun wollen wir nach deinem eigenen Landsitz reiten, mein Junge«, sagte er dann; »wie ist es, willst du nun Diego oder Pablo heißen?«

»Pablo, Padrino, wenn es angängig ist«, lächelte der Jüngling, »ich glaube nicht, daß ich mich noch an einen neuen Vornamen gewöhnen kann. Maria würde doch gewiß immer wieder Pablo zu mir sagen.«

Der General schmunzelte. »Es wird nicht weiter wichtig sein«, sagte er, »wir können den Namen Pablo ja dazuschreiben lassen.«

Sie ritten, von Tenanga und einigen Peons der Hazienda Arana gefolgt, am Ufer des Flusses entlang. Arana hatte dem Jungen ein prachtvolles Pferd satteln lassen, und Pablo empfand es als eine Beglückung, nach langer Zeit wieder reiten zu können.

Sie ritten nur wenige Stunden durch eine landschaftlich reizvolle Gegend, dann tauchte das wuchtige Landhaus der Hazienda vor ihnen auf, und Pablo begriff nicht, daß dies alles sein Eigentum sein sollte. »Hier haben schon deine Väter gewohnt, und hier bist du geborgen«, sagte Arana. Sie fanden die ganze stattliche Belegschaft der großen Besitzung zum Empfang versammelt; der junge Herr wurde mit jubelnder Freude empfangen. Der alte Vaquero, in dessen Hände Arana die Verwaltung der Hazienda gelegt hatte, hatte Tränen in den Augen, ein bei einem Indianer ungewöhnlicher Anblick. Er war schon bei Pablos Geburt auf der Besitzung gewesen.

Sie brauchten zwei Tage, um die Ländereien der Hazienda Reynador abzureiten; der General schien über alles unterrichtet, es war, als erkläre er dem jungen Mann sein eigenes Besitztum.

Anschließend ritten sie in die benachbarten Berge, wo reinblütige Mayas in dichten Ansiedlungen wohnten. Die Nachricht, daß der Sohn Jungunas lebe und zurückgekehrt sei, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet; wohin Pablo kam, sah er sich mit jubelnder Freude empfangen. Manch bewundernder Blick folgte seiner jugendlich straffen Erscheinung.

Das hier hausende rauhe Hirten- und Jägergeschlecht hatte in allen Zeitläufen seine Unabhängigkeit zu wahren verstanden. Es unterschied sich, wie Pablo sofort wahrnahm, sehr wesentlich von demjenigen Teil der Urbevölkerung, den die Spanier jahrhundertelang in Sklaverei gehalten hatten. Er sah hier freie, kräftige Männer, die sämtlich wohlbewaffnet waren. Er sah manches Gesicht, das sich ihm bei der Tempelpyramide eingeprägt hatte. Wohin er kam, strömten die Menschen von weither zusammen; bis nach Yucatan hinein hatten die Mayas vernommen, daß Hualpa, der

Letzte der alten Könige, in die Heimat zurückgekehrt sei. Als er schließlich die Berge verließ, gaben sämtliche Häuptlinge ihm das Geleit. Sie versicherten ihm einmütig, daß sie seines Rufes gewärtig seien, wenn er ihrer bedürfe.

Er konnte sich noch nicht entschließen, auf der eigenen Hazienda zu bleiben. Er wußte, daß von der Ruhe einstweilen keine Rede sein konnte; Arana brauchte es ihm nicht erst zu sagen. Er war durch seine bloße Abkunft, ohne es zu wissen oder auch nur zu ahnen, zu einem Faktor in der gegenwärtigen Auseinandersetzung geworden und hatte keine Möglichkeit, sich den Verpflichtungen zu entziehen, die ihm aus dieser Abkunft und der treuen Anhänglichkeit der Mayastämme erwuchsen. Und er wollte es auch nicht. Er war jung, und sein Kopf war voll kühner Gedanken, er wollte tun, was ihm vom Schicksal aufgetragen war. So ritt er zunächst mit dem General zu dessen Besitzungen zurück.

In Ruhe und Gründlichkeit sprachen sie hier alle Möglichkeiten durch und berieten eingehend über die zu ergreifenden Maßnahmen. Der erfahrene General, dem die inneren Verhältnisse des Landes geläufig waren, sagte sich, daß sein eigener Einfluß mit dem jungen Königsenkel an der Seite künftig ganz anders ins Gewicht fallen müsse als bisher, da Chamulpo seine angebliche Abstammung ins Feld führen konnte. Aber es wollte mit Ruhe und Bedacht erwogen sein, welche praktischen Schlüsse aus der veränderten Lage zu ziehen seien.

Pablo weilte schon wieder einige Tage auf der Hazienda Aranas und stand eines Nachmittags auf der Veranda, als der Vaquero zurückkam, den der General mit den Briefen nach del Roca gesandt hatte. Der Mann hatte die Briefe noch; sie waren nicht bestellbar gewesen. Der Jüngling sah, von jähem Schreck und jagender Angst erfaßt, in das dunkle Gesicht des Mannes.

»Die Hazienda del Roca ist ein Aschenhaufen«, sagte der Vaquero. »Don Antonio ist im Krieg, die Señora weit fort an der Küste, die Señorita ist tot, im Feuer umgekommen.«

Pablo stand wie versteinert und starrte auf den Unglücksboten. »Was denn«, stammelte er, »die Señorita – tot sagst du, verbrannt? Das ist doch nicht möglich!« Er begann zu zittern, er meinte, das Herz müsse ihm stehenbleiben. »Maria«, murmelte er, »Mariquita. Es ist doch nicht möglich!«

Der Mann sah ihn aus traurigen Tieraugen an; er senkte den Kopf. »Die Trümmer des Hauses habe ich gesehen«, sagte er leise, »die Leute dort sagen – ich habe viele befragt, sie sagen alle dasselbe: die Señorita sei bei dem Brand umgekommen.«

Pablo atmete schwer; es fiel ihm ein, daß er wohl eine traurige Figur machen möchte; er winkte dem Mann zu gehen. In seinem Kopf war immer nur der gleiche Gedanke: Es kann ja nicht sein – Gott kann es nicht zulassen – wir werden sehen! Aber del Roca war abgebrannt; Schreckliches war geschehen. Wer hatte das getan? Urplötzlich brach der Haß in ihm auf, mischte sich mit dem brennenden Schmerz und verzerrte sein junges Gesicht. »Tenanga«, rief er, »komm schnell, Tenanga!«

Wie ein Schatten war der junge Maya an seiner Seite.

»Wir reiten«, sagte Pablo mit finsterem Gesicht, einem Gesicht, vor dessen Anblick der treue Tenanga entsetzt die Augen aufriß, »laß Pferde satteln, die besten Pferde. Wir reiten nach del Roca.«

Pablo ging auf sein Zimmer, er tat jeden Schritt, jeden Griff mechanisch wie ein Automat; die Starre seines Gesichtes lockerte sich nicht. Er zog sich um, so einfach und zweckmäßig wie möglich, warf Poncho und Sombrero über, steckte Geld ein, ergriff seine Doppelbüchse und ging wieder hinab.

Unten traf er Arana, der eben von einem Rundritt über die Felder zurückgekehrt war und bereits von dem Vaquero gehört hatte, was in del Roca geschehen war. Pablo sah ihn mit seinem starren Gesicht an.

»Ich muß reiten, Padrino.«

»Ist es nicht nutzlos, mein Junge? Die Toten bleiben tot.« Er legte ihm, wie damals bei der Ankunft, die Hände auf die Schultern. »Ich muß, Padrino. Ich weiß nichts, ich fasse nichts, ich begreife nichts. Maria soll tot sein, sagen sie. Ich kann es nicht glauben. Ich muß es sehen. Und ist sie tot, ist sie es wirklich, dann will ich ihre Asche bergen. Aber erst muß ich sehen, sehen. Wissen, was – wissen, wer das getan hat.«

»Du wirst zwischen die Armeen geraten.«

»Ich kann es nicht ändern, Padrino.«

»Nimm Begleiter mit.«

»Nein. Nur Tenanga soll mich begleiten. Allein reisen wir am sichersten.«

Arana sah ihn mit einem langen und tiefen Blick an. »Vergiß nicht, mein Junge, daß noch andere, sehr ernste Pflichten auf dich warten«, sagte er.

»Ich weiß es. Ich entziehe mich ihnen nicht. Aber jetzt muß ich reiten. Ich würde sterben, wenn du mich hieltest, Padrino.«

»Dann mußt du wohl reiten. Man muß tun, was einem die innere Stimme sagt. Reite also glücklich, mein Junge. Nur sehr schwer lasse ich dich ziehen, kaum daß ich dich wiederhabe. Trägst du den Stern?«

»Ja.«

Pablo trug seit den ersten Tagen seiner Anwesenheit auf der Hazienda Aranas einen kleinen goldenen Stern von länglicher Gestalt auf der Brust, den der General ihm aus dem Erbe seines Vaters ausgehändigt hatte. Der Stern trug das gleiche Zeichen eingraviert, das ihm in blauen Linien auf die Haut tätowiert war. Jeder echte Maya wußte, wen er in dem Träger dieses Sternes vor sich hatte.

Er schwang sich aufs Pferd, das Tenanga gesattelt herangeführt hatte. »Empfiehl mich den Deinen, Padrino«, sagte er, dem General die Hand reichend, »wir sehen uns bald wieder.«

Arana drückte die Hand. »Möge Gott dich schützen, mein Junge! Kehre glücklich zurück.« Ein Wink mit der Hand, und die beiden Reiter verließen die Hazienda. Sehr ernst und sehr nachdenklich blickte Arana ihnen nach.


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