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Das Haus der Könige

Pablos Wunde heilte schnell. Der wunderliche Alte, der inmitten der zerfallenen Ruine hauste, erwies sich als ein Mann von hohem Wissen und scharfem Geist, der freilich manchmal der Trübung verfiel, sobald die Bilder und Vorstellungen der versunkenen indianischen Vorzeit in ihm lebendig wurden. Er war wie Pablo unter Weißen aufgewachsen und in einem spanisch-katholischen Priesterseminar erzogen worden, hatte sogar schon die niederen Weihen erhalten. Damals begann er, die Vorgeschichte seines Volkes zu studieren, versenkte sich in die alten Mythen und grub hier, wohl vom Instinkt geleitet, erheblich tiefer als mancher weiße Gelehrte, der dieser Vergangenheit nachspürte. Darüber aber, über der gleichzeitigen Beschäftigung mit christlichen und heidnischen Vorstellungen, begannen sich ihm die Bilder zu verwirren, es geschah, daß sein Geist zeitweise aussetzte und Wahn und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart ineinanderglitten. Der Christengott, den er bekannte, und die alten indianischen Gottheiten, die unbewußt in ihm lebten, rangen miteinander, und er geriet in eine Art Dämmerzustand, der ihn unfähig machte, die begonnenen Studien fortzusetzen. Er schied aus dem Priesterseminar aus, widmete sich weiter seinen historischen Forschungen und zog sich schließlich, ein wunderlicher Greis, in die Einsamkeit zurück. Das Wissen lag gespeichert in ihm, aber es ward streckenweise verschüttet und kam nur dann und wann in Bruchstücken ans Licht. Auf dem Priesterseminar hatte er den Namen Franzisco geführt, aber er nannte sich längst wieder mit seinem indianischen Namen Tanub.

Der Alte pflegte Pablo mit Liebe und Hingebung, er kannte alle Kräuter und wußte um ihre Heilkraft. Er glitt wie ein Schatten durch die Räume; zuweilen fuhr Pablo unter dem unheimlichen Kichern zusammen, das aus irgendeinem Winkel zu ihm herüberdrang, er hörte den Alten flüstern und raunen, und mystische Schauer durchliefen ihn. Bald danach aber konnte es geschehen, daß Tanub neben ihm auftauchte, sich an seinem Lager niederließ und irgendeine nüchterne und sachliche Frage hatte.

Der Junge sehnte sich danach, seine vollen Kräfte wieder zu erlangen. Oft gingen seine unruhigen Gedanken nach del Roca. Er hatte dann das Gefühl, daß Maria in Gefahr sei, und er beklagte seine Ohnmacht. Um so mehr, als sein Verstand ihm sagte, daß er auch nach seiner völligen Wiederherstellung nicht nach der Hazienda reiten könne, sondern den General Arana aufsuchen müsse.

Er sprach mit dem alten Tanub von seinen Sorgen und Plänen, er lauschte seinen Berichten von der alten, versunkenen Zeit, die immer mit der sachlichen Pedanterie des Gelehrten begannen, um bald darauf in dunkle Phantasien abzugleiten, aber nie erwähnte er das geheimnisvolle Zeichen auf seiner Brust. Er fürchtete sich vor den phantastischen Deutungen des Alten, weil sie ihn selber verwirrten und in Konflikte stürzten, die er nicht übersah. Pablo war ja in einem spanischen Hause als guter Christ erzogen, er glaubte und bekannte den Gekreuzigten auf Golgatha, und doch geschah es immer wieder, daß die mythischen Kräfte der eigenen Vergangenheit in ihm aufbrachen und gebieterisch Beachtung forderten. Das verwirrte ihn und machte ihn unsicher; das dunkle Geraune des alten Tanub war unter diesen Umständen nicht eben die richtige Medizin für ihn.

Von dem im Lande tobenden Bürgerkrieg schien man in der stillen Waldeinsamkeit hier nichts zu wissen. Tenanga meinte übrigens, daß man hier schon nicht mehr sehr weit von der Grenze Yucatans sei.

Eines Tages, Pablo ging schon wieder umher und fühlte sich bereits ziemlich kräftig, fragte Tanub ihn, ob er nicht einmal das Haus der Könige sehen wolle. Der Junge saß im Schatten einer alten Algarobe im Garten, Tenanga befand sich auf der Jagd.

»Das Haus der Könige?« fragte der Junge.

Der Alte schien ganz vernünftig, sein Gesicht war verschlossen und still. »Es ist nicht sehr weit«, sagte er, »und der Tag ist günstig.«

Er sei bereit, sagte Pablo und unterdrückte die heimliche Stimme, die ihm riet, einer Versuchung zu widerstehen.

Sie gingen durch den düsteren Wald, der Alte immer um einige Schritte voran, auf einen Stecken gestützt. Wohl eine halbe Stunde wanderten sie so; plötzlich, vor einem dichten Gebüsch, blieb Tanub stehen, wandte sich um und sah Pablo mit einem seltsamen Blick an. In dem Jungen stieg etwas auf unter diesem Blick, er stand wie gebannt vor der beinahe feierlichen Gebärde, mit der der Alte jetzt die Büsche zerteilte. Er folgte ihm mit einem Herzen, das schwer war von Ahnungen und stand gleich darauf, da die Büsche hinter ihm zusammenfielen, wie erstarrt.

»Du stehst vor dem Haus deiner Väter«, flüsterte Tanub.

Und Pablo sah: auf einem von Bäumen und Unterholz gesäuberten freien Platz erhob sich ein Gebäude, wie er es noch niemals geschaut, weder im Traum noch im Bild. Über dreißig breiten ansteigenden Stufen erhob sich die noch gut erhaltene Frontfassade eines gewaltigen Bauwerkes. Zehn dunkle Schächte führten von der breiten Terrasse aus in das Innere. Bildwerk, Schnitzereien und reicher ornamentaler Schmuck von sonderbarer Phantastik der Form deckte die ganze Front. Fabelwesen schienen es, die mit seltsam verschlungenen Gliedmaßen und glotzenden Gesichtern den jungen Indianer anstarrten, der regungslos dastand und mit aufgerissenen Augen das Wunder betrachtete, nicht anders, als sei er aus der Gegenwart gerissen und in eine fremde, ferne Welt versetzt, die dennoch irgendwo immer schon in ihm gelebt.

Der Bau war zerfallen, uraltes, geborstenes Mauerwerk, Überrest einer längst versunkenen Kultur, Zeuge einer Vergangenheit, die schon vor Jahrhunderten im Blut ertrank. Erhalten schienen nur die Front und die hinaufführende Treppe, und auch sie verwittert und lange schon zum Tode verurteilt, gespenstiger Rest nur einer gestorbenen Zeit.

Pablo sah es, aber in seiner Knabenseele geschah jetzt ein Aufbruch, es riß an ihm, die Fassade des Palastes belebte sich, er sah die Männer seines Stammes auf der Treppe, wie sie mit gemessenen, feierlichen Bewegungen Stufe um Stufe nahmen; seine Augen flammten in dunklem Glanz, um sich gleich darauf zu umschatten: Vorbei! Traum! Vergangenheit! Verschwunden die Mayafürsten, arm, elend und ausgestoßen der kärgliche Überrest ihres Volkes, machtlos und arm vor den Stufen der Königstreppe des Palastes der Letzte des alten Königsstammes!

Der Greis hatte, auf seinen Stecken gestützt, stumm an seiner Seite gestanden. »Komm«, sagte er jetzt; es kam nur wie ein Hauch, als habe das laute Wort hier keinen Platz. Er schritt die zerbröckelnden steinernen Stufen hinauf, auf den Haupteingang zu. Pablo folgte ihm zögernd, scheu, von wirren, widerstrebenden Gedanken bewegt. Die steinernen Bildnisse geheimnisvoller Gottheiten, teilweise wunderbar erhalten, flankierten die Pforte; die ornamentale Linienführung erschien seltsam verworren, verriet aber einen höchst eigenwilligen und beeindruckenden Kunstverstand. Es erwies sich, daß nicht nur die Fassade noch stand. Auch von den übrigen Mauern waren große Teile erhalten, eine Anzahl Säle und Zimmer zeigten noch die ursprüngliche Form. Selbst die alte Bedachung war stellenweise noch vorhanden, an anderen Stellen schien der blaue Himmel hinein. Die Steinfliesen des Bodens waren mit Schildkröten in erhabener Arbeit verziert. Die Farbe der ursprünglich bunt ausgemalten Wände war fast gänzlich zerstört, nur da und dort leuchtete sie noch in dunkler Tönung durch. Aber fast in allen Gemächern war in der abgeblätterten Malerei noch eine ehemals rote Hand zu erkennen, die mit ausgestrecktem Finger nach Osten wies.

Langsam schritten sie durch die zerfallenen Räume; sie sprachen kein Wort. In einem der größeren Säle zeigte sich, fast bis zur ganzen Höhe reichend, ein Kreuz. »Das Kreuz Christi«, sagte Pablo überrascht. Der Alte wiegte den Kopf, das Lächeln um seinen faltigen Mund war ganz abwesend. »Das Zeichen des Regengottes«, flüsterte er. Pablos Auge verdunkelte sich.

Sie betraten einen anderen Saal; hier waren an den Wänden noch deutlich die Konturen überdimensionaler Bildwerke erkennbar. Geduckt von dem schier erdrückenden Schmuck einer phantastischen Ornamentik wuchsen aus dem Geschlinge ineinanderlaufender Linien sonderbare Figuren heraus. Jede dieser Figuren, die einmal Götter, Priester oder Könige dargestellt haben mochten, trug auf der Brust ein seltsam verschlungenes Zeichen, das Pablo mit heimlichem Schauder als das gleiche erkannte, das ihm selbst eingebrannt war. Im übrigen waren die Wände von oben bis unten in halb erhabener Arbeit mit geheimnisvollen Zeichen bedeckt, die mit nichts Ähnlichkeit besaßen, was Pablo jemals gesehen hatte.

»Der Saal der Inschriften«, flüsterte Tanub. »Hier ist die Geschichte unseres Volkes aufgeschrieben, die Geschichte vor der Eroberung, von der Zeit an, wo die Mayas vor den Azteken nach Süden flüchten mußten, um eine neue, glanzvollere Heimat zu schaffen. Siebzehn Königsbilder siehst du hier an den Wänden, sie beginnen mit dem großen Nimaquiché. Ich werde dir einmal von diesen Königen und ihren Taten erzählen. Denn Tanub liest diese Zeichen, Tanub allein.«

Starr, von geheimnisvollen Kräften überwältigt, gleichsam als sei er urplötzlich aus allen Bindungen gerissen und in eine fremde und zugleich vertraute Welt hineingestellt, stand der Jüngling da; er war blaß unter der dunklen Haut, seine Lippen waren fest geschlossen, und in seinen Augen brannten heimliche Feuer. Lange stand er so, dann griff Tanub ihn am Arm und führte ihn schweigend hinaus.

Im Hof des umfangreichen Gebäudekomplexes wuchsen Unkraut und Gras. Einige uralte verkrüppelte Bäume dehnten ihre Zweige. Hier herrschte die Wildnis. Hinter dem Palast erhob sich ein mächtiger pyramidenartiger Bau.

»Der Tempel, das Haus der Götter«, raunte Tanub.

Sie verließen den Palast und gingen weiter durch den Wald. Überall zeigte sich verfallenes, von Busch- und Strauchwerk überwuchertes Mauerwerk, seltsam geformte, mit Bildwerk bedeckte Säulen erhoben sich am Weg. Andere kleinere Tempelruinen ragten zwischen dem Grün, die Straßenfluchten waren noch zu erkennen; sie waren weit ausgedehnt und ließen auf eine Stadt von erheblichem Umfang schließen, die hier mitten im Urwald begraben lag.

Tanub führte Pablo auf die Höhe eines Ruinenberges; hier war offenbar einmal ein Wall gewesen, der zur Verteidigung der Stadt gedient haben mochte. Das zerfallene Bauwerk fiel nach der anderen Seite hin schroff zu einer Schlucht ab, an einigen Stellen waren noch Brustwehren erkennbar. Aber das Buschwerk wucherte, die Lianen schlangen sich über die zerbröckelnden Mauern, die riesigen Baumkronen verfilzten sich ineinander, so daß hier eine Art mystische Dämmerung herrschte wie in einer Gruft.

Der Alte setzte sich auf die Brüstung. »Hier hat der letzte Kampf stattgefunden«, sagte er leise. »Hier sind sie gestorben, die Mayas, Mann für Mann. Dort stand Nezualpilli« – er wies mit der Hand nach rechts – »als Alvarado mit seinen Eisenreitern geritten kam, von dorther, sieh doch, von dort. Über Leichen hinweg mußte er sich den blutigen Weg bahnen, jeden Fußbreit dieser Erde mußte er erkämpfen. Sie haben ihn, ihren König, mit ihren Leibern gedeckt, bis zum letzten Atemzug, die Krieger der Mayas. Der König fiel unter Alvarados Schwert, und alle folgten ihm in den Tod, alle.« Der Alte erhob sich, ganz plötzlich veränderte sich sein Gesicht, es erlosch gleichsam, in den alten Augen funkelte der unheimliche Glanz, der Pablo beim ersten Begegnen erschreckt hatte.

»Da«, keuchte Tanub und wies mit dem knochigen Finger in das Gestrüpp, »siehst du sie? Siehst du sie kämpfen. Sie kommen heran! Das ist Nezualpilli! Er ficht, er kämpft, er blutet aus zahllosen Wunden! Sie fallen, fallen, weichen« – die Stimme brach um, wurde schrill, ein irrsinniges Lächeln erschien auf des Alten Gesicht, er stammelte wirre Worte, kleine helle Schreie entsprangen seinen welken Lippen, gingen in einem sinnlosen, gespenstigen Kichern unter; das Männchen zitterte wie im Krampf, und die Augen, die in das Nichts sahen, schienen nicht mehr von dieser Welt.

Pablo war wie betäubt, all sein Denken war verwirrt, er zwang sich gewaltsam in die Gegenwart. Selbst noch im Vollbesitz seiner Kräfte, führte er den zitternden, vor sich hinkichernden Alten in seine Behausung zurück.

In dieser Nacht schlief er kaum. Er suchte die verworrenen Bilder seines Inneren zu ordnen und aus den geheimnisvollen Zeichen einer Vergangenheit, die so plötzlich vor ihm erstanden, die nüchterne Forderung der Wirklichkeit abzuleiten. Erst mit dem dämmernden Morgen sank er in Schlaf.

Er erwachte von dem lauten und hellen Klang einer fremden Stimme. Spanische Worte drangen an sein Ohr, aber sie wurden mit einem sonderbar fremden Akzent gesprochen. »Da wären wir wieder einmal, ehrwürdiger Waldgreis«, sagte die Stimme, »hoffentlich stören wir deine Ruhe nicht gar zu sehr.«

Er hörte die Stimme des Alten antworten, die wieder völlig vernünftig klang: »Du bist immer willkommen, Don Carlos. Du weißt, daß ich mich an deiner Arbeit freue. Nur die Zeichen, die du enträtseln willst, wirst du niemals deuten.«

»Wart's ab«, sagte der mit dem fremdartigen Spanisch, »wart's ab, mein Lieber. Haben wir die Hieroglyphen der alten Ägypter enträtselt, werden wir eines Tages auch das Geheimnis der Mayaschrift lösen. Ich habe dir übrigens einige Puros mitgebracht, Don Franzisco oder Señor Tanub, wenn du das lieber hörst. Ich habe bemerkt, daß du ein gutes Kraut nicht verachtest.«

Pablo erhob sich und sah durch die kleine Fensteröffnung, die sein Zimmer mit dem Gemach verband, aus dem die Stimmen zu ihm herüberdrangen. Er sah einen ziemlich großen, kräftigen Mann mit frischem Gesicht und blondem Haar, der eben einige Zigarrenkisten aus seiner Reisetasche nahm und dem alten Tanub überreichte. Der Mann trug einen hellen Sommeranzug, auf dem Tisch lag ein breitrandiger Panamahut. Unweit von ihm stand ein jüngerer Mann, dessen Haar nur wenig dunkler war und einen leichten rötlichen Schimmer hatte; er trug Reitstiefel, ein farbiges Hemd und eine Büchse quer über den Rücken.

»Mil gracias«, sagte Tanub, öffnete eine der Zigarrenkisten und roch daran, »du weißt, was uns hier in den Wäldern fehlt. Diese Räume gehören dir, und alles, was ich besitze, ist dein eigen. Verweile darin, solange du willst, und schalte nach Belieben.«

»Ich werde deine Gastfreundschaft tatsächlich ein wenig in Anspruch nehmen müssen, bevor ich zur Küste aufbreche«, versetzte der Fremde. Pablo, der sich inzwischen angekleidet hatte, betrat den Nebenraum. Er sah gerade noch, daß der jüngere Mann die Behausung verließ und erblickte durch das Fenster einige gesattelte Maultiere und deren indianische Treiber.

»Oh«, sagte der Fremde, Pablo aus blauen Augen überrascht anblickend, »dein Hausstand hat sich vermehrt, Tanub?«

Der Alte, der sich eine Zigarre angesteckt hatte, genießerisch rauchte und dem nichts mehr von der gestrigen Geistesverwirrung anhaftete, stellte mit einer Handbewegung vor: »Don Pablo del Roca.« Der Jüngling verbeugte sich und nahm die ihm dargebotene Hand des fremden Mannes. »Don Carlos Sadelar, ein gelehrter Herr und ein Aleman«, sagte der Alte.

Er hieß nicht Sadelar, der Aleman, er hieß Doktor Sattler, aber es war Tanub unmöglich, diesen Namen auszusprechen. Er sah den jungen Indio mit einem warmen, freundlichen Blick an; das edelgeschnittene Gesicht, das spanisch geschnittene Haar und die sichere Gewandtheit des Jungen mochten ihm merkwürdig vorkommen. »O Señorito«, sagte er, »haben Sie etwa auch meinen alten Freund und Gönner Don Franzisco aufgesucht, um historische Studien zu treiben?«

Pablo lächelte. »Nein, Señor«, entgegnete er, »mich hat der Zufall hierher verschlagen.«

»Ein europäischer Maya« – Doktor Sattler schien einigermaßen verblüfft – »denn Sie sind doch ein Bergmaya, nicht wahr?«

»Ich stamme aus dem Westen, Señor, und bin an der Küste des Ozeans aufgewachsen«, sagte Pablo ablenkend. Die gelassene und sichere Art des Auftretens und das saubere Spanisch, das der Jüngling sprach, machten entschieden Eindruck auf den deutschen Gelehrten. »Sie haben das Liceo besucht?« fragte er.

»Nein, Señor, ich habe nur Privatunterricht erhalten, und es liegt nicht an meinem guten Padre Bernardo, wenn ich dabei nicht sehr weit gediehen bin.«

»Nun, es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Sattler abschließend, »man trifft verhältnismäßig selten auf gebildete Indianer. Ich dachte, die Ruinenstadt habe Sie hergelockt.«

»Ich habe sie gestern zum ersten Male gesehen.«

»Ein gewaltiger Anblick, nicht wahr?«

Pablos Gesicht verschloß sich. »Die gestorbene Stadt hat mich, den Nachkommen derer, die sie einst erbauten, begreiflicherweise tief beeindruckt«, sagte er knapp.

Der Fremde lächelte. »Ich bin eigens nach Mittelamerika gekommen, dieser Ruinen wegen«, sagte er. Der alte Tanub schaltete sich ein. »Was hast du in Yucatan gefunden, Señor Doktor?« fragte er.

»Oh, allerlei«, entgegnete Sattler. »Ich war in Palenque und Umal, den großen Ruinenstädten, sie bewahren das Beste, was von den Urbewohnern dieses Kontinents zurückgeblieben ist; die Überreste Mexikos etwa können sich damit nicht entfernt vergleichen.«

Auf dem Gesicht des Alten dunkelten Schatten. »Azteken«, kicherte er, »stumpfsinnige Azteken haben dort gebaut, ihr dürftiges Wissen stammt von den Mayas.«

»Ich möchte glauben, daß du recht hast, Don Franzisco«, versetzte der Deutsche, »die Maya-Inschriften werden vielleicht den Beweis dafür erbringen.«

Der Alte kicherte fast lautlos in sich hinein. Sattler achtete gar nicht darauf. Er fuhr, sich an Pablo wendend, fort: »Diese großen, umfangreichen und gewiß einst dicht besiedelten Städte sind erschütternde Zeugen einer untergegangenen Welt, von der wir nicht wissen, welche Möglichkeiten noch in ihr lagen, wenn sie nicht in der Entwicklung vernichtet worden wäre. Es sind schon Jahrzehnte vergangen, seit wir in Europa zum ersten Mal von diesen Ruinenstädten inmitten unwegsamer Urwälder hörten. Seitdem ist die Wissenschaft unentwegt tätig, das Dunkel aufzuhellen, das sie umgibt.«

Tanub hatte sich gesetzt, er rauchte mit Behagen seine Havannazigarre. »Du bist gewiß ein großer Gelehrter, Don Carlos«, sagte er jetzt, »du weißt mehr von unserer Geschichte als die meisten Spanier. Im Seminar haben sie mich mit allerlei Schriften gequält, aber von der Vergangenheit der Mayas wußten die frommen Padres so gut wie nichts. Da hat mir der Wind eine Kunde zugetragen – –«, er schwieg, machte einige fahrige Bewegungen, in seine Augen kam ein Glimmern und Flimmern.

Der Deutsche mochte mit dem Wesen des Alten vertraut sein; er fiel ein. »Ich verlasse das Land bald, Don Franzisco«, sagte er, »aber ich wollte nicht abreisen, ohne dich noch einmal zu sehen.«

Die Gefahr war gebannt. »Oh, du willst in deine Heimat zurück?« fragte Tanub.

»Ja, ich will nach Hause, meine Zeit ist um. Und außerdem flammt Guatemala im Bürgerkrieg; ich möchte nicht in das Kriegsgetümmel hineingeraten.«

Diese Bemerkung, von Doktor Sattler nur so nebenbei hingeworfen, weckte in Pablo wieder die Besorgnis um seine Pflegeschwester. Er beschloß, so schnell wie möglich seinen Weg nach Norden fortzusetzen, den General Arana aufzusuchen und dann sogleich nach del Roca zurückzukehren. Als sich der Deutsche, für den seine Leute draußen ein Zelt aufgeschlagen hatten, bald darauf zurückzog, während der alte Tanub in seinem Pablo schon in dem bekannten lethargischen und geistesabwesenden Zustand dahockte, entfernte sich der Jüngling, um noch einmal zu den Ruinen zurückzukehren, die einen so nachhaltigen und erschütternden Eindruck auf ihn gemacht hatten.

Bald darauf stand er abermals vor dem zerfallenen Königspalast, schritt die große Freitreppe hinauf und wandelte durch die leeren Räume wie durch die Bilder eines Traumes. Wie mächtig mußten die Fürsten gewesen sein, die solche Paläste erbauten, wie hochgebildet das Volk, das die Bauten errichtete.

Der hochragende, in Terrassen aufsteigende Tempelbau lockte ihn an. Auf zerfallenen Treppen, die von Terrasse zu Terrasse anstiegen, erkletterte er ihn. Er erreichte die oberste Plattform. Hier stand ein mit halb zerstörten Götzenbildern geschmückter Altar von eigenartiger Form. Pablo blickte sinnend auf den Palast hinab und über die Ruine hinweg auf die dunkle Pracht der endlosen Wälder. Langsam stieg er wieder hinunter und betrat noch einmal das Königshaus.

Im Saal der Inschriften besah er sich die Bilder der Könige, eines nach dem andern. Die Züge der Gesichter waren nicht mehr zu erkennen, nur die Umrisse waren noch einigermaßen deutlich. Er merkte nicht, wie die Stunden verrannen.

Die frische Stimme des Gelehrten riß ihn aus seinem Sinnen. Doktor Sattler stand am Eingang des Saals und lachte ihn an. »Nun, Señorito«, sagte er, »versenken Sie sich in die Vorzeit Ihres Volkes?«

Pablo wandte sich um und erwiderte des anderen offenen Blick. »Ja«, sagte er leise, »und mir ist, als stiege ich in den Schacht meiner eigenen Seele hinab.«

Der Gelehrte kam heran; Pablo wies auf die Anschriften an den Wänden. »Niemand vermag das zu lesen?« fragte er.

»Im Augenblick noch nicht«, entgegnete der Deutsche, »aber wir nähern uns dem Geheimnis. Bis jetzt kennen wir nur die Zahlzeichen, die der Himmelsgegenden und der verschiedenen Gottheiten.«

»Tanub behauptet, die Zeichen entziffern zu können«, sagte Pablo.

Der Deutsche lächelte. »Der gute Alte gerät leider in Verwirrung, sobald er auf die Mayageschichte kommt«, sagte er; »Sie werden das ja bemerkt haben. Sobald seine Phantasie zu spielen beginnt, schweigt sein Verstand. Ich zweifle nicht, daß er irgendeine phantastische Deutung der Inschriften hat, aber die Lösung des Rätsels kennt er sicherlich nicht. Das wenige, das wir wissen, ist über jeden Zweifel erhaben, und davon hat er, wie ich mich überzeugen konnte, keine Ahnung.«

»Als ich ihn zuerst traf, sah ich ihn mit Federn geschmückt und mit Bogen und Pfeilen in den Händen«, lächelte Pablo. »Ich war nach dem ersten Schreck überzeugt, einen Irrsinnigen vor mir zu haben.«

»Sein Geist ist periodisch gestört«, versetzte Sattler, »aber er verfügt nichtsdestoweniger über erstaunliche Kenntnisse von der Geschichte seines Volkes, doch vermag er nie zum Grund vorzustoßen; sobald er in die Tiefe kommt, verwirrt er sich, und die Bilder erschlagen ihn. Das ganze ziemlich im Dunkel liegende Gebiet der Mayageschichte kann endgültig erst die Wissenschaft erhellen.«

»Was ist das für ein Zeichen, Señor? Kennen Sie es?« fragte Pablo und zeigte auf die Brust einer der Gestalten an der Wand; seine Stimme hatte einen rauhen Klang.

»Dies, Señorito, ist das Zeichen der Könige aus dem Stamm Nimaquichés, die hier herrschten«, entgegnete der Deutsche, ohne einen Augenblick zu zögern. »Sie werden es auf allen Bildwerken wiederfinden. Wenn Sie so wollen, eine Art Familienwappen, um mich modern auszudrücken.«

»Beherrschten diese Könige sämtliche Mayastämme?«

»Nein. Es haben hier verschiedene Königreiche existiert, die sich untereinander blutig bekämpften; soviel wissen wir sicher. Doch muß Quiché, in dessen einstiger Hauptstadt wir uns hier befinden, das mächtigste dieser Reiche gewesen sein; jedenfalls war es dasjenige, das den Spaniern nach ihren eigenen Berichten den hartnäckigsten Widerstand entgegensetzte.«

Ein leiser, rascher Schritt ließ sich hinter ihnen vernehmen; Pablo fuhr herum und sah Tenanga vor sich, der zwei Tage lang abwesend war. Er trug die Büchse in der Hand und schien sehr erhitzt.

»Tenanga? Was gibt's?« fragte Pablo in der Mayasprache.

»Der Zapoteke ist da«, sagte Tenanga kurz.

»Der Zapoteke? Huntoh? Ich denke, er ist tot, gefallen von deiner Hand.«

»Er wird, ebenso wie du, Herr, nur verwundet gewesen sein. Jedenfalls ist er da, ich sah seine Spur.«

»Das ist schlimm. Ich sehne mich, fortzukommen.«

»Du kannst jetzt nicht fort, Herr.« Der junge Jäger schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Es geht etwas vor in den Wäldern«, sagte er, »ich weiß nicht, was es ist. Aber es wird lebendig ringsum, ich bin mehrmals auf starke Scharen Bewaffneter gestoßen.«

»Mayas?«

»Das vermochte ich nicht zu erkennen, ich sah sie nur aus der Ferne und kehrte zurück, um dich vor dem Zapoteken zu warnen.«

»Hast du Tanub unterrichtet?«

»Ja, aber ich weiß nicht, ob er begriffen hat; er hat mich hierher geschickt und gesagt, es wäre keine Gefahr.«

Pablo wandte sich dem Deutschen zu. »Verzeihen Sie, Señor Doktor, daß wir uns hier in einer Ihnen fremden Sprache unterhielten«, sagte er, »dies ist Tenanga, mein Freund. Er brachte mir Nachrichten, die mir zu denken geben.«

»Hoffentlich gute?«

»Nein. Ein ziemlich mächtiger Mann beehrt mich mit seinem Haß. Kaum bin ich seinen Nachstellungen entgangen, da beginnt es schon wieder von neuem. Ich muß sogleich zu Tanub zurück. Und ich würde Ihnen empfehlen, unsere Gesellschaft auf dem Rückweg zu meiden; es wäre möglich, daß Ihnen Unannehmlichkeiten daraus erwüchsen.«

»Sie scheinen mich für einen Feigling zu halten«, versetzte der Doktor. »Sie sagen mir, daß Ihnen Gefahr droht und muten mir zu, mich zu drücken. Ich denke, wir gehen zu Dreien.«

»Ich muß Sie warnen, Señor.« Pablo lächelte leicht und wandte sich dann an Tenanga. »Ist der Weg zu Tanubs Haus frei?«

»Wer will das sagen? Wir müssen jedenfalls vorsichtig sein.«

»Also führe uns.«

Tenanga schienen die Ruinen nicht unbekannt. Er führte Pablo und Doktor Sattler durch einen von Buschwerk getarnten Ausgang in den Wald und schlich sodann, die schußfertige Büchse in der Hand, mit unendlicher Vorsicht vor ihnen her. Die beiden anderen folgten schweigend. Sie erreichten das Haus, ohne irgendein Anzeichen von Gefahr zu entdecken. Zu Pablos Verblüffung fanden sie den seltsamen Alten in der wunderlichen Aufmachung, in der er ihnen zuerst begegnete. »Oh«, sagte der Doktor, ein Lächeln unterdrückend, »wir finden unseren Freund wieder als Krieger der Vorzeit, da wird nicht viel mit ihm anzufangen sein.«

Der Alte starrte Pablo an, in seinen Augen glimmte der Wahnsinn. »Bist du Nezualpillis blutigem Schatten begegnet?« fragte er mit seiner hohen Fistelstimme.

»Sieh mich an, Tanub«, sagte Pablo und mühte sich, den unstet flackernden Blick des Greises zu erhaschen, »der Zapoteke ist mit seinen Leuten wieder auf dem Weg.«

Der Alte machte eine fahrige Bewegung und schüttelte die knochige Faust mit den Pfeilen. »Hunde!« krächzte er, »Zapoteken! Hunde! Sie sollen vertilgt werden!«

Mit einem mitleidigen Blick wandte der Jüngling sich ab. »Der Zapoteke hat mich im Auftrag meines Feindes schon einmal verfolgt und verwundet«, sagte er, »wir glaubten ihn unschädlich gemacht zu haben, aber nun höre ich, daß er wieder auf dem Wege ist. Diesen Leuten ist alles zuzutrauen. Der Angriff gilt mir allein. Unserem alten wunderlichen Freund hier und Ihnen droht gewiß keine Gefahr. Es wird deshalb am besten sein, ich befreie das Haus von meiner Gegenwart und gehe mit meinem Freund durch die Wälder.«

»Was sagst du da?« fuhr Tanub plötzlich dazwischen, und es wurde nun nicht klar, ob Phantasie oder Einsicht aus ihm sprach, »werden die Unsichtbaren dich nicht schützen? Ist das Haus der Könige nicht da? Tanub kennt jeden Winkel dort, Tanub ganz allein. Soll das Haus der Könige nicht den Letzten des Stammes bergen? Sie können dich lange suchen dort, hi, hi! Tanub kennt es. Er kennt auch die Gräber der Könige dort, die niemand sonst kennt.«

»Was meinst du, Tenanga?«

»Der Weg durch die Wälder ist gefährlich, Herr. Das Haus der Könige wird dich sicher bergen, bis wir ohne Gefahr nach Norden gehen können.«

»Wie ist es, Señor Doktor« – Pablo wandte sich an Sattler –, »haben Sie auf Ihrem Weg etwa größere Trupps von Eingeborenen bemerkt?«

»Doch«, versetzte der Deutsche, »mehrmals sogar, aber in ziemlicher Entfernung. Auch schienen mir alle diese Trupps keinen kriegerischen Eindruck zu machen. Ich möchte annehmen, daß sie zuweilen auch mich erblickt haben, ich blieb aber völlig unbehelligt.«

Tenanga sagte: »Der Zapoteke weiß, daß du hier bist, Herr. Das ist ganz unzweifelhaft. Aber sie werden der Estrangeros wegen nicht wagen, dich hier anzugreifen. Sie werden sich in einen Hinterhalt legen, um dir aufzulauern.«

»So will ich das Haus der Könige aufsuchen«, versetzte Pablo, »es mag mich schützen.« Der Gedanke, im Palast seiner Vorfahren Zuflucht zu suchen, übte auf ihn eine magische Gewalt aus.

»Mein Begleiter und ich sind mit vortrefflichen Büchsen bewaffnet«, sagte Doktor Sattler, »und wir verstehen sie auch zu gebrauchen. Wir werden Sie deshalb bis zu den Ruinen geleiten, Señorito. Daß sie Ihnen im Falle ernsthafter Gefahr gute Zuflucht zu bieten vermögen, glaube ich auf Grund meiner früheren Forschungen sicher. Und, offengestanden, ich bin sehr begierig, die Gräber der Könige zu sehen, von denen unser alter Freund sprach; sie sind mir bisher entgangen.«

Der Reisebegleiter Sattlers, ein junger Deutscher namens Franz, wurde herbeigerufen. »Sind die Gewehre in Ordnung, Franz?« fragte der Doktor.

»Selbstverständlich. Jederzeit schußbereit.«

»Gut. Wir wollen den Señorito hier nach den Ruinen begleiten. Und es sind, wie ich höre, einige Spitzbuben am Weg, die ihm nachstellen. Wir werden ihm mit unseren Büchsen den Weg sichern.«

Franz sah aus, als mache die Aussicht auf eine Begegnung mit Bandidos ihm Spaß; er versicherte sehr energisch seine Bereitschaft.

Schon kurze Zeit später war die kleine Kolonne im Wald; die Nacht war nicht mehr fern; sie kommt in diesen Breiten unvermittelt. Der alte Tanub in seinem phantastischen Aufputz, Bogen und Pfeile in der Hand, schlich voran; er lebte offenbar in der Vergangenheit, was ihn aber keineswegs hinderte, außerordentlich wachsam zu sein. Tenanga folgte ihm, diesem Pablo, und die beiden Deutschen beschlossen den Zug. Sie bewegten sich fast lautlos auf dem weichen Boden des düsteren Waldes und erreichten den Palast ohne jeden Zwischenfall. Sie betraten das Gebäude durch die gesträuchüberwucherte Pforte, durch die sie Tenanga vorhin hinausgeführt hatte. In dem Gang, der sie gleich darauf aufnahm, war es dunkel, aber Tanub schien hier jeden Fußbreit Boden zu kennen.

Ein leises Geräusch ließ Tenanga stutzen; er griff nach der Machete. Plötzlich flammte Licht auf; Tanub hatte einen Kienspan in Brand gesetzt. Bei dem aufzuckenden Schein sah Tenanga wenige Schritte vor sich an die Mauer geschmiegt den Zapoteken Huntoh, dessen Augen in dem düsteren Licht wie die eines Raubtieres funkelten. Mit einem gellenden Schrei sprang der junge Maya auf ihn zu. Da erlosch das Licht, tiefe Dunkelheit herrschte ringsum.

Die Männer, von dem unvorhergesehenen Vorgang jäh überrascht, standen wie erstarrt, laut- und bewegungslos. Man hörte das wilde Atmen zweier miteinander ringender Männer.

»Licht!« schrie Pablo in Todesangst um seinen treuen Begleiter, dem in der Finsternis niemand beizuspringen vermochte. Er erriet, daß Tenanga den Zapoteken persönlich vor sich hatte. Gesehen hatte er ihn bisher nur aus der Entfernung und demzufolge bei dem unsicheren Licht auch nicht wiedererkannt.

»Licht!« schrie er noch einmal. Ein schrilles, unheimliches Gelächter aus dem Munde des alten Tanub war die einzige Antwort. Das Ringen dauerte fort.

Und dann flammte das Licht wieder auf; der Span brannte. Bei seinem roten Schein gewahrten die Umstehenden zwei im wütenden Ringen begriffene Männer, von denen jeder mit der Linken die Rechte des Gegners gefaßt hielt, in der die blanke Machete glänzte.

Der Zapoteke war augenscheinlich stark und überaus gewandt, aber Tenanga war ihm gewachsen. Schon wollte Pablo hinzustürzen, als Huntoh bei einer Wendung in die Reichweite des Deutschen Franz kam. Der griff zu, erfaßte das lang herabhängende schwarze Haar des Mannes und riß ihn mit einem kräftigen Ruck zu Boden. Im Augenblick lag Tenanga über ihm.

»Nicht töten!« schrie Pablo.

»Töte! Töte ihn!« gellte die Stimme des Alten, der den Kienspan hielt.

In diesem Augenblick gelang es Tenanga, dem Zapoteken die Machete zu entwinden. Pablo sprang zu, und im Nu war der heimtückische Angreifer gefesselt. Tenanga erhob sich keuchend; der Niedergeworfene sah den Königsenkel, das kostbare Wild, das er so lange gejagt und bis in das Haus seiner Ahnen verfolgt hatte, mit Augen an, in denen der Zorn über seine Niederlage zu lesen stand.

Der alte Tanub hüpfte, den flackernden Kienspan in der knochigen Hand schwenkend, in sonderbaren Sprüngen umher, sein zusammengeschrumpftes Greisengesicht war zu einer Grimasse verzerrt. »Töte! Töte ihn!« gellte es immer wieder. Ein Blick Pablos, der ihn von ungefähr traf, brachte ihn zum Schweigen, er begann zu zittern und gleichsam in sich zusammensinken.

»Wo sind deine Gefährten, Zapoteke?« wandte Pablo sich an den Gebundenen.

Der Rastreador hielt seinem Blick mit vollendeter Gelassenheit stand, aber er antwortete nicht. Pablo zuckte die Achseln und wandte sich ab. »Bindet ihm die Füße«, gebot er. Tenanga, der sich inzwischen von den Anstrengungen des Kampfes erholt hatte, war es offensichtlich eine Freude, dem Befehl nachzukommen. Pablo aber wandte sich an den Alten, der ihn, zusammengeduckt, wie eine Erscheinung anstarrte. »Führe uns zu den Gräbern der Könige, Tanub«, sagte er leise. Der Alte zuckte zusammen, ein gehetzter Ausdruck kam in seine Augen, doch er zögerte keinen Augenblick; stumm wandte er sich und begann mit seinen trippelnden Schritten den engen Gang hinabzugehen; die anderen folgten. Tenanga, der der Zuverlässigkeit des alten Tanub nicht trauen mochte, hatte dessen Tasche weitere Kienspäne entnommen und sie angezündet. Tanub führte die kleine Gesellschaft durch mehrere einander kreuzende Gänge und hielt endlich vor einer, wie es schien, geschlossenen Mauer.

»Nur einer darf mir folgen«, flüsterte er, »nur einer, der Eine!« Er wandte sich um und beleuchtete mit der erhobenen Fackel Pablos maskenhaft verschlossenes Gesicht. Dessen Augen schienen in einem inneren Feuer zu glühen. Für die beiden Deutschen hatten die Vorgänge etwas Sonderbares, beinahe Gespenstisches. Sie blieben mit Tenanga stehen. Pablo aber folgte dem Alten um einen bisher unsichtbar gewesenen Mauervorsprung herum und befand sich nach wenigen Schritten durch einen schmalen, ummauerten Gang in einem großen, kühlen Gewölbe, das das schwache, zuckende Licht des Kienspans rötlich durchflammte, ohne es erhellen zu können.

»Hier schliefen die Könige!« flüsterte der Alte.

»Wo?«

Der dürre Arm Tanubs wies nach den Wänden hinüber, die im Dunkel lagen. »Hier ruhten sie in ihren Nischen«, flüsterte er, »da kam der Spanier, schändete die Stätte der Toten, nahm, was an Gold in den Gräbern war und warf die Gebeine der Könige den Koyoten vor.«

Pablo nahm dem Alten die Fackel aus der Hand und ging langsam an den Wänden entlang. Er sah die tiefen, ausgemauerten Nischen, in denen die sterblichen Reste der Mayafürsten geruht hatten; kahl und leer starrten sie dem Enkel entgegen; unverständlich blieben ihm die geheimnisvollen Zeichen an den Gräbern. Hier und da sah er die modernden Fetzen alter Gewänder; wertloser Schmuck aus Kupfer oder grünem Jadeit lag verstreut umher, sonst gähnte überall Leere.

Der Alte hatte sich in einer Ecke zusammengekauert, er folgte dem umherschreitenden Jüngling mit unruhigen Blicken. Der kam zurück und ließ die Fackel sinken. »Die Könige sind tot«, flüsterte er; die kaum gehauchten Worte klangen hohl in dem steinernen Gewölbe, »alle sind tot, auch der letzte.«

Von irgendwoher kam verworrenes Geräusch, schnell aufbrandender Lärm, grell durchstoßen von einem gellenden Warnungsruf Tenangas. Die zornige Stimme der Deutschen wurde vernehmbar, dann war wieder alles still. Pablo, von jähem Schreck durchzuckt, stand lauschend; der alte Tanub zitterte am ganzen Leib.

»Gefahr! Sie sind in Gefahr!« stieß der Jüngling heraus und war schon wieder ganz in der Wirklichkeit; er eilte dem Ausgang zu und erreichte ihn, als eben eine Schar bewaffneter Männer hereindrang, von denen einige Kienfackeln trugen. Bevor Pablo auch nur den Ansatz einer Bewegung machen konnte, war ihm ein dunkles Tuch über den Kopf geworfen, ihm die Waffe entrissen, die Hände gebunden und ein Knebel in den Mund geschoben. Er fühlte sich von kräftig zupackenden Händen hochgerissen und fortgetragen. Am Luftzug fühlte er, daß er ins Freie kam; er wurde auf seine Füße gestellt, er hörte das dumpfe Gemurmel einer großen Menschenmenge. Er wurde weitergezerrt, das Stimmengemurmel stieg an, schließlich blieb man mit ihm stehen; irgend jemand nahm ihm die Decke vom Kopf.

Er sah vor sich ein phantastisches Bild. Er stand am Fuße der durch unzählige Feuer bis zur Spitze erleuchteten Tempelpyramide. Er sah viele Hunderte von Indianern, die Blumen im Haar trugen, zu Füßen des Bauwerks versammelt, von ringsum entzündeten, weithin strahlenden Feuern beleuchtet. Auch der alte Königspalast schwamm in einer Aura von rötlichem Licht.

Von irgendwoher klang eine dunkle Stimme in der Mayasprache auf.

»Die Unsichtbaren wollen fünf Opfer haben«, sagte die Stimme, »sie selber haben sie uns zugeführt.«

Der Jüngling war wie betäubt. Er sah das schauerlich-groteske Bild und begriff nichts von dem, was da geschah. Es war ihm, als sei er durch einen dunklen Zauber in den Schoß der Vergangenheit zurückgeworfen, als sei da eine mystische, mit den Sinnen nicht zu fassende Verwandlung vor sich gegangen.

Aber er sah, er fühlte, er hatte den brandigen Geruch der Fackeln in der Nase; kein Zweifel, er lebte. Er sah sich in seiner nächsten Nähe um und erblickte dicht neben sich den Zapoteken, Tenanga und die beiden Deutschen. Alle vier waren gleich ihm gefesselt, alle hatten gleich ihm Knebel im Mund. Nur Tanub war frei, er trug das indianische Gewand der Vorzeit, den indianischen Federschmuck im Haar und Bogen und Pfeile in den Händen. Sein Gesicht war zur Grimasse verzerrt, in seinen flackernden Augen brannte der Wahnsinn, er hüpfte mit grotesken Sprüngen umher und schien ebenso wenig wie der ganze gespenstige Vorgang von dieser Welt zu sein.

Sein irrer Blick fiel auf den gefesselten Jüngling, er sprang vor ihn hin, senkte vor ihm mit grausiger Grandezza Bogen und Köcher. »Die Unsichtbaren leben«, lispelte er, »ihre Macht ist nicht tot! Du, Königsenkel, wirst bald in der Sonne wohnen, die Götter haben dich ausersehen, auf dem Altar ihrer Hoheit zu sterben! Wisse: das Fest der dreizehn Tage hat begonnen, alle zweiundfünfzig Jahre wird es gefeiert, und heute ist der Tag! Preise dich glücklich, Unsterblicher, zur Sühne der Erschlagenen den Tod erleiden zu dürfen!«

Wahnsinnig! dachte Pablo, er ist nun wirklich wahnsinnig! Aber die anderen! Alle diese Mayas mit den wilden, finsteren Gesichtern, wo kommen sie her? Was wollen sie? Träume ich? Bin ich schon tot und befinde mich bereits in der anderen Welt? Der Tempel strahlte. Jetzt, in dem rotflammenden Licht erschien er nicht als eine Ruine; all das lag jenseits jedes Begreifens. Er schloß die Augen, er öffnete sie wieder, er kniff sich mit Daumen und Zeigefinger der gefesselten Rechten in den Ballen der Linken; es war kein Zweifel, er lebte. Dies alles war unbegreifliche Wirklichkeit. War er das Opfer eines Massenwahns? Aber können Hunderte von Menschen gleichzeitig dem Wahnsinn verfallen? Der Schweiß trat ihm auf die Stirn, er fühlte eine entsetzliche Leere im Kopf, er konnte nicht mehr denken, weil das Unbegreifliche, Unfaßbare nicht mehr denkbar ist. Er schloß abermals die Augen, um wenigstens nicht mehr sehen zu müssen.

Der tiefe, langanhaltende Ton eines Muschelhornes ließ ihn zusammenfahren. Gleich darauf setzte Gesang ein, eintönig, durchdringend, geheimnisvoll erregend eben durch seine Monotonie, eine gräßliche Untermalung des gespenstigen Bildes.

Aus einem unteren Raum der Tempelpyramide traten mehrere Männer hervor; sie trugen lange weiße Gewänder und seltsamen Schmuck im Haar. Sie schwenkten sonderbar geformte Pfannen, auf denen scharf duftendes Räucherwerk glimmte. Ihnen folgten die ähnlich gekleideten Männer, die den monotonen Singsang erschallen ließen. Es mochten alles in allem ihrer vierzig sein. Hinter ihnen ging allein und für sich ein in lange dunkle Gewänder gekleideter Mann, dem das lange schwarze Haar das Haupt umflatterte.

In langsamem, feierlichem Zug umwandelten die Männer einige Male die Pyramide, wobei unablässig der schauerliche monotone Singsang ertönte, von dumpfen Trommelschlägen begleitet.

Plötzlich brach der Gesang ab. Die Männer da oben schienen einige geheimnisvolle Zeremonien vorzunehmen, deren Einzelheiten Pablo nicht zu erkennen vermochte. Dann ertönte abermals die dunkle Stimme, die vorhin von den Opfern gesprochen hatte; sie rief irgend etwas, das Pablo nicht verstand. Doch wurde ihm im gleichen Augenblick wieder das dunkle Tuch über den Kopf geworfen, und er wurde vorwärtsgerissen, Stufen hinauf. Das Tuch von seinem Kopf wurde entfernt, und Pablo bot sich ein großartiger Anblick. Er stand neben den vier anderen Gefesselten auf der obersten Plattform der Tempelpyramide; vor ihm, von zahllosen brennenden Fackeln angestrahlt, ragte die Ruine des alten Königshauses, deren Höfe und innere Räumlichkeiten gleichfalls erleuchtet waren.

Hinter sich und um sich herum sah Pablo die Männer in den langen weißen Gewändern. Jetzt trat der dunkel gekleidete Mann vor die Gruppe der Gefesselten hin; in seiner Faust blitzte ein Messer; wieder erscholl dumpfer Gesang; Pablo verstand die Worte nicht, die da in einem gedehnten, monotonen Rhythmus gesungen wurden, aber er zweifelte nun nicht mehr daran, daß er ebenso wie der Zapoteke und seine Freunde zu Opfern irgendeiner uralten grausigen Zeremonie ausersehen waren. Auch die beiden Deutschen schienen nicht daran zu zweifeln, ihre ernsten, bleichen Gesichter verrieten es.

Pablos Blick traf sich mit dem Doktor Sattlers. »Es ist entsetzlich«, murmelte der, »das ist eine Opferzeremonie des Nagualbundes; ich kenne die Riten, glaubte aber nicht, daß sie ihre Schlächtereien heute noch ausüben.«

Pablos fieberhaft arbeitendes Gehirn vermochte noch immer nicht mit dem grausigen Geschehen fertigzuwerden. Waren dies Bräuche, die seine Väter geübt? Ein Schauder erfaßte ihn; er wollte es nicht glauben. Alles, was dunkel in ihm aufgestanden war in den letzten Tagen, erschien nun plötzlich in einem ganz anderen Licht, das Zeichen auf seiner Brust gewann eine Bedeutung, die er niemals geahnt. Seine Seele flüchtete in den Glauben zurück, in dem er erzogen; aus der Not seines Herzens sandte er seine Gebete zum Himmel empor, zu dem Gott der Liebe, zu dem Padre Bernardo ihn beten gelehrt; voller Abscheu blickten seine Augen in das grelle Licht ringsum.

Er fühlte, wie er ruhig wurde. Er zuckte zusammen, als der Zapoteke von seiner Seite gerissen und von kräftigen Händen über den Altar geworfen wurde. Er sah die Klinge im Fackellicht aufblitzen, hörte das dumpfe Rasseln der Trommeln und den langgezogenen Aufschrei des Gemordeten und fühlte, wie sein Herz von einer eisenkalten Faust zusammengekrampft wurde.

Sie näherten sich ihm, er fühlte, daß man seine Fesseln löste. Er sah Tenanga, helle Verzweiflung im Blick, eine ungestüme Bewegung machen, er sah die aufgerissenen Augen der Deutschen aus wachsbleichen Gesichtern auf sich gerichtet und fühlte, wie er vorwärtsgerissen wurde. Er riß sich los, sein Antlitz versteinerte sich, hochaufgerichteten Kopfes trat er vor den Opferaltar, von dem man den blutigen Leichnam des Zapoteken herabgeschleudert hatte.

Er sah das düstere Gesicht des Opferpriesters vor sich und sah ihm mit abgrundtiefer Verachtung in die Augen. Der Priester stutzte, einen Augenblick nur, dann gab er einen Befehl. Pablo fühlte sich an den Händen ergriffen, das Hemd wurde ihm aufgerissen; auf seiner bronzenen Brust schimmerte im roten Fackellicht das Zeichen der Könige. Der Priester stieß einen gutturalen Laut aus, seine Augen weiteten sich, er starrte auf die Brust des Jünglings. »Der König!« stammelte er. Die anderen stürzten herbei; sie sahen das Zeichen und schienen von panischem Schrecken erfaßt.

»Wer bist du?« fragte der Priester schließlich in der Mayasprache.

»Hualpa, der Sohn Jungunas, der Enkel Nezualpillis!« antwortete Pablo mit schneidender Kälte, so laut, daß seine Worte weithin vernehmbar waren.

Der Priester fuhr zurück, als habe ihn ein Peitschenschlag getroffen. »Nein«, stammelte er, »nein!« Pablos Brust hob ein befreiender Atemzug; er wußte, daß der Schrecken überwunden war. »Bezweifle es, Sklave!« sagte er gleichmütig, »morde den letzten Mayakönig und versinke dann im Nichts, in das du gehörst!«

Der Priester stieß ein Heulen aus, das Messer entfiel seiner Hand. Schreckensbleich unter der dunklen tätowierten Haut starrte er auf den Jungen. Er sah das hochmütig verschlossene Gesicht des jungen Mannes, er sah das bläulich schimmernde Gebilde verworrener Linien auf seiner Brust. Es blieb, es war keine Täuschung. Er richtete sich auf. »Ein Wunder!« rief er, »die Unsichtbaren haben uns ein Wunder bereitet. Sie haben uns den Enkel der Könige gesandt.« Dann brach er vor Pablo in die Knie. »Herr«, flüsterte er, »Herr! Gebiete, was geschehen soll! Vergib den Unwissenden, die die zürnenden Götter versöhnen wollten!«

Pablo fühlte, wie eine ungeheure Kraft in ihm wuchs, sie schwellte seine Adern. »Steht auf!« sagte er, »Gott ist gerecht. Er hat durch eure Hand einen Mörder getötet, der dem letzten eurer Könige nach dem Leben trachtete. Hören die Mayas auf meinen Befehl?«

»Befiehl, Herr«, flüsterte der Priester und erhob sich. »Du hast zu gebieten.«

»So gebiete ich, daß dies das letzte Opferfest sei, das von Mayas gefeiert wurde.«

Er wandte sich um, eine Gasse scheu, ehrfürchtig auf ihn blickender Männer bildete sich, er trat zu den übrigen Gefangenen. Ein herrischer Wink mit den Augen zu den hinter ihnen stehenden Wächtern, und die Fesseln fielen. Tenanga stürzte auf die Knie und umklammerte seine Beine. »Herr«, flüsterte er, »Herr! Du bist in Wahrheit der König! Ich liebte dich, aber ich wußte nicht sicher, ob du es bist, Zweifel beschlichen mich oft, nun weiß ich es.« Doktor Sattler, dessen helle Augen vor Freude leuchteten, drückte ihm herzhaft die Hand, und auch sein Begleiter blickte ihn strahlend an.

Oben aber trat der Priester an die Brüstung der Plattform. Das Muschelhorn ertönte, dann sprach der Mann in dem dunklen Gewand mit weithin schallender Stimme:

»Männer der Mayas, ein Wunder ist geschehen. Nicht ein Opfer haben die Unsichtbaren uns geschickt, den König haben sie uns gesandt, den Letzten aus dem Geschlecht unserer Fürsten, den, der verloren schien und betrauert wurde. Hualpa, der Sohn Jungunas, ist unter uns.«

Lähmendes Schweigen folgte diesen Worten, dann brandete Jubelgeschrei auf. »Der König!« rief es von allen Seiten, »der König ist da! Zeigt uns den König!«

Pablo, bestürzt nun plötzlich und von einer heimlichen Scham befangen, stand regungslos vor den Freunden. »Du mußt zu ihnen sprechen, mußt zu deinem Volk sprechen«, raunte Tenanga. Des Jünglings Gestalt straffte sich. »Ja«, sagte er leise, »ich will zu ihnen sprechen.«

Er ging zum Altar zurück; der Priester und seine Diener empfingen ihn mit geneigten Häuptern. Er wandte sich dem flimmernden Palast und den im Fackellicht schwankenden dunklen Gestalten der Indianer zu und hob die Hand. Lautlose Stille trat ein. Dann begann er zu sprechen. Er hatte gar nichts überlegt, die Worte kamen aus ihm heraus, irgendwer sprach sie in ihm, er fühlte sich von einer Kraft getragen, von der er bisher nichts geahnt.

»Männer der Mayas«, sagte er, – »ein hartes Geschick hat mich früh eurer Mitte entrissen, der Wille des Ewigen hat mich zu euch zurückgeführt. Ich bin eures Blutes und will einer der eurigen sein. Ich bin jung, und meine Kräfte sind schwach. Aber ich sehe vieles, was ihr nicht seht, und fühle manches, das ihr nicht fühlt. Meine Kraft gehört euch, ihr sollt mir dafür eure Liebe geben. Ich werde für immer in eurer Mitte bleiben. Unser Volk ist arm und schwach geworden. Der Glanz der alten Zeit ist versunken, wie die Ruinen, die ringsum im Feuer erglühen, aber das Land, in dem wir wurden und wuchsen, braucht uns heute wie einst. Wir wollen der Erde unserer Väter dienen nach unserer Kraft. Auf diese Erde verpflichte ich euch, ich, der letzte Maya, in dem noch das Blut eurer Könige fließt.«

Er schwieg; er hörte Lärm, Rufe und Jubelgeschrei, er sah erhobene Arme und sah in ein wogendes Meer von der rötlichen Glut bestrahlter Gesichter, fühlte sich am Arm ergriffen und beiseite geführt. Gleich darauf saß er im lodernden Fackelschein in einem Kreis älterer Männer, die auf ihn einsprachen. Er erkannte die Gesichter einiger der Weißgewandeten, dann auch das finstere Gesicht des Opferpriesters, der sein dunkles Priestergewand abgelegt hatte und jetzt einen einfachen schmucklosen Poncho trug.

Ringsum wurden jetzt die Feuer entzündet, und überall fanden sich erregt plaudernde Gruppen zusammen. Vor dem Kreise, in dem Pablo zwischen den Ältesten saß, tauchte die zwergenhafte Gestalt Tanubs auf; der trug noch immer seinen phantastischen Putz und schien völlig verwirrt. Er kicherte in einem fort und sprach in geheimnisvollen Andeutungen. Offenbar hatte er längst vergessen, daß man den Jungen hatte opfern wollen; er lebte im Rausch der Vergangenheit, Traum und Wirklichkeit waren ihm völlig verwirrt.

Der Mann, der das Amt des Opferpriesters ausgeübt hatte, sprach mit einer dunklen gutturalen Stimme auf Pablo ein. »Wir freuen uns, dich in unserer Mitte zu haben, Sohn Jungunas«, sagte er. »Du bist unter den Blancos aufgewachsen und kannst nicht so denken und fühlen wie wir. Bleibe in Zukunft in unserer Mitte. Ich und viele der hier Versammelten leben in der Tierra de guerra, die noch nie eines Weißen Fuß betrat, ohne es mit dem Tode zu büßen. Wir sind frei und unabhängig geblieben und leben nach der Art unserer Väter. Komm zu uns, König, wenn dir die Spanier ein Leid zufügen. Wir müssen jetzt gehen. Die aufgehende Sonne muß uns schon weit von diesem Platz sehen.«

»Ich werde wohl kommen – eines Tages«, sagte Pablo und lauschte dem Klang der eigenen Stimme nach.

Das Muschelhorn ertönte; der Priester erhob sich. »Der Tag war gesegnet«, sagte er, »er hat uns den König geschenkt. Die den Göttern heilige Nacht geht zu Ende. Geht nun alle, woher ihr gekommen, und gedenkt dieses Tages.«

Alle erhoben sich. »Ich lasse dir einige Leute zurück, die dich begleiten sollen, solange du sie brauchst«, sagte der Priester. Er verneigte sich ebenso wie seine Begleiter und war gleich darauf mit ihnen in dem Schatten der Dunkelheit untergetaucht. Die Szene entleerte sich, wie ein nächtlicher Spuk zerstoben die Gestalten der Indianer, die Feuer und die Fackeln erloschen. Pablo war es, als habe er geträumt. Er sah sich um. Neben ihm standen auf der Terrasse Tenanga, der alte Tanub und die beiden Deutschen. Die Männer, die der Priester zurückgelassen hatte, harrten am Waldrand, Kienfackeln in den Händen. Von ihnen geleitet, schritten sie Tanubs Behausung entgegen.


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