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In der Sierra

Der Morgen dämmerte, aber es war draußen noch dunkle Nacht, als Pablo erwachte. Sofort stand die Wirklichkeit vor ihm mit ihrem fordernden Anspruch, und die wieder jäh aufschießende Angst um Maria ließ ihn stärker frösteln als die frische Morgenluft, die zur Höhle hereindrang. Er täuschte sich nicht über den Grad dieser Gefahr. Er zweifelte nicht, daß der Jäger Tamay der eigentliche Räuber war. Der Gedanke hatte in einer Beziehung beinahe etwas Beruhigendes, denn er war überzeugt: der alte Indianer würde das Mädchen vielleicht umbringen, aber sie würde nichts Unbilliges von ihm zu erwarten haben; er schauderte bei dem bloßen Gedanken, sie allein in den Händen des Negers und des Mulatten zu wissen. Andererseits wären die beiden letzteren sehr wahrscheinlich mit Geld zu bestechen gewesen; ihnen ging es gewiß im Grunde nur um Geld. Was aber trieb Tamay?

Wer war dieser Mann überhaupt? Pablo hatte immer wieder darüber nachdenken müssen, ohne zu einem Schluß zu kommen. Der Mann war dem heranwachsenden Knaben jahrelang mit der stillen, verschlossenen und wortkargen, aber doch deutlich fühlbaren Zuneigung gegenübergetreten, die ein alternder Mann einem jungen Glied seines Stammes entgegenbringen mag. Sie hatten gemeinsam die Wälder durchstreift, waren in den Bergen herumgeklettert, hatten in Höhlen genächtigt und gemeinsam manches Jagdabenteuer bestanden. Er hatte ihn gelehrt, die Büchse zu gebrauchen, und ihn durch Übung und Unterweisung zum Jäger ausgebildet.

Und an den stillen Abenden, da sie beisammensaßen, hatte er in seiner kargen, zurückhaltenden Art von der Vergangenheit des Mayavolkes geredet; dabei war es manchmal wie ein düsterer Schatten über die Stirn des Mannes gehuscht, und der Junge hätte oft gern gefragt, was ihn bedrücke. Aber vor dem eisigen Gesicht des Alten und vor seiner abweisenden Miene war er immer im Ansatz steckengeblieben. Etwas Sonderbares, Unheimliches war immer an Tamay gewesen; Pablo entsann sich, daß es ihn vor dem finsteren Ausdruck dieses harten Gesichts manchmal heimlich geschaudert hatte.

Ganz plötzlich hatte sich das Verhältnis gewandelt, sprunghaft von heute auf morgen. Sie hatten auf einem Jagdausflug in der Höhle neben dem kleinen Engpaß geschlafen. Als sie sich am Morgen erhoben, war Tamay ein anderer; in seinen Augen glitzerte etwas, das Pablo niemals darin bemerkt hatte, er behandelte ihn von Stund an rauh, ja fast abstoßend. Was war in der Nacht geschehen? Hatte Tamay das Zeichen auf seiner Brust entdeckt? War hier der Grund der jähen Veränderung seines Wesens zu suchen?

Pablo wußte nun, daß Tamay ein Ausgestoßener, ein Geächteter war. Aber sollte hier wirklich der Grund dafür liegen, daß er ihn dem Kaziken Chamulpo auslieferte, in der Hoffnung, durch diesen rehabilitiert zu werden? Es erschien bei näherem Nachdenken unwahrscheinlich. Wäre es Tamay nur um die Wiederherstellung seiner Ehre, um die Wiederaufnahme im Kreis seines Volkes gegangen, er hätte wohl größere Wirkung bei den Mayas erzielt, wenn er ihnen den Königsenkel gebracht hätte. Nein, da mußte noch etwas anderes sein, und dieses andere, das er nicht kannte, das ihm aber Angst machte, Marias wegen, beschäftigte ihn fortgesetzt.

Nein, Geldes wegen hatte Tamay das Mädchen gewiß nicht geraubt; der Alte war, wie fast alle Indianer, bedürfnislos; für Geld würde er seinen Raub auch nicht wieder hergeben. Wollte er aber nur den Pflegevater Marias treffen, der ihn vor den Augen der Arbeiter gezüchtigt hatte, warum hatte er sie dann nicht in den Flammen umkommen lassen? Hier war ein unlösbares Rätsel, und Pablo spürte, daß es gälte, eben dieses Rätsel zu lösen, wenn man das Mädchen wirklich befreien wollte.

Und Mendez? dachte er. Wo stand Mendez in diesem Spiel? Sein Interesse war klar, und hinsichtlich des Grades an Schurkerei, dessen dieser Mensch fähig war, glaubte sich Pablo auch nicht zu täuschen. Aber wie weit war er im Spiel? Wußte er, daß Maria noch lebte, oder glaubte er sie in den Flammen umgekommen? Der Mulatte hatte auf Lerma geschossen, und der Mulatte steckte zweifellos mit Tamay und dem Neger zusammen. Aber hatte Mendez seinen Spießgesellen den Mordlohn schon gezahlt? Diente ihnen die Entführte als Pfand auch Mendez gegenüber? Es war nicht anzunehmen, daß Mendez schon gezahlt hatte. Wo hätte er so schnell Geld hernehmen sollen, jetzt, da Krieg war im Land? Hier, in eben diesen freilich ungeklärten Zusammenhängen, sah Pablo fast den einzigen Hoffnungsschimmer. Für den Neger und den Mulatten mußte die lebende Maria eine wertvolle Geisel sein, solange sie auf Mendez' Geld warteten. Aber Tamay?

Tenanga erhob sich an seiner Seite. Pablo brach seine fruchtlosen Überlegungen ab; sie traten gemeinsam ins Freie. Alles war totenstill ringsumher, die Pferde lagen ruhig im Gras.

»Wir wollen die Höhe erklettern und Umschau halten«, sagte Tenanga. Sie tranken ein paar Tropfen aus dem vor ihnen sprudelnden Quell, stärkten sich ein wenig aus Tenangas Jagdtasche und stiegen dann, die Lassos mitnehmend und die Pferde sich selbst überlassend, nachdem sie Sättel und Zaumzeug in der Höhle versteckt hatten, die Felsen hinan.

Die Sonne ging auf; sie befanden sich schon auf stattlicher Höhe. Der Anblick, der sich ihnen bot, war von zauberhafter Schönheit. Der weithin über Berg und Tal fliegende Blick wurde nur nach Norden zu durch höherragende Felszacken begrenzt. Die Spitzen der Cerros leuchteten in rötlicher Glut, von Nebelschleiern umwogt. Im Westen dehnte sich zu ihren Füßen die fruchtbare Ebene, deren äußerster Horizont sich in violettem Schimmer verlor. Die Täler prangten ringsum im Blütenschmuck.

Sie setzten sich, um abzuwarten, bis die höhersteigende Sonne die Nebel zerteilen würde. Von Osten und Westen zogen sich in der ganzen Länge des Gebirgsstockes, dessen höchste Gipfelung unmittelbar vor ihnen lag, mehrere Schluchten und Höhentäler dahin. Dorthin wies Tenanga mit der erhobenen Hand. »Da werden die Geier ihr Nest haben«, sagte er, »es muß dort viele Schluchten, Felsengen und Höhlen geben.«

»So laß uns gehen«, mahnte Pablo.

»Wir müssen zunächst wieder hinab. Tamay wird wachsam sein. Wir würden vorzeitig gesehen werden.«

Sie kletterten hinab und langten auf einer Talsohle an, von der aus die Felsen anstiegen, die sie ersteigen wollten. Schweigend, unter Aufbietung aller erdenklichen Vorsicht, gingen sie an den Felsrändern entlang, nach einer geeigneten Stelle für den gefährlichen Aufstieg suchend. Endlich erreichten sie einen Spalt, der von hinabstürzenden Wassermassen ausgewaschen schien; ihn beschlossen sie zu benutzen.

Der Anstieg ging langsam vor sich und war sehr beschwerlich. Nach Stunden erreichten sie einen kleinen Platz, auf dem spärlicher Graswuchs gedieh und einige magere Büsche wuchsen. Der Spalt lief oberhalb weiter, aber sie bedurften zunächst der Ruhe und ließen sich nieder. Sie ruhten nicht länger, als unbedingt nötig erschien. Höhersteigend kamen sie in ein Tal, das, von dunklen Porphyrfelsen gesäumt, in lachendem Grün vor ihnen lag.

Pablos Blick fiel auf zerfallenes Mauerwerk, das sich, einem Adlernest gleich, hart am Felsrand erhob. Zusammengebrochene Steinwälle umgaben einen offenbar uralten Bau; Gebüsche und Bäume wuchsen auf den verfallenen Mauern, und riesige Götzenbilder lagen teilweise zerbrochen im Gras.

»Was ist das, Tenanga?« staunte Pablo.

»Das Haus des Unglücks«, flüsterte der junge Maya, »laß uns weitergehen, Herr. Ich erkenne es an dem Götterhaupt dort« – er wies auf ein an die vier Meter hohes, aus Stein gemeißeltes Bildwerk, das sich an der einen Ecke des Gebäudes in erhabener Arbeit von der Mauer abhob, »die alten Männer erzählen davon. Kein Maya betritt es oder geht freiwillig in seine Nähe.«

»Warum ist es das Haus des Unglücks?« fragte Pablo, dessen europäische Erziehung und christlicher Glaube ihn gegen Spuk und Aberglauben feiten.

»Die Spanier haben hier einst vierhundert Mayas, Männer, Frauen und Kinder, verbrannt«, raunte Tenanga; »sie hatten in der Verzweiflung die alten Götter gelästert, und die verließen sie in der letzten Not. In den Nächten hört man die Gemordeten noch heute jammern und klagen.«

»Das ganze Land ist in Blut getaucht«, sagte Pablo düster, »Ruinen und Trümmer überall.«

»Laß uns gehen, Herr«, flüsterte Tenanga dringlicher, »das Gebäude bringt den Mayas noch heute Unglück.«

»Bleibe hier, wenn du dich fürchtest, oder entferne dich«, entgegnete Pablo leise, »ich fürchte mich nicht, ich will mir das Haus ansehen.«

Tenanga wollte ihn halten, aber er war wie gelähmt. Er stand und sah, wie Pablo auf die Ruine zuging; er wollte ihm folgen, er liebte Pablo, er fühlte sich für das Leben des Königsenkels verantwortlich, aber die lähmende Furcht vor den Geistern der Gemordeten war stärker; er wagte es nicht.

Pablo stand vor dem riesigen verwitterten Götzenbild an der Ecke des Bauwerkes; die steinernen Augen waren weit aufgerissen und zeigten noch jetzt einen grauenhaften Ausdruck. Der Jüngling wandte sich ab. Über verfallene Stufen ging er nach oben und betrat die weiten, einsamen Hallen, durch die der Wind strich. Büsche, ja selbst mehrere große Bäume, wuchsen im Inneren des Gebäudes und auf den Mauerüberresten. Weitergehend gewahrte Pablo mehrere Steintreppen, die in unterirdische Räume führten, doch fühlte er keinen Trieb, hinabzusteigen. Er sah, daß die in ihrem Mauerwerk noch gut erhaltene Rückfront des Bauwerkes sich fast an die jäh ansteigende Felswand anlehnte; eine Tür führte hier unmittelbar ins Freie.

Er fühlte nichts Beunruhigendes beim Durchschreiten der verfallenen Hallen, seinem Wunsch, diese melancholischen Überreste einer längst vergangenen Zeit zu betrachten, war Genüge geschehen; er wandte sich um und verließ das Haus. Tenanga sah ihn mit unendlicher Erleichterung wohlbehalten wieder auftauchen.

»Hast du sie seufzen gehört?« fragte er mit einem scheuen, ihm sonst gar nicht eigenen Ausdruck im Gesicht.

»Ich habe nichts als das Rauschen der Winde gehört«, antwortete Pablo.

»Mögen die Unsichtbaren Böses abwenden«, flüsterte Tenanga.

Sie gingen weiter in dem Tal und suchten nach einer Möglichkeit, weiter nach oben zu dringen. Sie fanden schließlich einen passenden Aufstieg und arbeiteten sich mit Anstrengung höher. Als sie einen Punkt erreicht hatten, der einen Überblick über die wechselnden Felsformationen erlaubte, sagte Tenanga: »Es wird gut sein, wenn wir uns für kurze Zeit trennen, Herr. Geh du dort hinüber und blicke in jene Täler hinein, ich will hier nach links gehen und dort Ausschau halten. Doch verliere nie diese Fichte hier aus den Augen« – er zeigte auf einen hochstehenden, etwas verkrüppelten Baum, der von weit her gesehen werden konnte –, »damit du dich zurückfindest. Wenn wir nach zwei Seiten suchen, werden wir den Bandidos schneller auf die Spur kommen.«

Pablo nickte und wandte sich nach rechts. »Droht dir Gefahr, so pfeife rasch hintereinander zweimal auf dem Finger, ist es sehr dringend, dreimal«, rief Tenanga ihm nach; »ich werde es ebenso tun.«

Sie trennten sich, und Pablo kletterte auf nicht ungefährlichem Wege vorwärts, sich so gut wie möglich gegen Späheraugen durch Büsche und Felsvorsprünge deckend. Er ließ keine Felsspalte, keinen Ausblick unbeachtet, immer in der Hoffnung, etwas zu erblicken, aber immer vergeblich; alles war einsam und öde, nirgends die Spur eines Menschen oder auch nur eines Tieres.

Er sah sich um; die Fichte war noch zu sehen. Er durfte sie nicht aus den Augen verlieren, wenn er sich in diesem Felsengewirr nicht verirren wollte. Unverdrossen, oft unter großen Anstrengungen, kletterte er höher. Zu seiner Überraschung spürte er, wie die Luft um ihn herum trüber und trüber wurde; Nebel stieg aus den Tälern herauf.

Wieder sah er sich nach der Fichte um – sie war nicht mehr zu erblicken; eine Nebelbinde hatte sich vor seine Augen gelegt. Der Nebel wurde dichter und dichter. Pablo befand sich auf einem schmalen Felspfad, der an einer Barranca entlangführte. Es war Wahnsinn, unter diesen Umständen weiterzugehen; jeder Schritt konnte den Tod bedeuten; es blieb nichts übrig, als zu warten, daß die Nebel sich höben. Erfahrungsgemäß würden sie sich nicht lange so halten.

Die Büchse auf den Knien, saß der Junge in völliger Einsamkeit da, eingehüllt von einem feuchtgrauen Mantel, den das Auge nur auf wenige Schritte hin zu durchdringen vermochte. Den an das Klima der tierra caliente gewöhnten Jüngling fröstelte. Aber je weniger er seine Augen zu brauchen vermochte, um so aufmerksamer lauschte sein Ohr.

Er saß schon eine geraume Zeit da, als er den Klang eines sich rasch nähernden Schrittes vernahm. Er erhob sich und griff die Büchse fester. Schattenhaft erschien vor ihm eine Männergestalt, die sich rasch auf ihn zubewegte. Erst im letzten Augenblick erkannte er sie und schrie unwillkürlich auf.

Es war Tamay, der vor ihm stand.

Der schien nicht weniger überrascht; sein indianischer Stoizismus versagte. »Der Sohn Jungunas!« rief er, fühlbares Entsetzen in der Stimme.

Pablo hatte sich gefaßt, er hielt die Büchse schußfertig in den Händen, bereit, bei der ersten verdächtigen Bewegung zu schießen. Aber Tamay stand regungslos, den Kolben seines Gewehres auf die Erde gestützt und starrte Pablo an wie eine Erscheinung.

»Ja, der Sohn Jungunas!« sagte Pablo, »der Panther hat ihn noch einmal geschützt!«

Und noch immer rührte der alte Indianer sich nicht.

Ich muß innerlich an ihn herankommen, dachte Pablo, mit Gewalt ist bei diesem Manne nichts zu erreichen. Er sah dem Alten fest in die Augen. »Du warst mein Freund, Tamay«, sagte er, »plötzlich wurdest du mir feind. Warum? Willst du es mir nicht sagen? Du hast die Señorita geraubt, Tamay, sie hat dir nie ein Leid zugefügt. Wo hast du sie? Warum hast du sie geraubt? Sage es mir! Sage es, wo sie ist.«

Der Alte öffnete zum ersten Male den Mund; er hatte sich wohl gefaßt. Seine Augen ruhten mit finsterem Ausdruck auf dem Antlitz des Jünglings. »Suche sie!« sagte er schroff.

»Höre zu, Tamay, es geschieht dir nichts. Was war, soll vergessen sein. Don Antonio und der Conde werden dir viel Geld geben. Und auch ich. Soviel immer du willst.«

»Was soll ich mit Geld?« Das ablehnende Wort begleitete eine abschätzige Gebärde. Ich wußte es ja, dachte Pablo. Aber noch einmal nahm der Junge alle seine innere Kraft zusammen, um das Gefühl, das Wesen, das Herz des Mannes vor ihm zu erweichen.

»Ich weiß, was dich quält, Tamay«, sagte er leise. »Die Mayas zürnen dir; sie haben dich ausgestoßen. Freunde sagten mir, du habest mich an Chamulpo ausgeliefert, damit dieser dich in den Kreis deines Stammes zurückführe und die Schmach von dir nehme.« Tamays Antlitz wurde bei diesen Worten finster wie die Nacht.

Der Junge aber fuhr fort: »Ich bin Jungunas Sohn, Tamay, du weißt es. Ich vermag viel bei den Mayas. Mehr als irgendein anderer. Gib mir meine Schwester zurück, und ich will alles tun, was in meinen Kräften steht, um dich mit deinem Volk zu versöhnen. Ich zweifle nicht, daß es gelingt.«

Des Alten Gesicht schien sich noch zu verhärten; seine Stimme klang schneidend und kalt: »Du redest vergeblich, Sohn Jungunas. Spare deine Worte. Dein Vater hat mich ausgestoßen, hat mich hier ehrlos gemacht und mich zum Tode in ewiger Nacht verdammt. Er ist tot, aber sein Geschlecht soll nicht leben. Es soll ausgetilgt sein von der Erde.«

»Und wenn ich den Fluch von dir nehme, Tamay? Was Junguna einst war, bin ich heute unter den Mayas.« Er fiel in die Bildersprache des Indianers, er griff mit seinen Worten, die das verhärtete Herz da drüben rühren sollten, tief in die indianische Vorstellungswelt hinein. »Du mußt nicht in ewiger Nacht weinen, Tamay«, sagte er, »du kannst aufsteigen zur Sonne, wenn Jungunas Sohn den Fluch von dir nimmt!«

»Nein!« schrie Tamay noch einmal: »Nein!« Der sonst so ruhige Mann schien plötzlich von wilder Verzweiflung gepackt. »Du kannst es nicht! Nur er konnte es, und er ist gestorben. Es gibt für Tamay keine Rettung mehr, kein Leben und keinen Tod. Nur noch den Haß!« Seine Stimme gewann wieder den unheimlichen Klang, den Pablo schon früher an ihm fürchten gelernt hatte. »Ich wollte dich deinem Vater nachsenden, sobald ich dich erkannte«, keuchte er, »aber ich wollte nicht Hand an dich legen. Deshalb sollte Chamulpo es tun.«

»Du siehst: die Unsichtbaren waren mit mir«, sagte Pablo leise.

Tamay senkte schwer atmend das Haupt.

Pablo sah ihn unverwandt an. »Und was hat das weiße Mädchen mit deinem Haß und mit meinem Vater zu tun?« fragte er. »Gib es seinen Eltern zurück.«

Aber er redete zu einem Stein. Tamays Brust schien jedem menschlichen Gefühl verschlossen. »Nein!« sagte er, und noch immer loderte der kalte Haß in seiner Stimme. »Nein! Ich bin elend geworden, sie sollen alle elend sein! Der Haziendero hat mich vor den Xinkas beschimpft, hat mich wie einen Hund fortgejagt, ich will ihm seine Puppe einst tot wiedergeben. Muß ich in die ewige Nacht hinunter, soll es hier in den Herzen der Zurückbleibenden finster sein. Ich will mit hinabnehmen, was ihr liebt. Tamays Rache soll furchtbar sein!«

Pablo, von wilder Verzweiflung getrieben, wollte auf den Mann losstürzen, als vermöchte er es, ihm das steinerne Herz aus der Brust zu reißen, aber Tamay war schon nicht mehr da, er war untergetaucht in der Nebelwand. Grimm und Jammer im Herzen, blieb Pablo zurück. Er konnte nichts tun, denn noch immer wogten die Nebel; er kam sich vor, als sei er ins Nichts gestoßen. Er tastete sich rückwärts und sank auf dem Felsvorsprung nieder, auf dem er vorher gesessen hatte. Er gab Maria verloren, nun erst recht; er sah keine Rettungsmöglichkeit mehr.

Lange saß er so, nur allmählich hob sich der Nebel. Aber er lichtete sich schließlich; schon konnte Pablo die Sonne wieder erkennen. Wind kam auf; gleich gespenstigen Schleiern wallte der Nebel empor und umschwebte die Cerros; Pablo sah die verkrüppelte Fichte. Schnell ergriff er seine Büchse und ging zu dem vereinbarten Treffpunkt zurück.

*

In einem engbegrenzten Tal lag zwischen hohen Felswänden, von Büschen und Bananenstauden umstanden, ein kleines, roh aus Holzbohlen zusammengefügtes Haus. Unweit des Häuschens befand sich eine Art Verschlag, hart an den Felsen gelehnt; aus einer Dachöffnung stieg schwarzer Rauch auf; der Verschlag schien als Küche zu dienen.

Von Zeit zu Zeit tauchte aus dem Inneren der faltige Kopf einer alten Indianervettel auf, lugte nach der Hütte hinüber und verschwand gleich wieder. Nach einem Weilchen tauchte die Alte mit einer dampfenden Schale Schokolade und einem Teller mit Maiskuchen auf und verschwand im Inneren des Häuschens.

Hier drinnen saß in dem kleinen Raum seitlich der Tür ein Mädchen, eine Weiße. Wer Doña Maria kannte, wäre von ihrem Anblick zurückgeschreckt. Sie war entsetzlich bleich, ihre Augen lagen in tiefen Höhlen und waren von dunklen Schatten umwölkt; das dunkle Haar hing wirr und ungeordnet um das schmal gewordene Gesicht. Das Mädchen hatte die Hände auf den Knien gefaltet und sah stumpf und teilnahmslos vor sich hin. Sie sah nicht einmal auf, als die Alte eintrat.

»Täubchen muß essen«, sagte die Alte, »essen und trinken.« Sie sprach wohl einen indianischen Dialekt, und das Mädchen verstand sie gar nicht. Es schien sie aber auch nicht zu interessieren, was sie sagte, sie streifte Maiskuchen und Schokolade mit keinem Blick.

»Tamay wird böse werden, wenn die weiße Taube nicht ißt«, sagte die Alte, und jetzt bediente sie sich eines holperigen Spanisch; »warum will die Señorita Tamay böse machen? Er ist böse genug.«

»Was habt ihr mit mir vor?« fragte das Mädchen leise und richtete nun den leeren Blick auf die Indianerin.

»Die Señorita ist töricht; sie fragt immer dasselbe; und ich kann ihr nicht antworten.«

Marias Augen irrten umher; plötzlich glimmte eine Funke darin, sie ergriff die Alte am Arm. »Du bist dumm, Madrecilla«, flüsterte sie, »warum bringst du mich nicht fort zu den Meinen? Sie würden dir viel, viel Geld geben.«

Die Indianerin wiegte den Kopf hin und her; ihr faltiges Gesicht verzerrte sich zu einem Grinsen. »Geld ist gut«, flüsterte sie, »sehr gut! Aber Tamay ist böse und stark. Würde uns finden. Dich und mich töten. Sei gut, Señorita, trink Schokolade und iß.«

Maria ließ die Alte los, sie sank wieder in sich zusammen, und in ihre Augen kam ein grüblerischer Zug. »Was mögen sie vorhaben?« murmelte sie, »Geld kann es nicht sein. Mein Vater, mein Großvater würden gewiß viel Geld geben, und sie hätten es längst schon versucht.« Sie schüttelte den Kopf und streifte die Vettel mit einem scheuen Blick. »Der Jäger ist es«, flüsterte sie, »Tamay, der Jäger. Ja, er ist böse. Aber warum? Was taten wir ihm? Er hat auch Pablo verschleppt. Warum?«

Sie fröstelte und begann zu zittern.

»Tamay ist ein Maya«, sagte sie nach einer Weile, »Pablo ist auch ein Maya! Aber er ist nicht nur ein Maya, er ist der Enkel der alten Könige, ich habe es dir oft schon gesagt. Du wirst bestraft werden, Madrecilla, schrecklich bestraft werden.«

Die Vettel stand mit übereinandergeschlagenen Armen da, sie rührte und regte sich nicht. In ihrem kleinen, verrunzelten Gesicht war nichts zu lesen. »Die Señorita irrt sich«, sagte sie in ihrem gebrochenen Spanisch, »die alten Könige sind tot. Es gibt keine Könige mehr.«

»Der letzte der Könige lebt, Madrecilla. Und er wird mich rächen, wenn er mich nicht mehr retten kann.« Sie sagte das so hin, sie sah Pablo im Geiste vor sich; sie hatte wenig Zutrauen zu ihren Worten; diese indianische Welt war ihr so fremd, nur Pablo war nah; es graute ihr ein wenig vor seiner seltsamen Königswürde. Ihr Gefühl gab ihr die Worte ein; sie sprach mit einer Indianerin, und der ihr fremde und ein wenig unheimliche Königstitel ihres Pflegebruders schien ihr eine wirksame Waffe.

»Tamay hätte seine Hand nicht gegen einen Königsenkel erhoben«, sagte die Alte. Da war wieder das Rätsel. Jäh brach die Angst in ihr auf; sie sah im Geist Tamays finsteres Gesicht vor sich, und es schauderte sie. Sie wäre die Alte am liebsten angesprungen, hätte sie beiseitegestoßen und das Freie gesucht, aber nun rächte sich, daß sie in all der Zeit ihrer Gefangenschaft fast nichts zu sich genommen hatte; sie fühlte sich kraftlos und schwach, und eine unendliche Müdigkeit überkam sie.

»Ich werde auch so sterben«, sagte sie leise vor sich hin. Die Alte schüttelte nachdenklich den Kopf und ging stumm hinaus. Draußen warf sie scheue Blicke um sich; sie lebte in ständiger Angst vor Tamay, der ihr mit den schrecklichsten Strafen gedroht hatte, falls sie die Gefangene nicht gut bewache und irgendeinem Menschen außer ihm Zutritt zu ihr gestatte.

Maria, mit auf den Knien gefalteten Händen und gesenktem Kopf auf ihrem Schemel sitzend, fuhr vor einem leisen, eigenartigen Geräusch zusammen; sie war schreckhaft geworden in der Gefangenschaft, sie lebte fast von der Angst. Den Kopf nach rechts wendend, aus welcher Richtung das Geräusch gekommen war, sah sie durch die kleine Fensterluke auf den unweit dahinter aufragenden Felsen. Sie sah, plötzlich aufmerksam werdend, daß sich etwas den Felsen hinabschlängelte und erkannte gleich darauf, daß dieses Etwas ein Lasso war, der von einer Felszacke herunterhing und an dem sich soeben ein junger, geschmeidiger Indianer herabließ. Sie zitterte und unterdrückte mit Mühe einen Schrei, Da erschien ein junges, braunes Gesicht vor der Fensteröffnung, und eine Stimme flüsterte: »Doña Maria?«

Sie war aufgesprungen, starrte auf das Gesicht; der junge Indianer legte warnend einen Finger an den Mund. »Ist Tamay hier?« raunte er. Sie schüttelte, unfähig zu sprechen, den Kopf.

Den Mann vor dem Fenster schien etwas zu erschrecken, er machte eine jähe Bewegung, flüsterte: »Pablo! Bald!« und kletterte mit den Bewegungen einer Katze an dem Seil wieder nach oben.

Maria hatte die Kraft nicht, den Jubelschrei ganz zu unterdrücken, der ihr aus der Kehle quoll; sie stand mit verzückten Augen, als die Alte im Türrahmen erschien. »Was gibt's? Was hast du?« fragte die Vettel mißtrauisch. Maria sah sie abwesend an, sie hätte jubeln, schreien, tanzen, die Alte umarmen mögen, aber es war gut, daß sie schwach war; sie fiel auf die harte Bank, die ihr als Lager diente und schloß die Augen. »Nichts«, flüsterte sie, »nichts.«

»Will die Señorita nicht doch etwas essen und trinken?« fragte die Alte.

Das Mädchen richtete sich auf; ihr Gesicht war jetzt ruhig, nur in ihren Augen war ein seltsames Flackern. »Ja«, sagte sie, »gib her, Madrecilla, ich will nun doch etwas zu mir nehmen.«

»Das ist gut.« Die Alte grinste. »Täubchen wird schon noch vernünftig werden, wird auch wieder frei sein, wenn Padre Geld gibt. Komm, Täubchen, iß. Trink Schokolade!«

Und Maria aß und trank. Pablo, dachte sie, Pablo ist frei, er kommt, mich zu holen. Die Schokolade tat ihr gut, sie fühlte neue Kräfte in sich wachsen. Die Indianerin betrachtete sie kopfschüttelnd und nicht ohne Mißtrauen ob der plötzlichen Wandlung. Sie ging langsam hinaus.

Maria, essend und trinkend, hörte plötzlich eine Stimme hereindringen; das Herz drohte ihr stillzustehen. Tamay! Tamay kam. Pablo würde zu spät kommen. Sie saß wie gebannt.

Die Tür ging auf, und Tamay stand im Raum, sah sie finster an. Das Mädchen sah diesen Blick und schrie, von jäher Angst gepackt. Sie erhob sich, wich Schritt um Schritt mit schwankenden Knien zurück. Aber der Mann kam näher, näher und näher; er stand schließlich vor ihr. »Ihr müßt mit mir kommen, Doña Maria«, sagte er rauh.

»Nein! Nein!« Sie hob die Arme zur Abwehr, von Grauen geschüttelt. Nur jetzt nicht fort, dachte sie, jetzt nicht, wo die Rettung nahe ist. Jetzt nicht mehr woanders hin. Vielleicht – vielleicht in den Tod! »Tamay«, schrie sie, »was habe ich dir getan? Was willst du von mir?«

Sie fühlte ihren Arm gepackt und sich hochgerissen; sie sank zusammen, es wurde ihr dunkel vor den Augen. Der Indianer ergriff sie, als hätte sie das Gewicht einer Feder, nahm sie auf die Arme und verließ mit ihr die Hütte. »Er soll sie nicht haben«, murmelte er, »er ist mir auf der Spur, aber er soll sie nicht haben.« Die alte Indianerin stand zitternd vor dem Verschlag und sah, wie Tamay mit seiner Beute zwischen den Felsen verschwand.

Sie schlich sich zu dem kleinen Haus hinüber und ließ sich mit stumpfsinnigem Ausdruck auf der Schwelle nieder.

Es mochten erst wenige Minuten vergangen sein, als ein Geräusch sie zusammenzucken ließ. Das Geräusch kam von rechts, von dem Felsen neben der Hütte. Sie sah noch dorthin, als neben ihr ein junger Indianer auftauchte; sie erhob sich mit vor Schreck geweiteten Augen.

»Bleib sitzen, Madrecilla, wir tun dir nichts«, sagte der junge Indianer. Hinter ihr ertönte ein leiser Ruf, wie Ratlosigkeit und Angst ausgestoßen: »Maria!« Gleich darauf stand ein zweiter indianischer Jüngling in der Tracht eines Blanco vor ihr. Die Augen dieses jungen Mannes glühten in verhaltenem Feuer. »Wo ist sie? Wo habt ihr sie? Sie ist nicht im Haus!« schrie er und ergriff die Alte bei beiden Armen, sie hin- und herschüttelnd.

Sie kreischte auf unter dem Griff. »Nichts«, stammelte sie, »nichts, ich weiß nichts. Fort ist sie, fort. Tamay hat sie geholt.«

Sie flog wie ein Bündel zur Seite. »Sage uns auf der Stelle, Weib – –«, schrie der junge Indianer in der Blancotracht. Der andere machte eine Bewegung. »Vorsicht!« schrie er, »Feinde!« Er zeigte zu dem engen Gang hinüber, der zu dem Felsenkessel führte, im gleichen Augenblick blitzte dort Mündungsfeuer auf, ein Schuß krachte, und eine Kugel schlug, an Pablos Ohr vorbeisausend, gegen den Stein. Der Jüngling, herumfahrend, sah in die Fratze eines Mulatten und erblickte dahinter einen Neger, der eben die abgeschossene Büchse sinken ließ. Er hatte die beiden Köpfe kaum wahrgenommen, da krachte Tenangas Gewehr, und der Neger warf beide Arme in die Luft und stürzte zusammen wie ein Klotz. Pablo schoß nun gleichfalls, aber der Mulatte war schon verschwunden.

Die jungen Männer luden ihre Gewehre und gingen zu der Stelle hinüber, wo der Neger lag. Der sah sie aus schon halb verglasten Augen an; er war durch die Brust getroffen. »Tötet mich nicht«, röchelte er.

»Wo ist das weiße Mädchen?«

»Weiß es nicht, suchen sie selbst. Tamay hat viele Verstecke.«

»Sie war hier. Ich weiß es.«

»Slip weiß nichts – nichts.« Der Neger röchelte, bäumte sich auf und verdrehte die Augen. Pablo, Verzweiflung im Blick, wandte sich ab. Er sah die alte Indianerin zitternd neben dem Hause kauern und schritt auf sie zu. »Wo hat er sie hingeführt? Sage es, Madrecilla, oder bei Gott – ich kämpfe sonst nicht mit Frauen.«

»Weiß nichts. Kann nichts sagen. Darf nichts sagen. Schlagt mich tot«, jammerte die Alte in der Mayasprache.

»Sieh her, Madrecilla.« Pablo riß das Hemd an seiner Brust auf, »vor dir steht der Enkel der alten Könige. Alle Mayas gehorchen mir. Du willst es nicht?«

Die Frau sah das Zeichen, ihre Augen stierten, und ihre Lippen zitterten; ihre Hände machten beschwörende Bewegungen. »Weiß es nicht«, stammelte sie, »weiß es nicht, aber sucht sie – im Haus des Unglücks.« Tenanga schrie leise auf. Pablo aber wandte sich um. »Ich danke dir, Madrecilla«, sagte er, »komm Tenanga, wir müssen uns eilen.« Sie eilten hinter das Haus und seilten sich hintereinander an dem noch herabhängenden Lasso hoch, um gleich darauf zwischen einer Felsspalte unterzutauchen. Die Alte sah ihnen zitternd aus aufgerissenen Augen nach. »Der Enkel der Könige«, stammelte sie, »der letzte König! Er wird Tamay strafen.« Es schüttelte sie, sie eilte zu dem Neger hinüber, ließ sich neben ihm auf die Knie.

Aber Slip, der Neger, atmete nicht mehr.

»Geh nicht hinein«, sagte Tenanga, »ich beschwöre dich, Herr. Drinnen lauert der Tod.«

»Ich bin ja gekommen, ihn zu verscheuchen«, antwortete Pablo.

»Aber die Señorita ist nicht darin. Tamay wird das Haus gewiß nicht betreten.«

»Ich bin überzeugt, er hat es betreten, eben weil es niemand zu betreten wagt. Er hat nichts mehr zu verlieren und zu gewinnen, weder im Diesseits, noch im Jenseits. Er fürchtet die Schatten der Toten nicht. Und ich fürchte sie auch nicht, Tenanga, ich bin ein Christ. Bleibe du ruhig zurück, es ist gut, wenn einer draußen wacht. Achte auf alles, was sich dir zeigt.«

Sie standen vor dem verfallenen Mauerwerk. Pablo, von der Angst um Maria gejagt, schritt die morschen Stufen hinan. Tenanga blieb zitternd zurück. In die noch erhaltenen Säle fiel das Licht von oben herein; es war alles totenstill. Er wird sie nach unten gebracht haben, dachte Pablo, er hat sicherlich keine Furcht vor Gespenstern. Er schlich sich vorsichtig an eine der gähnenden Öffnungen heran. Eine noch ziemlich erhaltene Treppe führte hinab. Keine Spur wies daraufhin, daß sie von Menschen betreten worden sei. Er lauschte und zuckte gleich darauf heftig zusammen. Er meinte, ein Geräusch, ein ganz schwaches, vernommen zu haben. Es hatte wie ein Seufzer geklungen, aber es mochte ein Windhauch gewesen sein.

Nein, der Ton war aus der Tiefe gekommen: er wiederholte sich. Vorsichtig tastete er sich die bröckelnden Stufen hinab. Er zählte ihrer zwanzig, dann fühlte er festen Boden unter den Füßen. Vor ihm war ein ummauerter Gang, der nach rechts und links führte. Der Gang lag im Dunkel. Und wieder lauschte er. Nichts. Kein Laut unterbrach die unheimliche Stille.

Er wandte sich nach rechts, vorsichtig spähend und langsam Fuß vor Fuß setzend. Nach zwanzig, dreißig Schritten tauchte ein lichter Schimmer auf. Er ging darauf zu.

Der Schein kam aus einer Seitenöffnung des Ganges. Er näherte sich ihr; das Licht nahm zu. Lauschend stand er, minutenlang selbst den Atem verhaltend; langsam bog er den Kopf um die Ecke.

Und sah – fast hätte er aufgeschrien – die Gesuchte auf einem roh aus Gras und Fellen errichteten Lager liegen, die Hände vor dem Gesicht, während ihre Schultern wie im Krampf zuckten.

Maria! wollte er schreien, aber er schrie nicht. Er sah: unweit des Mädchens saß auf einem rohen Schemel, vornübergebeugt und finster vor sich hinstarrend, Tamay, der Jäger. Es fiel etwas Licht von oben durch eine kleine Öffnung in den Raum. Pablo hob das Gewehr, aber er schoß nicht. Die Kugel möchte abprallen und Maria verletzen, dachte er. Er sah sich nach Tamays Büchse um, sie lehnte, ziemlich weit von ihrem Besitzer, an der Wand.

Marias Schultern zuckten wie im Krampf, er hörte sie weinen. Da hielt es ihn nicht länger. Mit einem Sprung stand er, die Büchse schußbereit, zwischen Tamay und dessen Waffe. Der Jäger war aufgesprungen. Maria, Pablo erblickend, stieß einen gellenden Schrei aus. Da, mit einer blitzschnellen Bewegung griff Tamay zu, umklammerte des Mädchens Handgelenk, riß sie an sich und brachte die von Angst und Freude gleicherweise Geschüttelte zwischen sich und Pablos Büchsenlauf. »Nun schieß!« rief er hohnlachend, Pablos Waffe lähmend. Ehe der einen Entschluß fassen konnte, war er mit dem Mädchen um einen Mauervorsprung verschwunden.

Pablo, außer sich, stürzte nach. Marias gellendes Geschrei wies ihm den Weg; es brach ruckhaft ab. Aber er sah einen Gang, da lief Tamay, das Mädchen auf den Armen, er bog um eine Ecke herum; trübes Licht herrschte hier, nur Schatten waren wahrnehmbar. Pablo, gejagt von der Angst, sprang den Schatten nach, er sah, daß der Gang aufwärts führte; es wurde heller und heller. Plötzlich stand er im Tageslicht.

Es blendete ihn fast. Dennoch sah er, wie Tamay, Maria im Arm, mit der Behendigkeit einer Gazelle die Felsen emporkletterte. Er folgte ihm keuchend.

Plötzlich blieb Tamay stehen. »Nicht einmal ihre Leiche sollt ihr haben!« schrie er. Ein Panther, der hier gelagert oder sein Nest haben mochte, schnellte mit einem gewaltigen Sprung empor und jagte in langen Sprüngen davon. Starr, bewegungslos starrte Tamay, das Mädchen im Arm, der Raubkatze nach. »Der Panther!« flüsterte er, »der Panther!« Und brach im gleichen Augenblick, während ein heller Strahl die Luft durchzuckte, aufstöhnend zusammen. Von einem Felsvorsprung hinter ihm sprang Tenanga herunter, die blutige Machete in der Faust; er fing die stürzende Maria mit den Armen auf.

»Lebt sie? Lebt sie?« schrie Pablo, herbeistürzend.

Ja, sie lebte. Sie schlug, nun von Pablos Armen gehalten, die Augen auf. Sie sah des Pflegebruders strahlende Augen über sich, und ein Lächeln verzog ihren Mund. »Pablo«, flüsterte sie, »lieber Pablo. Gott sei Dank, daß du da bist!«

Pablo hielt sie noch immer, strich ihr sacht über das verwirrte Haar. »Mariquita«, lächelte er, »kleine Mariquita!« Sie fuhr zusammen; in ihre Augen trat etwas von dem alten Schrecken. »Wo ist er?« flüsterte sie, sich ängstlich nach allen Seiten umsehend.

»Er ist nicht mehr da. Er tut dir nichts mehr«, sagte Pablo.

Nein, er war nicht mehr da. Tenanga hatte den leblosen Körper mit einem Fußtritt in die gähnende Barranca geschleudert, die Marias Grab werden sollte.

Sie saßen nebeneinander auf dem Felsgestein; über Maria war nun, nach der überstandenen Angst, die Schwäche gekommen; sie hatte die Augen geschlossen und lehnte den Kopf gegen Pablos Schulter. Oh, dieser Hund! dachte er, des von Tenanga Getöteten gedenkend, o meine Mariquita!

Tenanga näherte sich ihm. »Hast du den Panther gesehen, Herr?« fragte er. Seine Augen funkelten.

»Ja, Tenanga, ich sah ihn. Seinem plötzlichen Auftauchen verdankt Maria ihre Rettung. Sonst wäre dein Stoß wohl zu spät gekommen.«

»Der Panther ist dein Schutzgeist, Herr«, flüsterte Tenanga. »Er hat dich schon einmal bewahrt.«

»Ich will ihm gewiß dankbar sein«, sagte Pablo. »Aber was rätst du nun, was wir tun? Ich denke, wir bringen Doña Maria für die Nacht in die Räume zurück, wo Tamay sie verbergen wollte. Sie ist ja eine Weiße. Ihr werden die Geister unserer Ahnen nichts tun.«

»Bring sie ruhig hinein«, sagte Tenanga, »dies ist kein Haus des Unglücks mehr, seit dein Fuß es betrat. Ich selbst will drinnen die Señorita bewachen.«

Sie faßten das vor Erschöpfung eingeschlafene Mädchen und trugen es in das verfallene Haus. Pablo suchte aus Tamays Versteck Felle und Decken und einen dicken Poncho zusammen und bereitete ein Lager, auf das sie Maria betteten. Sie schlief, und ein leises Lächeln spielte um ihre Lippen; ihre blasse Haut gewann schon wieder Farbe. Tenanga schleppte trockene Zweige zusammen, und sie entzündeten ein Feuer. »Ich war lange nicht so froh, Tenanga«, sagte Pablo, »nun wird alles gut werden.«


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