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Auf der Suche

Die rote Sonne war hinter den gewaltigen Häuservierteln versunken, und die farblos graue Dämmerung des Sommerabends brach über Paris herein.

Wir kamen aus dem Bois und hatten uns vor dem Café Américain niedergelassen, um uns noch eine Weile der Betrachtung der promenierenden Menschenmenge hinzugeben, ehe wir uns für ein Theater oder Konzert entschlossen.

Trotz des dichten grauen Staubes, der sich auf Tische, Stühle und die Kleider legte, war kein Platz mehr unbesetzt.

Ein ewiges kommen und gehen ... rufen, klirren der Gläser und Eisschalen, mit lautem lachen und plaudern untermischt.

Am Nebentische vier junge Leute, den Hut tief im Nacken, lebhafte Gesten, eifrigstes Gespräch. Abgerissene Worte, schönklingende Phrasen; Schlager wie: Realismus, Impressionismus, Beobachtung, Analyse, Psychologie! – Hier und dort ein einzelner älterer Herr in die Lektüre seines Journals vertieft, das er bei der leichten Dämmerung dicht vor das Gesicht hält, als wolle er sich vor jemandem verstecken.

Hinter uns zwei Cylinder, Monocle eingeklemmt, umgeschlagene Beinkleider, den Griff des Stockes an die Lippen gelegt, stumpfsinnig vor sich hinbrütend, jene Gattung des Menschenviehes, die mit der Farbe der Kravatte und dem Schnitt des Rockes auch schon den Namen gewechselt hat.

Links neben uns drei Damen. Breitniedriger, vorstehender Strohhut mit grauer Feder, sonnenhelle bunte Toilette, aufdringlich modern, langstockiger Sonnenschirm. Ihre werbenden Blicke fliegen jedem neuankommenden entgegen, durchforschen die sich langsam vorüberdrängende Menschenmasse oder kritisieren die Insassen der vorüberrollenden Equipagen, die einen unendlichen Staub aufwirbeln. –

Bernhard lehnte sich zurück und schaute dem zitternden Rauche seiner Cigarrette nach, ohne die er nicht leben konnte, sobald er das Haus verlassen, sobald er müßig war.

Daheim gestattete er sich den Genuß seiner Sýrowàtka nur selten, nie während der Arbeit, nicht einmal in den Pausen. Der Künstler, vor allem der Maler, durfte sich sein Bild, die Anschaulichkeit, nicht durch Rauchwolken trüben, behauptete er. –

Wir saßen und schwiegen uns aus ...

Plötzlich sah ich einen etwa dreißigjährigen Herrn sich durch die enggestellten Tische winden, die Hände tief in die Taschen seines kurzen hellen Paletots versenkt, den Hut etwas schief in die Stirn gedrückt, daß die Augen ganz beschattet waren, den Kopf vorgestreckt, als ob er etwas suche.

Seine Blicke durchsuchten die Menge, obgleich er sich nicht den Anschein gab, und auch den Kopf nicht im geringsten nach rechts oder links wendete.

Der Mann fiel mir mit seinem etwas seltsamen Wesen auf, und ich sah Bernhard fragend an, als jener in unsere Nähe gekommen war. Er wäre vorübergeschritten, wenn nicht mein Freund ihn angerufen hätte.

Er blieb stehn und schüttelte sich mit Bernhard die Hand, der ihn bat, sich uns zuzugesellen.

M. de Brétigny! So wurde er mir vorgestellt.

Ich konnte es nicht lassen, ihn mir auf das genaueste anzusehen, – dieses schmale Gesicht mit den eingefallenen Backen und grauer, lederartiger Hautfarbe, der kleine dunkle Schnurrbart und diese seltsam flimmernden, tiefliegenden, dunklen Augen, die sich auch nicht für eine Sekunde auf einen Punkt heften konnten, sondern, fortwährend suchend, nervös umherirrten.

Wenn er sprach, lag etwas lauerndes in seinen Worten, so einfach sie klingen mochten; wir tauschten noch immer die gebräuchlichen Höflichkeitsphrasen aus: wie lange ich schon in Paris sei? meine Eindrücke, Erlebnisse und Absichten.

– Sie sind zum erstenmal in Paris, fragte er plötzlich und sah mich ängstlich forschend an, während er das Glas, in dem er sich seinen Absynth gemischt hatte, auf halbem Wege zum Munde in der Luft hielt.

Ich bejahte die Frage.

Er führte das Glas hastig zitternd an die Lippen und setzte es mit einem Ah! nieder, einem Ausrufe, in dem eine gewisse Befriedigung und doch wieder ein leiser Ton der Enttäuschung zu liegen schien.

Ich blickte erst ihn und dann Bernhard verwundert an, der mit dem Kopfe eine Bewegung machte, die mir zu bedeuten schien, nicht zu erstaunen.

M. de Brétigny blickte in sein Glas, als ob er genau beobachten wolle, wie der Absynth sich mit dem Wasser gemischt habe, dann hob er plötzlich den Kopf, und indem er an mir vorüber sah, fragte er, wie tastend:

– Niemals zuvor in Paris? ... Sie haben nie von Charlotte Maron gehört? ...

– Niemals, mein Herr!

– Ah! ...

Und er reichte mir plötzlich die Hand, indem er langsam aufstand, und schüttelte sie mit festem Drucke.

Dann lüftete er höflich seinen Hut; und indem er den Stock und beide Hände wieder in die Taschen seines kurzen Überziehers versenkte, schob er zwischen den Tischen durch, mit etwas gekrümmtem Rücken, und suchte weiter mit seinen eigentümlichen Blicken, aus denen ich nicht klug werden konnte.

Als er in der Menschenmasse verschwunden war, sah ich Bernhard fragend an.

– Er ist wieder einmal auf der Suche, antwortete er, achselzuckend.

– Auf der Suche, wonach?

– Nach dem Mädchen, von dem er eben sprach, – oder vielmehr nach all den Menschen, die sie gekannt haben ...

– Und weshalb sucht er?

– Das weiß er vielleicht selbst am wenigsten ... Er sucht nach dem Liebhaber Charlotte Maron's. – Er hatte sie eines Tages gefunden und hat sie geliebt, geliebt mit einer Innigkeit, ja mit einer Raserei, deren ich ihn nie für fähig gehalten hätte. Es gab für ihn nichts mehr auf der Welt, als diese seine Liebe. – Wir sind früher sehr gute Freunde gewesen, das hat seitdem aufgehört. So offenherzig er war, so verschlossen ist er jetzt. Seine Verwandten hielten es einmal fast für nötig, ihn fortzubringen ... so schlimm stand es um ihn. Aber es war nur eine Krise, die er überwunden hat, doch nicht ohne daß sie ihre Spuren hinterlassen hätte. – Er hat das Mädchen geliebt und an sie geglaubt; und sie war es eben nicht wert. – Sie hat ihn betrogen, wo sie nur konnte ... Eines Tages hatte er es gemerkt, und ist ihr gefolgt, als sie zu einem Rendez-vous gegangen ist. Er kam zu mir, um sich auszutoben. Bald wollte er sie töten, bald sich – bald sie nie wiedersehen – um dann aufs neue von seiner Liebe zu ihr ergriffen zu werden. Ich brachte es fertig, ihn zu beruhigen. Er hatte noch keine sicheren Beweise, und ich verstand es, in ihm die Hoffnung zu erwecken, er könne sich getäuscht haben. Ihr gegenüber hat er geschwiegen und nachgeforscht ... fruchtlos drei Tage lang, drei Tage der schrecklichsten Aufregung für ihn. Am vierten Tage, als er heimkommt, ist sie fort. Sie muß wohl etwas geahnt haben. Sie war mit einem andern auf und davon gegangen und hinterließ ihm nichts als ein Billet – ein Billet, wie es nur die Herzlosigkeit eines Weibes schreiben kann, worin sie ihn höhnisch verspottete, daß sie ihn hundertfach betrogen habe. – Dann hatte ich eines Tages die erste Scene mit ihm. Er war auf den Gedanken verfallen, ich hätte ihn mit ihr betrogen. – Was weiß ich ... weil ich sie damals in Schutz genommen ... weil ich dieses und jenes gethan und gesagt hatte – lauter Dinge, aus denen er sich jetzt Beweise für seinen Argwohn schmiedete. Und nun verfiel er auf die seltsame Idee, in jedem Menschen einen Nebenbuhler zu erblicken. Er wurde seinen Bekannten gegenüber mißtrauisch. Er spionierte allen nach, und weil er nirgendwo Beweise fand, wuchs sein Zweifel und seine Verzweiflung ... Er hatte noch einige Briefe gefunden unter den Sachen, die sie zurückgelassen. – Er fing an, alle Handschriften zu vergleichen. Auch das führte ihn zu keinem Resultate. Monat um Monat ist dahingegangen – seine Manie ist geblieben ... jene quälende Angst, daß ein jeder Mensch, mit dem er in Berührung kommt ... ein jeder, dem er auf der Straße begegnet, ihn einmal mit seiner einstigen Geliebten betrogen haben könne. Er fragt alle Menschen nach ihr, selten so offen wie dich. Er hat es wohl deshalb gewagt und ohne weiteres ihren Namen genannt, weil du ihm versichert, daß du früher nicht in Paris warst. Früher die Offenheit selbst, ist er von einem Mißtrauen, einem Menschenhasse, der ihn wohl nie mehr verlassen wird ... Ich weiß, er glaubt mir noch immer nicht. Er vermutet noch immer, daß ich zu ihr in Beziehung gestanden habe. Und dieses Mißtrauen ist unbesiegbar. – Nur eine aufrichtige Liebe könnte ihn heilen. Aber giebt es die, wenigstens hier auf diesem Boden? ... Der Zweifel wird sich immer einnisten können ... der Zweifel, der sich durch die feinsten Spalten in unser Herz einschleicht – und wenn sich der auch nur ganz leise rührt, wird die Erinnerung in ihm aufsteigen ... und es ist wieder alles verloren. – Jetzt sucht er nun. – Und wenn er wirklich einmal gefunden haben wird – was wird er dann thun? Ich weiß es nicht, und er selbst gewiß ebenso wenig. Vielleicht wenn er einmal auf jemand stößt, der mit seiner Geliebten verkehrt hat, daß er dann einsieht und zur Vernunft zurückkehrt vor der leidenschaftslosen Wirklichkeit; – während er sich so in haltlosen Vermutungen und in angstgequältem Zweifel aufreibt und sein Leben zerstört ...

* * *

Um uns herum saß noch immer die lachende, plaudernde, lesende und Eis schlürfende Menge. Die drei Mädchen lachten lauter als zuvor, und ihre verlogen leidenschaftlichen Blicke lockten und warben um Liebe.

Die Menschen schoben sich langsam auf dem Trottoir vorbei ... und plötzlich sah ich wieder die suchenden Blicke Alfred de Brétignys, wie er mit vorgeneigtem Kopfe, den Hut noch tiefer in die Augen gesetzt, sich von der Menge weiter schieben ließ, suchend ... immer suchend ... und in jedem Manne einen Geliebten des Mädchens vermutend, das ihn betrogen hatte.

Und wie er suchend dahinschlich, gemartert von seinem nie zu bezwingenden Argwohne ... mit vergiftetem Herzen, weil er an Liebe und Treue geglaubt, schaute ich ihm lange tieftraurig nach, bis er in dem hastenden Gewühle meinen Augen entschwunden war.


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