Leo Tolstoi
P. Ssergij
Leo Tolstoi

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VII

P. Ssergij lebte schon seit einigen Wochen mit einem Gedanken, der sich nicht abweisen ließ: ob er recht gehandelt, als er sich in die Lage geschickt hatte, in die er weniger auf eigenen Wunsch als auf das Geheiß des Archimandriten und des Abtes gekommen war. Es hatte nach der Heilung des vierzehnjährigen Jungen angefangen. Von nun an hatte Ssergij mit jedem Monat, mit jeder Woche und mit jedem Tage immer deutlicher gefühlt, wie sein inneres Leben vernichtet und von einem äußeren ersetzt wurde. Es war ihm, als würde sein ganzes Wesen von innen nach außen gewendet.

Ssergij sah, daß er als ein Mittel diente, um die Besucher und Spender ans Kloster heranzuziehen, und daß die Obrigkeit des Klosters ihn darum in solche Bedingungen versetzte, in denen er ihr am meisten nutzen könnte. So ließ man ihm z. B. keine Möglichkeit mehr, zu arbeiten. Man hielt für ihn alles bereit, was er brauchen konnte, und verlangte von ihm nur, daß er den Besuchern, die zu ihm kamen, seinen Segen nicht versage. Der Bequemlichkeit halber wurden eigene Empfangstage festgesetzt. Man richtete einen eigenen Empfangsraum für die Männer ein, stellte eine Schranke auf, damit ihn die Frauen, die sich auf ihn stürzten, nicht umwürfen, und richtete einen Platz ein, wo er die Besucher segnete. Man sagte ihm, daß die Menschen ihn brauchten, daß er, wenn er das christliche Gebot der Liebe erfülle, den Leuten ihren Wunsch, ihn zu sehen, nicht abschlagen dürfe und daß die Abweisung dieser Menschen eine Grausamkeit wäre. Er mußte dem zustimmen; aber je mehr er sich diesem Leben hingab, umso deutlicher fühlte er, wie das Innere zum Äußeren wurde, wie die Quelle des lebendigen Wassers in ihm versiegte, wie er das, was er tat, immer mehr der Menschen wegen und nicht für Gott tat.

Wenn er die Menschen belehrte, oder sie einfach segnete, für die Kranken betete, oder den Menschen riet, wie sie leben sollten, wenn er den Dank der Menschen hörte, denen er durch Heilungen, wie man ihm sagte, oder durch Belehrungen geholfen hatte, mußte er sich darüber freuen und an die Folgen seiner Tätigkeit und an deren Wirkung auf die Menschen denken. Er dachte daran, daß er eine brennende Leuchte gewesen sei, und je mehr er es fühlte, umso stärker empfand er auch das Abnehmen, das Erlöschen des göttlichen Lichtes der Wahrheit, das in ihm brannte. »In welchem Maße tue ich das, was ich tue, für die Menschen, und in welchem Maße für Gott?« das war die Frage, die ihn beständig quälte und die er nicht beantworten konnte oder vielmehr wagte. Er fühlte in der Tiefe seiner Seele, daß der Teufel an Stelle seiner ganzen Tätigkeit für Gott eine Tätigkeit für die Menschen geschoben hatte. Er fühlte es daran, daß es ihm jetzt ebenso schwer war, seine Einsamkeit zu tragen, wie früher aus dieser Einsamkeit herausgerissen zu werden. Die Besucher fielen ihm zur Last, sie ermüdeten ihn, aber in der Tiefe seiner Seele freute er sich über sie, freute sich über die Lobpreisungen, mit denen man ihn umgab.

Es gab sogar eine Zeit, wo er sich entschloß, wegzugehen und sich zu verbergen. Er hatte sich sogar alles überlegt, wie es zu machen war. Er hatte sich ein Bauernhemd, eine Hose, einen Kaftan und eine Mütze vorbereitet. Er erklärte, daß er diese Dinge brauche, um an die Bittenden zu verteilen. Und er hielt diese Kleidung bei sich bereit und dachte sich, wie er sie anlegen, sich die Haare abscheren und weggehen würde. Erst würde er an die dreihundert Werst mit dem Zuge fahren, dann aussteigen und zu Fuß durch die Dörfer gehen. Er erkundigte sich bei einem alten Soldaten, wie jener durchs Land zu ziehen pflege, wie die Leute Almosen geben und ein Nachtlager gewähren. Der Soldat erzählte ihm, in welchen Gegenden die Leute mehr Almosen geben und leichter Einlaß gewähren, und P. Ssergij beschloß so zu tun. Eines Nachts kleidete er sich sogar an und wollte weggehen, wußte aber nicht, was besser sei: bleiben oder fliehen? Anfangs war er unentschlossen, dann verging aber die Unentschlossenheit, er gewöhnte sich und unterwarf sich dem Teufel, und die Bauernkleidung allein erinnerte ihn noch an seine Gedanken und Gefühle.

Von Tag zu Tag kamen zu ihm immer mehr Leute, und es blieb ihm immer weniger Zeit für die geistige Labung und fürs Gebet. Zuweilen, in lichten Augenblicken, dachte er sich, daß er einer Stätte gleiche, auf der eine Quelle gewesen sei. »Es war eine schwache Quelle lebendigen Wassers, die still aus mir, über mich floß. Das war das wahre Leben, als sie (er gedachte immer mit Begeisterung jener Nacht und auch ihrer, die jetzt Schwester Agnia hieß) ihn versucht hatte. Sie hatte von jenem reinen Wasser gekostet, aber seitdem die Dürstenden kommen, sich drängen, und einander von der Quelle wegstoßen, kann sich das Wasser nicht mehr sammeln. Und sie haben alles verschüttet, es ist nur Schmutz geblieben.« So dachte er in den seltenen lichten Augenblicken; aber sein gewöhnlichster Zustand war Müdigkeit und die Rührung über sich selbst ob dieser Müdigkeit.

*

Es war im Frühjahr, am Vorabend des Festes der Wasserweihe. P. Ssergij hatte die Abendmesse in seiner Höhlenkirche gelesen. Es waren so viel Leute dabei, als die Höhle überhaupt fassen konnte, – an die zwanzig Personen. Es waren lauter reiche Herrschaften und Kaufleute. P. Ssergij selbst ließ alle ein, aber diese Wahl machten der Mönch, der ihm beigestellt war, und der Diensthabende, den man täglich aus dem Kloster zu seiner Klause schickte. Das Volk, an die achtzig Pilger, Männer und noch mehr Frauen, drängte sich draußen und wartete auf das Erscheinen P. Ssergijs und auf seinen Segen. P. Ssergij zelebrierte die Messe, und als er an das Grab seines Vorgängers trat, wankte er und wäre wohl umgefallen, wenn der hinter ihm stehende Kaufmann und der Mönch, der beim Gottesdienst den Diakon vertrat, ihn nicht gestützt hätten.

»Was ist mit Ihnen? Väterchen, P. Ssergij! Liebster! Gott!« riefen die Frauen. »So weiß wie ein Tuch sind Sie geworden.«

P. Ssergij erholte sich aber gleich wieder; er war zwar noch sehr blaß, schob aber den Kaufmann und den Diakon beiseite und sang weiter. P. Serapion, der Diakon, die Kirchendiener und Ssofja Iwanowna, eine Dame, die ständig in der Nähe seiner Klause wohnte und ihn bemutterte, baten ihn, den Gottesdienst abzubrechen.

»Tut nichts, tut nichts,« entgegnete P. Ssergij, unter seinem Schnurrbart kaum sichtbar lächelnd. »Unterbrechen Sie den Gottesdienst nicht.« – Ja, so tun die Heiligen – dachte er sich.

»Ein Heiliger, ein Engel Gottes,« hörte er im gleichen Augenblick hinter sich die Stimmen Ssofia Iwanownas und des Kaufmanns, der ihn gestützt hatte. Er hörte nicht auf ihre Bitten und fuhr im Gottesdienst fort. Dann gingen alle, sich drängend, durch die schmalen Gänge in die kleine Kirche zurück, und hier führte P. Ssergij die Abendmesse, wenn auch etwas gekürzt, zu Ende.

Gleich nach dem Gottesdienste gab P. Ssergij den Anwesenden seinen Segen und setzte sich dann auf die Bank unter der Ulme am Eingang zu der Höhle. Er wollte ausruhen und frische Luft atmen; er fühlte, daß er es brauchte; kaum war er aber ins Freie getreten, als die Menge des Volkes sich auf ihn stürzte, um ihn um seinen Segen, um Rat und Hilfe zu bitten. Es waren hier Wallfahrerinnen, die ständig von einer heiligen Stätte zur andern, von einem Starez zum anderen pilgern und die von jeder heiligen Stätte und von jedem Starez gerührt sind. P. Ssergij kannte diesen weitverbreiteten, ganz unreligiösen, kalten, äußerlichen Typus. Es waren hier Wallfahrer, zum größten Teil ehemalige Soldaten, des seßhaften Lebens entwöhnte alte Männer, die große Not leiden, zum größten Teil auch trinken und sich von Kloster zu Kloster herumtreiben, nur um sich verpflegen zu lassen; es waren hier auch ganz einfache Bauern und Bäuerinnen mit ihren egoistischen Forderungen, daß er sie heile, oder ihre Zweifel in solchen rein praktischen Angelegenheiten löse, wie die Verheiratung einer Tochter, die Pacht eines Ladens, der Kauf von Land, oder sie von der Sünde, ein Kind im Schlafe erdrückt oder außer der Ehe geboren zu haben, losspreche. Das alles war P. Ssergij längst bekannt und interessierte ihn nicht. Er wußte, daß er von diesen Leuten nichts Neues erfahren konnte, daß sie in ihm keinerlei religiöses Gefühl zu wecken vermochten, aber er liebte sie zu sehen als eine Menge, der er, sein Segen, sein Wort notwendig und teuer waren; darum fiel ihm diese Menge zur Last und war ihm zugleich angenehm. P. Serapion versuchte die Leute zu vertreiben, indem er ihnen sagte, daß P. Ssergij müde sei, aber er besann sich dann auf die Worte des Evangeliums: »wehret den Kindlein nicht zu mir zu kommen!«; dies rührte ihn, und er sagte, daß man sie vorlassen solle.

Er stand auf, trat ans Geländer, vor dem sie sich drängten, und fing an, sie zu segnen und ihre Fragen mit einer Stimme zu beantworten, deren Schwäche ihn selbst rührte. Aber er konnte, so sehr er es auch wollte, sie alle doch nicht empfangen; es wurde ihm wieder finster vor den Augen, er wankte und griff nach dem Geländer. Er fühlte einen Blutandrang im Kopfe, wurde erst blaß und dann plötzlich rot.

»Ja, ich werde es wohl auf morgen aufschieben müssen. Ich kann jetzt nicht,« sagte er. Dann gab er allen einen gemeinsamen Segen und ging zur Bank. Der Kaufmann stützte ihn wieder, führte ihn am Arm zu der Bank und half ihm sich hinsetzen.

»Vater!« tönte es aus der Menge. »Vater! Väterchen! Verlaß uns nicht. Wir sind ohne dich verloren!«

Der Kaufmann übernahm, nachdem er P. Ssergij auf die Bank unter der Ulme gesetzt hatte, das Amt eines Polizisten und begann das Volk sehr energisch auseinanderzutreiben. Er sprach zwar leise, so daß P. Ssergij ihn nicht hören konnte, aber resolut und böse:

»Schert euch, schert euch! Er hat euch ja gesegnet, was wollt ihr noch? Marsch! Sonst hau ich euch den Buckel voll. Na, na! Du, Tante mit den schwarzen Fußlappen, geh, geh! Was drängst du dich vor? Man sagt euch ja, es ist Feierabend. Vielleicht wird Gott morgen etwas bescheren, heute ist aber alles zu Ende.«

»Väterchen, wenn ich doch nur mit einem Auge sein Gesichtchen anschauen könnte,« sprach eine Alte.

»Ich werde dich anschauen! Wo willst du hin?«

P. Ssergij merkte, daß der Kaufmann allzu streng vorging, und sagte mit schwacher Stimme dem Zellendiener, er solle das Volk nicht vertreiben. P. Ssergij wußte, daß er es doch vertreiben würde, und wollte gern allein bleiben und ausruhen; aber er schickte den Zellendiener, nur um Eindruck zu machen.

»Gut, gut. Ich vertreibe sie nicht, ich rede ihnen nur ins Gewissen,« antwortete der Kaufmann, »Sie sind ja alle froh, einem Menschen den Garaus zu machen, sie wissen nichts von Mitleid und denken nur an sich. Es geht nicht, ich hab' es euch schon gesagt, daß es nicht geht. Marsch! Morgen.«

Und der Kaufmann verjagte alle.

Der Kaufmann gab sich solche Mühe, weil er die Ordnung liebte und die einfachen Leute gern kommandierte, vor allen Dingen aber weil er P. Ssergij brauchte. Er war Witwer und hatte eine einzige kranke Tochter, die nicht heiraten wollte und die er aus einer Entfernung von vierzehnhundert Werst zu P. Ssergij gebracht hatte, damit er sie heile. Er hatte diese Tochter während der zwei Jahre ihrer Krankheit schon an verschiedenen Orten behandeln lassen. Erst in der Universitätsklinik einer Gouvernementsstadt, aber das half ihr nicht; dann fuhr er mit ihr zu einem Bauern im Gouvernement Ssamara – hier wurde es ihr etwas besser; dann brachte er sie nach Moskau zu einem Arzt, dem er viel Geld bezahlte, der aber nicht half. Nun hatte er erfahren, daß P. Ssergij Krankheiten heile, und die Tochter zu ihm gebracht. Als der Kaufmann das ganze Volk auseinandergetrieben hatte, ging er auf P. Ssergij zu, kniete vor ihm ohne jede Vorbereitung nieder und sagte mit lauter Stimme:

»Heiliger Vater! Segne meine kranke Tochter und heile sie von ihrer Krankheit. Ich erkühne mich, vor deinen heiligen Füßen niederzufallen.«

Er legte die Hände zu einem Kelch zusammen. Er machte und sagte dies alles so, als handelte es sich um etwas von der Sitte und vom Gesetz klar und bestimmt Vorgeschriebenes, als müsse und solle man gerade so und nicht anders um die Heilung einer kranken Tochter bitten. Er machte es mit solcher Sicherheit, daß es sogar P. Ssergij selbst schien, daß man dies alles gerade so machen und sprechen müsse. Aber er befahl ihm dennoch aufzustehen und den Sachverhalt zu erzählen. Der Kaufmann erzählte, daß seine Tochter, ein zweiundzwanzigjähriges Mädchen, vor zwei Jahren, nach dem plötzlichen Tode ihrer Mutter erkrankt sei, »vor Schreck aufgeschrien« hätte, wie er sich ausdrückte, und seit jener Zeit geistesgestört sei. Er habe sie aus einer Entfernung von vierzehnhundert Werst gebracht, und sie warte in der Herberge, bis P. Ssergij befehlen würde, sie herzubringen. Am Tage gehe sie nicht aus und scheue das Licht und könne nur nach Sonnenuntergang ausgehen.

»Nun, ist sie sehr schwach?« fragte P. Ssergij.

»Nein, eine besondere Schwäche ist an ihr nicht wahrzunehmen, sie ist auch korpulent, aber neurasthenisch, wie der Doktor gesagt. Wenn P. Ssergij befehlen, sie jetzt gleich herzubringen, würde ich im Nu hinüberlaufen. Heiliger Vater, erquicken Sie das Herz des Vaters, richten Sie sein Geschlecht auf, retten sie durch Ihre Gebete seine kranke Tochter!«

Der Kaufmann fiel wieder in die Kniee, faltete die Hände wie früher zusammen, neigte seitwärts den Kopf und erstarrte. P. Sergij befahl ihm wieder aufzustehen und dachte sich, wie schwer seine Tätigkeit sei und wie demütig er sie dennoch trage, seufzte tief auf, schwieg einige Sekunden und sagte dann:

»Gut, bringen Sie sie abends her. Ich will für sie beten, aber jetzt bin ich sehr müde.« Er schloß die Augen. »Ich werde dann nach Ihnen schicken.«

Der Kaufmann entfernte sich auf den Fußspitzen, was die Folge hatte, daß seine Stiefel noch lauter knarrten, und P. Ssergij blieb allein.

Das ganze Leben P. Sergijs war mit Gottesdiensten und Empfängen von Besuchern angefüllt, aber dieser Tag war ganz besonders schwer gewesen. Des Morgens hatte ihn ein zugereister hoher Würdenträger besucht und sich mit ihm lange unterhalten; nach ihm war eine Dame mit ihrem Sohne dagewesen. Dieser Sohn war ein junger Professor, ein Ungläubiger, den die von einem heißen Glauben beseelte und P. Ssergij ergebene Mutter zu ihm gebracht hatte, damit er mit ihm spreche. Das Gespräch war sehr schwer gewesen. Der junge Mann wollte sich offenbar mit dem Mönch in keinen Streit einlassen und stimmte ihm wie einem schwachen Menschen in allem bei, aber P. Ssergij sah, daß der junge Mann nicht glaubte, sich aber trotzdem wohl, leicht und ruhig fühlte.

»Wollen Sie speisen, Väterchen?« fragte der Zellendiener.

»Ja, bringen Sie mir etwas.«

Der Diener ging in die Zelle, die man zehn Schritt vor dem Eingang zur Höhle erbaut hatte, und P. Ssergij blieb allein.

Die Zeit, wo P. Ssergij allein gelebt, für sich alles selbst gemacht und sich nur mit Hostien und Brot ernährt hatte, war längst vorbei. Man hatte ihm schon lange bewiesen, daß er nicht das Recht habe, seine Gesundheit zu vernachlässigen, und ernährte ihn mit zwar nach den Fastenvorschriften zubereiteten, aber kräftigenden Speisen. Er nahm davon wenig, aber bedeutend mehr als früher und aß oft mit besonderem Genuß und nicht mit Abscheu und Schuldbewußtsein wie früher. So war es auch an diesem Abend. Er aß etwas Brei, trank eine Tasse Tee und verzehrte ein halbes Weißbrot.

Der Zellendiener ging, und er blieb allein auf der Bank unter der Ulme sitzen.

Es war ein herrlicher Maiabend. Die Blätter der Birken, Espen, Ulmen, Faulbäume und Eichen hatten sich eben entfaltet. Die Faulbaumbüsche hinter der Ulme standen in voller Blüte; die Nachtigallen – die eine in nächster Nähe und zwei oder drei andere unten im Gesträuch am Flusse – schlugen und schmetterten. Vom Flusse her tönte Gesang der wohl von der Arbeit heimkehrenden Arbeiter; die Sonne war hinter den Wald gesunken, und ihre gebrochenen Strahlen drangen durch das Laub. Diese ganze Seite war hellgrün; die andere mit der Ulme – dunkel. Die Käfer schwärmten, stießen gegen die Bäume und fielen nieder.

Nach dem Essen begann P. Ssergij das innerliche Gebet zu verrichten: »Herr Jesu Christ, Sohn Gottes, sei uns gnädig«; dann las er einen Psalm; mitten im Psalm flog plötzlich ein Spatz von einem Strauch auf die Erde, lief zwitschernd und hüpfend auf ihn zu, erschrak vor etwas und flog davon. Er sprach das Gebet, in dem vom Verzicht auf diese Welt die Rede war, und hatte Eile, es schneller zu beenden, um nach dem Kaufmann mit der kranken Tochter schicken zu können; diese Tochter interessierte ihn. Sie interessierte ihn, weil sie für ihn eine neue Person, eine Zerstreuung bedeutete, weil ihr Vater und sie selbst ihn für einen Heiligen hielten, dessen Gebet in Erfüllung ginge. Er wies es zwar zurück, hielt sich aber in der Tiefe seiner Seele doch für einen solchen.

Er wunderte sich oft darüber, wie es gekommen, daß er, Stepan Kassatskij, zu so einem ungewöhnlichen Heiligen und sogar Wundertäter geworden war; daß er wirklich ein solcher war, unterlag keinem Zweifel: es war ihm doch unmöglich, an die Wunder nicht zu glauben, die er selbst gesehen hatte, mit dem gelähmten Jungen angefangen bis zu der letzten Alten, die auf sein Gebet hin ihr Augenlicht wieder bekam.

Wie seltsam es auch erscheint, es war doch so. So interessierte ihn die Kaufmannstochter, weil sie eine neue Person war, weil sie den Glauben an ihn hatte, und weil es ihm bevorstand, seine Heilkraft und seinen Ruhm an ihr von neuem zu bestätigen. »Von tausend Werst weit kommt man gefahren, man schreibt in den Zeitungen, der Kaiser weiß es, in Europa, im ungläubigen Europa weiß man es,« dachte er sich. Plötzlich schämte er sich seiner Eitelkeit und fing wieder an, zu Gott zu beten. »Herr, König des Himmels, Tröster, Seele der Wahrheit, komm und dringe in uns ein und reinige uns von jedem Unrat, errette, Allgütiger, unsere Seelen. Reinige mich vom Greuel des menschlichen Ruhmes, der mich umstürmt,« wiederholte er und dachte anbei, wie oft er schon so gebetet hatte und wie vergeblich seine Gebete in dieser Beziehung gewesen waren. Sein Gebet wirkte Wunder für die anderen, aber für sich selbst vermochte er von Gott nicht die Erlösung von dieser nichtigen Leidenschaft zu erflehen.

Er erinnerte sich seiner Gebete aus der ersten Zeit seines Klausnerlebens, als er Gott um Reinheit, Demut und Liebe gebeten hatte, und daß Gott, wie es ihm damals schien, seine Gebete erhört hatte: er war rein gewesen und hatte sich den Finger abgehauen. Er führte den runzligen Stummel des Fingers an den Mund und küßte ihn. Es schien ihm, daß er gerade damals demütig gewesen sei, als er sich selbst immer abscheulich in seiner Sündhaftigkeit erschienen, und er glaubte, daß er damals auch die Liebe gehabt habe, als er sich erinnerte, mit welcher Rührung er damals den Alten, der ihn besuchte, den betrunkenen Soldaten, der ihn um Geld bat, und auch sie empfangen hatte. Aber jetzt? . . . Und er fragte sich, ob er jemand liebe, ob er Ssofja Iwanowna, P. Serapion liebe, ob er gegen alle die Leute, die ihn heute besucht hatten, Liebe empfunden habe: gegen diesen gelehrten jungen Mann, mit dem er so belehrend gesprochen hatte, nur um das eine besorgt, ihm seinen Geist und seine fortschrittliche Bildung zu zeigen. Ihre Liebe war ihm angenehm, und er brauchte sie, aber er selbst hatte zu ihnen keine Liebe. Es war keine Liebe mehr in ihm, auch keine Demut und keine Reinheit.

Es war ihm angenehm zu hören, daß die Kaufmannstochter nur zweiundzwanzig Jahre alt war, und er wollte wissen, ob sie hübsch sei. Als er sich nach ihrer Schwäche erkundigt hatte, wollte er eben wissen, ob sie einen weiblichen Reiz habe oder nicht.

– Bin ich denn wirklich so tief gesunken? – dachte er sich. – Herr hilf mir, richte mich auf, mein Gott und Herr! – Und er faltete die Hände und begann zu beten. Die Nachtigallen schmetterten; ein Käfer flog gegen ihn und kroch über seinen Nacken. Er warf ihn auf den Boden. – Gibt es Ihn? Was, wenn ich an einem von außen zugesperrten Hause klopfe? . . . Das Schloß hängt an der Tür, und ich könnte es sehen. Dieses Schloß sind – die Nachtigallen, die Käfer, die Natur. Der junge Mann hat vielleicht recht. – Und er begann laut zu beten und betete so lange, bis diese Gedanken wichen und er sich wieder ruhig und sicher fühlte. Er klingelte und sagte dem eintretenden Zellendiener, der Kaufmann solle jetzt mit seiner Tochter kommen.

Der Kaufmann brachte die Tochter am Arm in die Zelle und ging selbst gleich wieder weg.

Die Tochter war blond, außerordentlich weiß, blaß und voll, ein kleingewachsenes Mädchen mit einem erschrockenen Kindergesicht und stark entwickelten weiblichen Formen. P. Ssergij blieb auf der Bank am Eingang sitzen. Als das Mädchen kam und neben ihm stehen blieb und er sie segnete, erschrak er über sich selbst, wie er ihren Körper angesehen hatte. Als sie an ihm vorbeigegangen war, fühlte er sich wie von einer Schlange gebissen. Ihrem Gesichte hatte er angesehen, daß sie sinnlich und schwachsinnig war. Er stand auf und trat in die Zelle. Sie saß auf dem Schemel und wartete auf ihn.

Als er eintrat, stand sie auf.

»Ich will zu Papa,« sagte sie.

»Fürchte dich nicht,« sagte er. »Was tut dir weh?«

»Alles tut mir weh,« sagte sie, und ihr Gesicht erstrahlte plötzlich in einem Lächeln.

»Du wirst gesund sein,« sagte er, »bete.«

»Was soll ich beten, ich habe schon gebetet, es nützt mir nicht.« sie lächelte immer. »Beten Sie für mich und legen Sie Ihre Hände auf mich. Ich habe Sie im Traume gesehen.«

»Wie hast du mich gesehen?«

»Mir träumte, daß Sie mir Ihr Händchen auf die Brust legten, so«: – sie nahm seine Hand und drückte sie sich auf die Brust. »Hier an diese Stelle.«

Er überließ ihr seine ganze Rechte.

»Wie heißt du?« fragte er, am ganzen Leibe zitternd, und fühlte, daß er besiegt war, daß er jede Gewalt über sein Fleisch verloren hatte.

»Marja. Warum?«

Sie nahm seine Hand und küßte sie; dann umschlang sie mit der einen Hand seine Taille und drückte ihn an sich.

»Was hast du?« sagte er. »Marja, du bist der Teufel.«

»Nun, vielleicht macht es nichts.«

Und sie umarmte ihn und setzte sich mit ihm aufs Bett.

*

Beim Morgengrauen trat er vor die Zelle.

– Ist denn alles wirklich gewesen? Wenn der Vater kommt, wird sie es ihm erzählen, die ist der Teufel. Aber was werde ich tun? Da ist es, das Beil, mit dem ich mir den Finger abgehauen habe. – Er ergriff das Beil und ging damit in die Zelle.

Der Zellendiener kam ihm entgegen.

»Befehlen Sie, Holz zu hacken? Geben sie mir, bitte, das Beil.«

Er gab ihm das Beil. Dann trat er in die Zelle. Sie lag da und schlief. Er sah sie entsetzt an. Dann ging er hinter den Verschlag, nahm die Bauernkleider vom Nagel, zog sie an, nahm eine Schere, schnitt sich das Haar ab und ging den Fußpfad zum Flusse hinunter, an dem er schon seit vier Jahren nicht gewesen war.

Längs des Flusses lief ein Weg; er schlug ihn ein und ging bis mittag. Am Mittag trat er ins Feld und legte sich ins Korn. Gegen Abend kam er zu einem Dorf, das am Flusse lag. Er ging aber nicht ins Dorf, sondern zum Uferabhang am Flusse.

Es war sehr früh, vielleicht eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang. Alles war grau und düster, vom Westen her wehte ein kalter Frühwind. – Ja, ich muß ein Ende machen. Es gibt keinen Gott. Wie soll ich ein Ende machen? Mich hinunterstürzen? Aber ich verstehe zu schwimmen und werde nicht ertrinken. Mich erhängen? Ja, mit diesem Gürtel an einem Ast. – Das erschien ihm so möglich und nahe, daß er sich entsetzte und wie immer in Augenblicken der Verzweiflung beten wollte. Aber er wußte, es war niemand, zu dem er beten könnte – es gab doch keinen Gott. Er lag, auf einen Ellenbogen gestützt, und fühlte plötzlich solche Schläfrigkeit, daß er den Kopf nicht mehr mit der Hand halten konnte; er streckte seinen Arm aus, legte den Kopf darauf und schlief sofort ein. Der Schlaf dauerte aber nur einen Augenblick; er erwachte sofort und sah, entweder im Traume, oder in der Erinnerung, dieses Bild.

Er sieht sich fast als Kind im Hause der Mutter auf dem Lande; ein Wagen kommt gefahren, und aus dem Wagen steigen: der Onkel Nikolai Ssergejewitsch mit seinem großen breiten schwarzen Bart und das schmächtige kleine Mädchen Paschenjka mit großen sanften Augen und einem unglücklichen, schüchternen Gesicht. Diese Paschenjka bringt man nun in seine Jungengesellschaft. Man muß mit ihr spielen, aber es ist so langwellig, die ist dumm, und es endet damit, daß man sie auslacht: man zwingt sie zu zeigen, wie sie schwimmen könne. Sie legt sich auf den Boden und zeigt es auf dem Trockenen. Alle lachen und halten sie zum Narren. Und sie sieht es, sie errötet fleckenweise und wird so unglücklich, daß man sich schämen muß und ihr schiefes, gutmütiges, demütiges Lächeln nie wieder vergessen kann. Und Ssergij erinnert sich, wann er sie nachher gesehen hat. Es war viel später, vor seinem Eintritt ins Kloster. Sie war mit irgendeinem Gutsbesitzer verheiratet, der sein ganzes Vermögen verschwendet hatte und sie schlug. Sie hatte zwei Kinder: einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn war ganz jung gestorben.

Ssergij erinnerte sich, wie er sie in ihrem Unglück gesehen hatte. Dann sah er sie im Kloster als Witwe. Sie war immer dieselbe, nicht gerade dumm, aber geschmacklos, unbedeutend und jämmerlich. Sie war ins Kloster mit ihrer Tochter und deren Bräutigam gekommen. Sie waren schon arm. Dann hatte er gehört, sie lebe in irgendeiner Provinzstadt in großer Armut. – Warum denke ich an sie? – fragte er sich. Aber er konnte nicht aufhören, an sie zu denken. – Wo ist sie? Was ist mit ihr? Ist sie noch immer so unglücklich wie damals, als sie auf dem Fußboden zeigte, wie man schwimmt? Aber was soll ich an sie denken? Was bin ich? Ich muß ein Ende machen. –

Ihn überkam aber wieder Angst, und er fing wieder an, um sich von diesem Gedanken zu retten, an Paschenjka zu denken.

So lag er lange und dachte bald an sein unvermeidliches Ende und bald an Paschenjka. Paschenjka erschien ihm als eine Rettung. Endlich schlief er ein und sah im Traume einen Engel, der zu ihm kam und sagte: »Geh zu Paschenjka und erfahre von ihr, was du zu tun hast, worin deine Sünde ist und worin deine Rettung.«

Er erwachte und sagte sich, daß es eine von Gott gesandte Vision gewesen sei; er freute sich darüber und beschloß so zu tun, was ihm in der Vision befohlen worden war. Er kannte die Stadt, in der sie wohnte – es war etwa dreihundert Werst weit – und ging hin.


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