Leo Tolstoi
P. Ssergij
Leo Tolstoi

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V

P. Ssergij lebte schon das sechste Jahr in Klausur. Er war neunundvierzig Jahre alt. Sein Leben war schwer: er litt nicht unter der Last des Fastens und Gebets, sondern unter dem inneren Kampf, den er niemals erwartet hätte. Dieser Kampf hatte zwei Quellen: den Zweifel und die Fleischeslust, und diese beiden Feinde erhoben sich in ihm immer zugleich. Er hielt sie für zwei verschiedene Feinde, während es in Wirklichkeit nur einer war. Wenn der Zweifel sich legte, so verschwand auch gleich die Fleischeslust. Er aber glaubte, es seien zwei verschiedene Teufel und kämpfte gegen sie gesondert.

– Mein Gott, mein Gott – dachte er – warum versagst Du mir den Glauben? Ja, die Fleischeslust. Gegen sie kämpften schon Antonius und andere Heilige, aber der Glaube . . . Sie hatten ihn, bei mir gibt es aber Minuten, Stunden, Tage, wo ich ihn nicht habe. Wozu ist die ganze Welt mit ihrer ganzen Schönheit, wenn sie voller Sünde ist und man sich von ihr lossagen muß? Wozu hast Du diese Versuchung erschaffen? Die Versuchung? Ist es aber keine Versuchung, daß ich die Freuden der Welt fliehe und mir etwas dort vorbereite, wo vielleicht gar nichts ist? – sagte er sich voll Entsetzen und Abscheu vor sich selbst. – Verworfenes Geschöpf! Du willst heilig sein! – schimpfte er auf sich. Und er fing zu beten an. Kaum stand er aber im Gebet, als er sich vorstellte, wie ehrwürdig er im Kloster in der Kapuze und Mantel ausgesehen hatte. Er schüttelte den Kopf. – Nein, das ist nicht das Richtige. Das ist Betrug. Ich kann aber nur die anderen betrügen, doch nicht mich selbst und Gott. Ich bin kein ehrwürdiger, sondern ein elender und lächerlicher Mensch. – Und er hob die Schöße seiner Kutte, sah auf seine elenden Beine in den Unterhosen und lächelte.

Dann ließ er die Schöße fallen und fing an, Gebete zu sprechen, sich zu bekreuzigen und zu bücken. »Wird denn dieses Lager mein Sarg sein?« las er. Es war ihm, wie wenn ihm ein Teufel zuflüsterte: »Ein einsames Lager ist dein Sarg. Lüge!« Und er sah vor sich die Schultern der Witwe, mit der er einst ein Verhältnis gehabt hatte. Er schüttelte sich und las weiter. Nachdem er die vorgeschriebenen Gebete gelesen hatte, nahm er das Evangelium vor und schlug es an der Stelle auf, die er oft vor sich wiederholte und auswendig kannte: »Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben!« So räumte er alle ihn bedrängenden Zweifel weg. Wie man einen Gegenstand mit labilem Gleichgewicht aufstellt, so stellte er seinen Glauben auf schwankendem Fuße auf und trat vorsichtig zurück, um ihn nicht anzustoßen und umzuwerfen. Er setzte sich wieder die Scheuklappen vor und beruhigte sich. Er wiederholte sein kindliches Gebet: »Herr, nimm mich hin, nimm mich hin!« Und es wurde ihm nicht nur leicht, sondern auch freudig zumute. Er bekreuzigte sich, legte sich auf die schmale Bank mit der dünnen Matte, schob sich die Sommerkutte unter den Kopf und schlief ein.

In seinem leisen Schlaf glaubte er ein Schellengeläute zu hören. Er wußte nicht, ob er es im Wachen oder im Schlafe hörte. Aus dem Schlafe weckte ihn ein Klopfen an die Tür. Er erhob sich, traute aber seinen Ohren nicht. Das Klopfen wiederholte sich. Ja, es wurde ganz nahe, an seine Tür geklopft, und er erkannte eine Frauenstimme.

– Mein Gott! Ist es denn wirklich wahr, was ich im Heiligenleben gelesen habe? . . . Ja, es ist eine Frauenstimme. Und sie klingt so zart, scheu, lieb. Pfui! – Er spie aus. – Nein, es kommt mir nur so vor. – Er ging in die Ecke, wo ein Betpult stand, und sank mit der gewohnten, vorschriftsmäßigen Bewegung, in der er einen Trost und eine Freude fand, in die Knie. Er kniete nieder, bückte sich, so daß die Haare ihm übers Gesicht fielen, und drückte seine kahle Stirn an den feuchten und kalten Boden.

Er las den Psalm, der, wie ihm der alte P. Pimen gesagt hatte, gegen die Anfechtung des Bösen helfen sollte. Er richtete seinen abgezehrten, leichten Körper leicht auf seinen starken, nervösen Beinen auf und wollte weiterlesen, las aber nicht, sondern spannte unwillkürlich sein Gehör an, um zu hören. Er wollte hören. Es war ganz still. Vom Dache fielen immer die gleichen Tropfen in das Faß, das in der Ecke stand. Draußen herrschte ein Nebel, der den Schnee verzehrte. Es war ganz still. Plötzlich raschelte es am Fenster, und die gleiche zarte, scheue Stimme, eine Stimme, die nur einer bezaubernden Frau angehören konnte, sprach:

»Lassen Sie mich ein. Um Christi Willen . . .«

Es war ihm, als strömte ihm sein ganzes Blut zum Herzen und stockte. Er konnte nicht einmal Atem holen. »Es stehe Gott auf, daß seine Feinde zerstreuet werden . . .«

»Ich bin ja kein Teufel . . .« Er hörte, wie die Lippen, die das sagten, lächelten. »Ich bin kein Teufel, sondern einfach eine sündige Frau. Ich habe mich verirrt – nicht im übertragenen, sondern im buchstäblichen Sinne dieses Wortes (sie lachte), bin ganz erfroren und bitte um Obdach . . .«

Er drückte sein Gesicht an die Fensterscheibe. Das Lämpchen spiegelte sich aber an allen Stellen der Scheibe. Er hielt sich die Hände zu beiden Seiten des Gesichts vor und sah hinaus. Ein Nebel, ein Baum, und rechts vom Baume – sie. Ja, sie, eine Frau in einem langhaarigen weißen Pelze, mit einer Pelzmütze auf dem Kopfe, mit einem lieben, lieben, guten, erschrockenen Gesicht, nur wenige Zoll vor seinem Gesicht, zu ihm vorgebeugt. Ihre Augen trafen sich und erkannten einander. Nicht etwa in dem Sinne, als hätten sie einander schon einmal gesehen: sie hatten sich niemals gesehen, aber an dem Blick, den sie tauschten, erkannten sie beide (ganz besonders er), daß sie einander kennen und verstehen. Nach diesem Blick konnte man nicht mehr zweifeln, daß es eine einfache, gute, liebe, schüchterne Frau und kein Teufel war.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?« fragte er.

»Machen Sie doch auf!« sagte sie in einem eigensinnig befehlenden Ton. »Ich bin ganz erfroren. Ich sage Ihnen doch, daß ich mich verirrt habe.«

»Ich bin Mönch, Einsiedler.«

»Also machen Sie auf. Wollen Sie denn, daß ich unter Ihrem Fenster erfriere, während Sie beten?«

»Wie kommen Sie . . .«

»Ich fresse Sie nicht auf. Lassen Sie mich um Gottes willen ein. Ich bin erfroren.«

Es wurde ihr selbst unheimlich zumute. Sie sagte das beinahe weinend.

Er wandte sich vom Fenster weg und blickte auf das Bild Christi mit der Dornenkrone. »Herr, hilf mir, Herr, hilf mir!« sagte er, sich bekreuzigend und tief verneigend. Dann ging er zur Tür und trat in den kleinen Vorraum. Hier fand er tastend den Türhaken und begann ihn loszumachen. Von der anderen Seite tönten Schritte. Sie ging vom Fenster zur Türe. »Au!« schrie sie plötzlich auf. Er begriff, daß sie mit dem Fuße in eine Pfütze geraten war, die sich vor seiner Schwelle gebildet hatte. Seine Hände zitterten, und er konnte unmöglich den gespannten Türhaken losmachen.

»Was machen Sie denn, lassen Sie mich ein. Ich bin ganz naß. Und erfroren. Sie denken an Ihr Seelenheil, und ich erfriere hier.«

Er zog die Türe zu sich, hob den Haken und machte die Tür so heftig auf, daß er sie anstieß.

»Ach, entschuldigen Sie!« sagte er, plötzlich ganz in seinen einstigen, gewohnten Ton im Umgange mit Damen verfallend.

Sie lächelte, als sie dieses »entschuldigen Sie« hörte. Nun, er ist doch nicht so schrecklich – dachte sie sich.

»Tut nichts, tut nichts. Entschuldigen Sie mich,« sagte sie, an ihm vorbeigehend. »Ich hätte mich nie entschlossen, aber in diesem besonderen Falle . . .«

»Treten Sie ein,« sagte er, sie einlassend. Der starke Duft eines feinen Parfüms, den er lange nicht geatmet, schlug ihm entgegen. Sie trat in die Stube. Er machte die Außentüre zu, schloß sie aber nicht ab und kam ebenfalls in die Stube.

»Herr Jesu Christ, Sohn Gottes, sei mir Sünder gnädig! Herr, sei mir Sünder gnädig!« betete er ununterbrochen nicht nur innerlich, sondern auch unwillkürlich mit den Lippen.

»Ich bitte!« sagte er.

Sie stand mitten im Zimmer, und das Wasser lief von ihr auf den Boden. Sie betrachtete ihn, und ihre Augen lächelten.

»Verzeihen Sie, daß ich Ihre Einsamkeit gestört habe. Aber Sie sehen doch, in was für einer Lage ich bin. Es kam so, daß wir aus der Stadt eine Spazierfahrt machten und ich mit den anderen wettete, ich würde von Worobjomka allein zur Stadt gehen. Aber ich verirrte mich, und wäre ich nicht auf Ihre Zelle gestoßen . . .« begann sie zu lügen. Aber sein Gesicht verwirrte sie dermaßen, daß sie nicht weiter konnte und verstummte. Sie hatte ihn sich ganz anders vorgestellt. Er war nicht der hübsche Mann, wie sie ihn sich ausgemalt hatte, aber er erschien ihr doch schön; die hie und da ergrauten lockigen Haupt- und Barthaare, die regelmäßige feine Nase und die Augen, die wie Kohlen brannten, wenn er gerade vor sich hin blickte, machten auf sie einen starken Eindruck.

Er sah, daß sie log.

»Ja, gut,« sagte er, sie anblickend und wieder die Augen senkend. »Ich gehe hinüber, machen Sie sich's nur bequem.«

Er nahm das Lämpchen von der Wand, zündete eine Kerze an, verbeugte sich tief vor ihr und ging in die kleine Kammer hinter dem Bretterverschlag. Sie hörte, wie er sich dort zu schaffen machte. – Er schließt sich wohl vor mir ab – dachte sie sich lächelnd. Dann zog sie den weißen Pelzmantel aus und nahm die Pelzmütze, die sich von ihren Haaren nicht gleich losreißen ließ, und das gestrickte Tuch, das sie unter der Mütze trug, ab. Sie war gar nicht naß geworden, als sie vor dem Fenster gestanden hatte: es war nur ein Vorwand, damit er sie einlasse. Aber vor der Tür war sie wirklich in eine Pfütze getreten, und ihr linker Fuß war bis zur Wade naß und der Schuh voll Wasser. Sie setzte sich auf sein Lager – ein mit einer Matte bedecktes Brett, und begann Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Die Zelle erschien ihr reizend. Das schmale, etwa drei Ellen breite und vier Ellen lange Stübchen war blitzsauber. Es gab darin nur die Bank, auf der sie saß, ein Bücherbrett darüber und ein Betpult in der Ecke. Auf dem Nagel an der Türe hingen ein Pelz und eine Kutte. Über dem Betpult – das Bild Christi in der Dornenkrone und ein Lämpchen davor. Es roch so sonderbar: nach Baumöl, Schweiß und Erde. Alles gefiel ihr hier, sogar dieser Geruch. Die nassen Füße, besonders der eine, verursachten ihr Unbehagen, und sie beeilte sich, Schuhe und Strümpfe auszuziehen; sie lächelte immerfort und freute sich, weniger darüber, daß sie ihr Ziel erreicht, als daß sie gesehen, daß sie diesen bezaubernden, merkwürdigen, sonderbaren und anziehenden Mann in Verwirrung gebracht hatte. – Nun, er hat mir nicht geantwortet, das ist noch kein Unglück – sagte sie sich.

»P. Ssergij! P. Ssergij! Sie heißen doch so?«

»Was wünschen Sie?« antwortete eine leise Stimme.

»Verzeihen Sie, bitte, daß ich Sie in Ihrer Einsamkeit gestört habe, aber ich konnte nicht anders. Ich wäre einfach krank geworden. Ich weiß nicht, ob ich es nicht schon bin. Ich bin ganz durchnäßt, die Füße sind wie Eis.«

»Verzeihen Sie,« antwortete die leise Stimme, »ich kann Ihnen mit nichts dienen.«

»Ich hätte Sie sonst nicht belästigt. Ich bleibe nur bis zum Morgengrauen hier.«

Er antwortete nicht, und sie hörte ihn etwas flüstern, offenbar betete er.

»Sie werden doch nicht hereinkommen?« fragte sie lächelnd. »Denn ich muß mich ausziehen, um meine Kleider zu trocknen.«

Er antwortete nicht und fuhr fort, hinter der Wand mit eintöniger Stimme die Gebete zu sprechen.

– Ja, das ist ein Mensch! – dachte sie sich, während sie sich mit dem Überschuh, der voller Wasser war, abmühte. Sie zog an ihm und konnte ihn nicht vom Fuße ziehen, und das kam ihr so komisch vor. Sie fing an, ganz leise zu lachen; da sie aber wußte, daß er ihr Lachen hörte und daß dieses Lachen auf ihn gerade so wirken würde, wie sie es wollte, lachte sie lauter, und dieses luftige, natürliche, gutmütige Lachen wirkte auf ihn wirklich so, wie sie es wollte.

– Ja, einen solchen Mann kann man liebgewinnen. Diese Augen und dieses einfache, edle Gesicht, das so leidenschaftlich ist, und wenn er noch so eifrig seine Gebete murmelt – dachte sie sich. – Uns Frauen kann man nicht so leicht betrügen, schon als er sein Gesicht an die Scheibe drückte und mich sah, verstand und erkannte er mich. In seinen Augen blitzte es auf, und etwas ist in ihnen geblieben. Er hat Liebe und Verlangen nach mir gefühlt. Ja, er hat mich begehrt – sagte sie sich. Endlich hatte sie sich der Überschuhe und Schuhe entledigt und machte sich an die Strümpfe. Um die langen, an Gummibänder befestigten Strümpfe auszuziehen, mußte sie die Röcke heben, sie fühlte sich geniert und sagte:

»Kommen sie bitte nicht herein.«

Aber hinter der Wand kam keine Antwort, sie hörte ihn nur murmeln und irgendwelche Bewegungen machen – Er verneigt sich wohl bis zur Erde – dachte sie sich. – Aber das wird ihm nicht helfen. Er denkt ebenso an mich, wie ich an ihn. Er denkt mit dem gleichen Gefühl an diese Beine – sagte sie sich, als sie sich der nassen Strümpfe entledigt und die bloßen Füße auf die Bank hinaufgezogen hatte. Sie saß eine Weile da, die Knie mit den Händen umfassend und nachdenklich vor sich blickend. – Ja, das ist die Einsamkeit, das ist die Stille. Und niemand würde es erfahren . . . –

Sie stand auf, trug die Strümpfe zum Ofen und hängte sie an die Ofenklappe – es war eine eigentümliche Klappe. Sie drehte sie einmal um, kehrte dann, mit ihren bloßen Füßen leicht schreitend, zu der Bank zurück, setzte sich auf sie und zog die Beine ein. Hinter der Wand war es ganz still geworden. Sie sah auf die winzige Uhr, die sie am Halse hängen hatte. Es war zwei. – Die Gesellschaft wird mich gegen drei abholen. – Es blieb ihr nur noch eine Stunde.

– Werde ich denn allein dasitzen? Unsinn! Ich will nicht. Ich werde ihn gleich herrufen. –

»P. Ssergij! . . . P. Ssergij! . . . Ssergej Dmitrijewitsch! . . . Fürst Kassatskij! . . .«

Hinter der Tür blieb es still.

»Hören Sie, es ist doch grausam. Ich würde Sie nicht rufen, wenn ich nicht müßte. Ich bin krank, ich weiß nicht, was mit mir ist,« begann sie mit leidender Stimme. »Ach, ach!« stöhnte sie, auf das Lager niederfallend. Und seltsam: sie fühlte plötzlich wirklich eine qualvolle Erschöpfung, Schmerz im ganzen Körper und Schüttelfrost.

»Hören Sie, helfen Sie mir doch. Ich weiß nicht, was mit mir ist. Ach, ach!« sie knöpfte das Kleid vorne auf, entblößte die Brust und warf die bis zu den Ellenbogen nackten Arme zurück. »Ach, ach!«

Er stand währenddessen in seiner Kammer und betete. Er hatte schon alle Abendgebete verrichtet und stand nun unbeweglich, die Augen auf die Nasenspitze gerichtet, und wiederholte im Geiste fortwährend: »Herr Jesu Christ, Sohn Gottes, sei mir gnädig!«

Aber er hörte alles. Er hörte, wie ihr seidenes Kleid raschelte, als sie es auszog, wie sie mit den bloßen Füßen auf den Boden trat, er hörte, wie sie sich die Füße mit den Händen rieb. Er fühlte seine Schwäche und daß er jeden Augenblick ins Verderben stürzen konnte, und betete darum ununterbrochen. Er empfand etwas in der Art, wie der Märchenheld, der immer weiter gehen mußte, ohne sich umzublicken. So hörte und fühlte auch Ssergij, daß die Gefahr ganz nahe war, über ihm, um ihn, und daß er sich nur dann retten konnte, wenn er sich für keinen Augenblick zu ihr umwandte. Plötzlich bemächtigte sich aber seiner das Verlangen, einen Blick auf sie zu werfen. In diesem Moment sagte sie:

»Hören Sie, es ist doch unmenschlich, ich kann sterben.«

– Ja, ich werde hingehen, es aber so machen, wie jener Heilige, der die eine Hand auf die Buhlerin legte und die andere über glühende Kohlen hielt. Ich habe aber keine Kohlen hier. – Er sah sich um. Die Lampe. Er hielt den Finger über die Flamme, runzelte die Stirn und wartete auf den Schmerz. Über eine recht lange Zeit glaubte er nichts zu fühlen; er war sich noch nicht klar, ob es weh tat und ob der Schmerz stark genug war, als er plötzlich das Gesicht verzog, die Hand von der Flamme nahm und sie durch die Luft schwang. – Nein, ich kann es nicht. –

»Um Gottes willen! Ach, kommen Sie doch her! Ich sterbe! Ach!«

– Soll ich mich denn ins Verderben stürzen? Nein! –

»Ich komme gleich,« sagte er. Dann öffnete er seine Tür, ging, ohne sie anzusehen, an ihr vorbei in den Vorraum, wo er Holz zu hacken pflegte, und fand tastend den Klotz und das an die Wand gelehnte Beil.

»Sofort,« sagte er. Dann ergriff er das Beil mit der rechten Hand, legte den Zeigefinger der Linken auf den Klotz, hob das Beil und ließ es auf den Finger, unterhalb des zweiten Gliedes niederfallen. Der Finger sprang leichter ab, als ein Holzscheit von der gleichen Stärke abzufallen pflegte, drehte sich um und fiel auf den Rand des Klotzes und dann auf den Boden.

Er hörte diesen Laut früher, als er den Schmerz spürte. Aber er hatte noch nicht Zeit gehabt, sich darüber zu wundern, daß es nicht weh tat, als er plötzlich einen brennenden Schmerz und die Wärme des fließenden Blutes fühlte. Er wickelte das zurückgebliebene Glied schnell in den Zaum der Kutte, drückte es an die Hüfte, öffnete wieder die Tür, blieb vor dem Weibe stehen und fragte sie leise mit gesenkten Augen:

»Was wünschen Sie?«

Sie sah sein erbleichtes Gesicht mit der zitternden linken Wange und spürte plötzlich Scham, sie sprang auf, nahm ihren Pelz und hüllte sich in ihn.

»Ja, ich hatte Schmerzen . . . Ich habe mich erkältet . . . Ich . . . P. Ssergij . . . Ich . . .«

Er richtete auf sie seine Augen, die mit einem stillen, freudigen Lichte leuchteten, und sagte:

»Liebe Schwester, warum wolltest du deine unsterbliche Seele verderben? Das Ärgernis muß wohl in die Welt kommen, aber wehe dem, durch den es kommt . . . Bete, daß Gott uns verzeihe.«

Sie lauschte seinen Worten und sah ihn an. Plötzlich hörte sie etwas tropfen, sie sah hin und merkte, daß aus seiner Hand über die Kutte Blut lief.

»Was haben Sie mit Ihrer Hand gemacht?« Sie besann sich auf den Laut, den sie gehört hatte, ergriff die Lampe, lief in den Vorraum und sah auf dem Boden den blutigen Finger liegen. Sie kehrte blasser als er in die Stube zurück und wollte ihm etwas sagen, er ging aber still in seine Kammer und schloß die Tür hinter sich zu.

»Verzeihen Sie mir,« sagte sie. »Womit kann ich meine Sünde gutmachen?«

»Geh.«

»Lassen Sie mich Ihre Wunde verbinden.«

»Geh fort.«

Sie kleidete sich schnell und schweigend an und saß ganz fertig im Pelz, bis sie Schellengeläute hörte.

»P. Ssergij, verzeihen Sie mir!«

»Geh. Gott wird dir verzeihen.«

»P. Sergij! Ich will mein Leben ändern, verlassen Sie mich nicht.«

»Geh.«

»Verzeihen Sie mir und segnen Sie mich.«

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes,« tönte es hinter der Wand. »Geh.«

Sie verließ schluchzend die Zelle. Der Rechtsanwalt kam ihr entgegen.

»Nun, ich hab' die Wette verloren,« sagte er. »In welchen Schlitten wollen Sie sich setzen?«

»Es ist mir ganz gleich.«

Sie setzte sich und sprach während der ganzen Fahrt kein Wort.

Nach einem Jahr empfing sie die niederen Nonnenweihen und führte ein strenges Leben in einem Kloster unter der Leitung des Einsiedlers Arsenij, der ihr ab und zu Briefe schrieb.


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