Leo Tolstoi
P. Ssergij
Leo Tolstoi

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II

Zwei Wochen vor dem für die Hochzeit festgesetzten Tage war Kassatskij in der Sommerfrische bei seiner Braut in Zarskoje-Sselo. Es war ein heißer Maitag. Braut und Bräutigam spazierten im Garten und setzten sich auf eine Bank in der schattigen Lindenallee. Mary war in ihrem weißen Tüllkleide besonders hübsch. Sie erschien als die Verkörperung von Liebe und Unschuld. Sie saß mit gesenktem Kopf und blickte hie und da zu dem großen schönen Mann auf, der besonders zärtlich und vorsichtig mit ihr sprach, als fürchtete er, die englische Reinheit der Braut zu verletzen und zu beflecken. Kassatskij gehörte zu den Männern der vierziger Jahre, die es heute nicht mehr gibt – zu denen, die sich selbst jede Unsauberkeit in geschlechtlichen Dingen gestatteten und sie innerlich nicht verurteilten, aber von der Gattin eine ideale, himmlische Reinheit verlangten, diese himmlische Reinheit in jedem Mädchen ihres Kreises annahmen und sie entsprechend behandelten.

Diese Anschauung war in vielen Beziehungen falsch und, was die Ausschweifungen der Männer betrifft, schädlich; aber in bezug auf die Frauen war diese Anschauung, die sich von der Anschauung der heutigen jungen Männer, welche in jeder Frau und in jedem jungen Mädchen vor allen Dingen ein Weibchen, das ein Männchen sucht, sehen, scharf unterschied – in dieser Beziehung war diese Anschauung, wie ich glaube, von Nutzen. Die jungen Mädchen, die diese Vergöttlichung sahen, bemühten sich auch, mehr oder weniger Göttinnen zu sein. Dieser Anschauung huldigte auch Kassatskij und sah auch seine Braut so an. An diesem Tage war er besonders verliebt und empfand seiner Braut gegenüber nicht die leiseste sinnliche Regung, im Gegenteil, er sah sie mit Andacht wie etwas Unerreichbares an.

Er erhob sich in seiner ganzen Riesengröße und stand vor ihr, auf den Säbel gestützt.

»Ich habe erst jetzt das ganze Glück erfahren, das ein Mensch empfinden kann! Und Sie haben . . . du hast«, sagte er mit einem schüchternen Lächeln, »es mir gegeben!«

Er befand sich in der Periode, wo das »du« noch nicht zur Gewohnheit geworden war und wo er, der moralisch zu ihr hinaufsah, sich scheute, zu diesem Engel »du« zu sagen.

»Ich erkannte mich selbst . . . dank . . . dir, ich erkannte mich besser, als ich es geglaubt hatte.«

»Ich weiß es schon längst. Darum habe ich Sie auch liebgewonnen.«

In der Nähe begann eine Nachtigall zu schlagen, das frische Laub regte sich im leisen Windhauch.

Er nahm ihre Hand, küßte sie, und Tränen traten ihm in die Augen. Sie begriff, daß er ihr dankte, weil sie ihm gesagt hatte, sie habe ihn liebgewonnen. Er ging hin und her, schwieg eine Weile, kehrte dann wieder zu ihr zurück und setzte sich.

»Sie wissen, du weißt . . . Nun, es ist gleich. Als ich deine Bekanntschaft machte, war ich nicht ganz uneigennützig; ich wollte Beziehungen in den höheren Kreisen anknüpfen, aber später . . . wie nichtig wurde das alles im Vergleich mit dir, als ich dich kennenlernte. Du bist mir deswegen doch nicht böse?«

Sie antwortete nicht und berührte nur seine Hand mit der ihrigen.

Er begriff, daß es zu bedeuten hatte: Nein, ich bin dir nicht böse.

»Du hast eben gesagt« – er stockte, es erschien ihm allzu kühn – »du hast eben gesagt, du hättest mich liebgewonnen; verzeih, ich glaube dir, aber du hast außerdem etwas, was dich beunruhigt und stört. Was ist das?«

– Ja, entweder jetzt, oder niemals – dachte sie sich: Er wird es sowieso erfahren. Aber jetzt wird er nicht fortgehen. Ach, wie schrecklich wäre es, wenn er fortginge! –

Sie musterte seine ganze große, edle, mächtige Gestalt liebevoll mit den Blicken. Sie liebte ihn jetzt mehr als jenen anderen und würde ihn mit dem anderen nicht vertauschen.

»Hören Sie, ich kann nicht unaufrichtig sein. Ich muß Ihnen alles sagen. Sie fragen, was es sei? Nun, ich habe schon geliebt.«

Sie legte ihre Hand wie beschwörend auf die seine.

Er schwieg.

»Sie wollen wissen, wen? Nun, ihn . . .«

»Wir lieben ihn alle; ich kann mir denken, wie Sie im Institut . . .«

»Nein, später. Ich habe mich von ihm hinreißen lassen, dann ist es aber vergangen . . . Aber ich muß es Ihnen sagen . . .«

»Nun, was ist es denn?«

»Nein, ich habe ihn nicht einfach . . .«

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Wie? Sie haben sich ihm hingegeben?«

Sie schwieg.

»Als seine Geliebte?«

Sie schwieg.

Er sprang auf und stand blaß wie der Tod mit zitternden Backenknochen vor ihr. Er erinnerte sich jetzt, wie . . .

*

»Mein Gott! Was habe ich getan! Stiwa!«

»Rühren Sie mich nicht an, rühren Sie mich nicht an. Ach, es tut so weh!«

Er wandte sich um und ging ins Haus.

Im Hause traf er die Mutter.

»Was haben Sie, Fürst? Ich . . .

Als sie sein Gesicht sah, verstummte sie. Sein ganzes Blut schoß ihm plötzlich ins Gesicht.

»Sie haben alles gewußt und durch mich alles decken wollen. Wenn Sie beide nicht Frauen wären!« schrie er auf und hob seine mächtige Faust über ihren Kopf. Dann wandte er sich um und lief davon.

* * *

Gleich am nächsten Tag nahm er Urlaub, reichte ein Abschiedsgesuch ein, meldete sich krank, damit ihn niemand sähe, und fuhr aufs Land.

Er verbrachte den Sommer auf seinem Gute und ordnete seine Angelegenheiten. Als der Sommer zu Ende ging, kehrte er aber nicht mehr nach Petersburg zurück, sondern fuhr ins Kloster und wurde Mönch.

Die Mutter riet ihm in ihren Briefen von diesem entscheidenden Schritte ab. Er antwortete ihr, daß der Ruf Gottes über allen anderen Erwägungen stünde, er fühle aber diesen Beruf in sich. Nur seine Schwester, die ebenso stolz und ehrgeizig wie der Bruder war, verstand ihn. Sie begriff, daß er Mönch wurde, um über denen zu stehen, die ihm hatten zeigen wollen, daß sie über ihm stünden.

Sie beurteilte ihn richtig. Durch seinen Eintritt ins Kloster zeigte er, daß er alles verachtete, was den anderen und ihm selbst, als er noch diente, so wichtig erschien, und daß er eine neue Höhe errang, von der er auf die Menschen, die er früher beneidete, hinabsehen konnte. Aber es war nicht, wie seine Schwester Warenjka glaubte, dieses Gefühl allein, was ihn leitete. Es war auch noch etwas Anderes in ihm: ein echtes religiöses Gefühl, das Warenjka nicht kannte und das sich mit dem Stolze und dem Streben, Erster zu sein, verwob. Die Enttäuschung an Mary, die er sich als einen solchen Engel vorgestellt hatte, und die Kränkung waren so stark, daß sie ihn zur Verzweiflung brachten, die Verzweiflung brachte ihn aber, wohin? – zu Gott, zum kindlichen Glauben, der in ihm niemals gestört worden war.


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