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Zweiter Teil

1.

Tage, Wochen, zwei ganze Monate einsamen Landlebens vergingen unmerklich, wie es uns damals schien; und doch hätten die Empfindungen, die Aufregungen und das Glück dieser zwei Monate ausgereicht, um ein ganzes Leben auszufüllen. Unsere Träume von der Gestaltung unserer Zukunft, unseres Lebens im Dorfe gingen durchaus nicht auf die Weise in Erfüllung, wie wir es erwartet hatten. Doch blieb der Reiz unseres Lebens in nichts hinter unseren Träumen zurück. Von jener ernsten Arbeit, Pflichterfüllung und Aufopferung für die andern, die mir in meiner Brautzeit als meine zukünftige Aufgabe vorgeschwebt hatte, war nicht mehr die Rede; statt dessen erfüllte egoistische Verliebtheit, der Wunsch, gehätschelt zu werden, eine ewige, grundlose Fröhlichkeit und Gleichgültigkeit gegen alles andere, was es sonst noch auf der Welt gab, unser Leben. Er ließ mich wohl zuweilen allein, um in seinem Kabinett zu arbeiten, fuhr in Geschäften nach der Stadt und sah in der Wirtschaft nach dem Rechten; doch sah ich, wie schwer es ihm jedesmal fiel, sich von mir zu trennen. Er gestand mir dann später, daß ihm alles in der Welt, was nicht auf mich Bezug hatte, so überflüssig und nichtig erschien, daß er nicht begreifen konnte, wie man sich überhaupt damit befassen könne. Und auch ich empfand ganz ebenso wie er. Ich las, beschäftigte mich mit Musik, leistete der Mama Gesellschaft und blickte auch einmal in die Schule hinein; doch tat ich das alles nur darum, weil es entweder auf ihn Bezug hatte, oder weil er es gern sah, daß ich mich damit befaßte; sobald ich an irgend etwas gehen sollte, das nicht mit ihm im Zusammenhang stand, sanken meine Arme schlaff herab, und der Gedanke, daß es außer ihm noch irgend etwas anderes auf der Welt gebe, erschien mir geradezu komisch. Vielleicht war das ein selbstisches, unedles Gefühl; aber dieses Gefühl machte mich glücklich und erhob mich hoch über alle Welt. Nur er allein existierte für mich auf der Welt, ihn hielt ich für den schönsten, den trefflichsten Menschen; darum konnte ich nicht einen Tag für irgend etwas anderes leben als für ihn und verwandte alle meine Kräfte einzig darauf, in seinen Augen das zu sein, wofür er mich hielt. Andrerseits hielt auch er mich für die schönste und beste Frau in der Welt, für einen Ausbund aller Tugenden, und ich gab mir alle Mühe, in den Augen des vollkommensten und besten aller Menschen solch ein Ideal einer Frau zu sein.

Eines Tages trat er zu mir in mein Zimmer, als ich eben betete. Ich sah ihn an und fuhr fort zu beten. Er nahm am Tische Platz, um mich nicht zu stören, und schlug ein Buch auf. Es war mir jedoch, als schaue er mich an, und ich sah mich nach ihm um. Er lächelte. Auch ich mußte lachen und konnte nicht beten.

»Hast du schon gebetet?« fragte ich ihn.

»Ja. Laß dich nicht stören, ich gehe gleich fort.«

»Ich will doch hoffen, daß du immer betest?«

Er gab keine Antwort und wollte gehen, doch ich hielt ihn zurück.

»Tu es um meinetwillen, mein Teurer, bete mit mir!«

Er trat neben mich, ließ unbeholfen die Arme sinken und begann mit ernstem Gesichte, da und dort stockend, zu lesen. Von Zeit zu Zeit wandte er sich nach mir um, als suche er Zustimmung und Hilfe auf meinem Gesichte.

Als er zu Ende war, umarmte ich ihn lachend.

»Du machst aus mir alles, was du willst! Mir ist, als sei ich wieder zehn Jahre alt ...« sagte er errötend und küßte mir die Hände.

Unser Haus war eins jener alten Landhäuser, in denen mehrere Generationen derselben Familie nacheinander in gegenseitiger Achtung und Liebe gewohnt haben. Alles in diesem Hause predigte gleichsam eine ehrenwerte, brave Familientradition, die von dem Augenblick an, da ich es betreten hatte, auch die meinige wurde. Die Einrichtung des Hauses und das ganze Hausregiment wurde von Tatjana Semjonowna ganz im alten Stil gehalten. Man konnte nicht behaupten, daß alles elegant und schön sei; doch von der Bedienung bis zu den Möbeln und Mahlzeiten war alles reichlich, alles sauber, gediegen und akkurat und flößte Respekt ein. Im Empfangszimmer waren die Möbel symmetrisch aufgestellt, an den Wänden hingen Porträts, und den Fußboden bedeckten Teppiche und Läufer aus buntgestreiftem Handgewebe, die im Hause angefertigt waren. Im »Diwanzimmer« stand ein alter Flügel, Chiffonnieren von verschiedener Gestalt, Diwane und Tischchen mit Messingbeschlägen und eingelegten Ornamenten. In meinem Boudoir, das Tatjana Semjonowna selbst mit besonderer Sorgfalt eingerichtet hatte, standen die besten Möbel aus allen Zeitaltern und Stilperioden, darunter ein alter Trumeau, dem gegenüber ich anfangs eine gewisse Schüchternheit empfand, der mir jedoch später, recht wie ein alter Freund, lieb und teuer wurde.

Von Tatjana Semjonowna hörte man so gut wie gar nichts im Hause, doch ging alles so regelmäßig wie eine aufgezogene Uhr seinen Gang. Wohl gab es eine ganze Anzahl überflüssiger Leute im Hause, aber sie alle schienen stolz auf ihre Stellung, zitterten vor der alten Herrin, sahen mich und meinen Mann mit freundlicher Gönnermiene ein wenig von oben herab an und verrichteten im übrigen, wie mir schien, ihren Dienst mit ganz besonderem Vergnügen. Tatjana Semjonowna hielt das Knarren der Sohlen und das Poltern der Absätze für das unangenehmste Ding von der Welt, und so mußte alles im Hause weiches Schuhwerk ohne Absätze tragen. Regelmäßig an jedem Sonnabend wurden im Hause die Fußböden gescheuert und die Teppiche geklopft, an jedem ersten Tage des Monats wurde Gottesdienst abgehalten und eine Wasserweihe vorgenommen; am Namenstage Tatjana Semjonownas, ihres Sohnes und jetzt im Herbst zum erstenmal auch an dem meinigen wurde der ganzen Nachbarschaft ein Festmahl gegeben. So war es immer gehalten worden, soweit Tatjana Semjonowna zurückdenken konnte. Mein Mann mischte sich nicht in die Angelegenheiten des Hauswesens, er beschäftigte sich nur mit der Feldwirtschaft und den Bauern, die ihn stark in Anspruch nahmen. Er stand stets, auch im Winter, sehr früh auf und war längst fort, wenn ich erwachte. Zum Tee, den wir für uns allein einnahmen, kehrte er gewöhnlich zurück; er war dann fast immer, nach all den Sorgen und Unannehmlichkeiten in der Wirtschaft, in jener ganz besonders fröhlichen Stimmung, die wir »himmelhoch jauchzend« zu nennen pflegten. Häufig bat ich ihn, mir zu erzählen, was er am Morgen getrieben habe, und er redete dann solchen Unsinn zusammen, daß wir beide vor Lachen vergingen; zuweilen jedoch bestand ich darauf, daß er mir ernsthaft Bericht erstatte, und das tat er dann auch mit sehr ernsthafter Miene. Ich sah ihm in die Augen, sah auf seine Lippen, die sich bewegten, und verstand nichts, sondern freute mich nur, daß ich ihn sah und seine Stimme hörte.

»Nun, was habe ich also erzählt? Wiederhol's einmal!« sagte er. Ich konnte es natürlich nicht wiederholen und fand es überaus drollig, daß er mit mir nicht von sich selbst und von mir sprach, sondern von irgend etwas anderem, als wäre nicht alles, was außer uns existierte, höchst überflüssig und gleichgültig. Erst viel später begann ich seine Sorgen zu verstehen und sie zu teilen. Tatjana Semjonowna sahen wir erst beim Mittagessen, sie trank den Tee in ihrem Zimmer und ließ uns den Morgengruß durch ihre Sendboten entbieten. In unserer närrisch glücklichen kleinen Welt klang die Stimme aus ihrem würdevoll feierlichen Winkel so seltsam, daß ich oft nicht an mich halten konnte, sondern laut herausplatzte, wenn ihre Kammerfrau, die Hände übereinander legend, uns in gemessenem Tone eröffnete, Tatjana Semjonowna lasse fragen, ob wir nach dem gestrigen Spaziergange geschlafen hätten, und lasse uns mitteilen, sie habe während der ganzen Nacht Stiche in der Seite gehabt, auch habe irgendein dummer Hund im Dorfe in einem fort gebellt und sie im Schlaf behindert. Sie lasse ferner fragen, wie uns diesmal das Frühstücksgebäck geschmeckt habe, das, wie sie uns sagen lasse, nicht von dem Hausbäcker Taras, sondern zum erstenmal probeweise von Nikolascha gebacken sei, der bis auf die etwas zu scharf geratenen Zwiebäcke seine Sache gut gemacht und namentlich mit den Brezeln Ehre eingelegt habe.

Bis zum Mittagessen war ich nur wenig in Gesellschaft meines Mannes. Ich spielte oder las für mich allein, während er schrieb oder wieder ausgehen mußte; beim Mittagessen jedoch, das um vier Uhr eingenommen wurde, fanden wir uns alle zusammen: wir trafen uns im Empfangszimmer, Mama kam aus ihrem Gemach herangeschwebt, und auch die zwei oder drei verarmten Edelfräulein, die stets im Hause lebten, fanden sich ein. Jeden Tag führte mein Mann nach alter Gewohnheit die Mama zu Tische, doch bestand sie darauf, daß er mir den andern Arm reiche, und dann gab es jedesmal ein Pressen und Drängen in der Tür. Bei Tisch führte natürlich Mama den Vorsitz, und die Unterhaltung hatte einen höchst anständigen, gesetzten, ein wenig feierlichen Anstrich, der durch die mehr zwanglosen Gespräche zwischen mir und meinem Manne in angenehmer Weise gemildert wurde. Zwischen der Mutter und dem Sohne fanden bisweilen kleine Plänkeleien und Neckereien statt, die ich gern hatte, da die zärtliche, starke Liebe, die zwischen beiden bestand, dabei besonders deutlich zutage trat. Nach dem Mittagessen setzte sich Mama in den großen Sessel im Empfangszimmer und rieb Tabak oder schnitt die neu eingegangenen Bücher auf, während wir entweder irgend etwas laut lasen oder ins Diwanzimmer gingen, um auf dem alten Klavier zu musizieren.

Wir lasen in dieser Zeit viel zusammen, den liebsten und schönsten Genuß jedoch gab uns die Musik, die immer neue Saiten in unseren Seelen anschlug und dazu beitrug, daß wir einander von immer neuen Seiten kennen lernten. Wenn ich seine Lieblingsstücke spielte, setzte er sich auf einen entfernten Diwan, wo ich ihn fast gar nicht sehen konnte, und in natürlichem Zartgefühl bemühte er sich, den Eindruck, den die Musik auf ihn machte, vor mir zu verbergen; oft jedoch, wenn er es am wenigsten erwartete, stand ich vom Klavier auf, trat rasch zu ihm hin und konnte dann noch die Spuren der Erregung in seinem Gesichte, den ungewohnten Glanz und den feuchten Schimmer seiner Augen gewahren, die er vergeblich von mir abzuwenden suchte. Mama verspürte häufig Lust, sich im Diwanzimmer nach uns umzusehen, doch fürchtete sie wohl, uns lästig zu fallen, und schritt nur so gelegentlich mit erzwungen gleichgültiger Miene hindurch, als ginge sie nach ihrem Zimmer; ich wußte indes, daß sie dort nichts weiter zu tun hatte, und daß sie auch gleich wieder zurückkommen würde. Des Abends servierte ich den Tee im großen Salon, wo sich dann wieder alle Hausgenossen zusammenfanden. Diese feierlichen Sitzungen vor dem spiegelblanken Samowar nebst der Verteilung der Gläser und Tassen setzten mich lange Zeit in Verwirrung. Es schien mir immer, als sei ich dieser Ehre noch nicht recht würdig, als sei ich noch zu jung und zu leichtfertig, um den Hahn eines so gewaltigen Samowars zu öffnen, um die Gläser dem Diener Nikita auf das Teebrett zu stellen und dabei zu sagen: »Für Peter Iwanowitsch, für Maria Minitschna«, um zu fragen: »Ist es auch süß genug?« und für die alte Kinderfrau und die sonst bevorzugten Domestiken die erforderlichen Zuckerstückchen zurückzulegen.

»Sehr gut, ausgezeichnet!« sagte häufig mein Mann – »ganz wie eine Erwachsene!« Und das steigerte noch meine Verlegenheit.

Nach dem Tee legte Mama Patience oder ließ sich von Maria Minitschna die Karten legen; dann küßte und bekreuzte sie uns beide, und wir begaben uns nach unseren Zimmern. Zumeist jedoch saßen wir zu zweien noch bis nach Mitternacht auf, und dies war unsere schönste und köstlichste Zeit. Er erzählte mir von seiner Vergangenheit, wir machten Pläne, philosophierten zuweilen und suchten dabei so leise wie möglich zu sprechen, damit man uns oben nicht hörte und etwa gar Tatjana Semjonowna Meldung machte, die darauf bestand, daß wir zeitig schlafen gingen. Mitunter bekamen wir noch einmal Hunger, schlichen uns leise nach dem Büfett, bekamen durch Nikitas Protektion einen kalten Imbiß und verzehrten ihn beim Schein einer einzigen Kerze in meinem Zimmer. Wir lebten beide wie Fremde in diesem großen alten Hause, über dem der gestrenge Geist der alten Zeit und Tatjana Semjonownas waltete. Nicht nur ihre Person, sondern auch die Dienerschaft, die adeligen alten Jungfern, die Möbel, die Gemälde flößten mir Ehrfurcht ein, einige wohl auch Furcht und das geheime Bewußtsein, daß wir beide hier doch nicht ganz an unserem Platze seien und gar vorsichtig und rücksichtsvoll auftreten müßten. Wenn ich mich jetzt all dieser Dinge erinnere, sage ich mir wohl, daß vieles, namentlich diese einzwängende, unabänderliche Hausordnung und diese Unmenge von müßigen, neugierigen Leuten im Hause etwas Bedrückendes und Unbehagliches hatte; damals jedoch erhöhte und belebte gerade dieser äußerliche Zwang unsere gegenseitige Liebe. Keins von beiden ließ merken, daß ihm an diesem Zustande irgend etwas mißfalle. Mein Mann ging darin so weit, daß er diesen Dingen, selbst wo sie gar zu aufdringlich wurden, lieber aus dem Wege ging, statt sich gegen sie aufzulehnen. Täglich nach dem Mittagessen pflegte zum Beispiel Mamas Lakai, Dmitrij Sidorow, der gern eine gute Pfeife Tabak rauchte, nach dem Kabinett meines Mannes zu gehen, um sich dort aus dem Tabakkasten mit dem nötigen Tabak zu versehen; wir beobachteten ihn vom Diwanzimmer aus, und man muß es gesehen haben, wie mein Mann, eine komisch ängstliche Miene aufsetzend, auf den Zehen zu mir kam und blinzelnd auf Dmitrij Sidorow zeigte, der keine Ahnung davon hatte, daß wir ihn sahen. Und wenn dann der Lakai, ohne uns bemerkt zu haben, wieder zurückging, wußte mein Mann vor lauter Freude darüber, daß alles glücklich abgelaufen, nichts weiter zu tun, als, wie bei jeder andern Gelegenheit, mich »sein prächtiges Weibchen« zu nennen und mich zu küssen. Bisweilen aber mißfiel mir doch diese Ruhe, diese allzugroße Nachsicht und Gleichgültigkeit gegen alles, und ohne zu merken, daß ich in dieser Hinsicht eigentlich ganz ebenso war wie er, betrachtete ich im stillen doch sein Verhalten als Schwäche. »Ganz wie ein unmündiges Kind, das seinen Willen nicht zu äußern wagt!« dachte ich für mich.

»Ach, meine Liebe,« antwortete er mir, als ich ihm einmal sagte, daß ich mich über seine Schwäche wundere – »darf man denn mit irgend etwas unzufrieden sein, wenn man so glücklich ist wie ich? Es ist weit leichter, selbst nachzugeben, als andere zum Nachgeben zwingen zu wollen, das ist längst meine Überzeugung; es gibt einfach keine Lage im Leben, in der der Mensch nicht glücklich zu sein vermöchte. Uns ist doch so wohl zumute! Ich kann einfach nicht böse werden: es gibt jetzt für mich nichts Böses, es gibt nur noch Dinge, die ich bedaure, oder über die ich lache. Mein Grundsatz ist: das Bessere ist der Feind des Guten. Glaubst du wohl, daß, wenn die Klingel geht, wenn ein Brief kommt, oder selbst wenn ich erwache, mir angst und bange wird, es könnte etwas eintreten, das an unserem jetzigen Leben etwas ändert? Denn besser als jetzt kann es doch niemals werden!«

Ich glaubte ihm, verstand ihn jedoch nicht ganz: auch mir war ja sehr wohl zumute, doch schien es mir, daß es so und nicht anders sein müsse, daß es auch mit andern Menschen so sei wie mit uns, und daß es dort, irgendwo, noch eine andere Art von Glück gebe, das zwar nicht besser sei als das unsrige, aber doch eben »anders«.

So waren die zwei Monate hingegangen; der Winter kam mit seinen Frösten und Schneestürmen, und obschon mein Mann stets bei mir war, begann ich mich doch vereinsamt zu fühlen – begann ich zu fühlen, daß das Leben sich wiederholte, daß weder in mir noch in ihm irgend etwas Neues zutage trat, daß wir vielmehr immer wieder zum alten Ausgangspunkt zurückkehrten. Er begann sich wieder mehr als früher mit der Wirtschaft zu befassen, ohne mich in seine Sorgen einzuweihen, und es schien mir wieder, daß in seiner Seele eine besondere Welt existiere, in die er mich keinen Blick tun ließ. Seine beständige Ruhe reizte mich. Ich liebte ihn nicht weniger als früher und fühlte mich durch seine Liebe noch ebenso beglückt wie im Anfang; aber meine Liebe war gleichsam stehen geblieben und wuchs nicht weiter, und neben der Liebe begann sich ein neues Gefühl der Unruhe in meine Seele einzuschleichen. Es war mir nicht mehr genug, ihn nur so weiterzulieben, nachdem ich das Glück gekostet hatte, das darin lag, ihn liebzugewinnen. Ich verlangte Bewegung und nicht dieses ruhige Dahinfließen des Lebens. Ich sehnte mich nach Aufregung, nach Gefahren, nach Opfern, die ich meinem Gefühl zuliebe bringen könnte. In mir schlummerte ein Überfluß an Kraft, der in unserem ruhigen Dasein keine Betätigung fand. Anwandlungen von Schwermut kamen über mich, die ich, weil ich sie für etwas Unrechtes hielt, ihm zu verheimlichen suchte, und dann folgten wieder Ausbrüche von Zärtlichkeit und Ausgelassenheit, die ihn erschreckten. Er hatte diesen Wandel meiner Stimmung noch eher bemerkt als ich selbst und mir vorgeschlagen, wir sollten für den Winter nach der Stadt ziehen; doch ich hatte ihn gebeten, davon abzusehen und nichts an unserer Lebensweise zu ändern, nicht unser Glück zu stören. Ich war in der Tat ja auch glücklich, doch mich quälte der Umstand, daß dieses Glück mich so gar keine Mühe, gar kein Opfer kostete, während der Drang nach Opfern und Mühen mich erfüllte. Ich liebte ihn, und ich sah, daß ich ihm alles war; ich wollte jedoch, daß alle Welt unsere Liebe sehen, daß man mich hindern sollte, ihn zu lieben, und daß ich Gelegenheit fände, zu zeigen, daß ich trotz alledem ihn liebte. Mein Verstand und mein Gefühl war wohl vollauf in Anspruch genommen durch die Liebe zu ihm, doch regte sich in meinem Herzen noch eine andere Empfindung: das Bewußtsein der Jugend, das Bedürfnis nach Bewegung, die beide in unserem stillen Dasein keine Befriedigung fanden. Warum hatte er mir gesagt, daß wir, sobald ich es wünschte, in die Stadt ziehen würden? Hätte er dies nicht gesagt, dann hätte ich vielleicht begriffen, daß das Gefühl, das mich bedrückte, nichts weiter als törichte Einbildung und sogar etwas Sündhaftes sei, und daß, wenn ich mich nach Opfern sehnte, ich ja die beste Gelegenheit dazu hatte: ich brauchte eben nur diese tadelnswerten Regungen meiner Seele zu unterdrücken. Der Gedanke, daß ich mich vielleicht meiner Schwermut entledigen könnte, wenn wir in die Stadt zögen, kam mir unwillkürlich immer wieder in den Sinn.

Andrerseits scheute ich mich doch, ihn von allem, was er liebte, um meinetwillen loszureißen.

Die Zeit ging hin, höher und höher stieg der Schnee rings um unser Haus, und wir blieben allein und immer wieder allein miteinander, sahen uns täglich und stündlich in derselben Gestalt; dort aber, irgendwo im Glanz und Geräusch, tummelten sich, litten und jubelten Scharen von Menschen, ohne an uns und unser still dahinfließendes Dasein zu denken. Am schlimmsten für mich war, daß ich fühlte, wie mehr und mehr all die kleinen Gewohnheiten des Tages unser Leben in eine bestimmte Form preßten, wie unser Gefühl, statt sich frei auszuleben, sich immer enger dem einförmigen, leidenschaftslosen Gange der Zeit anpassen mußte. Früh am Morgen waren wir heiter, beim Mittagessen ernst und ehrbar, am Abend zärtlich.

»Gutes tun ...« sagte ich mir im stillen – »gewiß ist es schön, wenn man Gutes tut und ehrenhaft lebt, wie er immer sagt; doch dazu werden wir noch Zeit haben – es gibt aber etwas anderes, wozu ich nur jetzt die Kraft in mir fühlte.« Nicht das war es, wessen ich bedurfte – Kampf war es, was ich brauchte. Das Gefühl sollte zum Meister des Lebens werden, nicht umgekehrt das Leben dem Gefühle Zwang antun. Ich wollte mit ihm gemeinsam an den Rand des Abgrunds treten und sagen: noch ein Schritt, und ich stürze hinein, noch eine Bewegung, und ich bin verloren – und dann, so wollte ich's, sollte er dort am Rande des Abgrunds erbleichen, sollte mich in seine starken Arme nehmen, mich über die Tiefe halten, daß das Herz mir vor Schreck erstarrte, und sollte mich forttragen, wohin er wollte.

Dieser Zustand beeinflußte sogar meine Gesundheit, und meine Nerven begannen darunter zu leiden. Eines Morgens – ich fühlte mich noch schlechter als sonst – kehrte er in übler Stimmung aus dem Gutskontor zurück, was nur selten bei ihm vorkam. Ich bemerkte es sogleich und fragte ihn, was ihm fehle; er wollte es mir nicht sagen und meinte, es lohne nicht der Mühe. Wie ich später erfuhr, hatte er Ärger mit dem Bezirkschef, der ihm nicht wohlwollte und seine Bauern unter Drohungen zu einem ungesetzlichen Verhalten hatte verleiten wollen. Mein Mann hatte das alles noch nicht soweit verwunden, daß es ihm »kläglich und lächerlich« erschien, er war infolgedessen gereizt und wollte nicht mit mir sprechen. Ich war jedoch der Meinung, er wolle nur darum nicht mit mir sprechen, weil er mich für ein Kind hielt, das nicht begriff, was ihn beschäftigte. Ich wandte mich schweigend von ihm ab und ließ Maria Minitschna, die gerade bei uns zu Gaste war, zum Frühstückstee bitten. Ich beeilte mich mit dem Tee und ging dann mit Maria Minitschna in das Diwanzimmer, wo ich mich in eine laut geführte Unterhaltung über irgendwelche nebensächlichen Dinge einließ, die mir vollkommen gleichgültig waren. Er ging im Zimmer auf und ab und warf zuweilen einen Blick nach uns hinüber. Diese Blicke übten jetzt nur die eine Wirkung auf mich aus, daß ich immer gesprächiger wurde und sogar Lust zum Lachen bekam; alles, was ich selbst sagte, und was Maria Minitschna sprach, kam mir höchst lächerlich vor. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, ging er in sein Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Als ich nun nicht mehr seinen Schritt vernahm, war meine ganze Lustigkeit plötzlich verschwunden, so daß Maria Minitschna mich ganz verwundert fragte, was mir fehle. Ich antwortete ihr nicht, sondern saß, dem Weinen nahe, auf dem Diwan.

»Was fällt ihm eigentlich ein?« dachte ich. »Irgendein alberner Vorfall, der ihm wichtig scheint, hat ihn erregt – er sollte mir ihn doch erzählen, ich würde ihm schon beweisen, wie albern und nichtig er ist! Doch nein, er muß durchaus glauben, daß ich kein Verständnis dafür habe, muß mich durch seine erhabene Ruhe verletzen und mir gegenüber immer Recht behalten. Und dabei habe doch auch ich mein Recht – ich brauche nicht in öder Langerweile zu ersticken, während ich mich nach lebendiger Bewegung, nach Kampf und Tätigkeit sehne,« dachte ich – »ich brauche nicht auf einem Punkte stillzustehen und zu fühlen, wie die Zeit über mich hinweggeht. Ich will vorwärtsschreiten, will jeden Tag, jede Stunde etwas Neues, er aber will stillstehen und auch mich zum Stillstehen zwingen. Und wie leicht könnte er doch meinen Wunsch erfüllen! Er brauchte mich darum nicht erst nach der Stadt zu bringen, brauchte nur so zu sein wie ich und, statt sich zu verstellen und sich Zwang anzutun, die Dinge einfach zu nehmen, wie sie sind. Mir kann er wohl raten, es so und nicht anders zu machen, er selbst aber ist durchaus nicht der einfache, aufrichtige Mensch, der er sein sollte. Das ist's!«

Ich fühlte, daß die Tränen mir die Kehle zuschnürten, und daß ich über ihn aufgebracht war. Ich erschrak, als ich mich bei diesem Gefühl ertappte, und ging zu ihm hinein. Er saß in seinem Kabinett und schrieb. Als er meine Schritte hörte, wandte er sich für einen Augenblick ruhig und gleichgültig um und fuhr dann fort zu schreiben. Sein Blick hatte mir mißfallen; statt zu ihm zu gehen, trat ich an den Tisch, an dem er schrieb, schlug ein Buch auf und blätterte darin. Er blickte noch einmal vom Papier auf und sah mich an.

»Du bist nicht bei Laune, Mascha?« sagte er.

Ich antwortete ihm mit einem kühlen Blick, der ihm sagen sollte: »Was soll das? Warum fragst du erst?«

Er schüttelte den Kopf, und ein zärtliches, schüchternes Lächeln erschien auf seinem Gesichte, doch kein Lächeln in meinen Zügen gab ihm Antwort.

»Was hattest du heute?« fragte ich. »Warum hast du es mir nicht erzählen wollen?«

»Eine Lappalie, eine kleine Unannehmlichkeit,« antwortete er. »Jetzt kann ich dir's ja erzählen. Zwei Bauern sind in die Stadt abgeführt worden ...«

Ich ließ ihn jedoch nicht ausreden.

»Warum hast du es mir nicht gleich erzählt, als ich dich beim Tee danach fragte?«

»Ich würde dir da nur irgendeinen Unsinn erzählt haben – ich war noch in ärgerlicher Stimmung.«

»Und gerade da hättest du es mir sagen sollen.«

»Weshalb?«

»Du scheinst zu glauben, daß ich nicht imstande bin, dir in diesen Dingen zu helfen?«

»Wie denn?« sagte er und warf die Feder hin. »Ich bin im Gegenteil der Ansicht, daß ich ohne dich nicht leben kann. Du bist mir in allem eine Helferin, ja du bist es sogar, die alles vollbringt! Was redest du nur!« sprach er lachend. »Ich lebe ja einzig durch dich, und wenn hier alles gut und schön ist, so ist's nur, weil du da bist, weil ich dich habe ...«

»Ja, ich weiß das, ich bin ein liebes Kindchen, das man beruhigen muß!« sprach ich in einem Tone, der ihn ganz erstaunt aufblicken ließ, als vernähme er zum erstenmal diesen Klang meiner Stimme. »Ich will diese Ruhe nicht, will nichts von ihr wissen – deine Ruhe reicht schon vollkommen aus, ja mehr als das!« fügte ich hinzu.

»Nun, dann höre, um was es sich handelt,« unterbrach er mich hastig, offenbar in der Absicht, meiner Rede Einhalt zu tun. »Ich will's dir erzählen, will hören, wie du darüber denkst ...«

»Jetzt will ich's aber nicht hören!« antwortete ich, der Wahrheit entgegen, denn ich wollte es wirklich hören, aber es machte mir in diesem Augenblick Vergnügen, ihn aus seiner Ruhe aufzurütteln. »Ich will nicht mit dem Leben spielen, sondern wirklich leben,« sagte ich, »so wie du!«

Auf seinem Gesichte, das alle Eindrücke so rasch und lebhaft widerspiegelte, erschien ein Ausdruck des Schmerzes und gespannter Aufmerksamkeit.

»Ich will neben dir als Gleichberechtigte leben ...«

Ich konnte jedoch nicht ausreden: ein so tiefer, herber Schmerz malte sich in seinen Zügen. Er schwieg ein Weilchen.

»Ja – ist denn das nicht der Fall? Worin bist du denn nicht gleichberechtigt mit mir?« fragte er. »Darin vielleicht, daß du dich nicht ebenso wie ich mit dem Bezirkschef und mit betrunkenen Bauern herumzuplacken brauchst? ...«

»Das ist's nicht allein ...« sagte ich.

»So versteh mich doch nur richtig, meine Liebe,« fuhr er fort – »ich bitte dich um Gottes willen darum! Ich weiß, daß Sorgen und Unruhe das menschliche Leben verbittern, ich habe gelebt und das kennengelernt. Ich liebe dich und muß darum wünschen, dich von allen diesen Beunruhigungen zu bewahren. Mein Leben geht ganz in der Liebe zu dir auf, erschwere mir also das Leben nicht ...«

»Du hast ja immer recht!« sagte ich, ohne ihn anzusehen.

Ich ärgerte mich darüber, daß in seiner Seele schon wieder alles klar und ruhig war, während in meinem Innern noch der Ärger tobte und daneben ein anderes, der Reue verwandtes Gefühl sich geltend machte.

»Was ist nur mit dir, Mascha?« sagte er. »Es handelt sich nicht darum, ob das Recht auf meiner oder auf deiner Seite ist – es handelt sich um etwas anderes: was hast du gegen mich? Sprich jetzt nicht gleich, sondern überlege, und sage mir dann alles, was du denkst. Du bist mit mir unzufrieden, und du wirst sicherlich ein Recht dazu haben, doch laß mich wenigstens wissen, worin meine Schuld besteht!«

Ich sollte ihm meine Seele also ganz enthüllen – wie konnte ich das? Daß er mich so rasch durchschaut hatte, daß ich wieder das Kind für ihn war, daß ich nichts tun konnte, was er nicht begriffen und vorausgesehen hätte – alles dies erregte mich nur noch mehr.

»Ich habe durchaus nichts gegen dich,« sagte ich. »Ich langweile mich einfach, und ich möchte, daß ich mich nicht langweile. Aber du sagst, es müsse so sein, du hast eben wieder recht.«

Ich sah ihn nach diesen Worten an und konnte feststellen, daß ich meinen Zweck erreicht hatte: seine Ruhe war verschwunden, Furcht und Schmerz prägte sich auf seinem Gesicht aus.

»Mascha,« begann er mit leiser, erregter Stimme – »was wir jetzt treiben, ist kein Scherz: unser Schicksal entscheidet sich jetzt. Ich bitte dich, mir nicht zu antworten, sondern mich anzuhören. Warum willst du mich denn quälen?«

Ich fiel ihm rasch ins Wort:

»Ich weiß ja, du wirst wieder recht haben. Sage nichts mehr – du hast recht!« sprach ich kühl, als ob nicht ich selbst, sondern irgendein böser Geist aus mir redete.

»Wenn du wüßtest, was du tust!« sprach er mit zitternder Stimme.

Ich brach in Tränen aus, und da wurde mir leichter ums Herz. Er saß neben mir und schwieg. Er tat mir leid, und ich schämte mich und ärgerte mich über das, was ich getan. Ich sah ihn nicht an. Ich hatte die Empfindung, daß er mich in diesem Augenblick nur mit Strenge oder mit Bestürzung ansehen könne. Ich wandte mich um: sein Blick ruhte sanft und zärtlich, wie um Vergebung bittend, auf mir. Ich ergriff seine Hand und sagte:

»Verzeih mir ... ich weiß selbst nicht, was ich sprach.«

»Mag sein – aber ich weiß, was du sprachst, und du sprachst die Wahrheit.«

»Was denn?« fragte ich.

»Daß wir nach Petersburg ziehen müssen,« sagte er. »Hier haben wir jetzt nichts mehr zu tun.«

»Wie du willst,« sagte ich.

Er umarmte und küßte mich.

»Du bist es, die zu verzeihen hat,« sagte er. »Ich bin dir gegenüber im Unrecht.«

An diesem Abend spielte ich ihm lange vor, und er ging im Zimmer auf und ab und flüsterte irgend etwas vor sich hin. Er hatte diese eigentümliche Gewohnheit, vor sich hinzuflüstern, und ich hatte ihn öfters gefragt, was er denn da flüstere. Er pflegte dann einen Augenblick nachzudenken und mir zu wiederholen, was er geflüstert hatte: es waren zumeist Verse, zuweilen jedoch nur ganz törichtes, wirres Zeug, das mich indes seine Gemütsstimmung erkennen ließ. Als ich ihn diesmal fragte, blieb er stehen, dachte einen Augenblick nach und zitierte dann zwei Verse von Lermontow:

»Und er, der Tolle, träumt von Stürmen,
Als wenn im Sturm der Friede sei ...«

»Er ist mehr als ein Mensch – er weiß alles!« dachte ich – »wie soll man ihn nicht lieben?«

Ich erhob mich, faßte seine Hand und begann, möglichst mit ihm Schritt haltend, gleichfalls im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Nun?« fragte er lächelnd und sah mich an.

»Nun ...« wiederholte ich leise, und eine heitere Stimmung kam über uns beide, unsere Augen lachten, und wir schritten immer und immer wieder durchs Zimmer, zuletzt ganz leise und auf den Fußspitzen. So schritten wir, zum höchsten Verdruß Grigorijs und zum Erstaunen Mamas, die im Empfangszimmer Patience legte, durch alle Zimmer bis nach dem Speisesaal, wo wir halt machten, uns gegenseitig anschauten und in ein lautes Lachen ausbrachen.


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