Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3.

Eines Tages, zur Zeit der Roggenernte, war ich mit Katja und Sonja nach dem Mittagessen in den Garten gegangen. Wir hatten uns auf unsere Lieblingsbank gesetzt, im Schatten der Linden nahe der Schlucht, über die sich ein freier Ausblick auf die Wälder und Fluren vor uns öffnete. Sergjej Michajlowitsch war schon drei Tage nicht bei uns gewesen, und wir erwarteten ihn an jenem Nachmittage ganz bestimmt, zumal unser Verwalter gesagt hatte, daß er versprochen habe, aufs Feld zu kommen. In der zweiten Nachmittagsstunde sahen wir denn auch, wie er auf das Roggenfeld geritten kam. Katja ließ Pfirsiche und Kirschen kommen, die er sehr gern aß, sah mich dabei lächelnd an, streckte sich auf die Bank und schlummerte ein. Ich brach einen krummen, flachen Lindenzweig mit saftigen Blättern und saftiger Rinde, die mir die Hand netzte, vom Baume ab, fächelte Katja damit und fuhr fort zu lesen, wandte jedoch immer wieder die Augen vom Buche weg und blickte nach dem Feldweg, auf dem er kommen mußte. Sonja baute zwischen den Wurzeln einer alten Linde eine Laube für ihre Puppen. Der Tag war heiß und windstill, es war schwül, die Wolken ballten sich zusammen und wurden immer dunkler. Am Morgen schon hatte ein Gewitter gedroht, und ich war sehr aufgeregt gewesen, wie stets vor einem Gewitter. Am Nachmittag hatte jedoch das Gewölk sich wieder nach dem Horizont hin verzogen, die Sonne war am klaren Himmel emporgestiegen, und nur aus einer Richtung tönte zuweilen ein dumpfes Rollen, während über die finstere Wolke am Horizont, die mit dem von den Feldern aufsteigenden Staube zu verschmelzen schien, von Zeit zu Zeit blasses Wetterleuchten im Zickzack niederzuckte. Es war sicher, daß, für uns wenigstens, an diesem Tage ein Gewitter nicht zu erwarten war. Auf dem Wege, der stellenweise jenseits des Gartens sichtbar war, fuhren unaufhörlich hoch mit Garben beladene Wagen langsam und knarrend daher, während die leeren Wagen, auf denen die Fuhrleute in ihren flatternden Hemden standen, ihnen in rasselndem Tempo entgegenfuhren. Der dichte, hoch aufgewirbelte Staub ward weder vom Winde fortgetragen, noch sank er zur Erde herab, sondern schwebte hinter der Hecke zwischen dem durchsichtigen Laub der Gartenbäume in der Luft. Weiterhin, vor der Scheune, ertönten dieselben Stimmen, dasselbe Knarren der Räder, und dieselben gelben Garben, die vorhin langsam am Zaune vorübergeschwebt waren, flogen dort hoch durch die Luft. Vor meinen Augen wuchsen runde Häuser empor, spitze Dächer formten sich über ihnen, und die Gestalten der Bauern wimmelten rings um sie. Weiter vorn auf dem staubigen Felde bewegten sich gleichfalls Wagen, sah man gleichfalls gelbe Garben, ertönten gleichfalls menschliche Stimmen, vermischt mit fröhlichen Liedern und dem Knarren der Wagen. Auf der einen Seite wurde das Erntefeld immer leerer und leerer, deutlich sah man die Streifen der mit Beifuß bewachsenen Raine. Rechts, weiter unten, erblickte man auf dem struppigen Stoppelfeld die grellen Kleider der Bäuerinnen, die, rasch die Arme bewegend und sich vorbeugend, das gemähte Korn in Garben banden und zu Mandeln zusammenstellten. Der Sommer vollzog gleichsam vor meinen Augen seinen Übergang zum Herbst. Staub und Hitze beherrschten alles, mit Ausnahme unseres Lieblingsplätzchens im Garten. Und in diesem Staube, dieser Hitze, mitten im heißen Sonnenbrande, tummelte sich plaudernd und lärmend überall das fleißige Volk der Bauern.

Auf unserer kühlen Bank aber schlief Katja leise schnarchend so süß unter ihrem weißen Batisttuch, und die schwarzen Kirschen glänzten so appetitlich auf dem Teller, und unsere Kleider waren so frisch und rein, und das Wasser in der Karaffe schimmerte so farbenprächtig in den sich brechenden Sonnenstrahlen, und mir selbst war so wohl, so wohl zumute. »Was soll ich tun?« dachte ich – »bin ich schuld daran, daß ich glücklich bin? Doch mit wem soll ich mein Glück teilen? Wem soll ich mich selbst und all mein Glück widmen?«

Die Sonne war bereits hinter die Wipfel der Birkenallee gesunken, der Staub auf dem Felde senkte sich nach und nach, die Landschaft ward, zumal in der Ferne, in der seitlichen Beleuchtung klarer und heller, und die Wolken waren ganz verschwunden. Auf der offenen Tenne sah man hinter den Bäumen drei neue Getreideschober emporragen, von denen eben die Bauern hinunterkletterten; die Leiterwagen jagten unter lautem Geschrei, offenbar zum letztenmal, ins Feld. Die Bäuerinnen, mit den Harken auf den Schultern und den Strohseilen am Gurt, gingen laut singend nach Hause – Sergjej Michajlowitsch aber kam noch immer nicht, obwohl ich gesehen hatte, daß er schon längst die Anhöhe hinabgeritten war. Plötzlich wurde in der Allee, an einer Stelle, wo ich ihn am wenigsten erwartet hatte, seine Gestalt sichtbar – er war um die Schlucht herumgegangen. Mit frohem, strahlendem Gesichte kam er, den Hut in der Hand, raschen Schrittes auf mich zu. Als er sah, daß Katja schlief, biß er sich auf die Lippe, schloß die Augen und trat auf den Fußspitzen näher; ich sah sogleich, daß er sich in jener besonderen Stimmung natürlicher Lustigkeit befand, die ich so sehr an ihm liebte, und die wir als »himmelhoch jauchzend« bezeichneten. Er war dann wie ein Schuljunge, der seinem Lehrer entlaufen war; sein ganzes Wesen, vom Scheitel bis zur Sohle, atmete Zufriedenheit, Glück und kindliche Ausgelassenheit.

»Guten Tag, mein junges Veilchen! Wie geht es Ihnen – gut?« sprach er im Flüsterton, während er auf mich zutrat und mir die Hand reichte. »Mir geht es ausgezeichnet,« antwortete er, als ich mich meinerseits nach seinem Befinden erkundigte. »Ich fühle mich heute so munter und frisch, als wenn ich erst dreizehn Jahre zählte. Ich möchte Pferdchen spielen und auf die Bäume klettern.«

»Himmelhoch jauchzend also?« sagte ich, ihm in die lachenden Augen blickend, und ich fühlte, wie seine jauchzende Stimmung sich auch mir mitteilte.

»Ja,« antwortete er, während er mir mit dem einen Auge zublinzelte und sein Lachen zurückzuhalten suchte. »Aber warum schlagen Sie denn Katerina Karlowna immer auf die Nase?«

Ich hatte gar nicht bemerkt, daß ich, während ich ihn ansah und immer noch mit dem Lindenzweig weiterfächelte, das Tuch von Katjas Gesicht abgestreift hatte und ihr nun mit den Blättern über die Wangen fuhr. Ich mußte lachen.

»Sie wird sagen, sie habe nicht geschlafen,« fuhr ich flüsternd fort, als wollte ich Katjas Schlaf nicht stören; der wahre Grund jedoch, weshalb ich so ganz leise sprach, war, daß ich es angenehm empfand, so im Flüsterton mit ihm zu sprechen.

Er bewegte, mich nachahmend, die Lippen, als wollte er sagen, ich spreche schon gar zu leise, um noch verstanden zu werden. Als er den Teller mit den Kirschen erblickte, nahm er ihn mit dem Ausdruck der Heimlichkeit an sich, ging damit zu Sonja unter die Linde und setzte sich auf ihre Puppen. Sonja wurde anfangs böse, doch vertrug er sich bald wieder mit ihr, indem er ein Spiel arrangierte, das darauf hinauslief, daß sie beide um die Wette Kirschen aßen.

»Soll ich noch mehr Kirschen holen lassen – oder wollen Sie selbst welche pflücken?« fragte ich.

Er nahm den Teller und setzte die Puppen darauf, und dann gingen wir alle drei nach dem Kirschgarten. Sonja lief lachend hinter ihm her und zog ihn am Paletot, damit er ihr die Puppen zurückgäbe. Er gab sie ihr und wandte sich dann ernsthaft zu mir.

»Sie sind wirklich ganz wie ein Veilchen,« sagte er zu mir, immer noch leise, obschon er nicht mehr zu fürchten brauchte, daß er jemanden wecken könnte. »Als ich nach all dem Staub, all der Hitze und Arbeit mich Ihnen näherte, da war es mir, als käme mir ein Veilchenduft entgegen. Und zwar nicht der Duft des starkriechenden Gartenveilchens, wissen Sie ... sondern jener des ersten, ganz dunklen Veilchens, das nach tauendem Schnee und jungem Frühlingsgrün riecht.«

»Nun – und wie geht's in der Wirtschaft vorwärts? Alles flott im Gange?« fragte ich ihn, um die freudige Aufregung zu verbergen, in die seine Worte mich versetzt hatten.

»Ausgezeichnet! Diese Menschen sind vortrefflich. Je näher man sie kennenlernt, desto lieber werden sie einem.«

»Ja,« sagte ich – »eben noch, bevor Sie kamen, sah ich ihnen vom Garten aus bei der Arbeit zu, und ich fühlte plötzlich Gewissensbisse darüber, daß sie sich so abquälen müssen, während mir so wohl ist, daß ...«

»Kokettieren Sie mit diesen Gefühlen nicht, meine Liebe!« fiel er mir plötzlich ganz ernsthaft ins Wort, sah mir dabei jedoch freundlich in die Augen. »Das ist eine heilige Sache – Gott verhüte, daß Sie mit solchen Gedanken zu prahlen suchen!«

»Ich sage es auch nur Ihnen.«

»Nun ja, ich weiß das. Aber unsere Kirschen?«

Der Kirschgarten war verschlossen, und von den Gärtnern war keiner anwesend, sie waren alle zur Arbeit aufs Feld hinaus. Sonja lief, um den Schlüssel zu holen, doch er wartete nicht, bis sie zurückkäme, sondern kletterte hinauf, hob das über die Bäume gespannte Netz auf und sprang nach der andern Seite hinüber.

»Reichen Sie mir, bitte, den Teller,« erklang von drüben seine Stimme.

»Nein, ich möchte mit pflücken,« sagte ich – »ich will den Schlüssel holen, Sonja wird ihn nicht finden ...«

In diesem Augenblick verspürte ich die Lust, zu sehen, was er dort tun, wie er sich benehmen würde, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Es drängte mich förmlich, ihn jetzt nicht einen Augenblick aus den Augen zu lassen. Ich schlich auf den Zehen, der Brennesseln nicht achtend, nach der andern Seite, wo die Mauer niedriger war, stellte mich dort auf eine leere Tonne, daß mir die Mauer eben bis zur Brust reichte, und neigte mich vor. Ich überschaute das Innere des Kirschgartens mit seinen alten, ganz niedergebeugten Bäumen, an denen aus den breiten, am Rande gesägten Blättern die saftigen schwarzen Kirschen dicht und schwer hervorlugten. Ich schob den Kopf unter das Netz und erblickte Sergjej Michajlowitsch unter dem krummen Aste eines alten Kirschbaumes. Er war jedenfalls der Meinung, ich sei fortgegangen, und niemand könne ihn sehen. Er hatte den Hut abgenommen und die Augen geschlossen – und so saß er auf dem niedrigsten Astvorsprung des alten Kirschbaums und rollte bedächtig ein Stück Kirschharz zwischen seinen Fingern. Plötzlich zuckte er die Achseln, öffnete die Augen und sprach lächelnd irgendein Wort vor sich hin. So seltsam nahm sich dieses Wort und dieses Lächeln bei ihm aus, daß ich mich schämte, so dazustehen und ihn zu beobachten. Es war mir, als hätte dieses Wort »Mascha« gelautet. – »Nein, das kann nicht sein!« dachte ich. Doch noch einmal wiederholte er, zärtlicher noch und leiser: »Liebe Mascha!« Jetzt hatte ich die beiden Worte deutlich gehört. Mein Herz begann so heftig zu schlagen, und ich wurde so aufgeregt, und eine so jähe, gleichsam verbotene Freude ergriff mich plötzlich, daß ich mich mit beiden Händen an der Mauer festhalten mußte, um nicht herunterzufallen und ihm meine Anwesenheit zu verraten. Er hörte das Geräusch, das ich machte, wandte sich erschrocken um, senkte plötzlich die Augen und errötete über das ganze Gesicht wie ein Kind. Er wollte mir irgend etwas sagen, fand jedoch keine Worte und errötete nur immer und immer wieder. Er lächelte jedoch, als er mich jetzt ansah, und auch ich mußte lächeln. Sein ganzes Gesicht strahlte vor Freude. Das war nicht mehr der alte Onkel, der mich streichelte und mir gute Lehren gab, das war ein mir gleichstehender Mensch, der mich liebte und respektierte, und für den ich dasselbe empfand. Wir sprachen nicht und sahen einander nur an. Doch plötzlich zog ein Schatten über sein Gesicht, das Lächeln und der Glanz seiner Augen verschwand, und er wandte sich, als hätten wir eben etwas Böses getan, und als sei er schon wieder zur Besinnung gekommen und rate mir das gleiche, in väterlich kühlem Tone an mich.

»Steigen Sie lieber herunter, Sie könnten sich wehe tun,« sagte er. »Und bringen Sie Ihr Haar in Ordnung – wie sehen Sie denn aus?«

»Warum verstellt er sich? Warum will er mir wehtun?« dachte ich unwillig. Und plötzlich überkam mich der unwiderstehliche Wunsch, ihn nochmals in Verlegenheit zu setzen und meine Macht über ihn zu erproben.

»Nein, ich will auch Kirschen pflücken,« sagte ich, griff nach dem nächsten Aste und schwang mich auf die Mauer. Er hatte noch keine Zeit gefunden, mir behilflich zu sein, als ich bereits hinabgesprungen war und neben ihm stand.

»Was für Torheiten Sie doch aushecken!« sprach er, von neuem errötend, indem er seine Verwirrung dadurch zu verbergen suchte, daß er sich ärgerlich stellte. »Sie hätten sich doch verletzen können! Und wie wollen Sie von hier wieder hinauskommen?«

Er war noch verwirrter als zuvor, doch nun freute ich mich nicht mehr über seine Verwirrung, sondern erschrak über sie. Sie teilte sich mir mit, und ich fühlte, wie ich errötete. Ich wich seinem Blicke aus, und da ich nicht wußte, was ich sagen sollte, begann ich eifrig Kirschen zu pflücken, die ich jedoch nirgends hinzutun wußte. Ich machte mir Vorwürfe, ich empfand Reue und Angst, und es war mir, als müsse ich mich durch mein Benehmen in seinen Augen für immer kompromittiert haben. Wir schwiegen beide, und gar beklommen war uns beiden ums Herz. Da kam Sonja mit dem Schlüssel angelaufen und befreite uns aus dieser peinlichen Lage. Lange noch vermieden wir es, miteinander zu sprechen, und wandten uns beide an Sonja. Als wir zu Katja zurückkehrten, die uns versicherte, sie habe gar nicht geschlafen und alles gehört, beruhigte ich mich wieder. Er versuchte von neuem, seinen gönnerhaft väterlichen Ton anzuschlagen, doch wollte es ihm nicht mehr damit gelingen, und ich ließ mich nicht täuschen.

Ich hatte noch recht lebhaft ein Gespräch in Erinnerung, das wenige Tage vorher zwischen uns stattgefunden hatte. Katja hatte behauptet, es sei für einen Mann leichter, zu lieben und seine Liebe zum Ausdruck zu bringen, als für eine Frau.

»Der Mann darf es sagen, daß er liebt, die Frau aber nicht,« hatte sie behauptet.

»Und ich bin der Ansicht, daß ein Mann es nicht sagen darf noch kann, daß er liebt,« war seine Antwort darauf.

»Warum denn nicht?« hatte ich gefragt.

»Weil es stets eine Lüge sein wird. Ist es denn eine so wichtige Entdeckung, daß ein Mensch liebt? Als ob er das nur zu sagen brauchte, damit irgendwo eine Klappe hochgeht: schwapp – er liebt! Als ob, sobald nur dieses Wort über seine Lippen kommt, etwas ganz Ungewöhnliches, irgendein Wunder geschehen, aus allen Kanonen Salut geschossen werden müßte. Ich bin der Meinung,« fuhr er fort, »daß Leute, die jene Worte: ›Ich liebe Sie‹ – so feierlich aussprechen, entweder sich selbst oder, was noch schlimmer ist, andere belügen.«

»Wie soll denn aber eine Frau erfahren, daß sie geliebt wird, wenn es ihr nicht gesagt wird?« sagte Katja.

»Das weiß ich nicht,« antwortete er. »Jeder Mensch hat da seine eigene Art zu reden. Ist wirklich ein Gefühl vorhanden, dann wird es schon irgendwie zum Ausdruck kommen. Wenn ich Romane lese, stelle ich mir immer vor, was für ein verblüfftes Gesicht solch ein Leutnant Strjelski oder solch ein Monsieur Alfred machen muß, wenn er sagt: ›Ich liebe dich, Eleonore!‹ – und wenn er dann meint, es würde plötzlich irgend etwas ganz Besonderes erfolgen, während doch in Wirklichkeit nichts geschieht, weder mit ihr noch mit ihm, und Augen und Nase und alles andere an ihnen ganz unverändert bleiben!«

Damals schon hatte ich das Gefühl gehabt, als berge sich hinter diesem Scherz ein ernsthafter Sinn, der auf mich Bezug habe, doch Katja litt es nicht, daß über Romanhelden so leichtfertig gesprochen würde, und meinte zu ihm:

»Sie müssen immer in Paradoxen reden! Sagen Sie einmal aufrichtig: haben Sie selbst nie zu einer Frau gesagt, daß Sie sie lieben?«

»Nein, niemals, und ich habe auch noch niemals vor einer Frau das Knie gebeugt,« antwortete er lächelnd. »Auch in Zukunft denke ich es nie zu tun.«

»Er braucht es mir auch gar nicht zu sagen, daß er mich liebt,« dachte ich jetzt, da ich mich dieses Gespräches erinnerte. »Er liebt mich, dessen bin ich sicher. Und alle seine Anstrengungen, gleichgültig zu erscheinen, können mir diese Überzeugung nicht nehmen.«

An diesem ganzen Abend sprach er nur wenig mit mir, aus jedem Worte jedoch, das er an Katja oder Sonja richtete, aus jeder Bewegung und jedem Blick erkannte ich seine Liebe und zweifelte nicht mehr an ihr. Ich war nur darüber unwillig und betrübt, daß er es noch für nötig hielt, mir sein Gefühl zu verheimlichen und Kälte zu heucheln, während doch alles schon so klar war und wir auf so einfache Art so unendlich glücklich hätten sein können. Doch peinigte mich immer wieder die Erinnerung daran, daß ich zu ihm in den Kirschgarten hinabgesprungen war, als hätte ich damit ein Verbrechen begangen. Ich konnte den Gedanken nicht los werden, als müsse er nun aufhören, mich zu achten und mir sogar zürnen.

Nach dem Tee ging ich ans Klavier, und er folgte mir.

»Ja, spielen Sie etwas: ich habe Sie schon lange nicht gehört,« sagte er, als er mich im Salon einholte.

»Ich wollte es eben tun ... Sergjej Michajlowitsch!« sagte ich und sah ihm plötzlich gerade in die Augen – »sind Sie mir böse?«

»Weshalb?« fragte er.

»Weil ich heute nachmittag nicht auf Sie gehört habe ...« sagte ich errötend.

Er verstand mich, schüttelte den Kopf und lächelte. Sein Blick schien mir sagen zu wollen, daß ich eigentlich wohl ein wenig Schelte verdient hätte, daß er jedoch nicht die Kraft besitze, mich zu schelten.

»Es ist also nichts weiter, nicht wahr, und wir sind wieder gute Freunde?« sagte ich, während ich mich ans Klavier setzte.

»Das sollt' ich doch meinen!« sagte er.

In dem großen, hohen Saale brannten nur zwei Kerzen auf dem Flügel, der übrige Raum lag im Halbdunkel. Durch das offene Fenster schaute die helle Sommernacht herein. Alles war still, nur Katjas Schritte ließen sich von Zeit zu Zeit im anstoßenden dunklen Zimmer vernehmen, und sein Pferd, das draußen vor dem Fenster angebunden stand, schnaubte zuweilen und trat mit den Hufen den dort wachsenden Lattich nieder. Er saß hinter mir, so daß ich ihn nicht sehen konnte; überall jedoch, im Halbdunkel dieses Zimmers, in den Tönen, in mir selbst, fühlte ich seine Gegenwart. Jeder seiner Blicke, jede Bewegung rührte gleichsam, obschon ich sie nicht sah, an meinem Herzen. Ich spielte die Phantasie-Sonate von Mozart, die er mir gebracht hatte, und die ich in seiner Gegenwart und für ihn eingeübt hatte. Ich dachte gar nicht an das, was ich spielte, doch glaubte ich gut zu spielen, und es schien, als wenn ihm mein Spiel gefalle. Ich empfand seine Freude mit, und ohne ihn zu sehen, fühlte ich doch, daß sein Blick auf mich gerichtet war. Während ich meine Finger unbewußt über die Tasten gleiten ließ, sah ich mich unwillkürlich nach ihm um. Sein Kopf hob sich vom Hintergrunde der hellen Sommernacht deutlich ab. Die Stirn auf die Hand gestützt, saß er da und sah mit den leuchtenden Augen unverwandt zu mir herüber. Ich lächelte, als ich seinen Blick bemerkte, und hörte auf zu spielen. Auch er lächelte und nickte mit dem Kopfe nach den Noten hin, als wollte er mir bedeuten, ich solle nur weiterspielen. Als ich zu Ende war, war der Mond hell leuchtend am Himmel emporgestiegen, und durch die Fenster drang, den schwachen Kerzenschein breit überflutend, ein zweites, silbernes Licht ins Zimmer.

Katja meinte, es sei unverzeihlich, daß ich gerade an der schönsten Stelle aufgehört hätte, und überhaupt sei mein Spiel schlecht gewesen; er aber sagte, ich hätte im Gegenteil nie so gut gespielt wie heute, und begann im Saal und in dem dunklen Empfangszimmer nebenan auf und ab zu gehen, wobei er jedesmal, wenn er an mir vorüberkam, mich ansah und lächelte. Und auch ich lächelte, ja ich hätte am liebsten ganz ohne alle Ursache laut aufgelacht – so glücklich war ich über alles das, was heute den ganzen Tag und auch in diesem Augenblick geschah. Sobald er im andern Zimmer verschwunden war, umarmte ich Katja, neben der ich am Flügel stand, und küßte sie auf das runde Kinn und den runden Hals, wohin ich sie immer am liebsten zu küssen pflegte; und wenn er dann wieder zu uns zurückkam, machte ich ein ernstes Gesicht und hielt mit Gewalt mein Lachen zurück.

»Was ist denn heute mit ihr?« sagte Katja zu ihm.

Er aber gab keine Antwort und sah mich nur lächelnd an. Er wußte, was mit mir »war«.

»Sehen Sie doch, diese herrliche Nacht!« rief er uns vom Empfangszimmer aus zu, während er in der nach dem Garten gehenden offenen Balkontür stand.

Wir gingen zu ihm hin, und in der Tat, es war eine Nacht, wie ich sie später niemals wieder gesehen habe. Der Vollmond stand hinter uns über dem Hause, so daß er nicht zu sehen war, und der halbe Schatten des Daches, der Säulen und der Markise über der Terrasse fiel schräg auf den sandbestreuten Gartenweg und den runden Rasenplatz. Alles andere ringsum war hell erleuchtet und von dem Silberglanze des Taues und des Mondlichts übergossen. Ein breiter, von Blumen eingefaßter Weg, auf den von der einen Seite her schräg die Schatten der an Stäbe gebundenen Georginen fielen, verlor sich wie ein schimmerndes, von kalten Kieseln gebildetes Band in der nebeligen Ferne. Hinter den Bäumen sah man das hell beschienene Dach der Orangerie, und von der Schlucht her stieg ein Nebel auf, der sich mehr und mehr verdichtete. Die schon ein wenig entlaubten Fliederbüsche waren bis auf die kleinsten Zweige erhellt. Deutlich ließen sich die einzelnen taufeuchten Blumen voneinander unterscheiden. In den Alleen flossen Schatten und Licht so ineinander, daß man in ihnen nicht mehr Bäume und Wege unterschied, sondern nur durchsichtige, hin und her schwankende, zitternde Häuser zu sehen meinte. Nach rechts hin, im Schatten des Hauses, war alles schwarz, unbestimmt, schaurig. Um so heller tauchte aus diesem Dunkel der seltsam phantastische Gipfel einer Pappel hervor, der in dem grellen Lichtmeer zu schweben und jeden Augenblick zum fernen, dunkelblauen Himmel entfliehen zu wollen schien.

»Kommen Sie, wir wollen ein wenig hinuntergehen,« sagte ich.

Katja war einverstanden, doch meinte sie, ich müsse dann Galoschen anziehen.

»Wozu denn, Katja?« versetzte ich. »Sergjej Michajlowitsch wird mir den Arm reichen.«

Als ob das irgend etwas damit zu tun gehabt hätte, daß ich trockene Füße behielt! In diesem Augenblick jedoch empfand keins von uns dreien den Widerspruch in meinen Worten. Er hatte mir noch niemals den Arm gereicht, jetzt aber nahm ich ihn selbst, und er fand das durchaus nicht sonderbar. Wir schritten zu dreien die Terrasse hinunter. Diese ganze Welt, dieser Himmel, dieser Garten, diese Luft waren nicht dieselben, die ich bisher gekannt hatte.

Als ich auf der Allee, auf der wir hinschritten, vorwärts schaute, war es mir, als ob man dort, in der Ferne, nicht weitergehen könne, als ob dort die Welt des Möglichen zu Ende sei, als ob alles dies so für immer in seiner Schönheit festgebannt bleiben müsse. Aber wir gingen weiter, und die Zauberwand der Schönheit teilte sich vor uns und ließ uns weiterschreiten, und nun war es mir, als ob auch dort, wie hier, nur unser alter, bekannter Garten mit seinen Bäumen und Wegen und seinem trockenen Laub sei. Und wir schritten auf den Wegen dahin und traten in die Licht- und Schattenkreise, und richtiges, trockenes Laub raschelte unter unseren Füßen, und ein frischer Zweig fuhr mir über das Gesicht. Und er war es wirklich, der da gleichmäßig und still neben mir herschritt und mich sorgsam am Arme führte, und auch die wirkliche Katja war es, die da mit den knarrenden Schuhen neben uns ging. Und das Licht dort oben am Himmel, das mußte wohl der Mond sein, der durch die regungslosen Zweige seinen hellen Schein auf uns niedersandte.

Doch bei jedem Schritt schloß sich hinter uns und vor uns wieder die Zauberwand, und ich verlor wieder den Glauben an alles das, was ich an Wirklichem ringsumher sah.

»Ach, ein Frosch!« rief Katja plötzlich.

»Wer rief da? Und warum ...« ging es mir durch den Kopf. Dann aber fiel es mir ein, daß es Katja sein müsse, die da rief, daß sie sich vor Fröschen fürchte, und ich blickte vor mich auf den Weg.

Ein kleiner Frosch machte gerade vor mir einen Satz und blieb dann still sitzen, und sein kleiner Schatten zeichnete sich deutlich auf dem hellen Lehm des Weges ab.

»Haben Sie auch Angst vor Fröschen?« fragte er mich.

Ich blickte ihn an. An der Stelle der Lindenallee, die wir soeben passierten, fehlte ein Baum in der Reihe, und ich konnte das Gesicht meines Begleiters ganz deutlich sehen. Es war so schön und so glücklich ...

»Haben Sie auch Angst ...?« hatte er gefragt, ich aber hörte aus seinen Worten nur heraus: »Ich liebe dich, mein teures Mädchen! Ich liebe, liebe dich!« Und sein Blick und der Druck seiner Hand bestätigten mir diese Worte; und das Licht, der Schatten, die Luft, und alles, alles bestätigte sie mir.

Wir durchwanderten den ganzen Garten. Katja ging immer mit ihren kleinen Schritten neben uns her und holte schwer Atem, so müde war sie. Sie meinte, es sei Zeit, daß wir zurückkehrten, und sie tat mir herzlich leid, die Ärmste. »Warum kann sie nicht ebenso empfinden wie wir?« dachte ich. »Warum sind nicht alle Menschen so jung und so glücklich, wie wir beide in dieser Nacht es sind?«

Wir kehrten in das Haus zurück, er aber nahm noch lange nicht Abschied von uns, obschon bereits die Hähne krähten, und alles im Hause schlief, und sein Pferd unter dem Fenster immer häufiger schnaubte und die Erde stampfte. Katja erinnerte uns nicht daran, daß es schon spät sei, und so saßen wir wohl bis gegen drei Uhr morgens beisammen und redeten von allen möglichen gleichgültigen Dingen, ohne zu merken, wie die Zeit verfloß. Die Hähne krähten bereits zum drittenmal, und der Morgen dämmerte schon, als er aufbrach. Er nahm ganz so wie sonst von uns Abschied und sagte nichts Besonderes; ich wußte jedoch, daß er vom heutigen Tage an mein war, und daß ich ihn nicht mehr verlieren würde.

Sobald ich mir ganz klar darüber war, daß ich ihn liebte, erzählte ich alles Katja. Sie war sehr erfreut und gerührt, aber sie konnte bei alledem in dieser Nacht doch schlafen, die Ärmste, während ich noch lange, lange auf der Terrasse auf und ab schritt, mir jedes seiner Worte, jede seiner Bewegungen ins Gedächtnis zurückrief und alle die Wege, auf denen ich an seinem Arme dahingeschritten war, noch einmal zurücklegte. Ich schloß in dieser ganzen Nacht kein Auge, und zum erstenmal in meinem Leben sah ich den Sonnenaufgang und den frühen Morgen. Niemals wieder habe ich später eine solche Nacht, einen solchen Morgen gesehen.

»Aber warum hat er mir nicht einfach gesagt, daß er mich liebt?« dachte ich. »Warum erfindet er alle möglichen Schwierigkeiten, will er durchaus ein Greis sein, während doch alles so einfach und schön ist? Warum verliert er die goldene Zeit, die vielleicht niemals wiederkommen wird? Er braucht doch nur zu sagen: ›Ich liebe dich,‹ braucht nur meine Hand zu ergreifen und seinen Kopf vorzuneigen und dies eine Wort auszusprechen: ›Ich liebe dich!‹ Er braucht nur errötend die Augen vor mir zu senken, und ich werde ihm dann alles, alles sagen. Oder nein, nichts werde ich ihm sagen – sondern umarmen werde ich ihn und mich an seine Brust schmiegen und in Tränen ausbrechen. Wie aber, wenn ich mich täusche, wenn er mich gar nicht liebt?« ging es mir plötzlich durch den Kopf.

Ich erschrak vor meinem eigenen Gefühl – Gott weiß, wohin es mich noch führen konnte – und es fiel mir ein, wie verwirrt wir beide waren, als ich dort im Kirschgarten plötzlich vor ihm von der Mauer hinabsprang, und es ward mir so bang, so bang zumute. Tränen traten mir in die Augen, und ich begann zu beten. Und ein seltsamer Gedanke kam mir plötzlich und senkte Ruhe und Hoffnung in mein Herz: ich beschloß, vom heutigen Tage an bis zu meinem Geburtstage zu fasten, an meinem Geburtstage das Abendmahl zu nehmen und an eben diesem Tage seine Braut zu werden.

Weshalb, wozu und auf welche Weise das geschehen sollte – darüber wußte ich nichts, doch glaubte und wußte ich von diesem Augenblick an, daß es geschehen würde.

Es war schon ganz hell geworden, und die Leute im Hofe erhoben sich bereits vom Schlaf, als ich in mein Zimmer zurückkehrte.


 << zurück weiter >>