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4.

Es waren die Fasttage vor Mariä Himmelfahrt, und so wunderte sich niemand weiter im Hause darüber, daß auch ich in dieser Zeit die Fasten einzuhalten wünschte.

Während dieser ganzen Woche besuchte uns Sergjej Michajlowitsch nicht ein einziges Mal, und ich empfand durchaus keine Unruhe, keinen Unwillen, keine Verwunderung darüber, ja ich war im Gegenteil froh, daß er nicht kam, und erwartete ihn erst wieder an meinem Geburtstage. Im Laufe dieser Woche stand ich täglich früh auf, und während für mich der Wagen angespannt wurde, ging ich allein im Garten spazieren, rief mir alle Sünden ins Gedächtnis zurück, die ich tags vorher begangen, und überlegte, wie ich es heute anzufangen hätte, um mit meinem Tagewerk zufrieden zu sein und jede Sünde zu vermeiden. Es erschien mir damals so leicht, ganz ohne Sünde zu sein – nur einiger Selbstzucht bedurfte es nach meiner Meinung, um dieses Ziel zu erreichen.

Der Wagen fuhr vor, und ich stieg mit Katja oder einem der Mädchen ein, um nach der drei Werst weit abliegenden Kirche zu fahren. Wenn ich die Kirche betrat, fiel es mir jedesmal ein, daß alle diejenigen, die in der rechten Furcht des Herrn die Kirche betreten hätten, vom Priester in sein Gebet eingeschlossen würden, und ich bemühte mich, wenn ich die beiden grasbewachsenen Stufen der Vorhalle betrat, eben diese Gottesfurcht in meinem Herzen zu haben. In der Kirche pflegten um jene Zeit höchstens ein Dutzend Menschen zu sein, Bäuerinnen oder Leute vom Hofgesinde, die sich durch den Kirchenbesuch zum Abendmahl vorbereiteten; ich bemühte mich, ihre Verbeugungen recht demütig zu erwidern, und ich trat, was mir als ein ganz besonderes Zeichen von Frömmigkeit erschien, selbst zu der Lade mit den Kerzen hin, um aus den Händen des alten Küsters, dem man den gedienten Soldaten ansah, einige Kerzen entgegenzunehmen und sie vor die heiligen Bilder zu stellen. Durch die Haupttür des Altarraums sah ich die Altardecke, die meine Mutter gestickt hatte, über dem Heiligenschrein schwebten zwei Engel mit Sternen, die mir dereinst, als ich noch ganz klein war, so ungeheuer groß erschienen waren, und über ihnen breitete die Taube mit dem goldenen Strahlenkranz ihre Flügel aus, die meine Phantasie damals so lebhaft beschäftigt hatte. Hinter dem Chorgitter sah ich das mit Beulen bedeckte kupferne Taufbecken, über dem ich so oft die Kinder unserer Hofleute gehalten hatte, und über dem auch ich selbst getauft worden war. Der alte Priester erschien, in einem Meßgewande, das aus einem Bahrtuche vom Sarge meines Vaters gefertigt war, und verrichtete den Gottesdienst mit derselben Stimme, die mir, soweit ich zurückdenken konnte, von den gottesdienstlichen Feiern in unserem Hause, der Taufe Sonjas, der Trauerandacht am Sarge meines Vaters, der Seelenmesse am Sarge der Mutter, bekannt war. Und vom Chor herab ertönte dieselbe zitternde Stimme des Diakons, und dieselbe alte Frau, die ich schon immer, bei jedem Gottesdienst, in der Kirche gesehen, stand tiefgebeugt an der Wand, schaute mit den tränenden Augen nach dem einen Heiligenbilde am Chor, hielt die gefalteten Hände an das verschossene Tuch, das sie trug, und murmelte mit dem zahnlosen Munde irgend etwas vor sich hin.

Und alles dies war mir nicht nur interessant, weil es für mich durch die Erinnerung geweiht war, sondern erschien mir jetzt wahrhaft groß und heilig und voll tiefer Bedeutung. Ich lauschte auf jedes einzelne Wort des Gebets, das der Priester sprach, ich suchte ihm in meiner Seele einen Widerhall zu geben, und wenn ich es nicht verstand, so bat ich in Gedanken Gott, meinen Sinn zu erleuchten, oder ich machte mir, an Stelle des nicht verstandenen Gebetes, mein eigenes Gebet zurecht. Wenn die Bußgebete gesprochen wurden, gedachte ich meiner Vergangenheit, und diese unschuldige, kindliche Vergangenheit erschien mir so schwarz und sündhaft im Vergleich mit dem jetzigen, erleuchteten Zustande meiner Seele, daß ich Tränen vergoß und über mich selbst erschrak; zugleich aber fühlte ich, daß alles dies Vergebung finden werde, und daß, wenn ich noch viel mehr Sünden begangen hätte, die Reue für mich nur um so süßer und köstlicher sein würde. Als der Priester zum Schluß des Gottesdienstes die Worte sprach: »Der Segen des Herrn ruhe auf euch« – da war mir, als hätte dieser Segen in mir ein unmittelbares körperliches Wohlbehagen erzeugt. Licht und Wärme schienen plötzlich in mein Herz eingeströmt zu sein.

Der Gottesdienst war zu Ende, und der Geistliche kam zu mir und fragte mich, ob er nicht die Nachtmesse bei uns im Hause abhalten solle, und wann wir diese Hausandacht wünschten. Doch ich dankte ihm ehrerbietig für diesen frommen Dienst, den er, wie ich glaubte, nur um meinetwillen verrichten wollte, und ich sagte, daß ich selbst, zu Fuß oder zu Wagen, zur Nachtmesse in die Kirche kommen würde.

»Sie wollen sich selbst herbemühen?« sagte er.

Und ich wußte nicht, was ich ihm antworten sollte, um nicht durch Hoffart zu sündigen.

Von der Kirche aus schickte ich, wenn nicht gerade Katja mitgekommen war, den Wagen gewöhnlich fort und kehrte allein zu Fuß nach Hause zurück. Unterwegs grüßte ich demütig alle, die mir begegneten, und nahm jede Gelegenheit wahr, zu helfen, zu raten, irgendein Opfer zu bringen, beim Anheben eines steckengebliebenen Wagens mit Hand anzulegen, ein weinendes Kind zu beruhigen, den andern den Weg freizugeben, und wenn ich dabei auch in den Schmutz treten mußte. Eines Abends hörte ich, wie der Verwalter in seinem Tagesbericht Katja Mitteilung davon machte, daß ein Bauer, Semjon mit Namen, um ein Brett zu einem Sarge für sein Töchterchen und um einen Rubel zur Bestreitung des Begräbnisses gebeten, und daß er, der Verwalter, ihm beides gegeben habe.

»Sind denn die Leute so arm?« fragte ich.

»Sehr arm, gnädiges Fräulein, kein bißchen Salz haben sie im Hause,« antwortete der Verwalter.

Es war mir, als ginge mir ein Stich durchs Herz, zugleich aber empfand ich eine freudige Rührung bei seinen Worten. Ich redete Katja vor, ich wolle spazieren gehen, eilte in mein Zimmer hinauf, nahm alles Geld, das ich besaß – es war nicht allzuviel – und ging, mich bekreuzend, allein die Terrasse hinab durch den Garten nach dem Dorfe, zu Semjons Häuschen. Es lag am Ende des Dorfes; von niemand gesehen, trat ich ans Fenster, legte das Geld auf das Fensterbrett und klopfte an die Scheibe. Eine Tür knarrte, irgend jemand trat heraus und rief mich an. Ich aber lief zitternd und frierend vor Schreck, wie eine Verbrecherin, nach Hause. Katja fragte mich, wo ich gewesen, und was denn mit mir sei, doch ich verstand ihre Worte nicht einmal und gab ihr keine Antwort. Alles erschien mir plötzlich so erbärmlich und nichtig. Ich schloß mich in meinem Zimmer ein und ging lange darin auf und ab, unfähig, irgend etwas zu tun oder zu denken oder mir von meinen Gefühlen Rechenschaft zu geben. Ich suchte mir die Freude auszumalen, die in Semjons Familie herrschen würde, suchte zu erraten, in welchen Ausdrücken sie den Spender der Gabe preisen würden, und ich bedauerte, daß ich es ihnen nicht selbst gegeben hatte. Ich dachte auch daran, was wohl Sergjej Michajlowitsch sagen würde, wenn er von meiner Tat erführe, und ich freute mich darüber, daß nie ein Mensch davon erfahren würde. Und eine solche Seligkeit erfüllte mich, und alle Menschen, ich selbst mit eingeschlossen, erschienen mir so gut, und ich sah mich selbst und alle andern in so mildem, warmem Lichte, daß selbst der Gedanke an den Tod, der in meiner Seele auftauchte, mir wie ein Glückstraum erschien. Ich lächelte, und ich betete, und ich weinte und liebte alle Menschen auf Erden, auch mich selbst, heiß und innig. Während des Gottesdienstes las ich das Evangelium, und immer verständlicher und klarer wurde mir dieses Buch, immer rührender und ergreifender und schlichter erschien mir die Geschichte dieses göttlichen Lebens, immer erhabener und unergründlicher die Tiefe des Fühlens und Denkens, die ich in seiner Lehre fand. Und wie einfach und klar erschien mir dann alles, wenn ich, von diesem Buche aufsehend, wieder Umschau hielt in dem Leben, das mich umgab, und mich in seine Erscheinungen vertiefte! Es kam mir so schwer vor, ein böses Leben zu führen, und so einfach, alle Menschen zu lieben und von ihnen geliebt zu werden. Alle waren so gut und so freundlich gegen mich; selbst Sonja, die ich noch immer unterrichtete, war ganz anders geworden und gab sich Mühe, mich zu verstehen, mir zu Willen zu sein und mich nicht zu betrüben. Wie ich gegen alle war, so waren auch sie gegen mich. Ich sann nach, ob ich nicht vielleicht Feinde hätte, die ich vor der Beichte um Verzeihung bitten müßte, und ich erinnerte mich nur einer jungen Dame aus der Nachbarschaft, über die ich mich ein Jahr vorher in einer Gesellschaft lustig gemacht hatte, und die uns seither nicht mehr besuchte. Ich schrieb einen Brief an sie, bekannte mich darin schuldig und bat sie um Vergebung. Sie antwortete mir in einem Briefe, in dem sie selbst mich um Verzeihung bat und mir ihrerseits verzieh. Ich weinte vor Freude, als ich diese einfachen Zeilen las, in denen mir damals ein so tiefes, rührendes Gefühl zu liegen schien. Auch meine alte Kinderfrau weinte, als ich sie um Verzeihung bat. »Warum sind sie nur alle so gut gegen mich, womit habe ich eine solche Liebe verdient?« fragte ich mich. Und ich dachte unwillkürlich an Sergjej Michajlowitsch und verweilte in Gedanken lange bei ihm. Ich konnte nicht anders und hielt meine Gedanken auch nicht für sündhaft. Doch dachte ich jetzt in ganz anderer Weise an ihn als in jener Nacht, da ich zum erstenmal mir darüber klar geworden war, daß ich ihn liebte; ich dachte an ihn wie an mich selbst und verknüpfte unwillkürlich sein Bild mit jedem Gedanken an meine eigene Zukunft. Das beklemmende Gefühl, das ich immer noch in seiner Gegenwart gehabt, blieb, wenn ich jetzt an ihn dachte, gänzlich aus. Ich empfand nicht mehr seine Überlegenheit, ich fühlte mich ihm jetzt ebenbürtig und glaubte ihn von dem höheren Standpunkte, den ich in meiner neuen Seelenstimmung gewonnen, ganz zu verstehen. Was mir früher an ihm seltsam erschienen war, wurde mir jetzt völlig klar. Nun erst begriff ich den Sinn seiner Äußerung, daß alles Glück einzig darin bestehe, daß man für andere lebe, und ich war jetzt vollkommen seiner Meinung. Es schien mir, als würden wir beide, wenn wir unser Leben vereinten, eines unendlichen, ruhigen Glückes teilhaftig werden. Ich schwärmte nun nicht mehr von Reisen ins Ausland, von gesellschaftlichen Triumphen, von äußerem Glanz – ganz andere Dinge schwebten mir jetzt als Ideal vor: ein stilles Familienleben auf dem Lande, in stetiger Selbstaufopferung, in unwandelbarer Liebe zueinander und treuer Ergebenheit gegen eine gütige, hilfreiche Vorsehung.

Ich ging, wie ich es mir vorgenommen hatte, an meinem Geburtstage zum Abendmahl. Als ich an diesem Tage aus der Kirche heimkehrte, war mein Herz so übervoll von Glück, daß ich förmlich Angst hatte vor dem Leben, vor jedem neuen Eindruck, kurz vor allem, was jenes Glück stören könnte. Als wir eben aus dem Wagen stiegen und die Freitreppe hinaufschritten, ließ sich auf der Brücke das mir bekannte Gerassel eines Kabrioletts vernehmen, und ich erblickte Sergjej Michajlowitsch. Er beglückwünschte mich, und wir betraten zusammen das Empfangszimmer. Noch niemals, seit ich ihn kannte, hatte ich mich in seiner Gegenwart so ruhig und selbständig gefühlt wie an diesem Morgen. Ich glaubte zu fühlen, daß in mir eine ganze neue Welt lebte, die er nicht begriff, die höher stand als die seinige. Seine Gegenwart machte mich nicht im geringsten verlegen. Er mußte wohl den Grund davon erraten haben und legte mir gegenüber ein ganz besonderes Zartgefühl, eine fast andachtsvolle Rücksicht an den Tag. Ich war an das Klavier getreten, doch er schloß es zu und steckte den Schlüssel in die Tasche.

»Verderben Sie sich Ihre Stimmung nicht,« sagte er – »in Ihrer Seele ist jetzt eine Musik, die weit herrlicher ist als sonst irgendeine in der Welt.«

Ich war ihm für diese Worte dankbar, empfand es dabei jedoch ein wenig unangenehm, daß er gar so leicht und klar alles das begriff, was vor aller Welt als tiefstes Geheimnis meiner Seele bewahrt bleiben sollte. Als wir bei Tisch saßen, sagte er, er sei zwar gekommen, um mir Glück zu wünschen, zugleich aber, um Abschied zu nehmen, da er morgen nach Moskau reise. Er blickte bei diesen Worten auf Katja; dann aber streifte auch mich sein Blick, und ich bemerkte, daß er wohl auf meinem Gesichte irgendeine Erregung zu sehen erwartete. Doch ich war weder erstaunt noch beunruhigt, ja ich fragte nicht einmal, wie lange er fortbleiben würde. Ich wußte, daß er dies von selbst sagen würde, und ich wußte sogar, daß er überhaupt nicht abreisen würde. Wie ich zu diesem Wissen kam, kann ich mir jetzt durchaus nicht erklären; an jenem denkwürdigen Tage jedoch glaubte ich alles zu wissen, was war, und was sein würde. Ich schwebte gleichsam in einem glückseligen Traume, in dem alles, was nur irgend geschah oder noch geschehen konnte, mir als längst geschehen, als längst bekannt erschien.

Er wollte sogleich nach dem Mittagessen aufbrechen, aber er mußte doch von Katja, die sich müde gefühlt und unmittelbar nach Tisch zur Ruhe gelegt hatte, noch Abschied nehmen und darum ihr Erwachen abwarten. Im Saale schien die Sonne zu warm, und wir gingen auf die Terrasse. Kaum hatten wir hier Platz genommen, als ich sogleich vollkommen ruhig das Gespräch aufnahm, das über das Schicksal meiner Liebe entscheiden sollte. Nicht früher und nicht später begann ich zu reden, als in dem Augenblick, da wir uns gesetzt hatten, da noch nichts gesprochen war und die Unterhaltung noch keinen Ton angenommen hatte, der auf das, was ich sagen wollte, irgendwie hemmend hätte einwirken können. Ich begreife selbst nicht, woher mir jene Ruhe, jene Sicherheit und Bestimmtheit im Ausdrucke kam. Es war mir, als spräche ich nicht selbst, als spräche aus mir vielmehr irgendein Etwas, das von meinem Willen unabhängig war. Er saß, auf das Geländer gestützt, mir gegenüber, hatte einen Fliederzweig an sich gezogen und riß die Blätter davon ab. Als ich zu reden begann, ließ er den Zweig los und stützte den Kopf in die Hand. Es war die Haltung eines Mannes, der entweder vollkommen ruhig oder sehr erregt ist.

»Warum verreisen Sie?« fragte ich in sehr bedeutsamem Tone und sah ihm dabei gerade in die Augen.

Er antwortete nicht sogleich.

»Geschäfte!« sagte er dann und senkte die Augen.

Ich begriff, wie schwer es ihm wurde, auf eine Frage, die so aufrichtig und bündig gestellt worden war, mit einer Unwahrheit zu antworten.

»Hören Sie,« sagte ich, »Sie wissen, was der heutige Tag für mich bedeutet. Er ist in mancherlei Beziehung für mich sehr wichtig. Wenn ich Ihnen diese Frage stelle, so geschieht es nicht, um Ihnen meine Teilnahme zu beweisen – Sie wissen, daß ich mich an Sie gewöhnt habe und Sie liebe – ich frage darum, weil ich es wissen muß ... Warum reisen Sie?«

»Es ist recht schwer für mich, Ihnen die Wahrheit zu sagen, warum ich eigentlich reise,« sagte er. »Ich habe in dieser Woche viel über Sie und über mich selbst nachgedacht und bin zu dem Ergebnis gelangt, daß ich reisen muß. Sie begreifen, warum, und wenn Sie mich lieb haben, dann werden Sie mich nicht weiter ausfragen.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und legte sie dann über die Augen. »Es wäre mir peinlich ... Sie werden mich verstehen.«

Mein Herz begann heftig zu schlagen.

»Nein, ich kann es nicht verstehen,« sagte ich. »Sagen Sie es mir – um Gottes willen, um des heutigen Tages willen sagen Sie es – ich kann alles ruhig anhören.«

Er veränderte seine Haltung, sah mich an und zog wieder den Fliederzweig an sich.

»Übrigens,« sagte er, nachdem er ein Weilchen geschwiegen hatte, in einem Tone, den er vergeblich ruhig und fest erscheinen lassen wollte – »wenn es auch töricht, ja unmöglich ist, es mit Worten auszudrücken, wenn es mir auch noch so schwer wird, so will ich es Ihnen doch klar zu machen suchen,« fügte er hinzu und runzelte dabei die Stirn, als wenn er einen körperlichen Schmerz empfände.

»Nun?« sagte ich.

»Stellen Sie sich vor,« begann er, »es hätte da so irgendeinen Herrn X. gegeben, einen alten Mann, der das Leben schon hinter sich hatte, und ein junges, harmlos glückliches Fräulein Y., das von der Welt und den Menschen noch nichts wußte. Gewisse Beziehungen zwischen den Familien beider fügten es so, daß er das junge Mädchen wie eine Tochter liebgewann, ohne daß er befürchtete, er könnte sie auch noch auf eine andere Art lieben lernen.«

Er hielt ein, doch unterbrach ich ihn nicht.

»Er hatte jedoch vergessen, daß Fräulein Y. noch sehr jung und das Leben ihr noch ein Spiel war,« fuhr er plötzlich in raschem, entschiedenem Tone fort, ohne mich anzusehen. »Er hatte vergessen, daß es nicht schwer war, sich auch noch auf andere Art in sie zu verlieben, was ihr möglicherweise viel Spaß machte. Er hatte sich über seine Selbstsicherheit getäuscht und fühlte plötzlich, daß ein anderes Gefühl, dumpf quälend wie die Reue, sich in seine Seele einschlich, und er erschrak. Er begann zu fürchten, daß seine alten freundschaftlichen Beziehungen zu ihr zerstört werden könnten, und er beschloß abzureisen, bevor diese Beziehungen noch zerstört wären.« Bei diesen Worten fuhr er sich wieder wie von ungefähr mit der Hand über die Augen und ließ sie darauf ruhen.

»Und warum fürchtete er sich denn, sie auf andere Art liebzugewinnen?« sagte ich kaum vernehmlich, doch mit gleichmäßiger Stimme, während ich meine Erregung zu unterdrücken suchte. Es schien jedoch, als habe er einen scherzenden Ton aus meinen Worten herausgehört, und es lag eine gewisse Gereiztheit in dem, was er weiter sagte.

»Sie sind jung,« sprach er, »ich aber bin es nicht. Sie möchten noch spielen, ich aber verlange etwas anderes. Spielen Sie immerhin, doch nicht mit mir, denn ich nehme die Dinge ernst und würde davon nur schweres Leid haben, Sie aber würden es später bereuen. So sprach Herr X. zu der jungen Dame,« fügte er hinzu. »Nun, das ist alles dummes Zeug – aber Sie werden jetzt verstehen, warum ich abreise. Sprechen wir, bitte, nicht weiter davon!«

»Doch, doch, wir wollen davon sprechen!« rief ich, und Tränen erzitterten in meiner Stimme. »Liebte er sie, oder liebte er sie nicht?«

Er antwortete nicht.

»Wenn er sie nicht liebte – warum spielte er dann mit ihr wie mit einem Kinde?« sagte ich.

»Ja, ja, er war schuldig, dieser Herr X.,« antwortete er, mich hastig unterbrechend – »doch die Sache nahm ein Ende, und sie schieden ... als gute Freunde.«

»Aber das ist ja entsetzlich! Und es gibt keine andere Lösung? ...« sprach ich kaum hörbar und erschrak über meine eigenen Worte.

»Ja, es gibt noch eine andere Lösung,« sagte er, während er die Hand von seinem erregten Gesicht nahm und mir gerade in die Augen blickte – »oder vielmehr es gibt noch zwei andere Lösungen. Nur unterbrechen Sie mich um Gottes willen nicht und hören Sie mich ruhig an. Die einen sagen,« fuhr er, während er sich mit einem schmerzlichen Lächeln erhob, in seiner Rede fort – »die einen sagen, Herr X. habe den Verstand verloren, habe sich bis über die Ohren in Fräulein Y. verliebt und ihr seine Liebe gestanden – sie aber habe nur gelacht, für sie war das alles nur eine Spielerei gewesen, während es sich für ihn um die entscheidende Lebensfrage handelte.«

Ich zuckte zusammen und wollte ihm ins Wort fallen, wollte ihm sagen, daß er es nicht wagen dürfe, mir solche Motive unterzuschieben, doch er ließ mich nicht reden und legte seine Hand auf die meinige.

»Warten Sie,« sprach er mit bebender Stimme. »Die andern sagen, sie habe sich seiner erbarmt, habe sich in ihrer Unkenntnis von Welt und Menschen eingebildet, sie könne ihn wirklich liebgewinnen, die Ärmste, und habe eingewilligt, sein Weib zu werden. Und er, der Wahnsinnige, habe wirklich geglaubt, sein Leben könne noch einmal von vorn beginnen – doch da habe sie selbst eingesehen, daß sie ihn und er sie getäuscht habe ... Lassen Sie uns nicht weiter davon reden,« schloß er, offenbar außerstande, noch weiter zu sprechen, und begann schweigend vor mir auf und ab zu gehen.

»Lassen Sie uns nicht davon reden,« hatte er gesagt, doch ich sah, daß er aus innerster Seele eine Antwort von mir erwartete. Ich wollte sprechen, vermochte es jedoch nicht – es war mir, als schnüre mir etwas die Brust zusammen. Ich sah ihn an: er war bleich, seine Unterlippe zuckte, und ich fühlte das tiefste Mitleid mit ihm. Ich suchte krampfhaft nach Worten, durchbrach plötzlich den Bann des Schweigens, der auf mir lag, und begann mit leiser, verhaltener Stimme, immerzu fürchtend, daß ich ins Stocken geraten müsse, zu ihm zu reden.

»Und noch eine dritte Möglichkeit gibt es,« sagte ich und hielt, seine Gegenrede erwartend, ein. Doch er sagte nichts, und so fuhr ich fort: »Diese dritte Möglichkeit ist, daß er sie gar nicht liebte und sie tief, tief unglücklich machte, und daß er dann, in der Meinung, im vollen Rechte zu sein, abreiste und noch stolz war auf sein Verhalten. Ihnen, nicht mir, war das alles eine Spielerei – ich habe Sie vom ersten Tage an geliebt, ja, geliebt!« rief ich aus, und bei diesem Worte ›geliebt‹ ging meine Stimme unwillkürlich aus dem leisen, verhaltenen Tone in einen wilden Schrei über, der mich selbst erschreckte.

Mit bleichem Gesichte stand er vor mir, seine Lippen bebten immer heftiger, und zwei Tränen traten auf seine Wangen.

»Das war schlecht!« stieß ich fast schreiend hervor und hatte das Gefühl, als müsse ich an den unterdrückten Zornestränen ersticken. »Warum das?« rief ich und wollte mich erheben, um ihn zu verlassen.

Doch er hielt mich zurück. Sein Kopf lag auf meinen Knien, seine Lippen küßten meine noch bebenden Hände, und seine Tränen benetzten sie.

»Mein Gott, wenn ich das gewußt hätte!« sprach er vor sich hin.

»Warum das, warum das?« wiederholte ich immer wieder, während meine Seele unsagbares Glück erfüllte.

Fünf Minuten später lief Sonja zu Katja hinauf und schrie so laut, daß es im ganzen Hause widerhallte, Mascha wolle sich mit Sergjej Michajlowitsch verheiraten.


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