Graf Leo N. Tolstoi
Meine ersten Erinnerungen sowie verschiedene kleine Schriften
Graf Leo N. Tolstoi

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Zur Frage von der Freiheit des Willens.

I.

Was auch der Mensch thun mag, in all seinem bewußten Thun handelt er so und nicht anders nur deshalb, weil er entweder jetzt erkennt, daß die Wahrheit darin liegt, daß er so handeln soll, wie er handelt, oder deshalb, weil er früher einmal dies erkannt hat, jetzt aber nur gewohnheitsmäßig so handelt, wie er das früher als richtig erkannt hat.

Ob der Mensch ißt oder sich der Nahrung enthält, ob er arbeitet oder ruht, ob er die Gefahr flieht oder ihr entgegentritt – wenn er ein bewußter Mensch ist, handelt er so wie er handelt, nur deshalb, weil er das für nötig und vernünftig hält, weil er glaubt, daß die Vernunft ihm gebiete, so und nicht anders zu handeln, oder weil er das schon lange früher geglaubt hat.

Die Erkenntnis oder Nichterkenntnis aber dessen, daß die Vernunft darin liegt, so und nicht anders zu handeln, hängt nicht von äußeren, der menschlichen Beobachtung unterliegenden Ursachen ab, sondern von anderen Ursachen, die im Menschen selbst liegen und seiner Beobachtung entzogen sind. Und so wird auch bei den für die Erkenntnis der als Ursache der Handlungen dienenden Vernunft anscheinend günstigen äußeren Umständen der eine sie nicht erkennen, während der andere aber selbst unter den ungünstigsten Umständen sie erkennt und danach handelt.

Und darum fühlt der Mensch, auch wenn er sich in seinen Handlungen unfrei fühlt, sich doch immer unabhängig von den äußeren Umständen, das heißt, er fühlt sich frei in dem, was die Ursache seiner Handlungen bildet, – in der Anerkennung oder Nichtanerkennung der Wahrheit. Und er fühlt sich frei nicht nur von den äußerlichen Ereignissen der äußeren Welt, sondern sogar auch frei von seinen eigenen Handlungen.

So bleibt ein Mensch, auch wenn er eine Handlung begeht, die dem, was er als Wahrheit erkennt, widerspricht, dennoch frei in der Anerkennung oder Nichtanerkennung der Wahrheit, das heißt, er kann seine Handlung für gut, also der Wahrheit nicht widersprechend halten und sich in der Begehung derselben gerechtfertigt fühlen, – er kann aber auch, indem er die Wahrheit anerkennt, seine Handlung für schlecht, ihr widersprechend halten und sich selbst dafür verurteilen.

So kann auch ein Spieler oder Trunkenbold, der der Verführung nicht widerstand und seiner Leidenschaft sich hingab, dennoch Spiel und Trunk für sündhaft oder für einen gleichgültigen Zeitvertreib ansehen.

Ganz ebenso kann auch ein Mensch, der aus einem brennenden Haus flüchtete, ohne dem Feuer Einhalt zu thun und ohne seinen Genossen zu retten, die Wahrheit anerkennen, daß der Mensch mit Gefahr seines Lebens anderen Leben dienen soll und daher seine Flucht für schlecht ansehen und sich darüber Vorwürfe machen, – oder er kann auch, ohne diese Wahrheit anzuerkennen, seine Handlung für natürlich und notwendig ansehen und sich selbst rechtfertigen.

Im ersteren Fall, wenn er die Wahrheit anerkennt, ungeachtet seiner Abweichung von derselben, wird er sich eine ganze Reihe von guten Handlungen bilden oder vorstellen, welche unvermeidlich aus dieser der Wahrheit entsprechenden Erkenntnis hervorgehen, im zweiten Fall aber stellt er sich eine ganze Reihe von der Wahrheit widersprechenden schlechten Handlungen vor.

Nicht daß der Mensch immer frei wäre, jede Wahrheit anzuerkennen oder nicht anzuerkennen. Es giebt Wahrheiten, welche schon lange entweder von dem Menschen selbst erkannt wurden oder ihm durch die Erziehung oder Überlieferung eingepflanzt und von ihm gläubig aufgenommen wurden, so daß sie ihm zur Gewohnheit, zur anderen Natur geworden sind: Der Mensch kann nicht umhin, solche Wahrheiten anzuerkennen und darum ist er nicht frei in Bezug auf diese. Es giebt aber noch andere Wahrheiten, von denen der Mensch nur eine unklare, entfernte Vorstellung hat und die sich ihm noch nicht vollkommen offenbarten; diese kann der Mensch nicht nach seinem freien Willen anerkennen. In der Anerkennung dieser und jener ist er in gleicher Weise unfrei. Er kann nicht umhin, die ersteren anzuerkennen, vermag aber die anderen noch nicht anzuerkennen. Aber es giebt noch eine dritte Art von Wahrheiten – solche, welche für den Menschen noch nicht zum unbewußten Motiv seines Thuns geworden sind, dabei aber schon mit solcher Klarheit sich ihm geoffenbart haben, daß er sie nicht umgehen kann und unvermeidlich Stellung zu ihnen nehmen muß; er muß sie anerkennen oder verneinen. In Bezug auf diese Wahrheiten allein äußert sich die Freiheit des Menschen.

Jeder Mensch befindet sich in seinem Leben in Bezug auf die verschiedenen Wahrheiten und auf die Wahrheit überhaupt in der Lage eines Wanderers, der in der Dunkelheit einer vor ihm her getragenen Laterne folgt: Er sieht nicht, was er schon zurückgelegt hat und was die Dunkelheit wieder verhüllt, er sieht auch nicht, was er noch nicht erreicht hat und was seine Laterne noch nicht beleuchtet, und er hat nicht die Macht, sein Verhältnis zu dem einen oder dem anderen Teil des Weges zu verändern. Aber er sieht das, was die Laterne beleuchtet – auf welcher Stelle des Weges er auch stehen mag – und immer liegt es in seiner Macht, diese oder die andere Richtung des Weges, auf dem er wandelt, zu wählen.

Ganz ebenso giebt es auch für jeden Menschen in seinem geistigen Leben Wahrheiten, welche er schon durchlebt, sich angeeignet und in sein Bewußtsein aufgenommen hat – und andere, die sich seinem geistigen Blick noch nicht enthüllt haben, die er nur ahnt – und es giebt noch eine dritte Art von Wahrheiten, welche sich dem Menschen schon so vollkommen enthüllt haben, daß er unvermeidlich auf eine oder andere Weise sich zu ihnen stellen, sie entweder anerkennen oder verneinen muß. Und eben in der Anerkennung oder Verneinung dieser Wahrheiten bethätigt sich das, was wir als unsere Freiheit erkennen.

Die ganze Schwierigkeit und anscheinende Unlöslichkeit der Frage von der Freiheit des Menschen kommt davon her, daß die Menschen, welche diese Frage zu lösen suchen, sich auch den Menschen als unbeweglich im Verhältnis zur Wahrheit vorstellen.

Unzweifelhaft ist der Mensch nicht frei, wenn man zugiebt, daß das Menschenleben und die Menschheit nicht eine beständige Bewegung von der Finsternis zum Licht, von einer tieferen Stufe der Wahrheit zu einer höheren, von einer mit Irrtümern vermischten Wahrheit zu einer davon freieren ist, das heißt, wenn man sich den Menschen unbeweglich vorstellt.

Der Mensch wäre nicht frei, wenn er gar keine Wahrheit kennen würde, ganz ebenso aber auch wäre er nicht frei und würde auch nicht einmal einen Begriff von Freiheit haben, wenn die ganze Wahrheit, die ihn im Leben leiten soll, für immer in ihrer ganzen Reinheit, ohne Beimischung von Irrtum, ihm enthüllt wäre.

Aber der Mensch ist nicht unbeweglich in seinem Verhältnis zur Wahrheit: Jeder einzelne Mensch, ganz ebenso wie auch die ganze Menschheit, befreit sich immer mehr vom Irrtum und unterwirft sich der Wahrheit, je mehr er im Leben fortschreitet. Und darum befinden sich alle Menschen immer in einer dreifachen Beziehung zur Wahrheit: Manche Wahrheiten haben sie sich schon so angeeignet, daß dieselben zu unbewußten Ursachen ihrer Handlungen wurden, andere Wahrheiten beginnen die Menschen erst zu entdecken und noch andere sind von den Menschen noch nicht vollständig angenommen, aber doch schon mit solcher Klarheit ihnen geoffenbart worden, daß sie unvermeidlich so oder anders Stellung zu diesen Wahrheiten nehmen, sie anerkennen oder verneinen müssen. Und eben in der Anerkennung oder Nichtanerkennung dieser Wahrheiten besteht die Freiheit des Menschen.

II.

Das menschliche Leben schreitet fort nach einem bestimmten und unabänderlichen Gesetz und darum ist es überhaupt unfrei: Alle Menschen wandeln unabänderlich auf dem einzigen von diesem Gesetz vorgezeichneten Wege. Außer diesem Weg giebt es kein Leben, aber das Gesetz des menschlichen Lebens erscheint den Menschen als eine teilweise enthüllte Wahrheit, welche von ihnen anerkannt oder nicht anerkannt werden kann – und darum können die Menschen auf dem Wege des Lebensgesetzes in zweierlei Art handeln: Indem sie sich entweder bewußt und freiwillig dem Lebensgesetz unterordnen, oder indem sie sich unfreiwillig und unbewußt ihm unterwerfen. Die Freiheit des Menschen liegt in dieser Wahl.

Die Freiheit besteht nicht darin, daß der Mensch unabhängig vom Gang des Lebens und von den schon vorhandenen, auf denselben einwirkenden Ursachen willkürlich handeln kann, sondern darin, daß er, das in seinem Bewußtsein sich ihm als Wahrheit offenbarende Lebensgesetz anerkennend und sich zu demselben bekennend, sich zu einem freien und freudigen Vollführer der Thaten nicht nur seines eigenen, sondern des ganzen Weltlebens machen kann, oder auch, die Wahrheit nicht anerkennend, sich zum Sklaven des Lebensgesetzes machen kann, der unfreiwillig und gewaltsam dahin geführt wird, wohin er nicht gehen will.

Eine solche Freiheit in so engen Grenzen erscheint den Menschen so geringfügig, daß sie sie nicht bemerken. Die einen (die Deterministen) halten dieses Teilchen von Freiheit für so klein, daß sie es überhaupt nicht anerkennen, andere, die Verteidiger der vollen Freiheit, welche nur an ihre eingebildete volle Freiheit denken, vernachlässigen diese ihnen so gering erscheinende Stufe von Freiheit.

Die Freiheit, welche in den Grenzen der zum Instinkt, zur zweiten Natur gewordenen Wahrheit und einer dem Bewußtsein des Menschen noch nicht geoffenbarten Wahrheit eingeschlossen ist, diese Freiheit, welche nur in der Anerkennung einer gewissen Stufe von geoffenbarter Wahrheit besteht, erscheint dem Menschen nicht mehr als Freiheit, – um so weniger, als der Mensch, ob er die sich ihm offenbarende Wahrheit anerkennen will oder nicht, unvermeidlich zur Erfüllung derselben im Leben genötigt sein wird.

Ein Pferd, das mit einem anderen zusammen an einen Wagen gespannt ist, hat nicht mehr die Freiheit, sich zu weigern, dem Wagen vorauszugehen. Wenn es nicht geht, wird der Wagen es an die Füße stoßen, und dann wird es dahin gehen, wohin der Wagen geht und wird ihn unfreiwillig ziehen. Aber ungeachtet dieser begrenzten Freiheit steht ihm doch die Wahl frei, den Wagen zu führen oder von ihm geführt zu werden.

So ist es auch mit den Menschen.

Ob diese Freiheit groß oder klein ist im Vergleich mit jener phantastischen Freiheit, die wir haben wollen, – so besteht doch diese Freiheit unzweifelhaft, und auch diese Freiheit ist Freiheit. Und nicht nur ist diese Freiheit eine wirkliche Freiheit – sie ist auch wirkliches Leben.

Nach der Lehre Christi hat der Mensch kein wahres Leben, der den Sinn des Lebens auf dem Gebiet sieht, auf dem es nicht frei ist, – auf dem Gebiet der Folgen, das heißt der Handlungen. Ein wirkliches Leben hat nach der christlichen Lehre nur der Mensch, welcher sein Leben auf jenes Gebiet übertragen hat, auf dem es frei ist, – auf das Gebiet der Ursachen, das heißt der Erkenntnis und Anerkennung der geoffenbarten Wahrheiten, indem er sich zu denselben bekennt, worauf unvermeidlich – wie der Wagen hinter dem Pferd – die Erfüllung derselben folgt.

Wenn der Mensch sein Leben auf fleischliche Dinge überträgt, so verübt er Thaten, welche immer abhängig sind von räumlichen und zeitlichen, außerhalb seiner selbst liegenden Ursachen. Er selbst ist sogar nicht einmal der Handelnde, er glaubt nur zu handeln, aber in Wirklichkeit wird alles das, was er zu thun glaubt, von einer höheren Macht vollbracht, und er ist nicht Schöpfer des Lebens, sondern Sklave desselben. Wenn er aber sein Leben zur Anerkennung und zum Bekenntnis der ihm geoffenbarten Wahrheit anwendet, dann vereinigt er sich mit der Quelle des universellen Lebens und vollbringt Handlungen, nicht natürlicher, privater, von Raum und Zeit abhängiger Art, sondern Handlungen, welche keine andere Ursache haben, als sein Bewußtsein und selbst die Ursache alles übrigen bilden und daher auch eine unendliche, durch nichts begrenzte Bedeutung haben.

Das Reich Gottes wird durch Anstrengung erlangt, und nur diejenigen, welche Anstrengungen machen, erfreuen sich desselben, und eben diese Anstrengung, durch welche das Reich erlangt wird und welche jeder Mensch machen soll und muß, besteht nicht in äußerlichen Thaten, sondern nur in der Anerkennung und dem Bekenntnis der Wahrheit durch jeden einzelnen Menschen.

Diejenigen, welche das Wesen des wahren Lebens vernachlässigen, das in der Anerkennung und dem Bekenntnis der Wahrheit besteht, und welche ihre Anstrengungen zur Verbesserung ihres Lebens auf äußere Handlungen richten, gleichen den Menschen auf einem Dampfboote, welche, um ans Ziel zu gelangen, den Dampfkessel auslöschen, so daß die Schaufelräder nicht weiter können und im Sturm, anstatt unter schon fertigem Dampf zu gehen, sich bemühen wollten, mit Rudern zu arbeiten, welche nicht bis zum Wasser reichen.

Wenn nur die Menschen das begreifen und aufhören möchten, sich um äußere und allgemeine Dinge zu kümmern, in welchen sie nicht frei sind, und wenn sie dagegen diese Kraft, die sie auf äußere Dinge verwenden, für das einsetzen möchten, worin sie frei sind, – für die Anerkennung und das Bekenntnis jener Wahrheit, welche vor ihnen steht und auf die Befreiung ihrer selbst und der Menschheit von Lüge und Heuchelei, welche die Wahrheit verbergen, – so würde nicht nur jeder einzelne Mensch des höchsten erreichbaren Wohls teilhaftig werden, sondern es würde auch jene erste Stufe des Reiches Gottes sich verwirklichen, für welche die Menschen nach ihrer Erkenntnis bereits reif sind.

 


 


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