Graf Leo N. Tolstoi
Meine ersten Erinnerungen sowie verschiedene kleine Schriften
Graf Leo N. Tolstoi

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Zwei Briefe über Gewissensfragen.

I.
Brief an die Frau Baronin Rosen.

Folgende drei Fragen haben Sie, gnädige Frau, an mich gerichtet:

1. Sollen auch geistig nicht besonders Begabte einen Ausdruck in Worten für die von ihnen erkannten Wahrheiten des inneren Lebens suchen?

2. Soll man in seinem inneren Leben nach voller Erkenntnis streben?

3. Wonach sollen wir uns in Augenblicken des Kampfes und des Schwankens richten, um zu erfahren, ob in unserem Inneren wirklich unser Gewissen spricht oder unser Verstand, der in unserer Schwachheit befangen ist?

Die dritte Frage habe ich der Kürze wegen in anderen Worten ausgedrückt, glaube aber, deren Sinn getroffen zu haben.

Diese drei Fragen stießen nach meiner Ansicht zu einer einzigen zusammen, – der zweiten, denn wenn man nicht nach voller Erkenntnis seines inneren Lebens streben soll, so ist es unnötig und unmöglich, die von uns erkannten Wahrheiten in Worten auszudrücken, und man hat nichts, woran man sich in Augenblicken des Schwankens halten könnte, um zu erfahren, ob in uns das Gewissen spricht oder der trügerische Verstand. Wenn man aber nach der höchsten dem menschlichen Verstand (welcher Art auch dieser Verstand sein mag) zugänglichen Erkenntnis streben soll, so sollen wir auch die von uns erkannten Wahrheiten in Worten ausdrücken, und eben an diese bis zur vollen Erkenntnis gebrachten und ausgesprochenen Wahrheiten sollen wir uns halten in Augenblicken des Kampfes und des Schwankens. Und deshalb habe ich Ihre zweite und Grundfrage bejahend zu beantworten, nämlich daß jeder Mensch zur Erfüllung seiner Bestimmung auf Erden und zur Erreichung des wahren Glücks (was immer zusammenfällt) immer alle seine Geisteskräfte darauf richten soll, sich selbst jene religiösen Grundlagen, durch die er lebt, das heißt den Sinn des Lebens, klarzustellen.

Unter ungebildeten Arbeitern, welche Erde ausgruben und dabei kubische Maße auszurechnen hatten, habe ich oft die weit verbreitete Ansicht getroffen, die mathematische Berechnung sei trügerisch und man dürfe ihr nicht trauen. Vielleicht deshalb, weil sie die Mathematik nicht kennen, oder weil die Leute, welche mathematische Berechnungen für sie machten, sie absichtlich oder unabsichtlich oft betrogen haben, hat sich bei ihnen die Überzeugung festgesetzt, die Mathematik sei unglaubwürdig und untauglich zur Bestimmung der Maße und ist für die Mehrzahl der ungebildeten Erdarbeiter zu einer unzweifelhaften Wahrheit geworden, für welche jeder Beweis überflüssig sei. Eine ähnliche Ansicht hat sich bei Menschen festgesetzt, die ich offen irreligiös nenne, – nämlich die Ansicht, der Verstand könne religiöse Fragen nicht lösen, die Anwendung des Verstandes auf solche Fragen sei eine Hauptursache von Irrtümern – der Versuch, religiöse Fragen durch den Verstand zu lösen, sei frevelhafter Hochmut. Ich sage das deshalb, weil der in Ihren Fragen liegende Zweifel daran, ob man nach Erkenntnis in seinen religiösen Überzeugungen streben solle, nur auf der Voraussetzung beruhen kann, daß der Verstand zur Lösung religiöser Fragen nicht angewendet werden könne. Eine solche Voraussetzung ist aber ebenso sonderbar und offenbar falsch, wie die Meinung, mathematische Probleme können nicht durch Ausrechnung gelöst werden.

Dem Menschen ist direkt von Gott nur ein Werkzeug der Erkenntnis seiner selbst und seiner Beziehungen zur Welt gegeben worden – und kein anderes – und dieses Werkzeug ist der Verstand. Und nun sagt man ihm, er könne den Verstand zur Lösung der Fragen anwenden, welche das Haus, die Familie, die Wirtschaft, die Politik, die Wissenschaften, die Kunst betreffen, nur nicht zur Aufklärung dessen, wofür er ihm eben verliehen wurde, und zur Klarstellung der wichtigsten Wahrheiten, von deren Erkenntnis sein ganzes Leben abhängt, dürfe der Mensch durchaus nicht den Verstand anwenden, sondern er müsse diese Wahrheiten mit Umgehung des Verstandes begreifen, während der Mensch mit Umgehung des Verstandes doch überhaupt nichts begreifen kann. Man sagt ihm: »Erkenne die Offenbarung des Glaubens.« Aber auch glauben kann der Mensch nicht mit Umgehung des Verstandes. Wenn der Mensch dieses glaubt und jenes nicht, so thut er dies nur deshalb, weil ihm der Verstand sagt, an dieses müsse man glauben, an jenes nicht. Die Behauptung, der Mensch dürfe sich nicht von seinem Verstand leiten lassen, ist ebenso unsinnig, als wollte man einem Menschen in einer unterirdischen Höhle, der eine Lampe trägt, raten, um aus der Höhle den Ausweg zu finden, müsse er die Lampe auslöschen und sich nicht vom Licht, sondern von etwas anderem leiten lassen.

Aber vielleicht wird man einwenden, wie auch Sie in Ihrem Brief sagen, daß nicht alle Menschen mit großem Verstand und der besonderen Fähigkeit begabt seien, ihren Gedanken Ausdruck zu geben und daß der ungeschickte Ausdruck der Gedanken über die Religion Irrtümer hervorrufen könne. Darauf antworte ich mit den Worten des Evangeliums: »Was den Weisen verborgen ist, das ist den Kindern offenbar.« Und dieser Ausspruch ist keine Übertreibung und kein Paradox, als welche man gewöhnlich solche Aussprüche des Evangeliums ansieht, welche uns nicht gefallen, sondern das ist eine Bestätigung der einfachsten, unzweifelhaften Wahrheit, daß jedem Wesen in der Welt ein Gesetz gegeben ist, das dieses Wesen befolgen soll, und daß zur Erkenntnis dieses Gesetzes jedem Wesen dazu dienliche Organe gegeben sind. Und darum ist jeder Mensch mit Verstand begabt, und in diesem Verstand wird jedem Menschen das Gesetz, das er befolgen soll, geoffenbart. Verborgen ist dieses Gesetz nur solchen Menschen, welche es nicht befolgen wollen, und um das Gesetz nicht zu befolgen, sich vom Verstand lossagen, und anstatt zur Erkenntnis der Wahrheit sich des ihnen gegebenen Verstandes zu bedienen, den Anweisungen ebensolcher Menschen, wie sie selbst sind, folgen, welche sich vom Verstand losgesagt haben.

Das Gesetz aber, das der Mensch beobachten soll, ist so einfach, daß es jedem Kind verständlich ist, um so mehr, als der Mensch nicht nötig hat, das Gesetz seines Lebens selbst aufs neue zu entdecken. Menschen, welche vor ihm lebten, haben es entdeckt und ausgesprochen, und der Mensch hat nur nötig, es mit seinem Verstand zu prüfen, die Grundsätze anzunehmen oder nicht anzunehmen, welche er in der Überlieferung ausgesprochen findet, das heißt nicht so, wie es Menschen anraten, welche das Gesetz nicht befolgen wollen, durch die Überlieferung den Verstand zu prüfen, sondern im Gegenteil durch den Verstand die Überlieferung.

Die Überlieferungen können von Menschen kommen und falsch sein, der Verstand aber kommt sicherlich direkt von Gott und kann nicht falsch sein.

Und darum sind zur Erkenntnis und zum Ausdruck der Wahrheit keine besonderen, hervorragenden Fähigkeiten erforderlich, – man muß nur daran glauben, daß der Verstand nicht nur die höchste göttliche Eigenheit des Menschen ist, sondern auch das einzige Werkzeug zur Erkenntnis der Wahrheit.

Eine besondere geistige Begabung ist meist nicht zur Erkenntnis und Klarstellung der Wahrheit nötig, sondern zur Überlegung und Klarstellung der Irrtümer.

Wenn die Menschen einmal von den Weisungen des Verstandes abgewichen sind, ihm nicht vertrauten, sondern aufs Wort glaubten, was für Wahrheit ausgegeben wird, beginnen sie, solche falsche, unnatürliche und widerspruchsvolle Lehrsätze aufzuhäufen und gläubig anzunehmen, – gewöhnlich in Gestalt von Gesetzen, Offenbarungen, Dogmen, daß es wirklich großen Scharfsinns und besonderer Begabung bedarf, um sie auszulegen und mit dem Leben in Einklang zu bringen. Man stelle sich nur einmal einen Menschen unserer Welt vor, der in den religiösen Grundsätzen irgend einer christlichen Konfession – der katholischen, rechtgläubigen, protestantischen, erzogen wurde und nun danach strebt, die ihm von Kindheit auf eingeflößten religiösen Grundsätze sich selbst klar zu machen. Welche komplizierte geistige Arbeit muß er vollbringen, um alle Widersprüche zu versöhnen, die er in dem ihm von Jugend auf anerzogenen Bekenntnis vorfindet! Gott der Schöpfer hat durch das Heil auch das Böse erschaffen, straft die Menschen am Leben und verlangt Loskaufung u. s. w. Und wir, die wir uns zum Gesetz der Nächstenliebe und Vergebung bekennen, haben die Todesstrafe beibehalten, wir führen Krieg, nehmen den Armen ihre Habe u. s. w. u. s. w.

So ist zur Entwirrung dieser unlöslichen Widersprüche, oder vielmehr um sie uns selbst offenbar zu machen, wirklich viel Geist und besondere Begabung erforderlich. Um aber das Gesetz unseres Lebens kennen zu lernen, oder, wie Sie es ausdrücken, um unseren Glauben zum vollen Bewußtsein zu entwickeln, sind keinerlei besondere Geistesgaben erforderlich – es genügt, nichts zuzugeben, was dem Verstand widerspricht, den Verstand nicht zu verleugnen, denselben sorgfältig zu hüten und nur ihm zu glauben.

Wenn der Sinn des Lebens ihm unklar erscheint, so beweist das nicht, daß der Verstand zur Klarstellung dieses Sinnes nicht geeignet sei, sondern nur, daß schon zu viel Unvernünftiges geglaubt wird und daß man alles das wegwerfen muß, was nicht vom Verstand bestätigt wird.

Und darum kann meine Antwort auf Ihre Grundfrage – ob man nach voller Erkenntnis in seinem inneren Leben streben soll – nur so lauten, daß das die notwendigste und wichtigste Sache ist, die wir in unserem Leben vollbringen können. Notwendig und wichtig ist sie deshalb, weil der einzige vernünftige Sinn unseres Lebens in der Erfüllung des Willens dessen besteht, der uns in dieses Leben gesandt hat. Den Willen Gottes aber erkennt man nicht durch irgend ein Wunder, wie die Niederschrift des Gesetzes auf Steintafeln durch den Finger Gottes oder die Abfassung eines unfehlbaren Buchs durch den heiligen Geist, oder die Unfehlbarkeit irgend einer heiligen Person oder einer Versammlung von Menschen, sondern nur durch die geistige Thätigkeit aller Menschen, welche einander durch Wort und That ihre sich immer mehr aufklärende Erkenntnis der Wahrheit überliefern.

Diese Erkenntnis ist niemals vollständig gewesen, noch wird sie es sein, vergrößert sich aber beständig in dem Maße, wie das Leben der Menschheit fortschreitet: je länger wir leben, desto klarer und vollständiger erkennen wir den Willen Gottes und folglich auch das, was wir thun sollen, um ihn zu erfüllen.

Und darum glaube ich, daß es Aufgabe eines jeden Menschen ist (so unbedeutend er uns auch erscheinen mag, denn auch Kleine sind zuweilen groß), an der Aufklärung aller jener religiösen Wahrheiten, die ihm zugänglich sind, mitzuarbeiten, sowie an dem Ausdruck derselben in Worten (da der Ausdruck in Worten das einzige unzweifelhafte Anzeichen für die volle Klarheit des Gedankens ist), und daß dies eine der wichtigsten und heiligsten Pflichten jedes Menschen ist.

26. November 1894.

L. Tolstoi.

 


 

II.
Brief an die Redaktion der Londoner Zeitung »Daily Chronicle«.

Seit dem Erscheinen meines Buches »Das Reich Gottes ist in Euch« und meiner Broschüre »Christentum und Vaterlandsliebe« habe ich oft in Abhandlungen und Briefen Erwiderungen gelesen, welche nicht gerade gegen meine Gedanken, aber gegen eine falsche Auslegung derselben gerichtet sind. Dies geschieht oft bewußt, oft unbewußt nur aus Unkenntnis des Geistes der christlichen Lehre.

»Das ist alles wahr,« sagt man mir, »der Despotismus, die Todesstrafe, die Bewaffnung von ganz Europa, die unterdrückte Lage der Arbeiter, die Kriege, – alles das sind große Übel und Sie haben recht, wenn Sie die jetzige Ordnung der Dinge verurteilen. Aber wie soll man ohne Regierungen auskommen? Welches Recht haben wir Menschen mit beschränkter Erkenntnis und Vernunft, die bestehende Ordnung der Dinge umzustürzen, nur weil wir dies für besser halten, durch welche unsere Vorfahren die jetzige hohe Stufe der Civilisation mit allen ihren Wohlthaten erreicht haben? Wenn wir den Staat vernichten, so müssen wir etwas anderes an seine Stelle setzen. Wenn aber nicht, wie sollen wir dann jene schrecklichen Übel riskieren, welche unvermeidlich entstehen müssen, wenn der Staat vernichtet wird?«

Aber die Wahrheit ist, daß die christliche Lehre in ihrem wahren Sinne niemals vorgeschlagen hat, noch vorschlägt, irgend etwas zu zerstören, und niemals irgend eine neue Institution als Ersatz der früheren vorgeschlagen hat, noch vorschlägt. Die christliche Lehre unterscheidet sich dadurch von allen anderen religiösen und gesellschaftlichen Lehren, daß sie den Menschen das Heil nicht vermittelst allgemeiner Gesetze für das Leben aller Menschen bietet, sondern dadurch, daß sie jedem Menschen einzeln den Sinn seines Lebens klar macht, indem sie ihm zeigt, worin das Übel und worin das wahre Wohl seines Lebens besteht. Und dieser Sinn des Lebens, wie er dem Menschen durch die christliche Lehre geoffenbart wird, ist in solchem Grade klar, überzeugend und unzweifelhaft, daß der Mensch, wenn er ihn einmal begriffen und daher erkannt hat, worin das Übel und worin das Heil seines Lebens besteht, durchaus nicht imstande ist, das zu thun, worin er das Übel seines Lebens erblickt, und das zu unterlassen, worin er das wahre Heil desselben sieht, ganz ebenso, wie das Wasser nicht anders kann, als abwärts zu fließen, und die Pflanze nicht anders, als nach dem Licht zu streben.

Der Sinn des Lebens aber, wie er dem Christen geoffenbart ist, besteht darin, den Willen dessen zu erfüllen, der uns in diese Welt gesandt hat und zu dem wir einst zurückkehren, wenn wir sie verlassen.

Das Übel unseres Lebens besteht also nur in der Abwendung von diesem Willen und das Heil nur in der Erfüllung der Forderungen dieses Willens, welche so einfach und so klar sind, daß es ebenso unmöglich ist, sie nicht zu begreifen, als sie falsch auszulegen. Wenn Du nicht thun kannst, was Du nicht willst, daß man Dir thue, so thue wenigstens auch einem andern nicht, was Du nicht willst, daß man Dir thue. Du willst nicht, daß man Dich nötigt, zehn Stunden täglich in Fabriken oder Bergwerken zu arbeiten, Du willst nicht, daß Deine Kinder hungern, frieren, unwissend bleiben, Du willst nicht, daß man Dir das Land wegnehme, auf dem Du Dich ernähren könntest, Du willst nicht, daß man Dich ins Gefängnis werfe oder aufhänge dafür, daß Du in der Leidenschaft, infolge von Verführung oder Unwissenheit eine ungesetzliche Handlung begangen hast, Du willst nicht, daß man Dich im Krieg verwunde oder töte, – also thue das alles auch andern nicht.

Alles das ist so einfach, klar und zweifellos, daß ein kleines Kind es verstehen muß und keinerlei Sophismen es umstürzen können.

Stellen wir uns vor, daß ein Arbeiter, der sich ganz in der Gewalt seines Herrn befindet, zu einer ihm bekannten und angenehmen Arbeit angestellt sei, und nun plötzlich andere zu ihm kommen, welche, wie er weiß, sich in derselben Abhängigkeit von seinem Herrn befinden, wie er selbst und welchen dieselbe Arbeitsleistung, wie ihm, übertragen wurde und anstatt die ihnen befohlene Arbeit auszuführen, von dem Arbeiter verlangen, das Gegenteil von dem zu thun, was ihm klar und unzweifelhaft vom Herrn befohlen wurde. Was wird jeder vernünftige Arbeiter auf ein solches Verlangen antworten?

Aber dieser Vergleich drückt noch lange nicht das aus, was ein Christ empfinden muß, an den man das Verlangen stellt, an der Unterdrückung, dem Landraub, an Hinrichtungen, Kriegen u. s. w. teilzunehmen, wie dies die Staatsgewalt von uns verlangt; denn so bestimmt auch die Befehle des Herrn für den Arbeiter sein mögen, so kommen sie doch niemals jenem unzweifelhaften Bewußtsein jedes nicht durch falsche Lehren verwirrten Menschen gleich, daß er nicht andern das zufügen soll, was er selbst nicht wünscht, daß ihm angethan werde, und daß er daher nicht teilnehmen soll an Gewaltthaten, Steuererhebungen, Hinrichtungen, an der Ermordung seines Nächsten, was alles die Regierung von ihm verlangt. Für den Christen fragt es sich also nicht, wie die Verteidiger des Staates unabsichtlich, zuweilen aber absichtlich die Frage stellen: ob der Mensch das Recht habe, die bestehende Ordnung umzustürzen und durch eine andere zu ersetzen (der Christ denkt nicht einmal an diese allgemeine Ordnung, überläßt die Leitung derselben Gott, fest überzeugt, daß Gott sein Gesetz nicht der Unordnung, sondern der Ordnung wegen in unsern Verstand und unser Herz gelegt hat und daß aus der Befolgung des uns geoffenbarten unzweifelhaften Gesetzes Gottes nur Gutes hervorgehen kann). Die unvermeidliche Frage nicht nur für jeden Christen, sondern für jeden Menschen überhaupt lautet vielmehr: Wie soll ich mich verhalten bei der beständig an mich herantretenden Wahl: Soll ich im Widerspruch mit meinem Gewissen für die Regierung wirken, welche das Recht auf den Landbesitz Menschen zuerkennt, die es nicht bearbeiten, welche Abgaben von den Armen nimmt, um sie den Reichen zu geben, welche irrende Menschen in die Verbannung und zur Zwangsarbeit schickt und aufhängt, welche die Soldaten zum Mord antreibt, die Völker durch Opium und Branntwein demoralisiert, u. s. w., – oder soll ich, meinem Gewissen folgend, nicht an den Thaten der Regierung teilnehmen, welche meinem Bewußtsein widersprechen? Was aber daraus folgt, was aus dem Staat wird, wenn ich in dem einen oder dem anderen Sinn entscheide, das will und kann ich nicht wissen.

Darin liegt die Kraft der christlichen Lehre, daß sie die Fragen des Lebens aus dem Gebiet der ewigen Zweifel auf den Boden der Zweifellosigkeit überführt.

Aber man sagt: »Auch wir leugnen nicht die Notwendigkeit, die bestehende Ordnung der Dinge abzuändern, und wünschen auch, sie zu verbessern. Aber nicht durch die Weigerung, an der Regierung, an der Justiz, am Heer teilzunehmen, noch durch die Vernichtung des Staates wollen wir die Besserung herbeiführen, sondern im Gegenteil durch die Teilnahme an der Regierung, durch Erwerbung von Freiheit und Rechten, durch die Wahl von wahren Volksfreunden und Gegnern des Krieges und jeder Gewaltthat zu Vertretern.« Alles das wäre sehr gut, wenn die Mitwirkung zur Verbesserung der Regierungsform mit dem Zweck des menschlichen Lebens identisch wäre. Unglücklicherweise aber sind beide nicht nur nicht identisch, sondern widersprechen einander sogar.

Denn wenn das menschliche Leben auf diese Welt beschränkt ist, so liegt sein Zweck oder Ziel bedeutend näher, als in der allmählichen Vervollkommnung der Regierung, – es liegt in dem persönlichen Wohl. Wenn aber das Leben nicht mit dem Dasein auf dieser Welt zu Ende geht, so ist der Zweck, das Ziel ein viel ferneres, größeres, es liegt in der Erfüllung des Willens Gottes. Ist das Ziel mein persönliches Wohl und endigt das Leben hier, – was geht mich dann die zukünftige langsame Verbesserung des Staates an, welche aller Wahrscheinlichkeit nach erst zu einer Zeit eintritt, wo ich nicht mehr bin? Wenn aber mein Leben unsterblich ist, so ist das Ziel der Verbesserung des englischen, deutschen, russischen, oder irgend eines Staates im zwanzigsten Jahrhundert zu klein für mich und kann die Anforderungen meiner unsterblichen Seele keineswegs befriedigen. Ein genügender Zweck für mein Leben kann demnach nur sein entweder mein sofortiges Wohlbefinden, das keineswegs zusammenfällt mit staatlicher Thätigkeit in Bezug auf Abgaben, Justiz, Krieg, oder die ewige Rettung meiner Seele, welche nur durch die Erfüllung des Willens Gottes zu erlangen ist. Dieser Wille aber fällt gleichfalls nicht zusammen mit dem Verlangen nach Gewaltthat, Hinrichtungen, Krieg der bestehenden Ordnung.

Und darum wiederhole ich: Nicht nur für jeden Christen, sondern auch für jeden Menschen unserer Zeit liegt die Frage nicht darin: »Welches Gemeinwesen wird gesicherter sein, dasjenige, welches durch Gewehre, Kanonen und Galgen geschützt wird, oder das, welches nicht durch diese Schutzmittel behütet wird?« Die Frage ist vielmehr für alle Menschen eine und dieselbe und man kann ihr nicht ausweichen, nämlich: »Willst Du, ein vernünftiges und gutes Wesen, das heute erschienen ist und morgen wieder verschwinden kann, – willst Du, wenn Du an Gott glaubst, seinem Gesetz und Willen zuwider handeln, obgleich Du weißt, daß Du jeden Augenblick zu ihm berufen werden kannst, oder, wenn Du nicht an Gott glaubst, jenen Eigenschaften des Verstandes und der Liebe zuwiderhandeln, welche allein Dir als Richtschnur im Leben dienen können, obgleich Du weißt, daß, wenn Du Dich irrst, Du niemals imstande sein wirst, Deinen Irrtum wieder gut zu machen?

Und die Antwort auf diese Frage kann für die Menschen, für welche sie aufgeworfen wurde, nicht anders lauten als: »Nein, ich kann nicht, ich will nicht!«

Man wird sagen: »Das ist der Umsturz der Regierung und die Vernichtung der bestehenden Ordnung.« Aber wenn die Erfüllung des Willens Gottes die bestehende Ordnung umstürzt, – ist das nicht ein unzweifelhafter Beweis dafür, daß die bestehende Ordnung dem Willen Gottes widerspricht und zerstört werden muß?

15. Dezember 1894.

Leo Tolstoi.

 


 


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