Graf Leo N. Tolstoi
Meine ersten Erinnerungen sowie verschiedene kleine Schriften
Graf Leo N. Tolstoi

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Eine Schande.

In den zwanziger Jahren waren die Offiziere des Semenowschen Garderegiments, die Blüte der damaligen Jugend, meist Freimaurer und späterhin Dekabristen.Dekabristen oder Dezembristen wurden die Teilnehmer des Militäraufstandes im Dezember 1825 unter Nikolai I. genannt. Sie beschlossen, in ihrem Regiment keine Leibesstrafen mehr anzuwenden, und trotz der damaligen strengen Anforderungen des Dienstes war und blieb das Regiment auch ohne Anwendung von Leibesstrafen ein Musterregiment.

Einer der Kompagniekommandeure dieses Semenowschen Garderegiments begegnete einmal einem der besten Offiziere des Regiments und seiner Zeit überhaupt, Sergee Iwanowitsch Murawjew, und erzählte ihm von einem seiner Soldaten, einem Dieb und Trunkenbold, welcher nicht anders zu bändigen sei als durch Ruten. Darin stimmte ihm Murawjew nicht bei und schlug ihm vor, den Soldaten in seine Kompagnie zu nehmen.

Die Überführung erfolgte; schon in den ersten Tagen stahl der Soldat einem Kameraden ein Paar Stiefel, vertrank sie und lärmte in der Trunkenheit. Murawjew versammelte die Kompagnie, rief den Soldaten vor die Front und sagte ihm: »Du weißt, daß in meiner Kompagnie nicht geschlagen noch gepeitscht wird. Ich werde auch Dich nicht bestrafen. Die von Dir gestohlenen Stiefel bezahle ich mit meinem Gelde, aber ich bitte Dich, nicht meinetwegen, sondern Deiner selbst wegen, über Dein Leben nachzudenken und Dich zu bessern.« Nach einigen freundschaftlichen Ermahnungen entließ er den Soldaten.

Dieser betrank sich wieder und fing Händel an, und wieder wurde er nicht bestraft, sondern nur ermahnt: »Du thust Dir noch mehr Schaden, aber wenn Du Dich besserst, so wird das Dir selbst zum Heil gereichen, deshalb bitte ich Dich, solche Sachen nicht mehr zu thun.«

Der Soldat war so verblüfft durch dieses ihm neue Verfahren, daß er sich vollständig besserte und ein musterhafter Soldat wurde.

Der Bruder von Sergee Iwanowitsch, Namens Matwee Iwanowitsch, der mir das erzählte, war mit seinem Bruder und mit den besten Menschen dieser Zeit der Ansicht, daß Leibesstrafe ein beschämender Überrest der Barbarei sei, welche nicht nur den Bestraften, sondern auch und noch mehr den Strafenden zum Schimpf gereiche, und konnte niemals Thränen der Rührung und des Entzückens zurückhalten, wenn man davon sprach. Und wenn ich ihn reden hörte, war es auch mir schwer, mich der Thränen zu enthalten.

Das war die Ansicht gebildeter Russen vor fünfundsiebzig Jahren über die Körperstrafe. Und nun sind fünfundsiebzig Jahre verflossen, und in unserer aufgeklärten Zeit sitzen die Enkel jener Menschen als Landrichter in den Behörden und erwägen ganz ruhig die Frage, ob man diesen oder jenen mit Ruten strafen soll und mit wieviel Streichen, oft einen erwachsenen Menschen, einen Familienvater oder wohl gar Großvater.

Die Vorgeschrittensten dieser Enkel, welche Mitglieder ländlicher Körperschaften und Versammlungen sind, verfassen Erklärungen, Adressen und Bittschriften, welche dahin zielen, man möge aus hygienischen und pädagogischen Rücksichten nicht alle Bauern prügeln, sondern nur diejenigen, welche nicht den Kursus in Volksschulen beendet haben.

Augenscheinlich ist inmitten der sogenannten gebildeten Stände eine bedeutende Veränderung vorgegangen. Die Leute der zwanziger Jahre, welche die Körperstrafe als eine für sie selbst schimpfliche Handlung ansahen, haben verstanden, sie im Kriegsdienst abzuschaffen, wo sie für unentbehrlich gegolten hatte. Die Leute unserer Zeit aber bringen sie ganz ruhig zur Anwendung, nicht auf Soldaten, sondern auf alte Leute eines der Stände des russischen Volks und fassen in ihren Körperschaften und Versammlungen mit vorsichtigem Bedacht Adressen und Bittschriften an die Regierung ab, worin sie weitschweifig erklären, daß die Rutenstrafe den Anforderungen der Hygieine nicht mehr entspreche und darum beschränkt werden müsse, oder es wäre wünschenswert, daß nur diejenigen Bauern mit der Prügelstrafe belegt werden, welche den Elementarunterricht nicht beendet haben, oder man möge diejenigen Bauern von der Prügelstrafe befreien, welche in dem Manifest bei Gelegenheit der Hochzeit des Kaisers bezeichnet seien. Augenscheinlich ist eine ungeheure Veränderung in der sogenannten höheren russischen Gesellschaft vorgegangen, und am meisten ist es zu verwundern, daß diese Veränderung gerade zu der Zeit vorging, als in demselben Stand (dem Bauernstand), welchen man der widerlichen, rohen und dummen Prügelstrafe zu unterwerfen für notwendig hält – in diesem selben Stand während dieser fünfundsiebziger Jahre und besonders während der letzten fünfunddreißig Jahre seit der Aufhebung der Leibeigenschaft ganz ebenso bedeutende Veränderungen vorgegangen sind, aber nur in entgegengesetzter Richtung.

Zu derselben Zeit, als die höchsten, leitenden Klassen so verrohten und sittlich sanken, daß sie die Prügelstrafe in das Gesetz einführten und ganz ruhig darüber verhandeln, hat sich im Bauernstande das geistige und sittliche Niveau so bedeutend gehoben, daß die Anwendung der Körperstrafen auf diesen Stand den Mitgliedern dieses Standes nicht nur als physisch, sondern auch als moralisch roher erscheint.

Ich habe von einem Fall von Selbstmord zur Rutenstrafe verurteilter Bauern gehört und gelesen, und ich kann nicht umhin, daran zu glauben, weil ich selbst gesehen habe, wie ein ganz gewöhnlicher junger Bauer, schon als im Dorfgericht die Möglichkeit nur erwähnt wurde, daß Körperstrafe auf ihn angewendet werden könnte, bleich wie ein Tischtuch wurde und die Stimme verlor. Ich habe auch gesehen, wie ein anderer Bauer von vierzig Jahren, der zur Leibesstrafe verurteilt wurde, in Thränen ausbrach, als er auf meine Frage, ob das Urteil vollstreckt worden sei, bejahend antworten mußte.

Ich weiß auch, wie ein mir bekannter, ehrenwehrter, bejahrter Bauer, der zur Rutenstrafe verurteilt war, weil er wie gewöhnlich mit dem Starost (Schulze) gezankt und dabei übersehen hatte, daß der Starost sein Amtszeichen trug, – in die WolostverwaltungEin Bezirk, welcher mehrere Dörfer umfaßt. hineingeführt wurde und von da in die Scheune, in welcher die Prügelstrafen ausgeführt wurden. Der Gerichtsdiener kam hinein mit den Ruten; dem Bauer wurde befohlen, sich zu entkleiden.

»Parfen Jermilitsch, ich habe einen verheirateten Sohn,« sagte der Bauer, am ganzen Leibe zitternd, zum Schulzen. »Geht es nicht an, das zu vermeiden? Es ist ja eine Sünde.«

»Es ist von der Obrigkeit befohlen, Petrowitsch. Ich würde es ja gern ändern,« erwiderte der Schulze finster.

Petrowitsch entkleidete sich und legte sich nieder.

»Christus hat gelitten und hat auch uns befohlen zu leiden.«

Wie mir der zugegen gewesene Schreiber erzählte, zitterten allen die Hände, und sie wagten einander nicht anzusehen. Sie fühlten, daß sie etwas Entsetzliches thaten. Und diese Leute findet man nötig, und wahrscheinlich aus irgend einem Grunde nützlich, mit Ruten zu peitschen, wie Tiere. Und sogar Tiere zu schlagen ist verboten.

Zum Wohl unseres christlichen und aufgeklärten Reiches ist es notwendig, der einfältigsten, unanständigsten und beleidigendsten Strafe nicht alle Angehörigen dieses aufgeklärten Reiches zu unterziehen, sondern nur einen seiner Stände, und zwar den arbeitsamsten, nützlichsten und zahlreichsten.

Die höchste Obrigkeit des ungeheuren christlichen Reiches konnte neunzehn Jahrhunderte nach Christus nichts Nützlicheres, Vernünftigeres und Sittlicheres erdenken, um der Verletzung der Gesetze entgegenzuwirken, als daß man die Menschen, welche das Gesetz übertreten, Erwachsene und zuweilen alte Leute, entblößt, auf die Erde wirft und mit Ruten peitscht.

Und warum wählt man gerade diese dumme, alte, barbarische Art, Schmerz zu erregen, und nicht irgend eine andere – die Schultern oder irgend einen anderen Körperteil mit Nadeln stechen oder die Hände oder Füße in einen Schraubstock zu pressen oder irgend etwas der Art?

Und die Leute jener Zeit, welche sich oft für die vorgeschrittensten Enkel jener Menschen halten, welche vor fünfundsiebzig Jahren die Körperstrafe abschafften, bitten jetzt ehrerbietig und vollkommen ernsthaft den Herrn Minister und andere hohe Persönlichkeiten darum, man möge wenigstens die erwachsenen Leute des russischen Volkes von der Prügelstrafe ausnehmen, weil die Ärzte diese ungesund finden, und diejenigen nicht prügeln, welche den Kursus der Elementarschule durchgemacht haben, und auch alle diejenigen verschonen, welche zur Zeit der Hochzeit des Kaisers bestraft werden sollten.

Die weise Regierung schweigt tiefsinnig zu diesen leichtsinnigen Äußerungen oder verbietet sie sogar. Aber kann man wohl darum bitten, kann das in Frage kommen? Es giebt Verbrechen, ob sie von Privatpersonen oder von der Regierung begangen werden, von welchen man nicht mit ruhigem Blut sprechen kann. Und ein solches Verbrechen ist die Auspeitschung erwachsener Leute eines Standes des russischen Volkes in unserer Zeit und bei unserer milden und christlichen Volksaufklärung. Zur Ausrottung solcher Frevelthaten, welche alle göttlichen und menschlichen Gesetze verletzen, genügt es nicht, sich bei der Regierung einzuschmeicheln mit Gründen der Hygieine, mit der Schulbildung, mit den Gnadenerlassen eines Manifestes. Von solchen Sachen kann man entweder gar nicht sprechen, oder man muß der Sache auf den Grund gehen, immer aber mit Abscheu und Entsetzen. Wollte man darum Bittschriften einreichen, daß diejenigen Leute aus dem Bauernstand nicht auf den entblößten Körper gepeitscht werden, welche zu lesen und zu schreiben gelernt haben, so wäre das ganz ebenso, als wenn dort, wo etwa noch die Bestrafung einer Ehebrecherin auf diese Weise im Gebrauch war, daß man dieselbe entblößt durch die Straßen führte, man darum bitten wollte, daß diese Strafe nur auf solche Frauen angewendet werde, welche das Strümpfestricken oder Ähnliches nicht verstehen.

Um solche Sachen kann man nicht ehrfurchtsvoll bitten und »sich den Stufen des Thrones nähern« und so weiter. Auf solche Sachen kann und soll man nur hinweisen, und zwar dadurch, daß solche Sachen, wenn ihnen das Ansehen der Gesetzlichkeit verliehen wird, von allen verdammt werden, die wir in diesem Reiche leben, in dem solche Dinge vorgehen. Wenn die Auspeitschung der Bauern Gesetz ist, so ist dieses Gesetz auch für mich gemacht, zur Sicherung meiner Ruhe und meines Wohls, aber das darf man nicht zulassen. Ich will und kann mich nicht zu diesem Gesetz bekennen, welches alle göttlichen und menschlichen Gesetze verletzt, und will nicht solidarisch sein mit denjenigen, welche solche Verbrechen unter dem Schein des Gesetzes befehlen und bestätigen.

Wenn man überhaupt von dieser Abscheulichkeit spricht, so kann man nur eins sagen: Daß ein solches Gesetz unmöglich ist, daß keinerlei richterliche Insignien, keine Siegel und keine allerhöchsten Befehle ein Verbrechen zu einem Gesetz machen können, und daß im Gegenteil die Erleichterung eines solchen Verbrechens in gesetzlicher Form (wie das, daß erwachsene Menschen eines einzigen und des besten Standes, nach dem Willen eines anderen, schlechteren Standes, des Adel- und des Beamtenstandes, einer unanständigen, rohen und abscheulichen Strafe unterzogen werden können), besser als alles andere beweist, daß da, wo solche pseudogesetzlichen Verbrechen möglich sind, gar keine Gesetze existieren, sondern nur die barbarische Willkür der rohen Gewalt. Wenn man von solchen Strafen, die nur auf den Bauernstand angewendet werden, spricht, so muß man nicht die Rechte der Landschaftsversammlungen verteidigen wollen, oder sich über den Gouverneur, der eine Bittschrift über die Befreiung der Schulbildung Besitzenden von der Prügelstrafe zurückwies, beim Minister beklagen, und über den Minister beim Senat, und über den Senat bei noch jemand, wie es die Semstwo von Tambow vorschlug, sondern man muß unaufhörlich heulen und schreien, daß die Anwendung der barbarischen Strafe, deren Anwendung auf Kinder bereits aufgehört hat, auf den besten Stand des russischen Volkes eine Schande für alle diejenigen ist, welche direkt oder indirekt daran teilnehmen.

Petrowitsch, welcher unter den Ruten sich bekreuzigte und sagte: »Christus hat gelitten und hat auch uns befohlen zu leiden«, vergab seinen Verfolgern und war nach der Rutenstrafe derselbe wie zuvor. Das einzige, was in ihm die an ihm ausgeführte Strafe hervorbrachte, ist die Verachtung gegen diejenige Gewalt, welche eine solche Strafe befehlen konnte. Aber bei vielen jungen Leuten wirkt nicht nur die Strafe selbst, sondern oft schon die Erkenntnis, daß die Strafe möglich ist, erniedrigend auf ihr sittliches Gefühl und erweckt zuweilen wilde und tierische Wut.

Aber noch nicht darin liegt der hauptsächlichste Schaden dieser Abscheulichkeit. Den größten Nachteil erleidet der sittliche Zustand derjenigen Menschen, welche diese Ungesetzlichkeit schützen, erlauben, befehlen – derjenigen, welche sich ihrer als Drohung bedienen und aller derjenigen, welche in der Überzeugung leben, daß diese Verletzung aller Gerechtigkeit und Menschlichkeit für ein gutes, rechtliches Leben unentbehrlich sei. Welche schreckliche, sittliche Verwirrung muß in dem Geiste und Herzen derjenigen, oft jungen Leute herrschen, die, wie ich selbst gehört habe, mit tiefsinniger, weiser Miene behaupten, man könne mit den Bauern nicht ohne Prügelstrafe auskommen, und für den Bauern sei es so am besten.

Diese Leute sind am meisten zu bedauern wegen der Verwilderung, in die sie verfallen sind und in der sie beharren.

Und darum ist die Befreiung des russischen Volkes von dem demoralisierenden Einfluß des vom Gesetz bestimmten Verbrechens eine Sache von höchster Wichtigkeit, und diese Befreiung erfolgt nicht dann, wenn von der Körperstrafe diejenigen ausgenommen werden, welche eine Schule durchgemacht haben, oder noch irgendwelche andere Bauern, oder sogar noch alle Bauern, mit Ausnahme etwa eines einzigen, sondern erst dann, wenn die herrschenden Klassen ihrer Sünde sich bewußt werden und sie aufrichtig bereuen.

14. Dezember 1895.

Leo Tolstoi.

 


 


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