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Achtes Kapitel

Die Maslow wurde erst gegen sechs Uhr in das Gefängnis zurückgeführt. Sie fühlte sich vollkommen erschöpft. Die unvorhergesehene Strenge des über sie gefällten Urteils hatte sie gleichsam niedergeschmettert; und der lange Weg durch die schlechtgepflasterten Straßen hatte sie vollends betäubt.

Dann fiel sie auch vor Hunger um. In einer der Pausen während der Verhandlung hatten ihre Wärter Brot und harte Eier gegessen; das Wasser war ihr im Munde zusammengelaufen und sie hatten bemerkt, daß sie Hunger hatte; doch aus Schamgefühl hatte sie die Wärter um nichts bitten wollen. Die Verhandlung hatte wieder begonnen und noch über drei Stunden gedauert, so daß die Maslow schließlich vor Ermüdung und Abspannung keinen Hunger mehr spürte. In diesem Zustande hatte sie die Verlesung des Urteils angehört.

Zuerst glaubte sie, sie träume, und hatte sich von der Zwangsarbeit nicht gleich eine Vorstellung machen können. Es erschien ihr wie ein böser Traum, aus dem sie im nächsten Augenblick erwachen mußte. Doch an der ganz natürlichen Art, wie Bekannte, Advokaten, Zeugen und der der ganze Saal die Verlesung ihrer Verurteilung aufgenommen, hatte sie bald gemerkt, daß es wahr war. Nun hatte sie eine Anwandlung von Leidenschaft ergriffen, und sie hatte aus Leibeskräften geschrieen, sie wäre unschuldig. Dann hatte sie gesehen, daß man auch ihren Schrei als etwas Natürliches, vorher Erwartetes aufgenommen, das ihre Lage zu verändern außer stande sei. Sie war in Thränen ausgebrochen und hatte sich jetzt vollständig gefügt, die seltsame und grausame Ungerechtigkeit, die ihr ihr Unglück eingebracht, bis zu Ende zu ertragen.

Eins wunderte sie ganz besonders: daß ein so hartes Urteil von Männern über sie gefällt werden konnte; – von Männern in der Blüte der Jahre, nicht von Greisen; von Männern, die sie während der ganzen Prozeßdauer mit wohlgefälligen Augen angeblickt. Denn mit Ausnahme des Staatsanwalts, dessen Blicke ihr die ganze Zeit über bösartig erschienen waren, hatte sie auch nicht einen ohne Vergnügen angesehen. Und diese Männer, die ihr liebenswürdige Blicke zugeworfen, verurteilten sie jetzt zur Zwangsarbeit, obwohl sie an dem Verbrechen, dessen man sie beschuldigte, unschuldig war! Sie hatte bitterlich geweint, doch schließlich hatten ihre Thränen aufgehört, und als man sie nach der Verhandlung in eine Zelle des Gerichtsgebäudes eingesperrt, bevor sie in das Gefängnis zurückgebracht wurde, hatte sie nur noch an zweierlei gedacht: an Trinken und Rauchen.

Sie war schon einige Zeit in der Zelle allein, als der mit ihrer Aufsicht betraute Gendarm die Thür öffnete und ihr drei Rubel übergab.

»Da, nimm! Eine Dame schickt dir das!«

»Was für eine Dame?«

»Na, nimm! Ich habe mich nicht mit dir zu unterhalten!«

Das Geld schickte der Maslow Frau Kitajeff, ihre Wirtin, die den Nuntius beim Verlassen des Gerichtssaales gefragt hatte, ob sie der Verurteilten etwas Geld geben dürfe. Auf die bejahende Antwort des Nuntius zog sie vorsichtig den dreiknöpfigen Handschuh von ihrer linken Hand, nahm aus der Hintertasche ihres seidenen Rockes eine mit Scheinen und Kleingeld gefüllte Börse, und übergab dem Nuntius einen zwei und einen halben Rubelschein, zusammen mit fünfzig Kopeken Kupfergeld, die dieser Nuntius vor ihren Augen dem Gensdarm einhändigte.

»Geben Sie ihr aber alles, und zwar gleich,« hatte Frau Kitajeff hinzugefügt.

Der Gensdarm hatte sich über diese Bemerkung geärgert, daher seine schlechte Laune gegen die Maslow.

Diese war aber trotzdem beim Anblick des Geldes hocherfreut, denn jetzt konnte sie wenigstens ihren doppelten Wunsch erfüllen.

»Wenn ich mir nur schnell Schnaps und Zigaretten verschaffen kann!« sagte sie sich, und alle ihre Sorgen hatten sich auf diesen einzigen Wunsch beschränkt. Sie hatte so großes Verlangen, Schnaps zu trinken, daß ihr schon bei dem Gedanken ans Trinken das Wasser im Munde zusammenlief, und freudig sog sie den Duft des Tabaks ein, der in Rauchwolken in ihre Zelle drang.

Trotzdem mußte sie noch lange auf die Erfüllung ihres Wunsches warten. Der Aktuar, der sie ins Gefängnis zurückbringen lassen sollte, hatte sie thatsächlich vergessen und sich in einem Gespräch über Politik mit dem dicken Richter und dem Verteidiger verspätet.

Schließlich aber gegen fünf Uhr hatte man sie, nachdem man Kartymkin und die Botschkoff fortgebracht, abgeholt, um sie den beiden Soldaten zu übergeben, die sie am Morgen hergebracht. Als sie dann das Justizgebäude verließ, hatte sie gleich einem der Soldaten die fünfzig Kopeken gegeben und ihn gebeten, ihr Zigaretten, zwei kleine Brote und eine halbe Flasche zu kaufen.

Der Soldat hatte zu lachen angefangen und gesagt: »Na, du leistest dir aber was Ordentliches!« Thatsächlich hatte er die Zigaretten und die kleinen Brötchen gekauft, doch den Schnaps wollte er ihr nicht kaufen. Die Maslow aß eins der Brote auf dem Wege, doch dadurch war sie nur noch hungriger geworden.

Erst nach Sonnenuntergang war sie ins Gefängnis gekommen, und auch da hatte sie noch lange im Flur warten müssen, weil in demselben Augenblick Wärter einen Zug von hundert Gefangenen anbrachten, der aus einer Nachbarstadt hierher überführt worden war.

Es waren darunter rasierte Männer und solche mit langen Bärten, alte und junge Russen und Ausländer. Einigen war der halbe Kopf geschoren, und sie trugen Eisen an den Füßen. Alle aber hatten die Maslow, als sie an ihr vorüberkamen, mit lüsternen Augen angesehen, und mehrere hatten ihr mit begehrlich flammendem Gesicht zugelächelt, waren an sie herangetreten und hatten sie in die Taille gekniffen.

»He, he, he! ein hübsches Mädel! Das ist sicherlich 'ne Moskauer Pflanze!« hatte der eine gesagt.

»Mein Fräulein, alle Hochachtung!« meinte ein anderer augenblinzelnd.

Einer, dessen Vorderkopf rasiert war und der einen ungeheuren Schnurrbart trug, hatte die Vertraulichkeit so weit getrieben, daß er sie umarmte.

»Na, na, ziere dich nur nicht so!« hatte er gesagt, als sie ihn zurückstieß.

»Heda, du Schwein, was thust du da?« rief ein Aufseher, der plötzlich aus dem Gefängnisbureau kam.

Der Sträfling trat, am ganzen Leibe zitternd, sofort zurück, und nun wandte sich der Aufseher zur Maslow:

»Und was hast du hier zu suchen?«

Die Maslow wollte antworten, sie käme aus dem Schwurgerichtssaale; doch sie war so abgespannt, daß sie nicht einmal die Kraft zum Sprechen hatte.

»Sie kommt vom Gericht her, Herr Aufseher,« antwortete einer der Soldaten, indem er die Hand an die Mütze legte.

»Dann führen Sie sie dem Oberaufseher vor! aber schleunigst!«

Der Oberaufseher übernahm die Gefangene, rüttelte sie am Arm, um sie aufzuwecken, und führte sie huldvollst selbst durch die langen Gänge zu dem Saal, den sie am Morgen verlassen hatte.


Dieser Saal war ein großes, neun Arschin langes und sieben Arschin breites Zimmer mit zwei Fenstern; es war nur mit einem alten, vollständig verfallenen Ofen und zwanzig aus schlecht zusammengefügten Brettern hergestellten Betten ausgestattet, die zwei Drittel des Raumes einnahmen. An der Wand hing der Thür gegenüber ein altes, mit einer Schmutzkruste überzogenes Heiligenbild, vor welchem eine Kerze brannte und unter dem ein Immortellenkranz hing. Hinter der Thür links stand ein großer Nachteimer.

Man hatte eben die Abendmusterung vorgenommen und die Gefangenen für die Nacht eingeschlossen.

Der Saal wurde von fünfzehn Personen bewohnt: zwölf Frauen und drei Kindern.

Es war noch hell, und nur zwei Frauen lagen im Bette. Die eine, welche schlief und den Kopf mit einem Mantel bedeckt hatte, war eine wegen Landstreicherei eingesperrte Wirtin, die den ganzen Tag schlief. Die andere, die wegen Diebstahls verurteilt worden, war schwindsüchtig. Sie schlief nicht, blieb aber mit weit aufgerissenen Augen und den Kopf auf ihren zum Kopfkissen gefalteten Mantel gebettet, liegen. Um nicht zu husten, hielt sie mühsam in ihrer Kehle den Speichel zurück, der über ihre Lippen sickerte.

Von den anderen Frauen, von denen die Mehrzahl nur in grobe Leinenhemden gekleidet war, standen sieben, in zwei Gruppen geteilt, an den Fenstern und sahen dem Vorbeimarsch der Gefangenen im Hofe zu. An einem Fenster stand in einer Gruppe von drei Personen die Alte, die mit der Maslow am Morgen durch das Guckfenster in der Thür gesprochen hatte. Man nannte sie die Korablewa. Das war ein Geschöpf mit brummiger Miene, dichten, zusammengewachsenen Augenbrauen, Hautfalten, die unter dem Kinn herabhingen, spärlichen, an den Schläfen ins Graue schimmernden Haaren und einer ganz mit Haaren bewachsenen Warze auf der Wange, außerdem war sie groß, stark und kräftig gebaut. Dieses Weib war zu Gefängnisstrafe verurteilt worden, weil sie ihren Mann ermordet, den sie eines Tages bei der Vergewaltigung seiner Tochter betroffen. Sie war die Aelteste in dem Saale und hatte das Vorrecht, Schnaps zu verkaufen. In diesem Moment nähte sie am Fenster, indem sie die Nadel nach bäurischer Art mit drei Fingern ihrer starken, schwarzen Hand hielt.

Neben ihr saß, ebenfalls mit Nähen beschäftigt, ein kleines, schwarzes Weib mit einer Stumpfnase und kleinen, schwarzen, unstät umherschweifenden Augen. Das war eine Eisenbahnwärterin, die man zu drei Monaten Gefängnis verurteilt hatte, weil sie in einer Nacht ihre Fahne nicht herausgesteckt und dadurch einen Unfall verursacht hatte.

Das dritte Weib war die Fedosja oder Fenitschka, wie ihre Gefährtinnen sie nannten, ein ganz junges, rosiges und weißes Geschöpf mit hellen Kinderaugen und zwei langen blonden Flechten, die sie um ihren kleinen Kopf gewickelt trug. Sie saß im Gefängnis, weil sie versucht hatte, ihren Mann zu vergiften. Sie hatte das thatsächlich am Hochzeitsabende versucht, ohne recht zu wissen, warum. Sie zählte damals sechzehn Jahre, und der Mann, mit dem man sie verheiratet hatte, war ihr verhaßt. Doch in den acht Monaten, die ihrer Verurteilung vorangegangen waren, hatte sie sich nicht allein mit ihrem Manne ausgesöhnt, sondern sich sogar schließlich in ihn verliebt, so daß sie ihm zur Zeit ihrer Verurteilung mit Leib und Seele angehörte, was das Gericht jedoch nicht hinderte, sie trotz der Bitten ihres Mannes und ihrer Schwiegereltern, die während dieser acht Monate eine aufrichtige Zärtlichkeit zu ihr gefaßt hatten, schuldig zu sprechen. Gut, heiter und stets zu lächeln bereit, war diese Fedosja die Bettnachbarin der Maslow, hatte sich bald an sie angeschlossen und überschüttete sie mit Rücksichten und Aufmerksamkeiten.

Zwei andere Weiber saßen nicht weit davon auf einem Bett. Die eine, die etwa vierzig Jahre zählte, war mager und blaß, zeigte aber immer noch einige Spuren früherer Schönheit. Sie hielt in ihren Armen ein kleines Kind, dem sie die Brust gab. Es war eine Bäuerin, die wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt ins Gefängnis gebracht worden war. Eines Tages war die Polizei in ihr Dorf gekommen, um einen ihrer Neffen auszuheben und zum Regiment zu überführen. Die Bauern, die diese Maßregel für ungesetzlich hielten, hatten sich des Stanowojs bemächtigt und den jungen Mann befreit, und dieses Weib war zuerst dem Pferde, auf das man ihren Neffen gesetzt, in die Zügel gefallen. Das andere Weib, das neben ihr saß, war eine alte Bucklige, die schon graue Haare hatte. Sie spielte Haschen mit einem dicken Jungen von vier Jahren, einem rosigen, bausbäckigen Burschen, der unter lautem Lachen um sie herumlief und fortwährend wiederholte: »Kiß, Kiß, du kriegst mich doch nicht!«

Dieses alte Weib war der Beihilfe bei einem Brande schuldig befunden worden, den ihr Sohn angelegt hatte. Sie ertrug ihre Einkerkerung mit größter Ergebung, und beunruhigte sich nur um ihren Sohn und vor allem um ihren Mann, der in ihrer Abwesenheit niemand hatte, der ihn säubern und ihm die Läuse abfangen konnte.

Vier andere Frauen standen an dem zweiten Fenster und lehnten den Kopf an die Eisenstäbe; sie sprachen mit den über den Hof ziehenden Gefangenen, denselben, denen die Maslow kurz vorher im Eingangsflur des Gefängnisses begegnet war. Eins dieser Weiber, das wegen Diebstahls verurteilt worden, war eine große Rothaarige mit welkem Körper, mit gelbem, ganz mit Sommersprossen übersäetem Gesicht. Mit heiserer Stimme schrie sie durch das Fenster allerlei gemeine Worte. Neben ihr stand eine kleine brünette Frau, die mit ihrer langen Taille und ihren kurzen Beinen wie ein Mädchen von zehn Jahren aussah. Ihr Gesicht war rot und voller Flecken, mit großen, schwarzen Augen und dicken, aufgestülpten Lippen, die eine Reihe hervorstehender weißer Zähne zeigten. Sie lachte kreischend, während sie auf die Reden hörte, die ihre Nachbarin mit den Gefangenen im Hofe wechselte. Wegen ihrer auffallenden Häßlichkeit nannte man sie die Schönheit. Hinter ihr stand ein anderes Weib, eine magere, knochige Gestalt von jammervollem Aussehen, eine Unglückliche, die wegen Hehlerei verurteilt worden war; sie sprach kein Wort, sondern beschränkte sich nur manchmal darauf, mit zustimmender Miene zu den Gemeinheiten zu lächeln, die sie mitanhörte. Es war da noch eine vierte Gefangene, die wegen unerlaubten Branntweinverkaufs verurteilt worden war. Das war die Mutter des kleinen Jungen, der mit der Buckligen spielte, und außerdem gehörte ihr noch ein kleines Mädchen von sieben Jahren, die man, da man nicht wußte, wem man sie anvertrauen sollte, bei der Mutter im Gefängnis belassen hatte. Das kleine Mädchen stand bei ihrer Mutter und lauschte eifrig den gemeinen Reden, die aus dem Fenster gerufen wurden. Sie war zart und fein und hatte reizende blaue Augen und zwei fast weiße Haarflechten, die ihr auf den Rücken fielen.

Die zwölfte Gefangene war die Tochter eines Kirchendieners, die ihr neugeborenes Kind in einem Brunnen ertränkt hatte. Sie war ein großes, starkes blondes Mädchen mit wirren Haaren und starrblickenden, runden Augen. Sie ging fortwährend in dem freien Raum zwischen den beiden Betten auf und ab, sah niemand, sprach mit niemand, und stieß nur jedesmal, wenn sie an die Wand kam und sich umdrehen mußte, ein unartikuliertes Knurren aus.


Als die Thür sich öffnete und die Maslow erschien, unterbrach die Kirchendienerstochter ihren Spaziergang einen Augenblick, runzelte die Stirn und betrachtete die »Neue«; dann ging sie wieder, ohne etwas zu sagen, mit ihrem festen Schritte auf und ab. Die Korablewa stach ihre Nadel in den Sack, an dem sie nähte, betrachtete die Maslow durch ihre Brille und rief mit fragender Miene im Baßtone:

»Da ist sie ja! Sie ist wieder da! Und ich glaubte, man würde sie freisprechen!«

Sie nahm ihre Brille ab und legte sie mit ihrer Arbeit auf ihr Bett.

»Und ich sagte eben noch zu der kleinen Tante, man würde sie vielleicht gleich freilassen! So was kommt doch vor! Manchmal geben sie einem sogar Geld!« – fuhr die Eisenbahnwärterin mit singender Stimme fort.

»Sie haben dich also verurteilt?« fragte Fenitschka, und richtete ihre klaren, kindlichen Augen schüchtern auf die Maslow. Dabei verdüsterte sich ihr jugendlich heiteres Gesicht, als wenn sie weinen wollte.

Die Maslow gab keine Antwort. Sie ging auf ihr Bett zu, das neben dem der Korablewa stand und setzte sich.

»Das hätte ich nie erwartet!« sagte Fenitschka und setzte sich neben sie.


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