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Sechstes Kapitel

In dieser Gemütsverfassung befand sich Nechludoff, während er im Geschworenenzimmer die Wiederaufnahme der Sitzung erwartete. Er sah am Fenster, hörte kaum auf die Unterhaltungen seiner Kollegen und rauchte unaufhörlich Cigaretten.

Der Obmann der Geschworenen gab Erklärungen ab, aus denen man schließen konnte, der ganze Knotenpunkt der Sache ruhe auf den gerichtlichen Sachverständigen. Peter Gerassimowitsch scherzte mit dem jüdischen Kommis, und alle beide lachten laut.

Als der Gerichtsdiener mit seinem hüpfenden Gange in das Zimmer trat, um die Geschworenen wieder hereinzurufen, empfand Nechludoff ein Gefühl der Angst, als sollte er nicht urteilen, sondern abgeurteilt werden. Im Grunde seines Herzens war er sich jetzt klar, daß er ein erbärmlicher Mensch war, der den andern nicht ins Gesicht sehen durfte. Trotzdem war die Kraft der Gewohnheit so stark in ihm, daß er mit dem sichersten Schritte wieder auf die Estrade stieg und seinen Sessel in der ersten Reihe, ganz in der Nähe des Präsidenten, wieder einnahm; darauf kreuzte er ruhig seine Beine und fing an, mit seinem Pincenez zu spielen. Auch die Angeklagten waren aus dem Saale geführt worden, und wurden jetzt wieder hereingebracht.

Neue Gestalten erschienen auf der Estrade; das waren die Zeugen; Nechludoff bemerkte, daß Katuscha eifrige Blicke aus eine dicke, in Samt und Seide gekleidete Dame warf, die einen großen Hut mit riesigen Bändern trug. Diese Dame saß in der ersten Zeugenreihe und hielt einen höchst eleganten Beutel in der Hand. Das war, wie Nechludoff bald darauf erfuhr, die Wirtin des öffentlichen Hauses, in welchem die Maslow arbeitete.

Man nahm nun den Zeugenaufruf vor und fragte dieselben nach ihrer Religion, Vornamen, Namen und so weiter und so weiter. Als man sie dann gefragt, ob sie unter ihrem Eide oder nicht vernommen werden wollten, erschien der alte Pope mit mühsamen Schritten wieder auf der Estrade; von neuem wandte sich der Greis, indem er das auf seiner Brust hängende Kreuz tätschelte, dem Kruzifix zu, wo er den Zeugen und den Sachverständigen den Eid abnahm, immer mit derselben Ruhe und in derselben Ueberzeugung, er übe eine ungeheuer ernste und nützliche Thätigkeit aus.

Als diese Ceremonie beendet war, ließ der Präsident alle Zeugen hinausgehen, mit Ausnahme der dicken Dame, einer Frau Kitajeff, welche aufgefordert wurde, alles zu sagen, was sie über die Vergiftungsgeschichte wüßte. Mit affektiertem Lachen, wahrend sie den Kopf bei jedem Satze hin- und herwiegte, erzählte die Dame mit stark ausgesprochen deutschem Accent sorgfältig und ausführlich, wie der reiche sibirische Kaufmann Smjelkoff zum erstenmal in ihr Haus gekommen war, und wie er schließlich, weil er nicht genügend Geld bei sich hatte, die »Lubka« in das Hotel geschickt, in welchem er wohnte.

»Möchte die Zeugin uns ihre Meinung über die Maslow sagen?« fragte der Verteidiger der letzteren, ein junger Mann, der sich dem Beamtenstande zuwenden wollte, und den das Gericht zum Offizialverteidiger der Angeklagten bestimmt, die Frau Kitajeff.

»Meine Meinung über sie ist die denkbar beste,« versetzte Frau Kitajeff. »Sie ist eine junge Person von ausgezeichneten Manieren, die viel »Chik« besitzt, ist in einer vornehmen Familie erzogen worden und kann sogar französisch. Sie trank wohl manchmal ein bißchen zu viel, hat sich aber nie eine einzige Minute vergessen.«

Katuscha sah Frau Kitajeff noch immer an, richtete die Blicke dann auf die Geschworenen, besonders auf Nechludoff, der in demselben Augenblick einen ernsten, fast strengen Ausdruck annahm. Lange Zeit blieben diese beiden Augen mit ihrem seltsamen Ausdruck auf Nechludoff gerichtet, und trotz seines Entsetzens konnte er die seinigen nicht von ihnen abwenden. Er dachte wieder an jene für sein Leben ausschlaggebende Nacht, an das Krachen des Eises auf dem Flusse, den Nebel und den abnehmenden Mond, der gegen Morgen aufgegangen war und etwas Düsteres und Schreckliches beleuchtet hatte.

»Sie hat mich erkannt!« dachte er und erhob sich unwillkürlich auf seinem Sessel.

Thatsächlich hatte sie ihn aber gar nicht erkannt, denn sie stieß einen leisen Seufzer aus und wandte ihre Augen dem Präsidenten zu. Auch Nechludoff seufzte und dachte: »Ach, es wäre besser gewesen, wenn sie mich gleich erkannt hätte!«

Er hatte eine Empfindung, wie er sie manchmal auf der Jagd gehabt, wenn er einen verwundeten Vogel vollends tot geschossen; der verwundete Vogel zappelt in der Jagdtasche, er thut einem leid, man zögert und möchte ihm doch so schnell wie möglich den Garaus machen.

Gefühle dieser Art erfüllten in dieser Stunde die Seele Nechludoffs, während er auf die Zeugenaussagen hörte.


Wie absichtlich zog sich die Sache in die Länge. Nachdem man alle Zeugen und den Sachverständigen verhört, und der Staatsanwalt und die Verteidiger wie üblich mit der wichtigsten Miene von der Welt eine Reihe unnützer Fragen, gestellt, forderte der Präsident die Geschworenen auf, von den Beweisstücken Kenntnis zu nehmen, die in etwa zehn Pokalen, dem Filter, mit dem man das Gift untersucht, und einem ungeheuer großen Ringe mit einer Brillantrose, der wohl auf einem Zeigefinger von ungewöhnlicher Dicke gesteckt haben mußte, bestanden. Alle diese Gegenstände waren versiegelt und mit einem Etikett versehen. Die Geschworenen wollten sich bereits von ihren Sitzen erheben, um die Gegenstände zu prüfen, als der Staatsanwalt aufstand und um die Verlesung der an dem Leichnam des verstorbenen Smjelkoff vorgenommenen ärztlichen Untersuchung bat.

Der Präsident, der die Sache so viel wie möglich beeilte, wußte recht wohl, daß die Verlesung dieser Dokumente keine andere Wirkung hatte, als eine allgemeine Langeweile herbeizuführen. Er wußte, daß der Staatsanwalt die Verlesung nur forderte, weil er das Recht dazu hatte. Er wußte aber ebenso, daß er sich dem nicht widersetzen konnte, und so ordnete er denn die Verlesung an. Der Aktuar nahm Papiere zur Hand und begann mit seiner einschläfernden Stimme zu lesen.

Aus der Prüfung der Leiche ging folgendes hervor:

1. Die Größe des Ferapont Smjelkoff betrug zwei Arschin zwölf Werschoks.

»Ein kräftiger Bursche!« flüsterte der Kaufmann Nechludoff ins Ohr.

2. Das Alter mußte, soweit man nach äußerlicher Prüfung beurteilen konnte, ungefähr 40 Jahre betragen.

3. Der Leichnam war stark angeschwollen.

4. Die Adern waren grünlich und stellenweise schwarz gefleckt.

5. Die Haut hatte sich von der ganzen Oberfläche des Körpers abgelöst und hing an mehreren Stellen herunter.

6. Die sehr dichten, dunkelroten Haare lösten sich bei der geringsten Berührung des Fingers von der Haut. 7. Die Augen traten aus den Höhlen, und die Hornhaut war matt.

8. Aus den Nasenlöchern, der beiden Ohren und dem Munde floß ein eitriger Schaum.

9. Der Leichnam hatte infolge der Anschwellung des Gesichtes und der Büste fast gar keinen Hals.

In dieser Weise wurde der aufgedunsene Leichnam des lustigen Smjelkoff vier Seiten lang auf 27 Punkten weiter beschrieben, und als die Verlesung der äußeren Untersuchung endlich beendet war, stieß der Präsident einen Seufzer der Erleichterung aus und erhob den Kopf; doch sofort begann der Aktuar ein zweites Dokument zu lesen; das Protokoll über die innere Untersuchung.

Der Präsident ließ den Kopf von neuem zurücksinken, lehnte sich auf den Tisch und legte die Hände vor die Augen. Der Kaufmann neben Nechludoff machte gewaltige Anstrengungen, um den Schlummer zu unterdrücken, und ließ von Zeit zu Zeit den Kopf sinken; selbst die Angeklagten und die unbeweglich dasitzenden Gendarmen überfiel die Schlaflust.

Die innere Untersuchung der Leiche hatte ergeben:

1. Die Haut der Schädelhöhle hatte sich ohne Spur von Bluterguß von den Knochen gelöst.

2. Die Schädelknochen waren normal und unberührt.

3. Auf dem Gehirn befanden sich zwei kleine Flecken von etwa 4 Zoll Größe u.s.w. . . Dann folgten noch 13 Punkte derselben Art.

Es folgten nun die Namen der bei der Untersuchung anwesenden Zeugen und endlich die Schlußfolgerungen des Gerichtsarztes, welcher erklärte, aus den im Magen und in den Eingeweiden des Kaufmanns Smjelkoff erfolgten Veränderungen gehe aller Wahrscheinlichkeit nach hervor, daß derselbe am Genuß eines gleichzeitig mit Branntwein getrunkenen Giftes gestorben war. Den Namen des Giftes zu nennen, war unmöglich; und daß das Gift gleichzeitig mit dem Branntwein genossen worden war, ging aus dem großen Quantum Branntwein hervor, das sich im Magen des Kaufmanns befunden hatte.

»Da sieht man, daß er tüchtig trank,« flüsterte der Kaufmann, der plötzlich wieder erwacht war, Nechludoff ins Ohr.

Die Verlesung dieser Protokolle hatte fast eine Stunde gedauert; doch der Staatsanwalt war unersättlich. Als der Aktuar die Folgerungen des Gerichtsarztes verlesen, sagte der Präsident, sich zu dem Staatsanwalt wendend: »Ich glaube, die Resultate der inneren Teile brauchen wir nicht zu verlesen!«

»Verzeihung, ich verlange die Verlesung!« sagte der Vertreter des öffentlichen Anklägers in strengem Tone, ohne den Präsidenten anzusehen und beugte sich leicht zur Seite.

Der Richter mit dem langen Bart spürte von neuem Magendrücken und fragte den Präsidenten:

»Weshalb diese Verlesung? Damit verlieren wir nur Zeit!«

Der Richter mit der goldenen Brille sagte nichts. Er starrte mit düsterer, verdrossener Miene vor sich hin, wie ein Mann, der weder von seiner Frau im besonderen, noch vom Leben im allgemeinen etwas Gutes erwartet.

Die Verlesung des Dokuments begann:

Am 15. Dezember 188.. haben wir Endesunterzeichnete, auf Befehl der medizinischen Inspektion, und auf Grund des Artikels...,« begann der Aktuar in entschlossenem Tone zu lesen, als wolle er seine eigene Schläfrigkeit und die des ganzen Saales besiegen – »in Gegenwart des Delegierten der oben erwähnten medizinischen Inspektion die Analyse der nachfolgenden Gegenstände vorgenommen:

1. Der rechten Lunge und des Herzens (in einem sechs Pfund fassenden Pokal befindlich).

2. Des Inhalts des Magens (in einem Sechspfund-Pokal befindlich).

3. Des Magens (in einem Sechspfund-Pokal befindlich).

4. Der Leber, der Galle und Milz (in einem Dreipfund-Pokal befindlich).

5. Der Eingeweide (in einem sechs Pfund fassenden Glaspokal befindlich).

Bei dieser Stelle flüsterte der Präsident erst dem einen, dann dem andern Beisitzer etwas ins Ohr. Nachdem er von beiden eine bejahende Antwort erhalten, machte er dem Aktuar ein Zeichen, mit der Verlesung aufzuhören, und erklärte:

»Der Gerichtshof hält diese Verlesung für unnötig!«

Der Aktuar schwieg sofort und legte die Blätter des Protokolls zusammen, während sich der Staatsanwalt mit zorniger Miene etwas notierte.

»Die Herren Geschworene» können jetzt von den Beweisstücken Kenntnis nehmen,« sagte der Präsident.

Eine große Anzahl der Geschworenen erhoben sich und näherten sich dem Tische, wo sie sich den Ring, die Pokale und den Filter ansahen. Der Kaufmann wagte es sogar, den Ring an den Finger zu stecken und sagte zu Nechludoff, während er wieder auf seinen Platz zurückging:

»Na, das ist ein Finger! So dick wie 'ne Gurke!«


Als die Geschworenen die Beweisstücke betrachtet hatten, erklärte der Präsident die Beweisaufnahme für geschlossen und erteilte sofort dem Staatsanwalt das Wort. Er sagte sich, auch der Staatsanwalt sei ein Mensch, auch er wolle sicherlich rauchen und essen und würde deshalb mit den Anwesenden Mitleid haben. Doch der Staatsanwalt hatte weder mit sich, noch mit den andern Mitleid. Dieser von Hause aus dumme Beamte hatte außerdem das Unglück, daß er das Gymnasium mit einer goldenen Medaille verlassen und später auf der Universität für seine Dissertation über »Die Knechtschaft im Römischen Recht« einen Preis erhalten hatte; deshalb war er im höchsten Grade eingebildet, eitel und selbstbewußt, wozu seine Erfolge bei den Frauen übrigens noch beigetragen hatten; und die Folge von all' dem war, daß seine natürliche Dummheit einen ungeheuren Umfang angenommen hatte.

Als der Präsident ihm das Wort erteilt, erhob er sich langsam, legte die Hände auf sein Pult, neigte den Kopf, warf einen langen Blick auf die Anwesenden, mit Ausnahme der Angeklagten und begann seine Rede, die er während der Verlesung der Protokolle entworfen:

»Der Ihrem Urteil unterbreitete Fall, meine Herren Geschworenen, bildet, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein ganz besonders charakteristisches Beispiel des Verbrechertums.«

Die Anklage des Staatsanwalts mußte wohl seiner Ansicht nach eine allgemeine Tragweite haben, und insofern den berühmten Reden gleichen, die den Ruhm der großen Advokaten begründet hatten. Seine Zuhörerschaft bestand zwar an diesem Tage nur aus Köchinnen, Näherinnen, Kutschern und Laststrägern, doch dieser Umstand konnte ihn nicht aufhalten. Er hatte es sich zum Grundsatz gemacht, sich stets, wie er sagte, »zum Gipfel der Fragen zu erheben«, aus jedem Vergehen die psychologische Bedeutung auszulösen und die soziale Wunde, die dieses Vergehen ausdrückte, bloßzulegen.

»Meine Herren Geschworenen, Sie sehen ein durch und durch typisches Verbrechen unserer Jahrhundertswende vor sich, das sozusagen alle spezifischen Züge des eigentümlichen moralischen Zersetzungsprozesses an sich trägt, der heute zahlreiche Elemente unserer Gesellschaftsklasse ergriffen hat ...«

Der Staatsanwalt sprach in diesem Tone längere Zeit, Er hatte während seiner Rede vornehmlich zweierlei im Auge: erstens bemühte er sich, alle auf den Fall bezüglichen Thatsachen, große wie kleine, zu erwähnen; andererseits hielt er nicht eine Minute inne, so daß seine Rede ununterbrochen mindestens 1 1/4 Stunde dahinfloß. Einmal mußte er aber doch innehalten, weil er den Faden seiner Beweisführung verloren hatte; doch gleich darauf begann er von neuem und holte diese augenblickliche Störung durch doppelte Beredsamkeit wieder ein. Er sprach bald mit einschmeichelnder Baßstimme, bald in natürlichem, gesetztem Tone, bald mit begeisterter Donnerstimme. Nur den Angeklagten, die alle drei die Augen auf ihn richteten, ward nicht die Ehre eines Blickes zu teil. Seine Anklagerede strotzte von den neuesten Formeln, die in seinem Kreise Mode waren und damals für die höchste Wissenschaft galten, ja selbst heute noch dafür gelten. Es war darin von Erblichkeit, von angeborener Neigung zum Verbrechen, von Lombroso und Tarde, von Entwickelung, dem Kampf um's Dasein, von Charcot und Entartung die Rede.

Der Kaufmann Smjelkoff war nach der Erklärung des Staatsanwalts der Typus des natürlichen, kraftstrotzenden Russen, der durch seine Vertrauensseligkeit und Freigebigkeit das Opfer höchst verrohter Geschöpfe geworden war, in deren Hände er gefallen war. Simon Kartymkin war das atavistische Produkt der alten Leibeigenschaft, ein unbeholfener Mensch, ohne Erziehung, ohne Grundsätze, ohne Religion. Euphemia Botschkoff, seine Geliebte, war ein Opfer der Erblichkeit; ihre körperliche Erscheinung und ihr moralischer Charakter wiesen alle Anzeichen der Entartung auf. Doch die Hauptanstifterin des Verbrechens war die Maslow, die den Typus der modernen sozialen Dekadenz in ihrer niedrigsten Form darstellte.

»Dieses Geschöpf,« fuhr der Staatsanwalt, ohne sie anzusehen, fort, »hat im Gegensatz zu ihren Mitschuldigen die Wohlthaten der Erziehung genossen. Wir haben eben gehört, daß die Angeklagte nicht nur lesen und schreiben kann, sondern sogar französisch spricht und versteht. Ein natürliches Kind, zweifellos mit einem atavistischen Makel behaftet, ist die Maslow in einer der vornehmsten Adelsfamilien erzogen worden; sie hätte recht gut von ehrenhafter Arbeit leben können; doch sie hat ihre Wohlthäter verlassen, um sich ganz und gar ihren bösen Instinkten zu überlassen, wobei sie auf ihre Verehrer jenen geheimnisvollen Einfluß ausübte, mit dem sich die Wissenschaft in der letzten Zeit beschäftigt und den die Schule Charcots so glücklich als geistige Suggestion erklärt hat. Tiefe Macht der Suggestion hat sie auf den ehrenhaften und naiven russischen Riesen ausgeübt, der ihr in die Hände gefallen ist, und dessen Gutmütigkeit sie mißbraucht, indem sie ihn zuerst seines Geldes, und dann seines Lebens beraubte!«

»Auf Ehrenwort, er faselt!« sagte der Präsident lächelnd, indem er sich zu dem strengen Richter wandte.

»Ein schrecklicher Dummkopf,« versetzte der strenge Richter.

»Meine Herren Geschworenen,« fuhr der Staatsanwalt inzwischen mit demütigem Kopfnicken fort, »in Ihren Händen ruht jetzt das Schicksal dieser drei Verbrecher und zum Teil auch das der Gesellschaft, denn Ihr Urteil hat die Bedeutung einer großen sozialen Handlung. Sie werden diesem Verbrechen auf den Grund gehen; Sie werden sich überzeugen, daß entartete, ja, ich darf wohl sagen, pathologische Elemente, wie die Maslow, eine Gefahr für die Gesellschaft bedeuten, und Sie werden die Gesellschaft vor der Ansteckung dieser Elemente bewahren. Sie werden die gesunden und kräftigen Elemente der Gesellschaft vor der Verpestung durch die krankhaften Elemente schützen!«

Von der sozialen Bedeutung des zu fällenden Urteils förmlich erdrückt, ließ sich der Staatsanwalt entzückt auf seinen Sessel zurückfallen. Der eigentliche Sinn seiner Anklage bestand unter der Fülle der umkleideten Stilblüten in der Behauptung, die Maslow hätte den Kaufmann hypnotisiert, sich seines ganzen Vertrauens bemächtigt und ihn ausgeplündert; da ihr Plan aber von Simon und Euphemia entdeckt wurde, so hätte sie mit diesen teilen müssen. Um dann die Spuren ihres Diebstahls zu verbergen, habe sie den Kaufmann gezwungen, mit ihr ins Hotel zurückzukehren, wo sie ihn vergiftet hatte.

Gleich nach der Anklagerede erhob sich auf der Bank der Verteidiger, ein kleiner Mann in mittleren Jahren, im Frack und tiefausgeschnittener Weste, und begann eine kräftige Rede zur Verteidigung Kartymkins und der Botschkoff. Es war ein vereideter Konsulent, und die beiden Angeklagten hatten ihm im voraus für sein Plaidoyer 300 Rubel gezahlt. Daher versäumte er auch nichts, um sie als unschuldig hinzustellen und schob die ganze Schuld auf die Maslow.

Er erklärte vor allem, die Behauptung der Maslow, Simon und Euphemia wären im Augenblick, da sie das Geld genommen, im Zimmer gewesen, für falsch. Diese Behauptung könnte keinen Wert haben, da sie von einer des Giftmords überführten Person stammte. Die von Simon in der Bank eingezahlten 1800 Rubel könnten sehr wohl die Ersparnisse zweier fleißiger und ehrlicher Dienstboten darstellen, die nach der Aussage des Hotelwirts 3–5 Rubel Trinkgeld täglich erhielten. Was das Geld des Kaufmanns betraf, so war es zweifellos von der Maslow gestohlen worden, die es jemandem gegeben oder verloren hatte, da sie, wie aus der Untersuchung hervorging, an jenem Abend betrunken gewesen. Auch im Punkte der Vergiftung wäre kein Zweifel möglich, die Maslow gab ja selbst zu, das Gift hineingeschüttet zu haben.

Infolgedessen bat er die Geschworenen, Kartymkin und die Botschkoff des Diebstahls für unschuldig zu erklären; sollten sie sie dessen jedoch schuldig finden, so bat er, sie von der Anklage des Giftmordes freizusprechen oder wenigstens die Ueberlegung auszuscheiden.

Schließlich bemerkte der Verteidiger Simons und Euphemias, »die glänzenden Bemerkungen des Herrn Staatsanwalts über den Atavismus, wären, so bedeutend sie auch vom wissenschaftlichen Standpunkte aus wären, bei diesem Falle nicht anwendbar, da die Botschkoff von unbekannten Eltern stamme.«

Der Staatsanwalt machte ein ärgerliches Gesicht, schrieb schnell etwas auf ein Stück Papier und zuckte verächtlich die Achseln.

Als sich der erste Verteidiger gesetzt, erhob sich der Verteidiger der Maslow und begann stotternd, in schüchternem Tone sein Plaidoyer.

Ohne zu leugnen, daß die Maslow an dem Diebstahl teilgenommen, beschränkte er sich auf die Behauptung, sie hätte nicht beabsichtigt, Smjelkoff zu vergiften und ihm das Pulver nur zum Einschläfern gegeben. Er wollte dann ebenfalls den Beredtsamen spielen, indem er ein Bild entwarf, wie seine Klientin durch einen unbestraft gebliebenen Mann, der sie verführt, zum Laster getrieben worden; doch dieser Ausflug in das Gebiet der pathetischen Psychologie glückte ihm nicht, und jeder hatte das Gefühl, daß er mißlungen war. Als er sich über die Grausamkeit der Männer und die untergeordnete soziale und gesetzliche Stellung der Frauen erging, forderte ihn der Präsident auf, bei den Thatsachen zu bleiben.

Der Advokat brachte sein Plaidoyer schnell zu Ende, und nach ihm ergriff der Staatsanwalt von neuem das Wort. Er wollte seine Ansichten über den Atavismus verteidigen und auf die gegen dieselben gerichtete Kritik antworten. Er erklärte, wenn auch die Botschkoff ein natürliches Kind wäre, der wissenschaftliche Wert der Theorie über den Atavismus würde dadurch keineswegs geschmälert; »denn,« sagte er, »diese Theorie ist von der Wissenschaft so klar festgestellt, daß wir jetzt vom Atavismus nicht nur das Verbrechen ableiten, sondern sogar auch vom Verbrechen auf den Atavismus schließen können.« Was die Behauptung des zweiten Verteidigers beträfe, die Maslow wäre angeblich von einem Verführer dem Laster zugeführt worden – er betonte das Wort » angeblich« mit ironischem Nachdruck – so ließen alle Angaben darauf schließen, daß stets sie die Verführerin der zahllosen Opfer gewesen war, die ihr der Zufall in die Hände gespielt. Darauf setzte er sich mit triumphierender Miene.

Der Präsident fragte nun die Angeklagten, ob sie etwas zu ihrer Verteidigung hinzuzufügen hätten, und Euphemia wiederholte zum letztenmale, sie hätte nichts gethan, wisse nichts und nur die Maslow wäre an allem schuld, während sich Simon auf die Worte beschränkte:

»Thut, was ihr wollt, ich bin unschuldig!«

Als die Maslow an die Reihe kam, sagte sie gar nichts, sondern richtete nur die Augen auf den Präsidenten und ließ sie wie ein gehetztes Wild durch den ganzen Saal schweifen; dann schlug sie sie wieder zu Boden und begann laut zu schluchzen.

»Was haben Sie?« fragte der Kaufmann seinen Nachbar Nechludoff, der eben einen merkwürdigen Schrei ausgestoßen, der eigentlich ein Schluchzen war. Doch Nechludoff war sich über seine neue Lage immer noch nicht klar, und schrieb dieses plötzliche Schluchzen, wie auch die Thränen, die ihm aus den Augen stürzten, seinen aufgeregten Nerven zu.


Als die Angeklagten gesagt, »was sie zu ihrer Verteidigung zu sagen hatten,« setzte man die Fragen auf, die den Geschworenen vorgelegt werden sollten, und der Präsident ging die Thatsachen noch einmal durch.

Er erklärte den Geschworenen ausführlich, daß der einfache Diebstahl nicht mit dem Einbruchsdiebstahl verwechselt werden dürfte, und die Entwendung eines Gegenstandes aus einem geschlossener Raum sorgfältig von der Entwendung aus einem offenen Raume getrennt werden müsse. Dann erklärte er, daß der Mord eine Handlung darstelle, aus der der Tod eines Menschen hervorginge, und daß die Vergiftung infolgedessen ein Mord sei. Darauf sagte er den Geschworenen, wenn der Diebstahl und der Mord vereint ausgeführt würden, so hätte ein sogenannter Raubmord stattgefunden.

Dabei vergaß der Präsident durchaus nicht, daß er Eile hatte, die Sache so schnell wie möglich zu Ende zu bringen. Doch er war an seinen Beruf so gewöhnt, daß er nicht mehr aufhören konnte, wenn er einmal zu sprechen anfing. Deshalb erklärte er den Geschworenen ausführlich, wenn ihnen die Angeklagten schuldig erschienen, so hätten sie das Recht, sie für schuldig zu erklären; erschienen sie ihnen dagegen als unschuldig, so hätten sie das Recht, sie für unschuldig zu erklären.

Als er ihnen dann aber noch auseinandersetzen wollte, daß sie, wenn sie eine der vorgelegten Fragen bejahten, auch die sämtlichen vorgelegten Fragen bejahen müßten, wenn sie aber nur einen Teil der oder jener Fragen bejahen wollten, sie dieselben sorgsam erläutern müßten, kam ihm der Gedanke, auf die Uhr zu sehen, und er bemerkte erschrocken, daß es schon 3 Uhr 5 Minuten war. Deshalb beeilte er sich, zum Kern der Sache zu kommen, und wiederholte noch einmal, was die Verteidiger, der Staatsanwalt und die Zeugen schon so oft gesagt hatten.

Während der Präsident sprach, sahen die beiden Beisitzer heimlich nach der Uhr und fanden, daß die Rede ein bißchen lang, aber doch vortrefflich, d. h. so wie sie sein mußte, war. Das war auch die Ansicht des Staatsanwalts, des ganzen Gerichtspersonals und sämtlicher Anwesenden.

Der Präsident hatte alles gesagt, was zu sagen war, doch er konnte sich noch immer nicht zum Schlusse entschließen, mit so großem Vergnügen hörte er die einschmeichelnden Laute seiner Stimme, und darum hielt er es für angemessen, den Geschworenen über die Bedeutung des Rechts, das das Gesetz ihnen einräumte, über die Weisheit und den Scharfsinn, mit dem sie sich dieses Rechts bedienen sollten, noch einige Worte zu sagen. Er sagte ihnen, sie wären das Gewissen der Gesellschaft, das Geheimnis ihrer Beratungen müsse gewahrt bleiben u. s. w. u. s. w.

Von dem Augenblick an, da der Präsident zu sprechen angefangen, hielt die Maslow die Augen auf ihn gerichtet, als fürchte sie, auch nur ein einziges seiner Worte zu verlieren. So konnte sie auch Nechludoff lange betrachten, ohne fürchten zu müssen, ihrem Blicke zu begegnen. Und er fühlte, wie das in ihm vorging, was bei jedem von uns vorgeht, wenn wir nach Jahren ein uns früher vertrautes Gesicht wiedersehen. Zuerst war er von den eingetretenen Veränderungen betroffen, doch nach und nach verwischte sich dieser Eindruck, und das Gesicht wurde wieder, wie es vor zehn Jahren gewesen. Sein geistiges Auge gewann die Oberhand über seine Sinne, und er sah nur noch die Hauptzüge, die die Individualität des jungen Weibes ausdrückten und die keine Veränderung hatte zerstören können.

Ja, trotz der Gefängniskleidung, trotz des stärker gewordenen Körpers, trotz der kräftig entwickelten Brust, trotz des dicken Gesichts, trotz der Runzeln an der Stirn und den Schläfen, trotz der Anschwellung der Lider und des gleichzeitig Mitleid erregenden und schamlosen Gesamteindrucks des Gesichts war es dieselbe Katuscha, die ihn in einer Osternacht mit ihren verliebten, glücklich lächelnden und lebensfreudigen Augen so unschuldig angeblickt!

»Und ein so wunderbarer Zufall! Gerade in der Session, in der ich Geschworener bin, muß dieser Fall zur Verhandlung gelangen, damit ich Katuscha, der ich seit zehn Jahren nie begegnet bin, hier auf der Anklagebank wiedersehe! Und wie wird das alles enden? Ach, wenn es doch überhaupt zu Ende ginge!«

Noch immer gab er nicht dem Gefühl der Reue nach, das sich nach und nach in ihm bildete und immer stärker wurde. Er sah darin nur einen einfachen Zufall, der ohne Störung seines Lebens vorübergehen würde. Und dabei erkannte er doch schon, wie gemein er gehandelt; er hatte die Empfindung, eine mächtige Hand führe ihm mit Gewalt seine Schuld vor; doch er wollte die wahre Bedeutung seiner That noch immer nicht sehen, und nicht verstehen, was diese Hand, die ihn vorwärts stieß, von ihm verlangte. Er wollte nicht glauben, daß es sein Werk war, was da vor ihm stand. Doch die unsichtbare Hand hielt ihn, schnürte ihn ein und schon ahnte er, sie würde ihn nicht mehr loslassen.

Er bemühte sich, kräftig zu erscheinen, kreuzte mit behaglicher Miene die Beine, spielte mit seinem Pincenez und behielt eine ruhige und natürliche Haltung bei, als er da in der ersten Zeugenreihe saß. Und dabei kam ihm doch schon während dieser Zeit die ganze Schmach nicht nur seines Verhaltens Katuscha gegenüber, zum Bewußtsein, nein, er erkannte auch die Schmach dieses unnützen, verrohten, boshaften und erbärmlichen Lebens, das er seit zwölf Jahren führte. Und der Vorhang, der ihm bis dahin die Infamie seines Verhaltens Katuscha gegenüber und die ganze Hohlheit seines Lebens verborgen, dieser Vorhang begann sich vor ihm zu lüften und ließ ihn das sehen, was er bis dahin bedeckt hatte.


Endlich beendete der Präsident seine Rede und übergab das Blatt, das die Liste der Fragen enthielt, dem Obmann der Geschworenen. Die Geschworenen erhoben sich und gingen im Gänsemarsch in das Beratungszimmer. Sobald sich die Thür hinter ihnen geschlossen hatte, stellte sich ein Gendarm vor diese Thür, zog seinen Säbel aus der Scheide und stellte sich als Schildwache auf. Auch die Richter erhoben sich und gingen hinaus, und die Angeklagten führte man ebenfalls hinaus.

Auch diesmal nahmen die Geschworenen, als sie in ihr Beratungszimmer traten, wie vorher Cigaretten und zündeten sie an. Das Bewußtsein ihrer falschen und unnatürlichen Lage, das alle mehr oder weniger deutlich empfunden, als sie im Gerichtssaal gesessen hatten, schwand vollständig aus ihrer Seele, sobald sie wieder frei waren und die Cigarette im Munde hielten, und sofort begann eine äußerst lebhafte Auseinandersetzung.

»Die Kleine ist nicht schuldig; sie hat sich 'reinlegen lassen,« erklärte der brave Kaufmann. »Man muß mit ihr Mitleid haben!«

»Das werden wir untersuchen,« versetzte der Obmann, »Hüten wir uns, unsern persönlichen Eindrücken nachzugeben!«

»Der Präsident hat eine sehr schöne Rede gehalten,« bemerkte der Oberst.

»In der That sehr schön, aber wollen Sie glauben, daß ich fast eingeschlafen bin?«

»Die Hauptsache ist, die beiden Dienstboten konnten von dem Gelde des Kaufmanns nichts wissen, wäre die Maslow nicht mit ihnen im Einverständnis gewesen,« sagte der jüdische Kommis.

»Dann hätte sie also Ihrer Ansicht nach gestohlen?« fragte einer der Geschworenen.

»Das werde ich nie glauben,« rief der dicke Kaufmann; »diese Kanaille ohne Wimpern hat alles Böse angerichtet.«

»Schon recht,« behauptete der Oberst, »aber diese Frau behauptet, sie hatte das Zimmer nicht betreten.«

»Und ihr wollen Sie glauben? Ich möchte mich nicht auf eine solche Person verlassen!«

»Na, und was weiter?« fragte der Kommis ironisch; »trotzdem ist es doch wahr, daß die Maslow den Schlüssel hatte!«

»Was beweist das?« rief der Kaufmann.

»Und der Ring?«

»Aber sie hat uns ja die ganze Geschichte erklärt.«

»Darum handelt es sich nicht,« bemerkte Peter Gerassinowitsch, »Die Hauptsache ist, ob sie den ganzen Anschlag vorher überlegt und ausgeführt hat, oder ob es die beiden Diener gewesen sind.«

»Aber die beiden Dienstboten konnten doch nicht ohne sie handeln, sie hatte doch den Schlüssel.«

So ging der Streit ziemlich lange hin und her.

»Gestatten Sie, meine Herren,« sagte endlich der Obmann, »setzen wir uns an den Tisch und beraten wir!«

Darauf gab er das Beispiel, setzte sich in den großen Sessel und sagte dann, mit seinem Bleistift auf den Tisch klopfend:

»Meine Herren, kommen wir zur Sache!«

Alle schwiegen, und der Obmann begann die den Geschworenen vorzulegenden Fragen, die folgendermaßen lauteten:

1. Ist der Bauer Simon Petrowitsch Kartymkin, aus dem Dorfe Borki, Bez. Krapiwo gebürtig, 34 Jahre alt, schuldig, am 16. Oktober 188.. dem Kaufmann Smjelkoff, in der Absicht, ihn zu bestehlen, nach dem Leben gestrebt zu haben? Und ist er schuldig, besagtem Kaufmann, nachdem er ihn mit Hilfe anderer Personen vergiftet, eine Summe von ungefähr 2000 Rubel und einen Brillantring gestohlen zu haben?

2. Ist die Bürgerin, Euphemia Iwanowna Botschkoff, 43 Jahre alt, schuldig, zusammen mit Simon Petrowitsch Kartymkin die in der ersten Frage aufgezählten Handlungen begangen zu haben?

3. Ist Katharina Iwanowna Maslow, 27 Jahre alt, schuldig, im Einverständnis mit den beiden ersten Angeklagten die in der ersten Frage erwähnten Handlungen begangen zu haben?

4. Im Falle Euphemia Botschkoff nicht der in der ersten Frage erwähnten Handlungen für schuldig erklärt wird, ist sie dann schuldig, am 16, Oktober 188.. aus dem verschlossenen Koffer des Smjelkoff eine Summe von 2500 Rubel genommen zu haben?

»Nun, meine Herren, wie wollen Sie den ersten Punkt beantworten?« fragte der Obmann, nachdem er seine Verlesung beendet.

Die Antwort wurde bald gefunden. Alle stimmten bejahend, sowohl im Punkte des Diebstahls, wie auch der Vergiftung. Nur einer der Geschworenen wollte Kartymkin nicht für schuldig halten, ein alter Handwerker, der stets auf alle Fragen verneinend antwortete.

Der Obmann glaubte zuerst, der alte Mann verstände nicht, und fing an, ihm zu erklären, daß Kartymkin und die Botschkoff zweifellos schuldig wären. »Wir sind selbst keine Heiligen,« sagte der Alte, und nichts konnte ihn veranlassen, seine Meinung zu ändern.

Die Antwort auf die zweite Frage, die Botschkoff betreffend, lautete nach langen Beratungen: »Nein, sie ist nicht schuldig.« Es fehlte in der That an Beweisen für ihre Teilnahme am Giftmord, und diesen Punkt hatte ihr Verteidiger auch ausdrücklich hervorgehoben. –

Der Kaufmann, welcher die Maslow als unschuldig hinzustellen versuchte, behauptete von neuem, die Botschkoff wäre die Hauptanstifterin der ganzen Sache. Mehrere Geschworene waren seiner Ansicht bis zu dem Augenblick, da der Obmann, der sich durchaus auf den Boden des Gesetzes stellen wollte, bemerkte, daß ihre Teilnahme am Giftmord jedenfalls materiell nicht bewiesen wäre. Man stritt darüber noch längere Zeit, doch die Ansicht des Obmanns drang durch. Dagegen erklärte man bei der vierten Frage die Botschkoff des Diebstahls für schuldig, setzte jedoch auf die Bitte des Handwerkers hinzu: »mit mildernden Umständen.«

Endlich kam die dritte Frage an die Reihe, die man bis zum Schlusse aufgespart und die zu einer noch heftigeren Auseinandersetzung Anlaß gab, als die drei ersten.

Der Obman behauptete, die Maslow wäre schuldig; der Kaufmann, sie wäre unschuldig, und der Oberst und der Handwerker unterstützten seine Ansicht. Die übrigen Geschworenen schwankten, schienen sich aber der Ansicht des Obmanns zuzuneigen. Das kam aber hauptsächlich daher, daß sie müde waren, und deshalb schlossen sie sich derjenigen Meinung an, die die Sache zum schnellsten Abschluß brachte, und ihnen ihre Freiheit wiedergab.

Nach den Ergebnissen der Verhöre hatte Nechludoff die Ueberzeugung, die Maslow wäre weder des Diebstahls noch der Vergiftung schuldig. Er hatte zuerst geglaubt, alle wären dieser Meinung, mußte aber bald erkennen, daß er sich getäuscht hatte, und daß die Majorität mehr zur Bejahung der Frage neigte. Als er das sah, wollte er das Wort ergreifen; doch es wandelte ihn bei dem Gedanken, sich für Katuscha ins Zeug zu legen, die unklare Furcht an, es könne jeder die Beziehungen, die er mit ihr unterhalten, sofort erraten. Trotzdem sagte er sich, die Sache könne nicht so durchgehen, und er hätte die Pflicht, dazwischen zu treten. Er wurde rot und blaß, und wollte sich schon zu sprechen entschließen, als Peter Gerassimowitsch, den der herrische Ton des Obmanns augenscheinlich ärgerte, in die Besprechung eingriff und genau das sagte, was er sagen wollte.

»Gestatten Sie,« sagte der Professor, »Sie behaupten, sie wäre des Diebstahls schuldig, weil sie den Schlüssel zum Koffer besaß; aber konnten die Hotelbediensteten den Koffer denn nicht mit einem andern Schlüssel öffnen?«

»Ganz recht, ganz recht,« pflichtete der Kaufmann bei.

»Ich bin eher der Meinung, daß ihr Erscheinen im Hotel den beiden Dienstboten erst den Gedanken des Diebstahls eingegeben hat, daß sie die Gelegenheit benutzt und dann die ganze Schuld auf die Maslow abgewälzt haben.«

Peter Gerassimowitsch sprach mit erregter Stimme, und seine Erregtheit ging auf den Obmann über, der immer mehr auf seiner Meinung bestand. Doch Peter Gerassimowitsch sprach so zuversichtlich, daß die Mehrheit sich seiner Meinung zuwandte und anerkannte, die Maslow habe weder an dem Diebstahl des Geldes, noch des Ringes teilgenommen, der letztere wäre ihr vielmehr von dem Kaufmann zum Geschenk gemacht worden.

Jetzt blieb noch die Frage zu entscheiden, ob sie der Vergiftung schuldig war, und von neuem erklärte der Kaufmann, man müßte sie für unschuldig erklären; jedoch der Obmann versetzte mit großer Energie, das wäre unmöglich, da sie ja selbst gestanden, das Pulver in das Glas geschüttet zu haben.

»Sie hat das Pulver hineingeschüttet, es aber für Opium gehalten,« bemerkte der Kaufmann.

»Aber auch Opium ist Gift,« versetzte der Oberst und erzählte bei der Gelegenheit die Geschichte seiner Schwägerin, die zufällig Opium genommen und ohne die wunderbare Geschicklichkeit eines schnell hinzugerufenen Arztes gestorben wäre. Der Oberst erzählte mit solchem Wohlgefallen, daß niemand den Mut hatte, ihn zu unterbrechen, bis einer der Geschworenen ausrief:

»Mein Gott, meine Herren, es ist ja schon 4 Uhr.«

»Nun, meine Herren?« fragte der Obmann, »was wollen wir antworten? Wollen wir sagen: ›Ja, sie ist schuldig, das Gift eingeschüttet zu haben, aber ohne Absicht zu stehlen‹?«

Peter Gerassimowitsch, der mit dem in der vorigen, Frage erzielten Erfolge zufrieden war, gab diesmal seine volle Zustimmung.

»Ich wünsche, daß man hinzufügt: »mit mildernden Umständen,« rief der Kaufmann.

Damit waren alle gleich einverstanden, nur der Handwerker wünschte von neuem, man solle antworten: »Nein, sie ist nicht schuldig.«

»Aber die von mir vorgeschlagene Antwort kommt doch auf dasselbe heraus,« erklärte ihm der Obmann. »›Ohne Absicht zu stehlen‹, das ist ebenso gut, als wenn wir sagten, ›sie ist nicht schuldig‹.«

»Ja, aber unter der Bedingung, daß hinzugefügt wird, mit mildernden Umständen, um die Angeklagte vollends freizusprechen,« entgegnete der Kaufmann, der auf diesen Ausweg sehr stolz war.

Die Antworten wurden in der von den Geschworenen angegebenen Form aufgeschrieben und dem Gerichtshof übergeben.

Als der Präsident sie sich durchgelesen hatte, klingelte er. Der Gendarm, der mit dem Säbel vor der Thür gestanden hatte, steckte ihn wieder in die Scheide. Die Richter nahmen wieder auf ihren Sesseln Platz, und die Geschworenen kehrten einer nach dem andern in den Saal zurück. Mit feierlicher Miene trug der Obmann der Jury das die Antworten enthaltende Blatt, ging bis zu dem Tische vor, an welchem der Gerichtshof saß, und übergab es dem Präsidenten. Dieser überflog es mit einem Blick, schien sehr überrascht und wandte sich nach seinen Kollegen um, um sie nach ihrer Meinung zu fragen. Mit Bestürzung sah er, wie die Jury, die die Frage des Diebstahls verneint, die des Mordes rückhaltslos bejaht hatte. Aus dieser Antwort ging hervor, daß die Maslow weder das Geld, noch den Ring genommen, dagegen den Kaufmann ohne jedes Motiv vergiftet hatte.

»Da sehen Sie nur, welche Albernheit Sie da zu stande gebracht haben,« sagte der Präsident zu seinem Nachbar links, »Das bedeutet Zwangsarbeit für dieses Mädchen, und dabei ist sie ganz sicher unschuldig.«

»Aber warum soll sie denn unschuldig sein?«

»Nun, das springt doch in die Augen. Meiner Ansicht nach müßte hier der Artikel 817 zur Anwendung kommen.«

Wer Artikel 817 besagt, daß der Gerichtshof das Recht hat, die Entscheidung der Jury zu verwerfen, wenn sie dieselbe für falsch begründet hält.

»Und was meinen Sie dazu?« fragte der Präsident seinen andern Nachbar.

»Vielleicht sollten wir in der That den Artikel 817 zur Anwendung bringen,« sagte der Richter mit den gutmütigen Augen.

»Und was meinen Sie?« fragte der Präsident den mürrischen Richter.

»Ich bin der Meinung, wir dürfen das um keinen Preis thun,« versetzte dieser Beamte in entschlossenem Tone. »Man beklagt sich so schon genug, daß die Geschworenen die Angeklagten freisprechen; nie und nimmer würde ich darauf eingehen.«

Der Präsident zog seine Uhr.

»Ich bin untröstlich; aber was soll ich thun?« dachte er und übergab die Antworten dem Obmann der Geschworenen zur Verlesung.

Sofort erhoben sich alle Geschworenen, und ihr Obmann las, sich hin- und herwiegend, mit lauter Stimme die Fragen und Antworten. Der Aktuar, der Verteidiger, ja, selbst der Staatsanwalt konnten ihre Bestürzung nicht verbergen. Nur die Angeklagten blieben unbeweglich auf ihrer Bank sitzen, denn sie verstanden den Sinn der Antworten nicht.

Dann setzten sich die Geschworenen wieder, der Präsident wandte sich zum Staatsanwalt und fragte ihn, welche Strafen er für die Angeklagten beantrage.

Der Staatsanwalt, der von der Strenge der Jury der Maslow gegenüber entzückt war, und dieselbe ausschließlich seiner Beredtsamkeit zuschrieb, überlegte ein Weilchen und sagte dann:

»Für Simon Kartymkin verlange ich die Anwendung des Paragraphen 1452; für Euphemia Botschkoff die Anwendung des Paragraphen ... und für Katharina Maslow die Anwendung des Paragraphen ...«

Die in diesen Paragraphen ausgesprochenen Strafen waren natürlich die allerhöchsten.

»Der Gerichtshof wird sich zur Beratung zurückziehen,« sagte der Präsident, erhob sich und ging mit den beiden Richtern hinaus. Auf der Estrade hatte jeder das Gefühl, das das Bewußtsein der vollendeten Arbeit verleiht, und die Geschworenen schwatzten laut.

»Na, Väterchen, Sie haben ja da 'was Hübsches angerichtet,« sagte Peter Gerassimowitsch, an Nechludoff herantretend, dem der Obmann der Geschworenen etwas erklärte. »Sie haben die Unglückliche ja ins Zuchthaus geschickt.«

Nechludoff war bei diesen Worten so erregt, daß er sich nicht einmal über die verletzende Vertraulichkeit des früheren Hauslehrers seiner Schwester ärgerte.

»Was, was sagen Sie da?«

»Na gewiß,« versetzte Peter Geraffimowitsch; »Sie haben ja ganz vergessen, in Ihrer Antwort hinzuzufügen: ›aber ohne die Absicht, zu töten.‹ Der Aktuar hat mir eben gesagt, der Staatsanwalt hätte 15 Jahre Zwangsarbeit beantragt.«

»Aber die Antwort stimmt doch mit unsern Entschließungen vollständig überein!«

Peter Gerassimowitsch widersprach ihm von neuem und erklärte, da man behauptete, die Maslow hätte das Geld nicht genommen, so hätte man auch hinzufügen müssen, sie hätte nicht die Absicht zu töten gehabt.

»Aber ich habe die Antworten doch noch einmal vorgelesen, bevor wir in den Gerichtssaal traten,« rechtfertigte sich der Obmann; »niemand hat widersprochen.«

»Ich mußte während der Verlesung auf einen Augenblick hinausgehen,« entgegnete Peter Gerassimowitsch. »Aber wie konnten Sie das durchgehen lassen, Dimitri Iwanowitsch?«

»Ich habe nichts bemerkt,« versetzte Nechludoff.

»Die Sache war doch aber so leicht zu bemerken.«

»Man kann das Uebel ja noch gut machen,« sagte Nechludoff.

»Oh nein, dazu ist es zu spät, jetzt ist alles aus.«

Nechludoff richtete den Blick auf die Angeklagten. Während über ihr Schicksal beraten wurde, saßen sie noch immer zwischen den beiden Soldaten auf ihrer Bank. Die Maslow lächelte, und ein häßlicher Gedanke schlich sich in Nechludoffs Seele. Eben, als er die Freisprechung der Maslow und ihre Freilassung erwartete, fragte er sich, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte. Jetzt aber raubte ihm die Zwangsarbeit und die Verschickung nach Sibirien jede Möglichkeit, die alten Beziehungen mit ihr wieder aufzunehmen. Der verwundete Vogel mußte bald aufhören, in der Jagdtasche zu zappeln.


Es kam so, wie es Peter Gerassimowitsch vorhergesagt hatte.

Nach kurzer Beratung kehrten die drei Richter in den Saal zurück, und der Präsident verlas das Urteil, das folgendermaßen begann:

»Am 28. April 188.. verurteilte die Kriminalabteilung des Bezirksgerichtes von N.... unter der Mitwirkung von Geschworenen auf Befehl Seiner Kaiserlichen Majestät den Bauer Simon Kartymkin, 34 Jahre alt, und die Bürgerin Katharina Maslow, 27 Jahre alt, zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte sowie zur Verschickung zur Zwangsarbeit, und zwar Kartymkin auf die Dauer von acht Jahren und die Maslow auf die Dauer von vier Jahren, auf Grund des Artikels 23 des Strafgesetzbuches. Das Gericht verurteilt ferner die Bürgerin Euphemia Botschkoff, 43 Jahre alt, zum Verlust der persönlichen Rechte und zu einer Einschließung von drei Jahren auf Grund des Paragraph 48 des Strafgesetzbuches. Ferner verurteilt es die drei Angeklagten zur Tragung der Kosten, doch fallen dieselben, wenn die Angeklagten zahlungsunfähig sind, der Staatskasse anheim.« Das Urteil bestimmte ferner, daß der Ring den Erben des Kaufmanns Smjelkoff zugestellt, und die übrigen Beweisstücke verkauft oder vernichtet werden sollten.

Als Simon Kartymkin dieses Urteil hörte, drehte er sich hin und her, fuhr mit den Händen an den Nähten seiner Hose entlang und bewegte die Lippen. Die Botschkoff blieb unbeweglich, während Katharina Maslow plötzlich purpurrot geworden war.

»Ich bin nicht schuldig,« rief sie, sobald der Präsident die Verlesung beendet hatte. »Ich bin nicht schuldig, ich schwöre es. Ich habe ihn nicht töten wollen, ich habe gar nicht daran gedacht; ich spreche die Wahrheit, die reine Wahrheit.«

Diese wenigen Worte hatte sie mit solcher Kraft herausgeschrieen, daß der ganze Saal sie hörte. Dann ließ sie sich auf ihre Bank zurückfallen, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und brach in lautes Schluchzen aus.

Als Simon und Euphemia sich erhoben, um hinauszugehen, blieb sie noch immer schluchzend sitzen, und einer der Gendarmen mußte sie beim Arm packen, um sie zum Aufstehen zu bringen.

»Nein, man darf die Sache nicht so hingehen lassen, sagte sich Nechludoff, der den bösen Gedanken, den er noch vor wenigen Minuten gehabt, vollständig vergessen hatte. Ohne nachzudenken, von einem unwiderstehlichen Triebe bewegt, stürzte er nach dem Gange, um das junge Weib, das man eben fortführte, noch einmal zu sehen.

Vor der Thür drängte sich die Menge der Geschworenen und Advokaten schwatzend und gestikulierend, so daß Nechludoff ziemlich lange warten mußte, bevor er den Saal verlassen konnte. Als er sich endlich im Gange befand, war die Maslow schon ziemlich weit entfernt. Er lief auf sie zu, ohne sich darum zu kümmern, daß er Aufsehen erregte und blieb erst stehen, als er sie erreicht hatte. Sie weinte nicht mehr, doch ein heftiges Schluchzen hob zeitweise ihre Brust, während sie mit ihrem Kopftuch die Schweißtropfen abtrocknete, die ihr über die Wangen liefen. Sie ging an Nechludoff vorüber, ohne ihn anzusehen, und auch er machte keinerlei Bewegung, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Er ließ sie an sich vorübergehen, und trat wieder in den Gang zurück, um sich auf die Suche nach dem Gerichtspräsidenten zu machen, der sich schon in der Portierloge befand, und eben fortgehen wollte. Er zog gerade einen eleganten Sommerüberzieher an, während der Portier ihm ehrerbietig einen Stock mit silbernem Knopf reichte.

»Herr Präsident,« sagte Nechludoff zu ihm, »kann ich Sie einen Augenblick sprechen? Es ist wegen der eben abgeurteilten Sache, ich gehöre zu den Geschworenen.«

»Aber gewiß! Fürst Nechludoff, nicht wahr? Freue mich, Sie begrüßen zu dürfen,« sagte der Präsident und schüttelte ihm die Hände.

Er erinnerte sich mit lebhafter Genugthuung des Balles, auf dem er mit größerem Eifer und Schneid als alle jungen Leute getanzt hatte.

»Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Es liegt bei unserer Antwort, die Maslow betreffend, ein Mißverständnis vor! Sie ist an dem Giftmord unschuldig und doch zur Zwangsarbeit verurteilt worden!« sagte Nechludoff, dessen Gesicht sich plötzlich verdüstert hatte.

»Aber auf Ihre Antworten hin haben wir doch das Urteil gefällt,« sagte der Präsident, auf die Thür zuschreitend, »und wir haben diese Antworten selber ziemlich verworren gefunden.«

Der Präsident erinnerte sich plötzlich, daß er in seiner Rede den Geschworenen hatte erklären wollen, wie sie ihren Vorbehalt, im Falle ein solcher zu machen war, zu formulieren hatten; dann fiel ihm ein, daß er, um Zeit zu sparen, auf diesen Teil seiner Erklärung verzichtet hatte. Doch er hütete sich wohl, Nechludoff darüber etwas zu sagen.

»Es liegt ein Irrtum vor,« fuhr Nechludoff fort, »könnte man diesen Irrtum nicht wieder gut machen?

»Gründe zur Annullierung lassen sich immer finden, wenden Sie sich an einen Advokaten,« sagte der Präsident und ging wieder auf die Thür zu.

»Aber das ist ja entsetzlich...«

»Sehen Sie, es gab für uns nur zwei Lösungen...«

Der Präsident schwankte offenbar zwischen seinem Wunsch, Nechludoff angenehm zu sein, und der Furcht, zu spät zu seinem Rendevouz zu kommen. Er strich seinen Backenbart über die beiden Aufschläge seines Ueberziehers, ergriff Nechludoffs Arm, zog ihn zur Thür und fragte:

»Wollen wir gehen?«

»Gewiß,« versetzte Nechludoff, zog schnell seinen Mantel an und ging mit dem Präsidenten hinaus. Draußen schien die Sonne in heiterem Glanze, in den Straßen herrschte Leben und Bewegung. Der Präsident mußte wegen des Wagengerassels auf dem Pflaster die Stimme erheben.

»Sehen Sie,« fuhr er fort; »die Situation ist sehr einfach. Wie ich Ihnen sagte, gab es in diesem Falle nur zwei Lösungen. Entweder konnte dieses Geschöpf, diese Maslow, sozusagen freigesprochen, das heißt einfach zu einigen Monaten Haft verurteilt werden und ihr die Untersuchungshaft in Abzug gebracht werden, wodurch die Strafe völlig unbedeutend wurde, oder es stand für sie die Zwangsarbeit auf dem Spiel. Wir mußten uns für eine der beiden Lagen entscheiden, und unsere Wahl hing von Ihrer Fragebeantwortung ab.«

»Ich habe nicht an die Einschränkung gedacht, die unserm Gedanken Worte geliehen hätte; es ist unentschuldbar, daß ich nicht daran gedacht habe!« sagte Nechludoff.

»Na, darauf beruht alles!« versetzte der Präsident lächelnd, zog seine Uhr heraus und sah nach, wie spät es war. Er konnte bei seiner Klara kaum noch drei kleine Viertelstunden bleiben.

»Wenn Sie wollen, wenden Sie sich doch an einen Advokaten! Es handelt sich nur darum, einen Grund zur Annullierung zu finden, und dieser Grund findet sich immer!« wiederholte der Präsident.

»Hotel d'Italie!« rief er einem vorüberfahrenden Fiaker zu. »Dreißig Kopeken für die Fahrt! Das zahle ich stets!«

»Steigen Ew. Exzellenz nur ein!«

»Ich empfehle mich,« fügte der Präsident zu Nechludoff, wahrend er sich verabschiedete, »Und wenn ich Ihnen irgendwie dienlich sein kann: Haus Dwornikoff, in der Dworianskajastraße; das ist leicht zu merken!«

Damit entfernte er sich, nachdem er Nechludoff zum letztenmale zugenickt.


Die Unterhaltung mit dem Gerichtspräsidenten, und auch die frische Luft hatte Nechludoff ein bißchen beruhigt. Er sagte sich, die außergewöhnliche Erregung, die er empfunden, hinge mit seiner Abspannung zusammen, und die ungewöhnlichen Verhältnisse, in denen er sich seit heute morgen befand, mußten wohl dazu beigetragen haben, dieselbe noch zu verstärken. »Aber es ist doch ein unglaubliches Zusammentreffen!« dachte er. »Ich muß mein Möglichstes thun, um das Schicksal dieser Unglücklichen zu lindern, und zwar so schnell wie möglich! Und jetzt will ich, da ich gerade hier bin, die Gelegenheit benutzen, um mich nach Fajnitzins oder Mikinins Adresse zu erkundigen.« Das waren zwei berühmte Advokaten, deren Namen ihm eingefallen waren.

Er kehrte wieder in das Gerichtsgebäude zurück, zog seinen Paletot aus und stieg die Treppe hinauf. Am Eingang des Korridors begegnete er Fajnitzin. Er redete ihn an und sagte ihm, er hätte mit ihm zu sprechen. Der Advokat, der ihn von Ansehen kannte und seinen Namen wußte, erwiderte eifrig, er schätze sich glücklich, ihm dienlich sein zu können.

»Ich bin leider ein bißchen abgespannt und habe noch zu thun; doch Sie können mir immerhin kurz erklären, um was es sich handelt. Wollen wir hier einen Augenblick hineingehen?« Damit ließ er Nechludoff in ein kleines, offenstehendes Zimmer treten, offenbar das eines Gerichtsbeamten, und beide setzten sich ans Fenster.

»Nun, um was handelt es sich?«

»Ich möchte Sie vor allem um Diskretion bitten,« sagte Nechludoff, »damit niemand erfährt, welchen Anteil ich an der fraglichen Sache nehme.«

»Gewiß; das versteht sich von selbst. Also?«

»Ich war heute Geschworener, und wir haben eine Frau, die unschuldig ist, zu Zwangsarbeit verurteilt. Das quält mich!«

Unwillkürlich wurde Nechludoff rot, verlegen und geriet in Verwirrung. Fajnitzin sah ihn mit raschem Blicke an, schlug dann die Augen zu Boden und betrachtete wieder das grüne Tuch des Tisches.

»Und weiter?« fragte er.

»Wir haben eine Unschuldige verurteilt, und ich möchte das Urteil kassieren und die Sache vor einen höheren Gerichtshof bringen lassen.«

»Vor den Senat,« berichtigte der Verteidiger.

»Ich wollte Sie bitten, die Sache in die Hand zu nehmen.«

Nechludoff wollte vor allem einen Punkt erledigen, der ihm ganz besonders peinlich war, und deshalb fügte er, ohne Atem zu holen, hinzu:

»Ihr Honorar und alle Kosten, die die Sache verursacht, übernehme ich selbstverständlich.«

Er fühlte, wie er zum zweitenmale rot wurde.

»Ja, ja, darüber werden wir uns schon verständigen!« versetzte der Advokat, über die Unerfahrenheit seines Klienten wohlgefällig lächelnd.

Nechludoff erzählte ihm den Fall in knappen Zügen. »So! und nun möchte ich wissen, was darin zu thun ist,« schloß er.

»Schön! Ich werde gleich morgen die Akten durchsehen, um Ihnen Auskunft erteilen zu können. Sagen wir also ... übermorgen ... oder nein, sagen wir lieber Donnerstag ... also Donnerstag gegen sechs Uhr abends! wenn Sie mich dann beehren wollen, werde ich Ihnen eine Antwort erteilen. Abgemacht, nicht wahr? Also Donnerstag. Entschuldigen Sie mich, bitte; aber ich habe hier auf dem Gericht noch Verschiedenes zu erledigen.«

Nechludoff verabschiedete sich von dem Advokaten und verließ das Gerichtsgebäude.

Diese neue Unterredung hatte ihn noch mehr beruhigt als die vorige: er fühlte sich bei dem Gedanken, zu Gunsten der Maslow bereits Schritte gethan zu haben, ganz glücklich. Er freute sich des schönen Wetters und sog mit Behagen die Frühlingsluft ein. Fiakerkutscher, die vor ihm hielten, boten ihm ihre Dienste an; doch er freute sich, gehen zu können. Doch sogleich fing ein ganzer Schwarm von Gedanken und Erinnerungen an Katuscha und wie er sich gegen sie benommen, in ihm zu summen an, aber er sagte sich:

»Nein, nein, daran werde ich später denken; jetzt muß ich mich vor allen Dingen von den häßlichen Eindrücken befreien, die ich eben durchgemacht!«

Er erinnerte sich an das Diner bei den Kortschagins und sah auf die Uhr. Es konnte noch nicht vorüber sein. Nechludoff lief nach einem Fiakerhalteplatz, betrachtete die Pferde, wählte den besten Wagen und befand sich zehn Minuten später vor der Auffahrt des großen und eleganten Hauses der Kortschagins.


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