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Viertes Kapitel

Als Nechludoff das Gerichtsgebäude betrat, ging es auf den Korridoren schon sehr lebhaft zu. Aufseher liefen mit Papieren hin und her; andere gingen mit ernstem, langsamem Schritte, die Hände auf dem Rücken, auf und nieder. Die Nuntien, die Advokaten, die Anwälte spazierten hin und her, die Bittsteller und die auf freien Fuß belassenen Angeklagten drückten sich demütig an die Wand oder blieben wartend auf den Bänken sitzen.

»Das Bezirksgericht?« fragte Nechludoff einen der Aufseher.

»Was für eins? Kriminal oder Zivil?«

»Ich bin Geschworener!«

»Dann handelt es sich um das Schwurgericht! Das hätten Sie gleich sagen sollen! Gehen Sie nach rechts und dann links die zweite Thür!«

Nechludoff trat in die Korridore.

Vor der Thür, die der Aufseher ihm bezeichnet hatte, standen zwei Männer in eifriger Unterhaltung begriffen. Der eine war ein dicker Kaufmann, der jedenfalls als Vorbereitung auf seine Aufgabe tüchtig gegessen und getrunken hatte; denn er schien in sehr lustiger Gemütsverfassung; der andere war ein Kommis jüdischer Herkunft. Die beiden Männer unterhielten sich von den Wollpreisen, als Nechludoff auf sie zutrat und sie fragte, ob sich hier die Geschworenen versammelten.

»Ja, hier, mein Herr; ganz recht hier! Sie sind jedenfalls auch ein Geschworener, einer unserer Kollegen?« fügte der brave Kaufmann lächelnd und augenblinzelnd hinzu.

»Na, dann werden wir zusammen arbeiten,« fügte, er auf Nechludoffs bejahende Antwort hinzu. – »Baklaschoff von der zweiten Gilde,« sagte er, dem Fürsten seine breite Hand reichend. »Und mit wem habe ich die Ehre?«

Nechludoff nannte seinen Namen und trat in das Geschworenenzimmer.

»Sein Vater war beim Kaiser attachiert,« murmelte der Jude.

»Er hat Vermögen?« fragte der Kaufmann.

»Ein schwerreicher Mann!«

In dem kleinen Geschworenenzimmer waren zehn Männer aus allen Lebensstellungen versammelt. Alle waren eben erst gekommen; die einen saßen, die andern gingen auf und ab. Man betrachtete sich und knüpfte Bekanntschaft an. Da war ein pensionierter Oberst in Uniform, andere Geschworene waren im Gehrock, im Jacket; ein einziger hatte seinen Frack angezogen. Mehrere von ihnen hatten ihre Geschäfte im Stich lassen müssen, um ihre Geschworenenpflicht auszuüben, und beschwerten sich bitter darüber; dabei las man aber doch auf ihren Gesichtern eine stolze Genugthuung und das Bewußtsein, eine hohe soziale Pflicht zu erfüllen.

Als die erste Prüfung beendet war, war man in einfachen Gruppen zusammengetreten. Man unterhielt sich vom Wetter, von dem frühzeitigen Anbruch des Frühlings und den zur Verhandlung kommenden Fällen. Eine große Anzahl von Geschworenen drängte sich danach, mit dem Fürsten Nechludoff Bekanntschaft zu machen, denn sie waren augenscheinlich der Meinung, er wäre ein hervorragender Mensch. Nechludoff fand das berechtigt und natürlich, wie er es stets bei solchem Anlaß that. Hätte man ihn gefragt, warum er sich der Mehrzahl der Menschen überlegen betrachtete, er wäre außer stande gewesen, darauf zu antworten, denn sein Leben hatte in der letzten Zeit namentlich nichts sehr Verdienstliches aufzuweisen gehabt. Er konnte allerdings fließend englisch, französisch und deutsch sprechen; seine Wäsche, sein Anzug, seine Kravatten, seine Manschettenknöpfe kamen stets aus den ersten Geschäften, und waren stets die teuersten, die es gab; doch er selbst behauptete nicht, daß das genügend war, um sich als ein höheres Wesen aufzuspielen. Und doch war er von dem Bewußtsein seiner Bedeutung tief erfüllt; er war überzeugt, daß man ihm die Hochachtung, die man ihm entgegenbrachte, schuldig war, und die Vernachlässigung derselben verletzte ihn wie eine Schmach.

Eine Schmach dieser Art erwartete ihn gerade im Geschworenenzimmer. Unter den Geschworenen befand sich jemand, den er kannte, ein gewisser Peter Gerassimowitsch – seinen Familiennamen hatte Nechludoff nie erfahren – der bei den Kindern seiner Schwester Hauslehrer gewesen war. Dieser Peter Gerassimowitsch hatte inzwischen seine Studien beendet und war jetzt Gymnasiallehrer. Nechludoff hatte ihn wegen seiner Vertraulichkeit, seines selbstgefälligen Lächelns und seiner schlechten Manieren stets unausstehlich gefunden.

»Ach, das Los hat Sie also auch getroffen?« sagte er zu Nechludoff und trat mit lautem Lachen auf ihn zu. »Und Sie haben sich nicht dispensieren lassen?«

»Nie hatte ich die Absicht, mich dispensieren zu lassen,« versetzte Nechludoff trocken.

»Na, das ist ein schöner Zug bürgerlichen Mutes. Sie werden sehen, wie Sie unter dem Hunger leiden werden! Und dabei kann man weder schlafen noch trinken!« fuhr der Professor, noch lauter lachend, fort.

»Dieser Popensohn wird bald anfangen, mich zu duzen!« dachte Nechludoff, gab seinem Gesicht einen so düstern Ausdruck, als hätte er eben den Tod eines seiner Verwandten erfahren, und drehte Peter Gerassamowitsch den Rücken, um sich einer Gruppe zu nähern, die sich um einen hochgewachsenen, glattrasierten, vornehm repräsentierenden Mann gebildet hatte, der etwas zu erzählen schien. Dieser Mann sprach von einem Prozeß, der eben vor dem Zivilgericht verhandelt wurde; er sprach davon, wie ein Mann, der die Sache von Grund aus kennt, und nannte die Richter und Advokaten bei ihren Vornamen. Er erzählte unermüdlich, wie ein berühmter Advokat aus St. Petersburg, der Sache eine ganz andere Wendung gegeben, und eine alte Dame, die vollständig recht hatte, infolge seiner Thätigkeit nunmehr sicher verlieren mußte.

»Ein genialer Mensch!« rief er, als er von dem Advokaten sprach.

Man hörte ihm aufmerksam zu; und einzelne der Geschworenen versuchten, ihre Bemerkungen anzubringen, doch er unterbrach sie sofort, als wüßte nur er genau, wie es damit stände.

Obwohl Nechludoff verspätet ins Gerichtsgebäude gekommen war, mußte er noch sehr lange in dem Geschworenenzimmer bleiben. Eins der Mitglieder des Tribunals war nicht gekommen, und man wartete auf dasselbe, um die Sitzung zu eröffnen.


Der Präsident des Schwurgerichts war dagegen sehr frühzeitig in den Palast gekommen. Dieser Präsident war ein großer, dicker Mann mit langem, grauem Backenbart. Er war verheiratet, führte aber ein sehr ausschweifendes Leben, und seine Frau that dasselbe; sie hatten das Prinzip, sich gegenseitig nicht hinderlich zu sein. Am Morgen dieses Tages hatte der Präsident ein Billet von einer Schweizer Gouvernante erhalten, die früher bei ihm gewohnt hatte und auf der Durchreise nach St. Petersburg ihm schrieb, daß sie ihn zwischen drei und sechs Uhr im Hotel d'Italie erwarten würde. Daher hatte er es eilig, die Tagessitzung so schnell wie möglich anfangen und schließen zu können, um gegen sechs Uhr, zu dieser rothaarigen Klara zu eilen, mit der er im vorigen Sommer einen Roman angesponnen.

Er ging in sein Kabinet, verriegelte die Thür und nahm aus der Schublade eines Schrankes zwei Hanteln, mit denen er zwanzig Bewegungen nach vorn, nach hinten, nach der Seite, nach oben und nach unten machte; dann beugte er dreimal die Kniee und hob die Hanteln über den Kopf.

»Nichts stärkt so sehr als die Hydrotherapie und die Gymnastik,« dachte er und fühlte mit der linken Hand, an der ein goldener Ring glänzte, nach dem Gelenk des rechten Armes. Er wollte eben wieder rollende Bewegungen machen – er hatte sich gewöhnt, diese beiden Hebungen stets vor den etwas langen Sitzungen zu machen, als es an der Thür rüttelte. Es versuchte jemand, sie zu öffnen. Der Präsident versteckte schnell seine Hanteln, öffnete die Thür und sagte: »Entschuldigen Sie!«

Einer der Richter trat ins Zimmer, ein kleiner Mensch mit eckigen Schultern und traurigem Gesicht, der eine goldene Brille trug.

»Nun! es ist Zeit!« sagte er mit scharfer Stimme.

»Ich bin bereit,« versetzte der Präsident und zog seine Amtstracht an. »Aber Mathias Nikitisch kommt noch immer nicht!«

»Er treibt die Gewissenlosigkeit wirklich zu weit,« sagte der Richter, setzte sich ärgerlich und steckte sich eine Cigarette an.

Dieser Richter, ein ungewöhnlich pünktlicher Mensch, hatte am Vormittag eine höchst unangenehme Szene mit seiner Frau gehabt, weil diese das Geld, das er ihr für den Monat gegeben, zu schnell ausgegeben hatte. Sie hatte einen Vorschuß verlangt, und er hatte ihn ihr abgeschlagen; daher die Szene. Die Frau hatte erklärt, unter solchen Umständen würde es kein Essen geben, und hatte ihm vorher erklärt, er habe nichts zu erwarten. Darauf war er fortgegangen und fürchtete nun, sie könne ihre Drohung zur Ausführung bringen, denn er wußte, daß sie zu allem fähig war. »Da soll man ein tadelloses und anständiges Leben führen,« sagte er sich und betrachtete den Präsidenten, diesen von Gesundheit und guter Laune strotzenden dicken Mann, der mit aufgestützten Ellenbogen mit seinen schönen weißen Händen die dichten und sorgfältig gebürsteten Haare seines Backenbartes glattstrich, um sie zu den beiden Seiten seines galonnierten Kragens zu legen. »Er ist stets heiter und zufrieden, ich dagegen habe nur Unannehmlichkeiten!«

In diesem Augenblick trat der Gerichtsschreiber ein und brachte die Akten, die der Präsident verlangt hatte.

»Ich danke Ihnen,« sagte der Präsident und zündete sich ebenfalls eine Cigarette an. »Na, mit welcher Sache wollen wir anfangen?«

»Nun, mit dem Giftmordprozeß, – wenn Sie die Reihenfolge nicht ändern wollen!« versetzte der Gerichtsschreiber.

»Also gut, mit dem Giftmordprozeß,« sagte der Präsident, welcher annahm, das wäre eine sehr einfache Sache, die bis vier Uhr beendet sein konnte, so daß er frei war, zu seiner Schweizerin zu eilen.

»Ist Breuer gekommen?« fragte er den Gerichtsschreiber, der hinausgehen wollte.

»Ich glaube, ja!«

»Dann sagen Sie ihm, wenn Sie ihn treffen, wir fangen mit der Giftmordaffaire an.«

Breuer war der Staatsanwalt, der in dieser Schwurgerichtsperiode die Anklage vertreten sollte.

Thatsächlich traf ihn der Aktuar auf dem Korridor. Den Kopf vornüber geneigt, mit aufgeknöpftem Gehrock, die Aktenmappe unter dem Arm, ging er mit großen Schritten, lief fast, die Hacken zusammenschlagend und in fieberhafter Aufregung den Arm bewegend.

»Michel Petrowitsch fragt, ob Sie bereit sind?« sagte der Aktuar, ihn aufhaltend.

»Natürlich! Ich bin stets bereit. Womit wird angefangen?«

»Mit dem Giftmord!«

»Es ist gut!« versetzte der Staatsanwalt.

Noch tatsächlich fand er durchaus nicht, daß es gut war, er hatte die ganze Nacht in einem Wirtshaus mit andern jungen Leuten Karten gespielt; sie hatten einen Kameraden fortbegleitet; man hatte viel getrunken und bis fünf Uhr morgens gespielt, so daß der junge Staatsanwalt nicht einmal Zeit gefunden hatte, einen Blick in die Akten des Giftmordprozesses zu werfen, der verhandelt werden sollte, Der Aktuar wußte das, und absichtlich hatte er den Präsidenten veranlaßt, mit dieser Sache zu beginnen, die zu studieren der Staatsanwalt keine Zeit gehabt hatte. Dieser Aktuar war ein Liberaler, um nicht zu sagen, ein Radikaler, was ihn aber nicht hinderte, in der Magistratur mit einer Pension von 1200 Rubeln zu dienen und sich sogar um einen Staatsanwaltsposten zu bemühen. Breuer dagegen war konservativ und ein ganz besonders eifriger Orthodoxer, wie die meisten Deutschen, die in Rußland Beamte sind; deshalb hatte der Aktuar, abgesehen davon, daß er ihm seine Stellung beneidete, noch, eine persönliche Antipathie gegen ihn.

»Und die Anklage gegen die Skopsen?« fragte der Aktuar.

»Ich habe erklärt, daß die Verhandlung in Abwesenheit der Zeugen unmöglich ist,« versetzte der Staatsanwalt, »und werde das vor Gericht wiederholen.«

»Was thut das?«

»Unmöglich!« erwiderte der Staatsanwalt, schüttelte den Arm und lief in sein Kabinet.

Er verschob die Klage gegen die Skopsen, Sekte, welche die Selbstverstümmelung betreibt. nicht wegen der Abwesenheit einiger unbedeutender Zeugen, sondern weil dieser Fall, wenn man ihn in einer großen Stadt, wo die meisten Geschworenen den gebildeten Klassen angehörten, verhandelte, mit einer Freisprechung auszulaufen drohte; daher hatte er sich mit dem Präsidenten dahin verständigt, daß der Fall vor die Geschworenen einer kleinen Stadt gebracht werden sollte, wo die Jury zum großen Teile aus Bauern gebildet wurde und die Verurteilung deshalb leichter durchzusetzen war.

Inzwischen war das Treiben auf den Gängen noch stärker geworden. Die Menge drängte sich namentlich vor dem Zivilgerichtssaal, wo einer jener Fälle verhandelt wurde, die man gewöhnlich als interessant bezeichnet, derselbe, von dem die wichtig thuende Persönlichkeit im Geschworenenzimmer so eingehend gesprochen hatte. Ohne einen Schimmer von Verstand oder moralischem Recht, aber in streng gesetzmäßiger Weise hatte sich ein Advokat des ganzen Vermögens einer alten Dame bemächtigt. Die Klage der alten Frau war vollständig berechtigt. Die Richter wußten das, und noch mehr wußten es der Gegner und sein Advokat, doch dieser Advokat war so geschickt zu Werke gegangen, daß die alte Frau notgedrungen verlieren mußte.

Im Augenblick, da der Aktuar in die Kanzlei hineingehen wollte, sah er gerade vor sich im Korridor die alte Dame, die eben in aller Form rechtens ihres Vermögens beraubt worden war. Es war eine dicke Frau mit ungeheuer großen Blumen auf dem Hut. Sie kam aus dem Sitzungssaal, streckte ihre Hände danach aus und wiederholte fortwährend: »Was soll daraus werden? Was soll daraus werden?« Dann fing sie an, eine sehr verwickelte Geschichte zu erzählen, die mit ihrer Sache gar nichts zu thun hatte. Der Advokat betrachtete die Blumen ihres Hutes, nickte zustimmend mit dem Kopfe und hörte augenscheinlich gar nicht auf sie.

Plötzlich öffnete sich eine kleine Thür und strahlend, sein steifes Hemd auf der tiefausgeschnittenen Weste zeigend, erschien schnellen Schrittes mit zufriedener Miene derselbe berühmte Advokat, der es bewirkt hatte, daß die alte Frau mit den Blumen ohne alle Mittel dastand, und daß der Gegner gegen Zahlung von 10 000 Rubeln, die er ihm für sein Plaidoyer gegeben hatte, 100 000 erhielt, auf die er kein Anrecht hatte. Er ging an der alten Dame vorüber. Aller Augen wandten sich ihm respektvoll zu und er war sich dessen auch klar, doch seine ganze Persönlichkeit schien zu sagen: »Bitte, meine Herren, sparen Sie die Zeichen Ihrer Bewunderung!«


Endlich kam Mathias Nikitisch, der Richter, auf den man wartete. Sofort sahen die Geschworenen den Gerichtsnuntius, einen kleinen, mageren Mann mit zu langem Hals und ungleichmäßigem Gange, in das Zimmer treten, in welchem sie versammelt waren. Dieser Nuntius war übrigens ein braver Mann, der alle seine Studien auf der Universität absolviert hatte; doch er konnte es nirgends aushalten, weil er trank. Vor drei Monaten hatte ihm eine Gräfin, die sich für seine Frau interessierte, diese Stellung als Nuntius im Justizgebäude verschafft, und er hatte sich bis jetzt dort zu halten vermocht, worüber er sich wie über ein Wunder freute.

»Nun, meine Herren, sind alle da?« fragte er, setzte sein Pincenez, bald darüber weg ansah.

»Ich glaube, ja,« versetzte der joviale Kaufmann.

»Wir wollen 'mal sehen,« sagte der Nuntius.

Er zog eine Liste aus der Tasche und begann die Namen aufzurufen, wobei er die Geschworenen, bald durch sein Pincenez auf und sah die Geschworenen an.

»Der Staatsrat J. M. Nikisoroff?«

»Hier!« versetzte die wichtige Persönlichkeit, die alle Prozesse aus dem Ff. kannte.

»Oberst a. D. Iwan Semenowitsch Iwanoff?«

»Hier!« antwortete der Mann in der Uniform.

»Der Kaufmann zweiter Gilde Peter Baklaschoff?«

»Anwesend!« versetzte der joviale Kaufmann und blickte die ganze Gesellschaft mit freundlichem Lächeln an. »Ich bin bereit!«

»Der Gardehauptmann Fürst Dimitri Nechludoff?«

»Hier!« sagte Nechludoff.

Der Nuntius verneigte sich mit einem Gemisch von Unterwürfigkeit und Liebenswürdigkeit, als wollte er Nechludoff dadurch vor den übrigen Geschworenen auszeichnen. Dann setzte er die Aufzählung fort:

»Der Hauptmann Georg Dimitrijewitsch Dantschenko? Der Kaufmann Gregor Efimowitsch Kuletschoff u.s.w. u.s.w.«

Alle Geschworenen waren anwesend, bis auf zwei.

»Und nun, meine Herren, haben Sie die Güte, in den Schwurgerichtssaal hineinzugehen!« sagte der Nuntius und zeigte mit einladender Miene auf die Thür.

Alle setzten sich in Bewegung und verließen den Saal; ein jeder trat höflich vor der Thür beiseite, um seinen Kollegen durchzulassen.

Der Schwurgerichtssaal war ein großer Saal in länglicher Form, in dessen Hintergrunde eine Estrade von drei Stufen errichtet war. In der Mitte der Estrade stand ein mit einer grünen Decke belegter Tisch mit Franzen von noch dunklerem Grün; hinter dem Tisch erblickte man drei Sessel mit hoher Lehne aus geschnitzter Eiche; hinter diesen Sesseln hing an der Wand in einem vergoldeten Rahmen ein Porträt in schreienden Farben, das den Kaiser in großer Uniform, den Großcordon um den Hals, mit gespreizten Beinen, und eine Hand auf dem Degengriff, darstellte. In dem rechten Winkel hing in einer Nische das Bild des mit Dornen gekrönten Christus; davor stand ein Pult und rechts von der Estrade befand sich das kleine für den Staatsanwalt bestimmte Katheder. Links im Hintergrunde stand der Tisch des Aktuars; davor in der Nähe des Publikums umschloß eine Holzschranke die Anklagebank, die jetzt noch, wie der Rest der Estrade, leer war. Auf der rechten Seite desselben, der Anklagebank gegenüber, warteten eine Reihe von Sesseln auf die Geschworenen, und unter ihnen waren Tische für die Advokaten aufgestellt. Was den andern Teil des Saales betraf, der von der Estrade durch ein Gitter getrennt war, so wurde er von erhöhten Sitzen gebildet, die sich bis zur Hinterwand erhoben. In den ersten Reihen dieser Bänke saßen vier wie Arbeiterinnen oder Dienstmädchen gekleidete Frauen, die von zwei Männern begleitet wurden, die augenscheinlich Arbeiter waren. Diese kleine Gruppe war von der Größe der Estradendekoration tief bewegt, denn sie unterhielten sich nur schüchtern, mit leiser Stimme.

Nachdem der Nuntius die Geschworenen eingeführt und placiert hatte, trat er in die Mitte der Estrade und sagte mit sehr lauter Stimme, die die Anwesenden noch mehr einschüchterte:

»Der Gerichtshof!«

Alle standen auf und die Richter erschienen auf der Estrade. Zuerst der Präsident mit dem schönen Backenbart. Nechludoff erkannte ihn sofort, er hatte ihn vor zwei Jahren auf dem Lande auf einem Balle getroffen, wo dieser Präsident den Kotillon angeführt und die ganze Nacht mit vielem Schneid und Eifer getanzt hatte.

Hinter ihm erschien der Richter mit der mürrischen Miene; er war noch mürrischer geworden, seit er beim Eintritt in die Sitzung seinem Schwager begegnet war und dieser ihm gesagt hatte, seine Schwester habe ihm eben mitgeteilt, es würde heute abend nichts im Hause zu essen geben.

»Du lieber Gott! Dann werden wir eben in der Kneipe essen müssen,« hatte der Schwager lachend hinzugefügt.

»Ich sehe nicht, was daran so lächerlich ist!« hatte der Richter geantwortet.

Der andere Richter, der immer zu spät kam, war ein Mann mit langem Bart, gutmütigen, dicken, runden Augen und angeschwollenen Backen. Dieser Richter litt an einem Magenkatarrh, und noch an demselben Morgen hatte sein Arzt eine neue Behandlungsweise bei ihm angefangen, die ihn zwang, noch länger als gewöhnlich, zu Hause zu bleiben. Er trat mit vertiefter Miene auf die Estrade und war in der That sehr zerstreut. Er hatte die Gewohnheit, durch alle möglichen Zufallsspiele Antworten auf Fragen zu erraten, die er sich selbst stellte. Diesmal hatte er sich gesagt, wenn die Zahl der Schritte, die er zu machen hatte, um von der Thür seines Kabinets bis zu seinem Sessel zu kommen, durch drei geteilt sein sollte, dann würde seine neue Behandlung ihn von seinem Katarrh befreien; wenn nicht, dann nicht. Es waren im ganzen 26 Schritte; doch im letzten Augenblick mogelte der Richter ein bißchen, machte einen kleinen Schritt mehr und kam so mit 27 Schritten zu seinem Sessel.

Die Gestalten des Präsidenten und der beiden Richter, die sich mit ihren Uniformen und den goldgestickten Kragen auf der Estrade aufrichteten, boten ein höchst imposantes Schauspiel dar. Die Richter waren sich dessen übrigens voll bewußt, und alle drei beeilten sich, als wenn sie sich ihrer Größe schämten, Platz zu nehmen, indem sie vor dem großen, grünen Tische, auf dem man ein dreieckiges Instrument mit dem kaiserlichen Adler, Tintenfässer, Federn, weißes Papier und eine ungeheure Anzahl frisch angespitzter Bleistifte verschiedener Größe gelegt hatte, bescheiden die Augen zu Boden schlagen.

Hinter den Richtern erschien der Staatsanwalt. Auch er ging so schnell wie möglich auf seinen Sessel zu; er hielt noch immer seine Aktenmappe unter dem Arm und fuchtelte mit den Armen. Sobald er sich gesetzt hatte, vertiefte er sich in die Lektüre der Akten und benutzte jede Minute, um seine Rede vorzubereiten. Wir müssen noch erwähnen, daß Breuer erst kürzlich zum Staatsanwalt ernannt worden war und erst zum viertenmale plaidierte. Er war sehr ehrgeizig, gedachte eine schöne Karriere zu machen und hielt es, um zu reüssieren, für unerläßlich, in allen Prozessen, an denen er teilnahm, Verurteilungen durchzusetzen. Er hatte schon den allgemeinen Plan der Anklagerede, die er in dem Giftmordprozeß halten wollte, entworfen; doch er mußte von den Thatsachen des Falles Kenntnis nehmen, um seine Beweisführung zu unterstützen und auszugestalten.

Endlich durchflog der Aktuar, der am entgegengesetzten Ende der Estrade saß und alle Stücke, die er noch zu lesen hatte, vor sich hingelegt hatte, einen verbotenen Zeitungsartikel, den er am vorigen Abend erhalten und bereits einmal gelesen hatte. Er wollte von diesem Artikel mit dem langbärtigen Richter sprechen, der, wie er wußte, in der Politik mit ihm einer Meinung war; und bevor er davon sprach, wollte er ihn genau kennen lernen.


Nachdem der Präsident Papiere durchflogen, stellte er an den Aktuar und den Nuntius einige Fragen, und gab dann, als er von ihnen bejahende Antworten erhalten, den Befehl, die Angeklagten hereinzuführen.

Sofort wurde eine Thür im Hintergrunde geöffnet, und zwei Gendarmen traten, die Pelzmütze auf dem Kopfe und den Säbel in der Hand, ein, hinter ihnen erschienen die drei Angeklagten; zuerst ein sommersprossiger Mann mit roten Haaren, dann zwei Frauen. Der Mann trug Gefangenenkleidung, die für ihn zu groß und zu weit war. Er hielt die Arme an den Körper gepreßt, um die Aermel festzuhalten, die seine Hände sonst verdeckt hätten. Er schien weder die Geschworenen, noch das Publikum zu sehen, und hielt die Augen starr auf die Bank gerichtet, an der er vorüberkam. Als er um sie herumgegangen war, setzte er sich, richtete die Augen auf den Präsidenten und fing an, die Lippen zu bewegen, als wenn er etwas vor sich hinmurmelte.

Die ihm folgende Frau, die ebenfalls Gefängniskleidung trug, mochte etwa 50 Jahre zählen. Sie hatte ein Sträflingstuch um den Kopf gebunden, und ihr blaßgraues Gesicht hätte nichts besonders Merkwürdiges aufzuweisen gehabt, wäre nicht das vollständige Fehlen der Wimpern und Augenbrauen aufgefallen. Sie schien übrigens vollständig ruhig. Als sie auf ihrem Platze angelangt war, strich sie ihr Kleid, das an einem Nagel hängen geblieben war, sorgfältig glatt und setzte sich.

Das andere Weib war die Maslow.

Sobald sie eintrat, richteten sich die Blicke aller im Saale anwesenden Männer auf sie und betrachteten längere Zeit ihr sanftes Gesicht, ihre feine Taille und ihre breite unter dem Leinenkittel stark hervortretende Brust. Selbst der Gensdarm, an dem sie vorüber mußte, sah sie fortwährend an, bis sie sich gesetzt hatte; dann wandte er sich wie im Gefühle einer Schuld ab und blickte nach dem gegenüberliegenden Fenster.

Der Präsident wartete, bis die Angeklagten sich gesetzt hatten, und wandte sich dann zu dem Aktuar. Das gewöhnliche Verfahren begann; der Aufruf der Geschworenen, der Beisitzer, die Verurteilung der Fehlenden zu einer Geldstrafe, die Prüfung der Entschuldigungen und der Ersatz der fehlenden Geschworenen durch Beisitzer. Dann ersuchte der Präsident den Popen, den Geschworenen den Eid abzunehmen.

Dieser Pope war ein großer, kahlköpfiger Greis mit rotem Gesicht, einigen weißen Haaren und einem langen, schlecht gekämmten Bart. Er trug eine bräunliche Soutane, mit einem an einer goldenen Kette hängenden Kreuz, das er mit seinen angeschwollenen, dicken Fingern fortwährend auf der Brust hin- und herdrehte. Er trug auch einen kleinen an der Seite angenähten Orden. Seit 45 Jahren war er Geistlicher und wollte im nächsten Jahre sein Jubiläum feiern, wie es der Erzpriester der Kathedrale kürzlich gethan hatte. Seit der Erbauung des Gerichtsgebäudes war er beim Gericht; er war stolz darauf, mehreren tausend Personen den Eid abgenommen zu haben und selbst noch in seinem Alter zum Wohle des Vaterlandes, der Kirche und auch seiner Familie zu arbeiten, der er außer seinem Hause ein Kapital von wenigstens 30 000 Rubeln in guten Papieren zu hinterlassen gedachte. Nie war ihm der Gedanke gekommen, er könne schlecht handeln, wenn er vor einem Gerichtshofe auf das Evangelium schwören ließ; im Gegenteil, er liebte diese Beschäftigung, die ihm oft Gelegenheit gab, mit vornehmen Personen Bekanntschaft zu machen. So war er an diesem Tage sehr glücklich gewesen, mit dem berühmten Advokaten aus St. Petersburg bekannt zu werden, für den seine Hochachtung noch gestiegen war, als er erfahren hatte, ein einziger Prozeß habe ihm 10 000 Rubel eingebracht.

Sobald der Präsident ihn ermächtigt hatte, den Geschworenen den Eid abzunehmen, hob der alte Pope langsam seine angeschwollenen Beine und schritt auf das vor dem Heiligenbild stehende Pult zu. Die Geschworenen erhoben sich und folgten ihm schnell.

»Einen Augenblick!« sagte der Pope, streichelte das Kreuz mit der rechten Hand und wartete, bis alle Geschworenen näher getreten waren.

Als alle bei dem Heiligenbild standen, neigte der Pope seinen weißen Kopf zur Seite, steckte ihn in das fettige Loch seiner Stola, brachte seine dünnen Haare in Ordnung und sagte, sich zu den Geschworenen wendend: »Erheben Sie die rechte Hand und halten Sie die Finger so!« Gleichzeitig hob er seine dicke Hand hoch und faltete die Finger, als wenn er eine Prise nehmen wollte. »Und jetzt wiederholen Sie mit nur: ›Ich schwöre bei dem Heiligen Evangelium und dem belebenden Kreuz, daß ich in der Sache, in welcher‹ ... Halten Sie nicht die Hand herunter,« sagte er, sich an einen jungen Mann wendend, der Miene machte, den Arm herunterzunehmen. Dann fuhr er langsam, bei jedem Worte pausierend, fort: »daß ich in dem Falle, an welchem ...«

Die wichtige Persönlichkeit mit dem schönen Backenbart, der pensionierte Oberst, der Kaufmann und die andern Geschworenen hielten den Arm hoch und die Finger genau so gefaltet, wie es der Pope wollte; einige andere dagegen schienen nachlässig und unlustig vorzugehen. Die einen wiederholten die Eidesformel ganz laut mit Ausdruck und Leidenschaft; andere murmelten sie ganz leise, blieben hinter den Worten des Popen im Rückstand und beeilten sich dann, gleichsam erschreckt, ihn einzuholen. Noch alle fühlten sich verlegen, mit Ausnahme des alten Popen, der die heilige Ueberzeugung bewahrte, er vollbringe einen ungeheuer wichtigen und nützlichen Akt.

Nach dem Schwur forderte der Präsident die Geschworenen auf, sich einen Obmann zu wählen. Sofort erhoben sich die Geschworenen von neuem, und begaben sich in ihr Beratungszimmer, wo sich fast alle gleich Cigaretten nahmen und zu rauchen anfingen. Einer schlug vor, die wichtige Persönlichkeit zum Obmann zu wählen, worauf alle sogleich eingingen. Dann warfen die Geschworenen ihre Cigaretten fort und kehrten in den Sitzungssaal zurück. Die wichtige Persönlichkeit erklärte dem Präsidenten, man hätte ihn erwählt, und alle setzten sich wieder auf ihre Sessel mit den hohen Lehnen.

Alles ging ohne Zwischenfall, aber nicht ohne Feierlichkeit vor sich; und diese Feierlichkeit, diese Umstände, diese Formalitäten bestärkten Richter und Geschworene noch in ihrer Ansicht, sie erfüllten eine ernste und würdige, soziale Pflicht. Auch Nechludoff teilte diese Ansicht.

Als die Geschworenen sich gesetzt hatten, hielt der Gerichtspräsident an sie eine Ansprache, um ihnen ihre Rechte, ihre Verpflichtungen und ihre Verantwortlichkeit auseinanderzusetzen. Beim Sprechen veränderte er fortwährend seine Stellung; bald wandte er sich nach rechts, bald nach links, bald lehnte er sich in seinen Sessel zurück oder neigte sich nach vornüber, bald strich er die Blätter auf dem Tische glatt, bald hob er das Falzbein hoch, bald spielte er mit einem der Bleistifte.

Die Rechte der Geschworenen bestanden nach seinen Worten darin, daß sie den Angeklagten durch Vermittlung des Präsidenten Fragen vorlegen und die Beweisstücke prüfen und berühren durften. Ihre Verpflichtung bestand darin, daß sie gerecht, nach bestem Wissen und Gewissen urteilen mußten. Endlich bestand ihre Verantwortlichkeit darin, daß sie sich, falls sie, ihre Beratungen nicht geheim hielten oder in der Ausübung ihrer Thätigkeit mit Fremden in Verbindung traten, der Strenge der Gesetze aussetzten.

Die Richter hörten das alles mit ernster Aufmerksamkeit an. Der Kaufmann, der einen starken Branntweingeruch um sich her verbreitete, nickte bei jedem Satze zustimmend mit dem Kopfe.


Als der Präsident seine Ansprache beendet, wandte er sich den Angeklagten zu:

»Simon Kartymkin, stehen Sie auf!«

Simon zuckte nervös zusammen und seine Lippen bewegten sich schneller.

»Ihr Name?«

»Simon Petrowitsch Kartymkin,« versetzte der Angeklagte, der sich seine Antworten augenscheinlich schon vorher zurechtgelegt, in einem Zuge mit schwerfälliger Stimme.

»Ihr Stand?«

»Ich bin Bauer!«

»Aus welchem Gouvernement? Aus welchem Bezirk?«

»Aus dem Gouvernement Tula, Bezirk Krapivo, Gemeinde Kupianskoj, Dorf Borki.«

»Wie alt?«

»34 Jahre; ich bin achtzehnhundert ...«

»Welcher Religion?«

»Wir gehören der russischen orthodoxen Religion an.«

»Verheiratet?«

»Wir haben uns nie verheiratet!«

»Was betrieben Sie für ein Gewerbe?«

»Ich war im Korridor des Mauritania-Hotels angestellt.«

»Haben Sie schon vor Gericht gestanden?«

»Ich habe nie vor Gericht gestanden, denn, wie ich lebte ...«

»Sie haben nie vor Gericht gestanden?«

»So wahr es einen Gott giebt, nie!«

»Haben Sie eine Abschrift der Anklage erhalten?«

»Ja, die habe ich erhalten!«

»Setzen Sie sich! Euphemia Iwanowna Botschkoff!« fuhr der Präsident, sich an eine der Frauen wendend, fort.

Doch Simon blieb noch immer stehen und verdeckte die Botschkoff.

»Kartymkin, setzen Sie sich!«

Kartymkin blieb noch immer stehen. Er setzte sich erst, als der Nuntius ihm, den Kopf neigend und die Augen weit aufreißend, mit tragischer Miene den Befehl erteilte, er solle Platz nehmen.

Nun setzte sich der Angeklagte mit derselben Hast, mit der er aufgestanden war, hüllte sich in seinen Mantel und begann wieder, die Lippen zu bewegen.

»Ihr Name?«

Mit einem Seufzer der Abspannung, wie jemand, der sich ärgert, daß er immer dasselbe wiederholen muß, wandte sich der Präsident der ältesten der beiden Frauen zu, ohne sie auch nur anzusehen, und ohne den Blick von einem Papier zu erheben, das er in der Hand hielt. Diese Prozedur war ihm so vertraut geworden, daß er, um schneller damit fertig zu werden, zweierlei zu gleicher Zeit thun konnte.

Die Botschkoff zählte 43 Jahre. Stand: Bürgerin; Beruf: Kammerfrau in dem nämlichen Hotel Mauritania. Sie hatte nie vor Gericht gestanden und die Anklageakte erhalten. Auf die Fragen des Präsidenten antwortete sie mit herausfordernder Keckheit, als wenn sie sagen wollte: »Jawohl, ich bin die Euphemia Botschkoff; ich habe die Anklageakte erhalten; ich rühme mich dessen und erlaube niemandem, darüber zu lachen!« Sie wartete nicht, bis man ihr sagte, sie solle sich setzen, sondern setzte sich gleich, als das Verhör vorüber war.

»Ihr Name?« sagte der Präsident, sich mit ganz besonderer Freundlichkeit an die andere Angeklagte wendend.

»Sie müssen aufstehen!« fügte er in gütigem Tone hinzu, als er bemerkte, daß die Maslow sitzen blieb. Sie stand auf und betrachtete entschlossen, mit geradem Kopfe und vorgestreckter Brust, ohne zu antworten, den Präsidenten mit ihren naiven, schwarzen Augen.

»Wie nennt man Sie?«

Sie murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.

»Man nannte mich Ljuba!« erwiderte sie.

Nechludoff, der sich inzwischen sein Pincenez aufgesetzt, betrachtete die Angeklagte während ihres Verhörs. »Das ist unmöglich,« dachte er, während er die Augen auf das Gesicht der Angeklagten richtete. »Sie heißt Ljuba; das ist nicht derselbe Name! Doch diese wunderbare Aehnlichkeit!«

Der Präsident wollte zu einer andern Frage übergehen; doch der Richter mit der Brille sagte ihm ganz leise einige Worte, die ihn zu verblüffen schienen. Er wandte sich zu der Angeklagten und fragte:

»Wie? Ljuba? Sie sind doch unter einem andern Namen eingetragen?«

Die Angeklagte schwieg.

»Ich frage Sie, wie ist Ihr richtiger Name?«

»Ihr Taufname?« setzte der Richter mit der Brille hinzu.

Sie murmelte etwas, ohne den Blick von dem Präsidenten zu verwenden.

»Sprechen Sie lauter!«

»Früher hieß ich Katharina!«

»Das ist unmöglich,« sagte sich Nechludoff wieder, aber er zweifelte jetzt nicht mehr und war sicher, daß sie es war, die Zofe Katuscha, die er einst geliebt, aufrichtig geliebt, die er später in einem Augenblick der Thorheit verführt, dann verlassen, und an die zu denken er bis dahin stets vermieden hatte, weil ihm die Erinnerung zu peinlich war und ihn zu tief demütigte, denn sie zeigte ihm, wie feig, wie gemein er, der sich auf seine Rechtschaffenheit so viel eingebildet hatte, sich gegen dieses Weib benommen hatte!

Ja, sie war es! Er bemerkte jetzt, klar und deutlich, auf ihrem Gesicht jene geheimnisvolle Eigentümlichkeit, die in jedem Gesicht liegt, die es von allen andern unterscheidet und etwas einzig Dastehendes, Besonderes aus ihm macht.

Trotz der krankhaften Blässe und der Abmagerung fand er diese Eigentümlichkeit in allen Zügen des Gesichts, im Munde, in den etwas schielenden Augen, in der Stimme, vor allem aber in dem wirren Blick wieder, in dem freundlichen Ausdruck, nicht allein des Gesichts, sondern der ganzen Persönlichkeit.

»Sie hätten das gleich sagen sollen!« erklärte der Präsident, noch immer in demselben sanften Tone, so unwiderstehlich war der Zauber, den sie ausübte. – »Und wie ist Ihr Vorname?«

»Ich bin ein natürliches Kind,« versetzte die Maslow.

»Das thut nichts; wie hat man Sie nach Ihrem Paten genannt?«

»Michaelowna!«

»Aber welches Verbrechen kann sie denn nur begangen haben,« fragte sich Nechludoff atemlos.

»Und Ihr Familienname, Ihr Zuname?« fuhr der Präsident fort.

»Man nannte mich ›die Gerettete.‹«

»Wie?«

»Die Gerettete,« versetzte sie mit leisem Lächeln. »Man nannte mich auch nach dem Namen meiner Mutter Maslow.«

»Ihr Stand?«

»Bürgerin!«

»Orthodoxer Religion?«

»Ja, orthodox!«

»Und welchen Beruf? Welches Gewerbe betrieben Sie?«

»Das wissen Sie wohl selber!« erwiderte die Maslow, wandte einen Moment die Augen ab und fing dann wieder an, den Präsidenten zu betrachten. Eine heiße Röte stieg ihr ins Gesicht.

Es lag etwas so Außergewöhnliches in dem Ausdruck ihres Gesichts, etwas so Schreckliches und Herzzerreißendes in ihren Worten und dem schnellen Blick, den sie auf die Anwesenden warf, dass der Präsident den Kopf senkte, und einen Augenblick ein allgemeines Schweigen in dem Saale herrschte. Dieses Schweigen wurde von einem aus dem Hintergrunde des Saales kommenden Lachen unterbrochen; der Nuntius gebot Schweigen, während der Präsident wieder den Kopf erhob und das Verhör fortsetzte.

»Sie haben noch nie vor Gericht gestanden?«

»Nie,« versetzte die Maslow seufzend mit leiser Stimme.

»Sie haben die Anklageakte zugestellt erhalten?«

»Ja,« erwiderte sie.

»Setzen Sie sich!«

Die Angeklagte raffte ihr Kleid auf, wie die Frauen in Balltoilette ihre Schleppen hochnehmen, setzte sich und steckte ihre Hände in die Ärmel ihres Kittels, ohne den Präsident mit den Augen zu verlassen. Ihr Gesicht hatte wieder seine ruhige Blässe angenommen. Man nahm die Aufzählung der Zeugen vor, ließ, dieselben hinausgehen, beschäftigte sich dann mit dem Gerichtsarzt, den man zu den Zeugen in den Saal schickte, wo sie warten mußten, bis man sie wieder hereinrief.

Dann erhob sich der Aktuar und begann die Verlesung der Anklage. Er las mit lauter und deutlicher Stimme, doch so schnell, daß seine Worte nur ein dumpfes, einschläferndes Geräusch erzeugten.

Die Richter drehten sich auf ihren Sesseln hin und her und warteten in sichtlicher Ungeduld auf die Beendigung der Verlesung. Einer der Gensdarmen hatte große Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken.

Auf der Anklagebank bewegte Kartymkin noch fortwährend die Lippen; die Botschkoff saß mit vollständig ruhiger Miene da und schob zeitweise mit dem Finger ihre Haare unter das Kopftuch; die Maslow blieb unbeweglich, die Augen auf den Aktuar gerichtet, sitzen; zwei- oder dreimal stieß, sie einen Seufzer aus und veränderte die Lage ihrer Hände.

Nechludoff, der in der ersten Reihe der Geschworenen auf seinem hohen Sessel saß, betrachtete noch immer die Maslow, und in seiner Seele vollzog sich eine tiefe und schmerzliche Arbeit.


Die Anklageakte lautete folgendermaßen: Am 17 Oktober 188.., meldete der Wirt des Mauritania-Hotels in dieser Stadt den plötzlichen Tod eines in diesem Hotel logierenden sibirischen Kaufmanns zweiter Gilde, Namens Ferapont Smjelkoff. Der von dem Arzt der vierten Abteilung ausgestellte Totenschein besagte, daß der Tod Smjelkoffs infolge eines durch übermäßigen Genuß spirituöser Getränke hervorgerufenen Herzschlages eingetreten war; und die Leiche Smjelkows wurde drei Tage nach dem Tode regelrecht bestattet. Am vierten Tage nach dem Hinscheiden Smjelkoffs lenkte ein Geschäftsfreund und Landsmann des letzteren, der sibirische Kaufmann Timotschin, der aus St. Petersburg kam und sich nach den näheren Umständen des Todesfalles erkundigt hatte, den Verdacht darauf, daß Smjelkoff keines natürlichen Todes gestorben war. Derselbe wäre vielmehr von Verbrechern vergiftet worden, die sich dann eines Brillantringes und einer bedeutenden Geldsumme bemächtigt, die Smjelkoff in seinem Besitz hatte und die sich in dem nach seinem Tode aufgenommenen Inventar nicht vorfand.

Es wurde infolgedessen eine Untersuchung eingeleitet, die folgendes zu Tage förderten:

1. Daß der besagte Smjelkoff nach Wissen des Wirtes des Mauritania-Hotels und auch des Prokuristen des Kaufmanns Starikoff, mit dem Emjelkoff bei seiner Ankunft in der Stadt geschäftlich zu thun gehabt, eine Summe von 3800 Rubeln in seinem Besitz haben mußte, die er in einem Bankhause der Stadt erhoben, während man andererseits nach seinem Tode in seinem Koffer und in seiner Brieftasche nur 312 Rubel und 16 Kopeken vorfand. Es wurde festgestellt

2. daß Smjelkoff den Tag vor seinem Tode mit der unverehelichten Ljubka zusammen gewesen war, die zweimal sein Zimmer betreten hatte;

3. daß besagte Ljubka ihrer Wirtin einen Brillantring abgelassen hatte, der dem Kaufmann Smjelkoff gehört;

4. daß die Dienstfrau des Hotels, Euphemia Botschkoff, am Tage nach dem Tode des Kaufmanns Smjelkoff eine Summe von 1800 Rubel auf ihr Konto bei der Handelsbank hatte eintragen lassen;

5. daß der Hoteldiener, Simon Kartymkin, nach der Aussage der Ljubka ihr einige Pulver übergeben und ihr angeraten hatte, dieselben in den Branntwein zu schütten, die der Kaufmann Smjelkoff trinken sollte, was die Ljubka nach ihrem eigenen Geständnis gethan hat.

Auf Befragen des Untersuchungsrichters erklärte die Ljubka, der Kaufmann Smjelkoff habe sie aus dem Freudenhaus in das Hotelzimmer geschickt, das er in der »Mauritania« bewohnte, um dort Geld zu holen; sie habe den Koffer des Kaufmanns mit dem Schlüssel geöffnet, den er ihr gegeben, und daraus, wie er es ihr gefügt, 40 Rubel genommen. Sie hat erklärt, kein anderes Geld genommen zu haben, was Simon Kartymkin und Euphemia Botschkoff, in deren Gegenwart sie den Koffer geöffnet und wieder geschlossen, bezeugen konnten.

Was die Vergiftung Smjelkoffs betraf, so hat die Ljubka erzählt, daß sie tatsächlich, als sie zum zweitenmal in das Zimmer des Kaufmanns Smjelkoff zurückgekommen war, demselben in ein Glas Cognac, das er trinken sollte, ein Pulver geschüttet habe, das ihr Simon Kartymkin gegeben; sie habe aber geglaubt, dieses Pulver wäre ein einfaches Schlafmittel und sie habe es hineingeschüttet, damit der Kaufmann einschlafe und sie schnell ihrer Wege gehen lasse. Sie hatte hinzugefügt, sie habe kein Geld genommen, Smjelkoff hätte ihr den Ring selbst gegeben, nachdem er sie geschlagen, um sie am Fortgehen zu hindern.

Auf Befragen des Untersuchungsrichters haben die Angeklagten, Euphemia Botschkoff und Simon Kartymkin folgendes ausgesagt:

Euphemia Botschkoff hat erklärt, sie wisse absolut nichts von dem Verschwinden des Geldes, hätte das Zimmer des Kaufmanns nicht betreten, und nur die Ljubka hätte dasselbe betreten. Sie hat behauptet, wenn eine Summe Geldes dem Kaufmann entwendet worden wäre, so hätte sie die Ljubka fortgenommen, denn diese wäre mit dem Schlüssel des Koffers ins Zimmer gekommen. (Bei dieser Stelle der Anklage zuckte die Maslow zusammen und wandte sich, indem sie den Mund öffnete, als wolle sie einen Schrei ausstoßen, nach der Botschkoff um.) Nach dem Ursprung der bei der Bank deponierten 1800 Rubel befragt, hat sie erklärt, dieses Geld habe sie und Simon, mit dem sie sich verheiraten wollte, im Laufe von zwölf Jahren erspart.

Simon Kartymkin hat zuerst gestanden, daß er im Einverständnis mit der Botschkoff und auf Anstiften der Maslow, der der Kaufmann den Schlüssel zu seinem Koffer gegeben, eine große Summe Geldes gestohlen, die zwischen ihm, der Maslow und der Botschkoff geteilt worden war; er hat auch gestanden, daß er der Maslow ein weißes Pulver gegeben, um den Kaufmann einzuschläfern. Doch in dem zweiten Verhör hat er jede Teilnahme an dem Diebstahl des Geldes wie an der Übergabe des Pulvers abgeleugnet und die ganze Schuld der Maslow zugeschrieben. Nach dem von der Botschkoff bei der Bank eingezahlten Gelde befragt, hat auch er geantwortet, dieses Geld hätten sie gemeinsam in zwölfjährigem Dienste verdient, es wäre das Produkt der ihnen von den Gästen gespendeten Trinkgelder.

Die Autopsie der Leiche des Kaufmanns Smjelkoff, die dem Gesetz entsprechend vorgenommen worden, hat das Vorhandensein einer gewissen Quantität Gift in den Eingeweiden ergeben.

Es folgten dann in dem Anklageakte der Bericht über die Konfrontationen, die Zeugenaussagen u. s. w., und die Anklage endete wie folgt:

Infolgedessen werden Simon Kartymkin, Bauer, 34 Jahre alt; Euphemia Botschkoff, 43 Jahre alt, und Katharina Michaelowna Maslow, 27 Jahre alt, angeklagt, am 16. Oktober 188.., dem Kaufmann Smjelkoff eine Summe von 2500 Rubeln gemeinsam gestohlen und besagtem Smjelkoff, um die Spuren ihres Diebstahls zu tilgen, Gift eingegeben zu haben, woraus der Tod desselben erfolgte.

Diese Vergehen sind im Artikel 1455 des Strafgesetzbuches vorgesehen; infolgedessen werden Simon Kartymkin, Euphemia Botschkoff und Katharina Maslow vor das Bezirksgericht unter Hinzuziehung von Geschworenen gestellt.

Als der Aktuar die Vorlesung beendet, ordnete er die Blätter des eben verlesenen Aktes, setzte sich und strich mit beiden Händen über seine langen schwarzen Haare. Alle Anwesenden stießen einen Seufzer der Erleichterung aus; und jeder hatte die angenehme Empfindung, die Verhandlung wäre nunmehr eröffnet, alles würde gleich aufgeklärt und der Gerechtigkeit Genüge gethan werden. Nur Nechludoff hatte nicht dieses Gefühl; er dachte mit Entsetzen an das Verbrechen, das die Maslow, die er vor zehn Jahren als unschuldig gekannt, hatte begehen können.


Als die Verlesung der Anklage beendet war, wandte sich der Präsident, nachdem er die Ansicht seiner Kollegen eingeholt, zu Kartymkin mit einem Gesicht, als wenn er sagen wollte: »Jetzt werden wir alles ganz genau bis in die kleinsten Einzelheiten erfahren.«

»Simon Kartymkin!« sagte er, sich nach links neigend, Simon Kartymkin stand auf, schob die Aermel seines Mantels in die Höhe und trat vor, ohne das Bewegen der Lippen einzustellen.

»Sie sind angeklagt, dem Kaufmann Smjelkoff am 16, Oktober 188.., im Einverständnis mit Euphemia Botschkoff und Katharina Maslow eine ihm gehörige Summe Geldes gestohlen, sich dann Arsenik verschafft und Katharina Maslow veranlaßt zu haben, dasselbe in das Getränk des Kaufmanns Smjlelkoff zu gießen, was sie gethan hat und was den Tod desselben zur Folge hatte.«

»Sie bekennen sich schuldig?« schloß der Präsident, sich nach rechts neigend.

»Das ist unmöglich, denn unser Beruf …«

»Das werden Sie später erklären. Sie bekennen sich schuldig?«

»Das ist unmöglich; ich habe nur …«

»Das werden Sie uns später erklären, Sie bekennen sich schuldig?« wiederholte der Präsident mit ruhiger, doch strenger Stimme.

»Das ist unmöglich, weil, …«

Wieder wandte sich der Nuntius nach Simon Kartymkin um und unterbrach ihn mit einem tragischen »Stille!«

Der Präsident nahm mit einem Gesicht, welches besagte, dieser Teil der Sache wäre beendet, seinen Ellenbogen vom Tische und wandte sich zu Euphemia Botschkoff:

»Euphemia Botschkoff, Sie sind beschuldigt, dem Kaufmann Smjelkoff am 16. Oktober 188.., eine Summe Geldes, sowie einen Ring aus seinem Koffer gestohlen zu haben; Sie haben dann, nachdem Sie das Produkt des Diebstahls unter sich geteilt, dem Kaufmann Smjelkoff Arsenik eingegeben, woran er gestorben ist. Sie bekennen sich schuldig?«

»Ich bin vollständig unschuldig,« versetzte die Angeklagte mit harter und kecker Stimme. »Ich habe sogar nicht einmal das Zimmer betreten, und sie hat sicherlich alles allein gethan.«

»Das werden Sie uns später erzählen,« sagte der Präsident von neuem mit seiner ruhigen und festen Stimme. »Sie bekennen sich also nicht schuldig?«

»Ich habe kein Geld genommen, habe kein Gift eingegeben und das Zimmer gar nicht betreten! Hätte ich es betreten, so hätte ich die da hinaus geworfen.«

»Sie bekennen sich nicht schuldig?«

»Nein!«

»Gut!«

»Katharina Maslow,« sagte der Präsident jetzt, sich zu der anderen Angeklagten wendend, »Sie sind angeklagt, ein Zimmer des Hotels Mauritania mit dem Kofferschlüssel des Kaufmanns Smjelkoff betreten, aus diesem Koffer Geld und einen Ring gestohlen zu haben...«

Der Präsident unterbrach sich in seiner Phrase, um auf die Worte zu hören, die ihm der Richter zur Linken ins Ohr sagte; derselbe machte ihn darauf aufmerksam, daß eins der Beweisstücke, die auf der Liste notiert waren, ein Fläschchen, auf dem Tische fehlte... »Wir werden das gleich sehen,« murmelte der Präsident zur Antwort und setzte dann seine Phrase wie eine auswendig gelernte Lektion fort:

...»Aus diesem Koffer einen Ring und Geld gestohlen und das Produkt des Diebstahls mit ihren beiden Komplizen geteilt zu haben; Sie sind mit dem Kaufmann Smjelkoff in das Hotel zurückgekehrt, und haben ihm vergifteten Branntwein zu trinken gegeben. Bekennen Sie sich schuldig?«

»Ich bin unschuldig,« versetzte die Angeklagte sofort, »Wie ich von Anfang an gesprochen, so spreche ich noch jetzt: ich habe nichts genommen, nichts, nichts, gar nichts! Den Ring hat er mir selbst geschenkt!«

»Sie bekennen sich nicht schuldig, die 2600 Rubel genommen zu haben?« fragte der Präsident.

»Ich habe nichts weiter genommen, als die 40 Rubel!«

»Und Sie bekennen sich auch nicht schuldig, das Pulver in das Glas des Kaufmanns Smjelkoff geschüttet zu haben?«

»Doch, das gestehe ich ein. Aber ich dachte, dieses Pulver wäre, wie man mir gesagt hatte, zum Einschläfern bestimmt, und könnte keinen Schaden anrichten. Wäre ich denn im stande, jemand zu vergiften?« fügte sie stirnrunzelnd hinzu.

»Sie bekennen sich also nicht schuldig, das Geld und den Ring des Kaufmanns Smjelkoff entwendet zu haben; doch andrerseits gestehen Sie, daß Sie das Pulver hineingeschüttet haben.«

»Das gestehe ich, doch ich glaubte, es wäre ein Pulver zum Einschläfern. Ich gab es ihm nur, damit er einschlafen sollte, nur darum.«

»Sehr gut!« unterbrach der Präsident, von den erzielten Resultaten augenscheinlich befriedigt. – »Erzählen Sie uns jetzt, wie die Sache vor sich gegangen ist!« fuhr er, sich in seinen Sessel zurücklehnend und die beiden Hände auf den Tisch legend, fort. »Erzählen Sie uns alles, was Sie wissen! Ein aufrichtiges Geständnis kann Ihre Lage mildern.«

Die Maslow sah den Präsidenten noch immer an; doch sie schwieg und errötete, und man sah es ihr an, daß sie sich bemühte, ihre Schüchternheit zu besiegen.

»Na, erzählen Sie uns, wie die Sache vor sich gegangen ist!«

»Wie sie vor sich gegangen ist?« fragte die Maslow hastig. »Er kam zu mir, bot mir zu trinken an und ging dann wieder fort.«

In diesem Augenblick erhob sich der Staatsanwalt ein wenig und stützte sich auf seinen Ellenbogen. »Sie wünschen eine Frage zu stellen?« fragte der Präsident, und gab ihm auf seine bejahende Antwort zu verstehen, daß er sprechen könnte. »Die Frage, die ich stellen möchte, ist folgende: kannte die Angeklagte Simon Kartymkin schon vorher?« fragte der Staatsanwalt feierlich, ohne die Maslow anzublicken. Als er dann die Frage gestellt, biß er die Lippen zusammen und zog die Stirn kraus. Die Maslow warf einen erschrockenen Blick auf den Staatsanwalt.

»Simon? Ja, den kannte ich,« sagte sie.

»Ich möchte wissen, worin die Beziehungen der Angeklagten zu Kartymkin bestanden? Sahen Sie sich oft?«

»Worin unsere Beziehungen bestanden? Er empfahl mich den Hotelgästen, aber das waren keine Beziehungen,« versetzte die Maslow, und ließ einen unruhigen Blick von dem Staatsanwalt zu dem Präsidenten und umgekehrt schweifen.

»Sollte sie mich erkannt haben?« dachte Nechludoff, auf dem die Augen der Angeklagten eine Sekunde haften geblieben waren, und das Blut strömte ihm ins Gesicht, doch die Maslow hatte ihn unter den anderen Geschworenen nicht bemerkt, und ihre erschrockenen Blicke schnell wieder dem Staatsanwalt zugewendet.

»Die Angeklagte leugnet also, in näheren Beziehungen zu Kartymkin gestanden zu haben? Es ist gut, ich habe weiter nichts zu fragen.«

Der Staatsanwalt nahm seinen Ellenbogen vom Tische, und begann etwas zu schreiben. In Wahrheit schrieb er gar nichts, sondern begnügte sich damit, mit seiner Feder über die Anklage zu fahren. Doch er hatte gesehen, daß die Staatsanwälte und Advokaten sich nach jeder von ihnen gestellten Frage stets in ihren Reden Bemerkungen notierten, die bestimmt waren, ihren Gegner zu erdrücken.

Der Präsident, der sich während dieser Zeit ganz leise mit dem Richter mit der Brille unterhalten, wandte sich sofort wieder zu der Angeklagten und fragte, sein Verhör fortsetzend:

»Und was ist dann vor sich gegangen?«

»Es war in der Nacht,« erklärte die Maslow, die wieder bei dem Gedanken, sie hätte nur mit dem Präsidenten allein zu thun, Mut faßte. »Ich war in mein Zimmer gegangen und wollte mich schlafen legen, als das Dienstmädchen Bertha zu mir sagte: ›Geh hinunter, dein Kaufmann ist schon wieder da!‹ Er war wirklich da, und wollte Wein trinken, hatte aber kein Geld und schickte mich ins Hotel, um welches zu holen. Er hatte mir gesagt, wo sein Geld läge und wieviel ich nehmen sollte. Da bin ich denn gegangen.«

Der Präsident unterhielt sich weiter leise mit seinem Nachbar, und hatte nicht gehört, was die Maslow eben gesagt. Um aber zu beweisen, daß er doch alles gehört, glaubte er, ihre letzten Worte wiederholen zu müssen:

»Sie sind gegangen, und dann?«

»Ich bin ins Hotel gegangen und habe alles gethan, was der Kaufmann mir gesagt hatte; ich habe vier rote Zehnrubelscheine genommen,« sagte die Maslow und unterbrach sich von neuem, als überfiele sie eine plötzliche Furcht, dann fuhr sie fort: »Ich bin nicht allein in das Zimmer hineingegangen, sondern habe Simon Michaelowitsch gerufen, und die da auch,« sagte sie, auf die Botschkoff deutend, hinzu.

»Sie lügt! ich bin nicht hineingegangen,« rief die Botschkoff, doch der Nuntius unterbrach sie.

»In ihrer Gegenwart habe ich die vier roten Scheine genommen!«

»Ich möchte wissen, ob die Angeklagte, als sie die 40 Rubel nahm, gesehen hat, wieviel Geld sich in dem Koffer befand?« fragte der Staatsanwalt von neuem.

»Ich habe nichts gesehen, höchstens, daß Hundertrubelscheine drin lagen.«

»Und dann haben Sie das Geld zurückgebracht?« fuhr der Präsident, auf seine Uhr sehend, fort.

»Ja!«

»Und dann?«

»Dann hat mich der Kaufmann wieder auf sein Zimmer kommen lassen!« sagte die Maslow.

»Hm! und wie haben Sie ihm das Pulver eingegeben?« fragte der Präsident.

»Ich habe es in ein Glas geschüttet, und er hat es getrunken!«

»Und warum haben Sie es ihm gegeben?«

»Um von ihm fortzukommen!« sagte sie seufzend, »Ich ging auf den Korridor und sagte zu Simon Michaelowitsch: ›Wenn er mich nur fortließe‹. Und Simon Michaelowitsch meinte: ›Uns langweilt er auch. Geben wir ihm ein Schlafpulver‹. Ich glaubte, es wäre ein ganz harmloses Pulver und nahm es, um es in sein Glas zu schütten. Als ich wieder hineinkam, befand er sich im Alkoven und befahl mir, ihm Cognac zu bringen. Da nahm ich die Flasche fine Champagne vom Tisch, füllte zwei Gläser für mich und ihn, schüttete das Pulver in sein Glas und brachte es ihm. Ich glaubte, es wäre ein Schlafmittel, und er würde einschlafen, doch um keinen Preis hätte ich es ihm gegeben, hätte ich gewußt ...«

»Nun, wie sind Sie denn in den Besitz des Ringes gelangt?« fragte der Präsident. »Wann hat er ihn Ihnen gegeben?«

»Als ich fortgehen wollte, hat er mich auf den Kopf geschlagen, so daß mir der Kamm zerbrochen ist. Ich habe zu weinen angefangen, da hat er seinen Ring vom Finger gezogen und ihn mir geschenkt!«

In diesem Augenblick erhob sich der Staatsanwalt von neuem und bat um die Erlaubnis, noch einige Fragen stellen zu dürfen.

»Ich möchte wissen,« sagte er zunächst, »wie lange die Angeklagte im Zimmer des Kaufmanns Smjelkoff geblieben ist?«

Von neuem bemächtigte sich ein plötzlicher Schreck der Maslow. Sie ließ ihren unruhigen Blick von dem Staatsanwalt zu dem Präsidenten wandern, und versetzte schnell:

»Ich erinnere mich nicht mehr – eine Zeit lang.«

»Ah! und die Angeklagte hat wohl auch vergessen, ob sie, als sie von dem Kaufmann Smjelkoff kam, noch ein anderes Zimmer des Hotels betreten hat?«

Die Maslow dachte einen Augenblick nach und versetzte dann:

»In das Nebenzimmer, das leer war, bin ich hineingegangen!«

»Und weshalb sind Sie dort hineingegangen?« fragte der Staatsanwalt, der sich plötzlich umdrehte und sich direkt an sie wendete.

»Um auf den Fiaker zu warten.«

»Ist Kartymkin auch mit der Angeklagten in das Zimmer getreten; ja oder nein?«

»Ja!«

»Und warum?«

»Es war noch Cognac in der Flasche, und den haben wir zusammen getrunken.«

»Hat die Angeklagte über irgend etwas mit Simon gesprochen?«

»Ich habe über gar nichts gesprochen! Ich habe alles gesagt, was vorgefallen ist,« erklärte sie.

»Ich habe nichts mehr zu fragen,« sagte der Staatsanwalt zum Präsidenten; darauf fing er hastig an, seine Rede zu skizzieren und sich zu notieren, daß die Angeklagte selbst gestanden hatte, in ein leeres Zimmer mit ihrem Komplizen hineingegangen zu sein.

Es trat eine Pause ein.

»Sie haben nichts weiter zu sagen?«

»Ich habe alles gesagt, was geschehen ist,« wiederholte die Maslow, seufzte und setzte sich nieder.

Nun notierte sich der Präsident etwas auf seinen Papieren, hörte auf eine Mitteilung, die ihm einer der Beisitzer ins Ohr flüsterte, erklärte die Sitzung auf 20 Minuten für aufgehoben, erhob sich hastig und verließ den Saal.

Der Beisitzer, der mit ihm gesprochen, war der Richter mit dem langen Bart und den gutmütigen, großen Augen; dieser Beamte verspürte eine leichte Magenverstimmung und hatte den Wunsch ausgesprochen, eine Stärkung zu sich zu nehmen. Deshalb hatte der Präsident die Sitzung aufgehoben.

Nach dem Präsidenten und den Richtern erhoben sich auch die Geschworenen sofort und zogen sich mit der angenehmen Empfindung, bereits einen guten Teil des geheiligten Werkes, mit dem die Gesellschaft sie betraut, vollbracht zu haben, in ihr Beratungszimmer zurück.

Nechludoff setzte sich, als er in das Geschworenenzimmer getreten war, ans Fenster und begann zu träumen.


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