Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

»Treten Ew. Exzellenz nur gütigst ein, man erwartet Sie oben,« sagte der dicke Portier der Kortschagins zu Nechludoff, »Man sitzt bei Tische, Ew. Exzellenz werden gebeten, sich in den Speisesaal zu bemühen.«

Der Portier ließ Nechludoff in den Speisesaal treten; dann ging er nach der Treppe und zog an einer Klingel.

»Ist Gesellschaft da?« fragte Nechludoff, während er seinen Paletot auszog.

»Nur Herr Kolossoff und Michael Sergejewitsch; sonst aber niemand,« versetzte der Portier.

Oben auf der Treppe zeigte sich die elegante Gestalt eines Dieners im Frack und weißen Handschuhen.

»Geruhen Ew. Excellenz, sich heraufzubemühen! Man bittet Sie, heraufzukommen!«

Nechludoff stieg die Treppe hinauf, durchschritt das große und prächtige Vorzimmer und trat in den Speisesaal, An dem großen Tische saß die ganze Familie Kortschagin mit Ausnahme von Missys Mutter, der Fürstin Sophie Wassiljewna, die ihre Mahlzeiten stets in ihrem Zimmer einnahm. Der alte Kortschagin saß oben an der Tafel; zu seiner Rechten hatte er den Hausarzt, zu seiner Linken seinen Freund Iwan Iwanowitsch Kolossoff, einen früheren Beamten und jetzt Mitglied des Aufsichtsrats einer Bank sitzen. Dann kamen links Miß Nedort, die Erzieherin von Missys kleiner Schwester und diese Schwester, ein vierjähriges Kind selbst; rechts, ihr gegenüber Missys Bruder, Petja, ein Gymnasiast der siebenten Klasse, der sich auf seine Examina vorbereitete, und ein junger Student, sein Nachhilfelehrer. Etwas weiter saßen Michael Sergejewitsch Telegin oder Mitja, der Sohn der Fürstin Kortschagin aus erster Ehe und eine arme Verwandte, Katharina Alexijewna, eine alte Jungfer und Slawophilin; und endlich, am Ende der Tafel, Missy, neben der ein Platz leer gelassen war.

»Na, das ist recht! kommen Sie schnell! wir sind erst beim Fisch,« sagte der alte Kortschagin, und blickte Nechludoff mit seinen blutunterlaufenen Augen an.

»Stephan!« rief er dem majestätischen Haushofmeister zu und gab ihm ein Zeichen, Nechludoff an den ihm bestimmten Platz zu führen.

Nechludoff kannte den alten Kortschagin seit langer Zeit und hatte ihn schon oft bei Tische gesehen, aber an diesem Abend fiel ihm sein rotes und aufgedunsenes Gesicht, sein sinnlicher Mund, sein dicker Hals, seine ganze Gestalt, ja, sogar die Art, wie er einen Zipfel seiner Serviette in den Westenausschnitt steckte, unangenehm auf. Unwillkürlich fiel ihm ein, was man ihm alles von der Härte dieses Mannes erzählt, der zur Zeit, als er Provinzgouverneur gewesen, eine Reihe von Unglücklichen hatte erschießen und sogar eine große Zahl hatte hängen lassen.

»Man wird Ew. Exzellenz sogleich auftragen!« sagte Stephan und nahm aus einer der Buffetschubladen einen großen Suppenlöffel, während der elegante Diener sich hinter den leeren Sessel stellte und auf Nechludoffs Teller eine Falte der künstlerisch in Fächerform zusammengelegten Serviette wieder in Ordnung brachte.

Noch Nechludoff mußte zuerst um den Tisch herumgehen und jedem der Gäste die Hand schütteln. Jeder erhob sich von seinem Stuhle und reichte ihm die Hand, mit Ausnahme der Damen und des alten Kortschagin. Dieser Gang um den Tisch und diese Händedrücke an Personen, von denen er einzelne nie gesehen, das alles erschien ihm an diesem Abend ganz besonders lächerlich und unangenehm.

Er entschuldigte sich, daß er so spät kam und wollte sich schon auf seinen Platz, zwischen Missy und Katharina Alexijewna, setzen, als der alte Kortschagin verlangte, er solle in Ermangelung eines kleinen Gläschens Branntwein wenigstens von den Vorspeisen nehmen. Nechludoff mußte an den kleinen Tisch treten, auf dem die Vorspeisen, der Hummer, Kaviar, Käse und die Anchovis standen. Er glaubte, keinen Hunger zu haben, doch als er von dem Kaviar gekostet, begann er gierig zu schlingen.

»Na, haben Sie das Fundament untergraben?« fragte ihn Kolossoff, indem er den ironischen Ausdruck wiederholte, den ein reaktionäres Blatt in einem Artikel gebraucht hatte, der die Gefahren der Geschworenengerichte beweisen wollte: »Sie haben Schuldige freigesprochen und Unschuldige verurteilt, nicht wahr?«

»Das Fundament untergraben! Das Fundament untergraben!« wiederholte der alte Fürst, sich vor Lachen wälzend. Er hatte ein unbegrenztes Vertrauen auf den Geist und das Wissen seines Freundes, dessen liberale Ansichten er voll und ganz teilte.

Doch Nechludoff gab, selbst auf die Gefahr hin, unhöflich zu erscheinen, keine Antwort. Er setzte sich, that sich Suppe auf seinen Teller und aß mit größtem Appetit.

»Lassen Sie ihn sich doch satt essen!« sagte Missy lächelnd mit einer Vertraulichkeit, die den freundschaftlichen Charakter ihrer Beziehungen deutlich verriet.

Uebrigens hatte Kolossoff seine Frage schon vergessen, und besprach in heftigem und lautem Tone den Artikel der reaktionären Zeitung über die Geschworenengerichte. Michael Sergejewitsch gab ihm gleichzeitig das Stichwort und deutete auf die ungeheuerlichen Irrtümer eines andern kürzlich in demselben Blatte veröffentlichten Artikels.

Missy war, wie stets, durchaus »vornehm«. Sie trug eine Toilette von diskreter und nüchterner, aber tadelloser Eleganz.

»Sie müssen vor Hunger und Abspannung ja ganz erschöpft sein,« sagte sie zu Nechludoff, als er seine Suppe verspeist hatte.

»Ach nein! So schlimm ist es nicht! Und Sie? Haben Sie sich die Bilder angesehen?«

»Nein, wir haben den Besuch verschoben, und dafür bei den Salomonoffs Tennis gespielt. Wissen Sie, Mister Crooks spielt wirklich wunderbar!«

Nechludoff hatte sich bei den Kortschagins zerstreuen wollen. Seine Besuche bei ihnen hatten ihm stets Freude gemacht, sowohl wegen des Luxus und Reichtums, der in dem Hause herrschte und seinen raffinierten Geschmack entzückte, wie auch wegen der Atmosphäre liebenswürdiger Schmeichelei, von der er sich unwillkürlich umgeben fühlte. Doch an diesem Abend mißfiel ihm seltsamerweise in diesem Hause alles: alles, von dem Portier, dem ungeheuren Vorflur, den Blumen, den befrackten Dienern, dem Tafelaufsatz, bis zu Missy, die er unnatürlich und unsympathisch fand. Er ärgerte sich über den spöttischen, groben Ton Kolossoffs, seinen Liberalismus, wie über das sinnliche und lasterhafte Gesicht des alten Kortschagin, die französischen Citate der alten slavenfreundlichen Jungfer, und die mürrischen Mienen der Erzieherin und des Hauslehrers, ganz besonders aber über die vertrauliche Manier, wie Missy von ihm gesprochen, anstatt ihn wie die übrigen Gäste mit dem Vornamen zu bezeichnen.

Nechludoff hatte Missy gegenüber stets zwischen zwei Gefühlen hin- und hergeschwankt. Bald sah er sie sozusagen in einem Nebel und entdeckte an ihr alle möglichen Vollkommenheiten; sie erschien ihm offen, schön, intelligent und natürlich. Bald aber mußte er sich, wenn er vom Nebel ins helle Tageslicht trat, ihre Unvollkommenheit eingestehen. In der letzten Verfassung fühlte er sich an diesem Abend. Er bemerkte alle Runzeln auf ihrer Stirn, die beiden falschen Zähne, die sie im Munde hatte, die Spur des Brenneisens in ihren Haarlocken und die hervortretenden Knochen ihrer Ellenbogen; vor allem aber fielen ihm ihre langen Fingernägel auf, die ihn an die dicken Finger des alten Kortschagin erinnerten.

»Ein langweiliges Spiel, das Tennis,« sagte Kolossoff; »das Ballspiel war zu unserer Zeit viel lustiger!«

»Ach nein, Sie kennen das Tennisspiel nicht; es giebt nichts, das so schrecklich anregend wäre!« rief Missy, und Nechludoff hatte die Empfindung, als habe sie das Wort »schrecklich« mit unerträglicher Affektiertheit ausgesprochen. Es entspann sich ein Streit, an dem auch Michael Sergejewitsch und die alte Dame teilnahmen. Nur der Nachhilfelehrer, die Erzieherin und die Kinder schwiegen; sie langweilten sich offenbar.

»Na, streitet euch wieder mal!« sagte der Fürst Kortschagin endlich lachend, nahm seine Serviette, legte sie zerknittert auf den Tisch und stand auf, während ein Diener schnell den Stuhl zurückschob. Alle erhoben sich und traten an einen kleinen Tisch, wo Krüge und Gläser mit warmem, parfümiertem Wasser standen. Die Gäste spülten sich den Mund aus und setzten dabei ihre Unterhaltung fort.

»Nicht wahr, ich hatte recht?« fragte Missy Nechludoff, nachdem sie Michael Sergejewiisch erklärt, nichts verrate den Charakter der Leute so gut wie das Spiel. Sie hatte auf dem Gesicht ihres Freundes sogleich den strengen und ernsten Ausdruck bemerkt, der sie bei ihm schon mehrmals beunruhigt hatte, und war entschlossen, die Ursache desselben zu entdecken.

»Ich habe nie über die Frage nachgedacht und weiß es wirklich nicht,« versetzte Nechludoff.

»Wollen wir zu Mama hinaufgehen?« fragte das junge Mädchen.

»Gewiß, gern!« erwiderte er, sich eine Cigarette anzündend; doch der Ton seiner Antwort verriet, daß er sich diesen lästigen Besuch gern erspart hätte.

Sie schwieg, sah ihn fragend an, und ihre Unruhe wurde noch stärker.

»Man möchte wahrhaftig glauben, ich sei hierher gekommen, um die Leute zu langweilen,« sagte sich Nechludoff inzwischen, zwang sich zur Liebenswürdigkeit und setzte einige Worte hinzu, welches Vergnügen es ihm bereiten würde, der Fürstin seine Aufwartung machen zu dürfen, wenn sie sein Besuch nicht störe.

»Aber nicht doch, ganz im Gegenteil; Mama wird entzückt sein, und Sie können bei ihr ebenso gut rauchen, wie hier. Iwan Iwanowitsch muß schon hinaufgegangen sein.«

Die Hausfrau, die Fürstin Sophie Wassiljewna, verbrachte ihr Leben auf ihrer Chaiselongue. Schon seit acht Jahren speiste sie nicht mehr bei Tische. Es gefiel ihr nur in ihrem Zimmer, unter dem Sammet, den Bronzen, den lackierten und vergoldeten Schmuckgegenständen. Nie ging sie aus und sah absolut niemand, wie sie gern erklärte, als »ihre Freunde« d. h. die Personen, die sich aus dem oder jenem Grunde in ihren Augen von den gewöhnlichen Menschen unterschieden. Nechludoff gehörte natürlich zu diesen Freunden, gleichzeitig aber galt er für einen intelligenten jungen Mann, weil seine Mutter mit den Kortschagins in Verbindung gestanden hatte und vor allem, weil Sophie Wassiljewna ihn mit ihrer Tochter zu verheiraten wünschte.

Vor dem Zimmer der alten Fürstin lag ein großer und ein kleiner Salon. In dem großen Salon blieb Missy, die vor Nechludoff herging, plötzlich stehen, packte nervös die Lehne eines Stuhles und richtete ihre Blicke auf den jungen Mann.

Missy hegte den lebhaften Wunsch, sich zu verheiraten, und Nechludoff war für sie eine gute Partie. Außerdem gefiel er ihr, und sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, ihn sich zu erobern; sie wollte nicht ihm, sondern er sollte ihr gehören. Diesen Plan verfolgte sie mit unbewußter, aber zäher Verschlagenheit. Sie sagte deshalb ganz unvermittelt zu Nechludoff, indem sie ihm fest ins Auge sah:

»Ich sehe, es ist Ihnen etwas widerfahren! Sagen Sie mir, was!«

Nechludoff dachte wieder an sein Erlebnis im Schwurgerichtshof, zog die Stirn kraus und errötete.

»Ja, es ist mir etwas widerfahren,« versetzte er, denn lügen wollte er nicht; »etwas Seltsames, Unvorhergesehenes und Ernstes!«

»Was denn? Sie wollen es mir nicht sagen?«

»Ich kann es jetzt nicht. Verzeihen Sie mir! Es ist mir etwas passiert, über das ich noch nachdenken muß,« fügte er hinzu und errötete noch stärker.

»So wollen Sie es mir also nicht sagen?«

Eine Muskel ihres Gesichts zitterte, und sie stieß den Stuhl zurück, auf den sie sich stützte.

»Nein, ich kann nicht,« versetzte Nechludoff, der wohl fühlte, daß er durch diese Antwort den Ernst des Erlebnisses sich selbst gegenüber noch stärker hervorhob.

»Gut! gehen wir schnell zu Mama!«

Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie einen unangenehmen Gedanken verscheuchen, und ging schnell weiter.

Nechludoff glaubte zu bemerken, daß sie an sich hielt, um nicht zu weinen. Er schämte sich und machte sich Vorwürfe, ihr Kummer bereitet zu haben, doch er wußte, er würde sich durch die geringste Schwäche zu Grunde richten, das heißt, sich für ewig binden, und davor hatte er an diesem Abend am meisten Angst. Deshalb schwieg er weiter und gelangte so mit dem jungen Mädchen in das Zimmer der Fürstin Kortschagin.


Die Fürstin Sophie Wassiljewna hatte eben ihr Diner beendet, ein sehr feines und reichliches Diner, das sie stets allein aß, damit niemand sie bei dieser allzu prosaischen Beschäftigung beobachtete. Neben ihrer Chaiselongue stand auf einem kleinen Leuchtertisch ihr Kaffee; sie trank ihn in kleinen Schlucken und rauchte dazu parfümierte Cigaretten.

Sie war eine sehr lange und magere alte Dame mit langen Zähnen und großen schwarzen Augen, doch ihr Alter hinderte sie nicht, sich immer noch das Ansehen einer jungen Frau zu geben.

Ueber ihren Arzt waren allerlei Gerüchte im Umlauf, und Nechludoff, der bis dahin nie auf dieses Geschwätz geachtet hatte, mußte unwillkürlich daran denken, als er in das Zimmer trat und neben der alten Dame den korpulenten Arzt mit seinem elegant gestutzten und pomadisierten Barte sitzen sah. Sein Anblick erweckte in ihm ein Gefühl des Widerwillens.

Zu den Füßen der Chaiselongue saß auf einem Tabouret Kolossoff. Er schüttete sich gerade Zucker in seinen Kaffee, vor ihm stand ein kleines Gläschen Likör.

Missy, die mit Nechludoff in das Zimmer getreten war, blieb nur einen Augenblick und sagte zu diesem und Kolossoff mit fröhlichem Lächeln:

»Wenn Mama müde ist und Sie hinaussetzt, dann kommen Sie zu mir, nicht wahr?«

Darauf verließ sie, leise über den weichen Teppich huschend, das Zimmer.

»Na, guten Tag, mein Freund, setzen Sie sich hierher, und erzählen Sie,« sagte die Fürstin Sophie Wassiljewna mit ihrem gekünstelten Lächeln, das dem natürlichen Lächeln aber wunderbar ähnlich sah; »wir sprachen gerade von Ihnen. Die Herren meinten, Sie seien in sehr schlechter Laune aus der Gerichtsverhandlung zurückgekommen; solche Sitzungen müssen in der That für Leute von Herz peinlich sein,« fügte sie auf französisch hinzu.

»Ja, gewiß,« versetzte Nechludoff, »man fühlt dort sehr oft seine eigene Gemei ..., ich meine, man fühlt, daß, man selbst nicht das Recht hat, die Fehler anderer zu beurteilen.«

»Sehr richtig,« rief die alte Dame in einem Tone, der durchblicken ließ, wie sehr ihr die treffende Bemerkung Nechludoffs aufgefallen war, denn sie hatte die Gewohnheit, ihren Bekannten stets zu schmeicheln.

»Nun, und wie steht's mit Ihrem Gemälde?« fuhr sie dann fort. »Sie wissen, es interessiert mich ungeheuer. Wenn ich kräftiger wäre, hätte ich es mir schon längst einmal bei Ihnen angesehen.«

»Ich habe es vollständig aufgegeben,« versetzte Nechludoff, dem die Falschheit ihrer Schmeicheleien heute ebenso auffiel, als ihr sorgsam verstecktes Alter. Und er mochte sich noch so sehr bemühen, liebenswürdig zu sein, alle seine Anstrengungen blieben vergeblich.

»Aber das ist ja ein Verbrechen! Wissen Sie, daß selbst Repin mir gesagt hat, unser Freund besitze wirkliches Talent?« sagte sie, sich zu Kolossoff wendend und auf Nechludoff deutend.

»Wie schämt sie sich nur nicht, so zu lügen,« dachte Nechludoff.

Als die alte Dame indessen bemerkt hatte, daß Nechludoff nicht bei Laune war, und man nicht hoffen durfte, mit ihm angenehm zu plaudern, wandte sie sich wieder zu Kolossoff und fragte ihn nach seiner Meinung über ein neues Stück, das eben aufgeführt worden war.

Kolossoff beurteilte es sehr hart und benutzte die Gelegenheit, seine Ideen über die Kunst zum besten zu geben. Die Fürstin Sophie Wassiljewna zeigte sich wie stets von der Richtigkeit seiner Beobachtungen betroffen; wenn sie es einmal wagte, den Verfasser des Stückes zu verteidigen, so geschah das nur, um sich im nächsten Augenblick für besiegt zu erklären oder einen Ausweg zu finden.

Nechludoff betrachtete abwechselnd die alte Dame und Kolossoff und hörte ihnen zu; er entdeckte zunächst, daß diese beiden Personen mit dem Stücke, von dem sie sprachen, nichts zu thun hatten, daß, sie auch mit sich nichts zu thun hatten, und daß ihre Unterhaltung nur einfach ein körperliches Bedürfnis befriedigte, das Bedürfnis, die Verdauung zu fördern, indem sie die Muskeln der Zunge und der Kehle bewegten. Er bemerkte dann, daß Kolossoff, der Branntwein, Wein, Kaffee und Likör getrunken, ein wenig berauscht war, nicht nach Art der Leute, die nicht ans Trinken gewöhnt sind, sondern nach Art solcher, die regelmäßig trinken. Kolossoff faselte nicht etwa und sprach keine Dummheiten, befand sich aber in einem ungewöhnlichen Zustande der Erregung und Selbstzufriedenheit. Drittens bemerkte Nechludoff, daß die alte Dame selbst bei der lebhaftesten Unterhaltung nicht aufhörte, unruhige Blicke nach dem Fenster zu werfen, durch welches jetzt ein schräger Strahl der untergehenden Sonne hereinbrach, der die Runzeln ihres Gesichtes allzu deutlich sehen lassen konnte.

»Wie sehr Sie recht haben!« antwortete sie auf eine Bemerkung Kolossoffs und drückte dabei auf einen elektrischen Knopf.

Kurz darauf erhob sich der Arzt und verließ, ohne etwas zu sagen, wie ein richtiger Hausfreund das Zimmer. Nechludoff sah, daß Sophie Wassiljewna ihm mit den Augen folgte, während sie die Unterhaltung mit ihm fortsetzte. »Philipp,« sagte sie zu dem schönen Diener, der auf das Klingeln hereintrat, »lassen Sie gefälligst den Vorhang herunter.«

»Ja, Sie haben recht, es fehlt der Sache an Mysticismus, und ohne Mysticismus giebt es keine Poesie,« fuhr sie fort, sich an Kolossoff wendend, während ihre schwarzen Augen den Bewegungen des Dieners folgten, der mit dem Herablassen des Vorhanges beschäftigt war.

»Der Mysticismus und die Poesie sind einander notwendig, nicht wahr? Mysticismus ohne Poesie ist Aberglaube, und Poesie ohne Mysticismus ist Prosa!«

Plötzlich aber unterbrach sie sich in ihrem Vortrag.

»Aber nicht doch, Philipp, ich meine ja den andern Vorhang!« Dann sank sie, von der Anstrengung, die sie diese Worte gekostet, gleichsam erschöpft, zurück, zündete sich aber, sofort, um sich zu beruhigen, eine parfümierte Cigarette an, die sie mit ihrer mit Ringen überladenen Hand an die Lippen führte.

Der kräftige und elegante Diener neigte, gleichsam bereuend, ein wenig den Kopf. Doch Nechludoff glaubte in seinen Augen ein Aufblitzen zu bemerken, das deutlich besagte:

»Der Teufel hole dich, du alte Närrin, mit deinen Launen!«

Dann begann Philipp die Befehle der gebrechlichen und ätherischen Fürstin Sophie Wassiljewna ehrerbietig zu erfüllen.

»Was Darwin betrifft,« fuhr nun Kolossoff, sich auf seinem Tabouret hin- und herbewegend, fort, »so muß ich gestehen, daß in seiner Lehre viel Wahres liegt, doch manchmal geht er zu weit; ganz gewiß!«

»Glauben Sie auch an die Erblichkeit?« fragte die Fürstin Nechludoff, dessen Schweigen ihr peinlich war.

»Die Erblichkeit? nein, daran glaube ich nicht,« versetzte er auf's Geratewohl, ohne die seltsamen Bilder, die ihm seine Phantasie vorspiegelte, verscheuchen zu können. Er schwieg von neuem, Sophie Wassiljewna warf ihm einen durchbohrenden Blick zu und sagte:

»Aber ich halte Sie zurück und vergesse ganz, daß Missy auf Sie wartet. Gehen Sie zu ihr, sie hat die Absicht, Ihnen ein neues Stück von Schumann vorzuspielen; Sie werden sehen, es ist sehr interessant!«

»Sie hat gar nicht die Absicht, mir etwas vorzuspielen. Das alles sind Lügen, die sie, ich weiß nicht warum, erfindet,« dachte Nechludoff, als er sich erhob und seine Lippen auf die weiße, knochige und mit Ringen bedeckte Hand Sophie Wassiljewnas drückte.

Im Salon traf er Katharina Alexijewna, die alte Jungfer, die ihn im Vorbeigehen aufhielt und, wie gewöhnlich, in französischer Sprache zu ihm sagte:

»Ich sehe, Ihre Thätigkeit als Geschworener hat einen niederschmetternden Einfluß auf Sie ausgeübt!«

»Das ist wahr, entschuldigen Sie mich, ich bin heute abend nicht bei Laune und habe nicht das Recht, andere mit meiner Stimmung zu langweilen,« entgegnete Nechludoff.

»Warum sind Sie denn aber nicht bei Laune?«

»Sie müssen mir schon gestatten, das zu verschweigen,«

»Haben Sie denn vergessen, daß Sie neulich erklärt haben, man müßte immer die Wahrheit sprechen? Sie haben diese Gelegenheit doch selbst benutzt, um uns allen grausame Wahrheiten zu sagen. Warum wollen Sie sie denn heute nicht sagen?«

»Du erinnerst dich, nicht wahr, Missy?« fügte Katharina Alexijewna hinzu und wandte sich zu dem jungen Mädchen, das eben eingetreten war.

»Wir scherzten an jenem Abend,« versetzte Nechludoff in ernstem Tone, »und im Scherz ist so etwas möglich. In Wirklichkeit sind wir so erbärmlich, oder wenigstens ich bin so erbärmlich, daß ich gar nicht daran denken mag, die Wahrheit zu sagen.«

»Sie haben unrecht, Ihr Wort zurückzunehmen, sagen Sie lieber, wir sind alle erbärmlich,« entgegnete Katharina Alexijewna heiter, ohne die ernste Stimmung Nechludoffs zu bemerken.

»Nichts ist schlimmer, als sich selbst zu gestehen, daß man nicht bei Laune ist,« erklärte Missy. »Ich gestehe es mir nie selbst, und darum bin ich auch immer bei guter Laune. Kommen Sie mit, wir wollen versuchen, Ihre schlechte Stimmung zu verscheuchen.«

Nechludoff empfand ein Gefühl, wie es die Pferde haben müssen, wenn man ihnen die Zügel anlegt, um sie anzuschirren, und noch nie hatte er eine solche Furcht empfunden, sich anschirren zu lassen.

Er entschuldigte sich schließlich und sagte, er müsse nach Hause zurück.

Als Missy ihm die Hand zum Abschied reichte, hielt sie die seine länger als gewöhnlich fest und sagte:

»Vergessen Sie nicht, daß das, was Sie bekümmert, auch gleichzeitig Ihre Freunde bekümmert; Sie werden morgen kommen, nicht wahr?«

»Ich hoffe es,« versetzte Nechludoff.

Er schämte sich, wußte aber nicht, ob seinet- oder ihretwegen, darum beeilte er sich, fortzukommen, denn er wollte sein Schamgefühl nicht sehen lassen.

»Was bedeutet das? ich bin im höchsten Grade erstaunt,« sagte Katharina Alexijewna, als er den Salon verlassen hatte. »Er ist ganz verändert! Jedenfalls verletzte Eitelkeit! Unser lieber Dimitri ist ja so empfindlich!«

»Ah bah, wir haben alle unsere guten und schlechten Tage,« erwiderte Missy in gleichgiltigem Tone, doch ihr Gesicht zeigte einen ganz andern Ausdruck, als wie sie Nechludoff hatte sehen lassen, und in ihrem innersten Herzen sagte sie sich:

»Wenn mir der nur nicht auch verloren geht! Nach alledem, was zwischen uns vorgegangen ist, wäre das recht schlecht von seiner Seite.«

Hätte man Missy gefragt, was sie unter den Worten: »was zwischen uns vorgefallen ist«, verstand, so hätte sie wohl nichts bestimmtes darauf antworten können. Dabei hatte sie aber doch die klare Empfindung, Nechludoff habe nicht nur Hoffnungen in ihr erweckt, sondern ihr sogar fast versprochen, sie zu heiraten. Es waren keine deutlichen Worte zwischen ihnen gefallen, aber es waren doch Blicke, Lächeln, Anspielungen und bedeutungsvolles Schweigen. Das hatte ihr genügt, um ihn als den ihrigen zu betrachten, und der Gedanke, ihn zu verlieren, war ihr sehr schmerzlich.


»Schmach und Ekel, Ekel und Schmach!« sagte sich Nechludoff in diesem Augenblick, als er zu Fuß auf demselben Wege, den er schon oft zurückgelegt, heimkehrte. Der peinliche Eindruck, den seine Unterredung mit Missy erweckt, wollte noch immer nicht schwinden. Er fühlte, daß er materiell dem jungen Mädchen gegenüber frei war, daß er sich ihr nie ausdrücklich erklärt und ihr nichts gesagt hatte, was ihn hätte binden können; doch er fühlte auch, daß er in Wirklichkeit darum nicht weniger gebunden war. Er fühlte das, und ebenso fühlte er mit der ganzen Kraft seiner Seele, daß es ihm unmöglich war, sie zu heiraten.

»Schmach und Ekel, Ekel und Schmach!« wiederholte er sich, während er nicht allein an seine Beziehungen zu Missy, sondern an sein ganzes Leben und das der andern dachte. Diese Worte kehrten unaufhörlich wie ein Endreim in seiner Seele wieder, und er wiederholte sie sich noch, als er seine Wohnung betrat.

»Ich werde heute abend nicht speisen,« sagte er zu seinem Diener Kornej, der ihm in dem Speisezimmer entgegeneilte und ihm auftragen wollte. »Gehen Sie!«

»Wie Sie wünschen,« entgegnete der Diener, ging aber nicht, sondern fing sofort an, den Tisch abzudecken, wobei Nechludoff sich des Gedankens nicht erwehren konnte, er thue das nur, um ihn zu ärgern. Er wünschte, jedermann ließe ihn in Frieden, und dabei schienen es alle darauf anzulegen, ihn absichtlich zu belästigen. Endlich ging der Diener fort, und Nechludoff trat zu dem Samowar, um sich seinen Thee zu bereiten; als er aber im Vorzimmer die schweren Schritte Agrippina Petrownas hörte, entfloh er hastig, denn er wollte sie nicht sehen und ging in den Salon, dessen Thür er hinter sich abschloß.

In diesem Salon war seine Mutter vor fünf Monaten gestorben. Zwei Reflektorlampen erleuchteten das geräumige Zimmer und warfen ein scharfes Licht auf zwei große, an der Wand hängende Porträts, das seiner Mutter und seines Vaters. Als er diese Bilder wiedersah, erinnerte er sich an die letzten Beziehungen, die er zu seiner Mutter gehabt hatte, und erkannte, daß auch sie gefälscht und unnatürlich gewesen waren. Auch hier fand er nur Schmach und Ekel. Er erinnerte sich, daß er in den letzten Krankheitstagen seiner Mutter fast ihren Tod gewünscht hatte. Er hatte sich gesagt, er wünsche diesen Tod, um die Unglückliche von ihren Leiden befreit zu sehen; jetzt aber fühlte er, er hatte ihn gewünscht, um selbst vom Anblick dieser Leiden befreit zu werden.

Da er der Qual dieser Erinnerungen entfliehen wollte, so näherte er sich dem Porträt, dem Werke eines berühmten Malers, für das einst 5000 Rubel bezahlt worden waren. Die Fürstin Nechludoff war auf demselben in schwarzseidenem Kleide mit entblößtem Busen dargestellt. Man sah, der Künstler hatte die größte Sorgfalt darauf verwendet, den Anfang der Brüste, den sie trennenden Zwischenraum, den Hals und die sehr schönen Schultern der Dame zu malen, und von neuem wandelte ihn eine Empfindung der Scham und des Ekels an. Er war entsetzt; wie empörend war diese Art, seine Mutter als halbnackte Schönheit darzustellen! Es war um so empörender, als dieselbe Frau vor fünf Monaten in demselben Zimmer ausgetrocknet wie eine Mumie, auf einem Divan gelegen und einen Geruch ausgeströmt, der sich durch das ganze Haus verbreitete. Nechludoff erinnerte sich, daß sie am Tage vor ihrem Tode seine Hand in ihre armen, abgemagerten Hände genommen und zu ihm gesagt hatte: »Verdamme mich nicht, Mitja, wenn ich gesündigt habe«; dabei waren Thränen aus ihren angstvoll blickenden Augen gestürzt.

»Welche Schmach!« sagte er sich, und betrachtete von neuem das Bild, auf welchem seine Mutter ihre üppigen Brüste mit schamlosem Lächeln zur Schau stellte.

Diese nackte Brust erweckte in ihm die Erinnerungen an eine andere Frau, die er vor einiger Zeit ebenso dekolletiert gesehen hatte. Das war Missy, die ihn an einem Ballabende aufgefordert, sich ihr neues Kleid anzusehen, und Nechludoff erinnerte sich mit wahrem Widerwillen, mit welchem Vergnügen er die hübschen Schultern und schönen Arme des jungen Mädchens betrachtete; er erinnerte sich, daß Missys Eltern dieser Toilette beiwohnten, dieser plumpe und sinnliche Vater mit seiner blutbefleckten Vergangenheit und diese Mutter mit dem verdächtigen Ruf. Das alles war gleichzeitig abstoßend und schmachvoll; Schmach und Ekel, Ekel und Schmach!

»Nein, nein,« dachte er, »das kann nicht so weiter gehen, ich muß mich befreien. Ich muß alle diese lügnerischen Beziehungen abbrechen, sowohl mit den Kortschagins, mit Marie Wassiljewna und allen andern ... ja, entfliehen will ich und in Frieden aufatmen. Ins Ausland will ich gehen, nach Rom und mich mit Malerei beschäftigen.«

Doch sogleich kamen ihm wieder die Zweifel über sein Talent in den Sinn.

»Ah bah, was thut das; die Hauptsache ist, daß ich in Frieden aufatme. Ich werde zuerst nach Konstantinopel und dann nach Rom gehen. Sobald ich mit dem Schwurgerichtshof fertig bin und die Angelegenheit mit dem Advokaten geregelt habe, werde ich abreisen.«

Wieder erstand vor ihm das Bild der Gefangenen mit ihren schwarzen, etwas schielenden Augen. Wie sie bei den letzten Worten, die sie gesprochen, geweint hatte! Mit heftiger Bewegung warf Nechludoff die Cigarette fort, die er sich eben angezündet hatte, steckte sich eine andere an, und begann im Salon auf- und abzugehen. Wieder sah er die Minuten vor sich, die er mit Katuscha verlebt; er sah die Szene in dem kleinen Zimmer, die sinnliche Leidenschaft, die ihn fortgerissen und die Enttäuschung, die er empfunden, als seine Begierde befriedigt war. Wieder sah er das weiße Kleid und die rote Schleife vor sich, und wieder durchlebte er die heilige Messe.

»Ja, ich habe sie geliebt, sie habe ich wahrhaft rein und schön in jener Nacht geliebt, und auch vor jener Nacht habe ich sie schon geliebt. Wie liebte ich sie, als ich bei meinen Tanten wohnte und an meiner Dissertation schrieb.«

Nechludoff sah sich wieder, wie er einst gewesen war. Er fühlte sich von einem Duft von Frische, Jugend und Lebensfreude durchdrungen und die Traurigkeit, die ihn jetzt niederdrückte, wurde dadurch noch vermehrt.

Wie sollte er sich von seinem Verhältnis mit Maria Wassiljewna befreien, wie sollte er dem Manne dieser Frau und ihren Kindern von neuem ins Auge blicken, wie sollte er seine Beziehungen zu Missy abbrechen, wie den Widerspruch lösen, der zwischen der Thatsache lag, die Ungerechtigkeit des Grundeigentums ausgesprochen und doch eine Besitzung ausgebeutet zu haben, deren Einnahmen zum Leben er dringend brauchte? Wie sollte er die gegen Katuscha begangene Schuld tilgen? Trotzdem konnten die Dinge nicht so bleiben, wie sie waren.

»Ich kann doch,« sagte sich Nechludoff, »eine Frau nicht im Stich lassen, die ich geliebt habe, und mich darauf beschränken, einen Advokaten zu bezahlen, der sie der Zwangsarbeit entreißen soll, die sie übrigens gar nicht verdient hat. Meine Schuld mit Geld zu tilgen, heißt dieselbe Schuld, die ich begangen, als ich Katuscha mit einem Hundertrubelschein abfinden wollte, auf's neue wiederholen.«

Wieder sah er die Minute vor sich, als er im Hausflur seiner Tanten Katuscha das Geld in die Hand gesteckt hatte und entflohen war.

»Ach, dieses Geld!« sagte er sich mit demselben Gemisch vor Schreck und Scham, das er während jener Minute empfunden. »Eine Frau lieben, sich ihre Liebe zu erobern, sie verführen und ihr einen Hundertrubelschein dazulassen! Aber das ist ja das Werk eines Elenden, und dieser Elende bin ich gewesen! Ist es denn möglich, bin ich wirklich solch ein Elender?«

»Gewiß,« antwortete ihm eine Stimme in seinem Innern, »dein Verhältnis mit Marie Wassiljewna, deine Freundschaft mit ihrem Gatten, ist das alles nicht das Werk eines Elenden?«

»Und dein Verhalten bei der Erbschaft deiner Mutter, die Art, wie du aus einem Vermögen Nutzen ziehst, das du selbst für unmoralisch erklärt hast? Dieses ganze unnütze und unsaubere Leben? und vor allem dein Benehmen gegen Katuscha? Jawohl, du bist ein Elender! Wie die andern dich beurteilen, thut nichts zur Sache, du kannst die andern betrügen, aber nicht dich selbst.«

Jetzt begriff Nechludoff, daß er die Abneigung, die er seit einiger Zeit und ganz besonders an diesem Abend gegen die Menschen, gegen den alten Fürsten, gegen Sophie Wassiljewna, gegen Missy, ihre Gouvernante und ihren Diener empfand, in Wirklichkeit nur gegen sich selbst empfand. Und seltsamerweise hatte das Geständnis seiner Niedrigkeit, so peinlich es ihm auch war, doch etwas Beruhigendes und Tröstendes für ihn!

Schon mehrmals hatte er in seinem Leben eine solche »Gewissensreinigung«, wie er es nannte, vorgenommen. So nannte er nämlich die moralischen Krisen, bei welchen er gleichsam eine Verlangsamung und manchmal sogar einen Stillstand des inneren Lebens fühlte und sich entschloß, den Schmutz zu entfernen, der sich in seiner Seele angesammelt hatte.

Wenn er diese Krisen überstanden, ermangelte Nechludoff niemals, sich Lebensregeln vorzuschreiben, die zu befolgen er sich dann vornahm. Er führte ein Tagebuch und »schlug«, wie er sich selbst ausdrückte, »eine Seite um.« Doch jedesmal hatte er sich in dem Verkehr mit der Welt fortreißen lassen, und war unwillkürlich wieder auf denselben Punkt oder noch tiefer, als vor der seelischen Krisis, zurückgesunken.

Zum erstenmal hatte er eine solche »Reinigung« in dem Sommer vorgenommen, als er seine Ferien bei seinen Tanten verlebt. Die Krisis, eine Krisis jugendlicher Erregung, war damals sehr stark gewesen, und die Folgen hatten ziemlich lange angedauert. Die zweite Krisis hatte stattgefunden, als er vor dem Kriege gegen die Türken sein Leben hatte opfern wollen und sich nach dem Kriegsschauplatz hatte schicken lassen. Diesmal aber waren die Folgen der Krisis schnell verschwunden. Die dritte Krisis hatte schließlich stattgefunden, als er die Armee verlassen, um sich ganz und gar der Malerei zu widmen.

Nie hatte er sein Gewissen seitdem »gereinigt«, und daher kam es, daß der Unterschied zwischen dem, was ihm sein Gewissen befahl und dem Leben, das er führte, noch nie so groß gewesen war. Er fühlte das und war entsetzt darüber. Der Abgrund war so tief, daß es ihm zuerst unmöglich erschien, ihn zu überbrücken.

»Du hast schon öfter als einmal dich zu bessern versucht, und es ist dir nicht gelungen!« sprach eine geheime Stimme in ihm. »Wozu einen neuen Versuch machen? Und außerdem stehst du in dem Falle nicht allein da, ein jeder ist so wie du!«

Doch das moralische, freie, thätige, lebendige Wesen, das einzige, wahre Wesen, das in jedem von uns lebt, hatte sich in diesem Augenblick in ihm enthüllt. Er hörte es, er mußte es hören und daran glauben. So ungeheuer auch der Unterschied zwischen dem war, was er war und was er hatte werden wollen, dieses innere Wesen erklärte ihm, daß alles noch möglich war.

»Ich werde die Bande der Lüge brechen, in die ich verstrickt bin, so schwer es mir auch fallen mag, ich werde alles gestehen und die Wahrheit sagen und danach handeln,« beschloß er. »Ich werde Missy die Wahrheit sagen, werde ihr sagen, daß ich ein Wüstling bin, daß ich mich nicht mit ihr verheiraten kann und sie um Verzeihung bitten, daß ich störend in ihr Leben getreten bin! Ich werde Maria Wassiljewna sagen... Oder nein, ich werde ihr nichts sagen, aber ihrem Mann werde ich sagen, daß ich ein Elender bin, der seiner Freundschaft unwürdig ist. Und auch Katuscha werde ich sagen, daß ich ein Elender bin und gegen sie gesündigt habe. Ich werde alles thun, um ihr Schicksal zu mildern, ich werde sie wiedersehen, und sie um Verzeihung bitten, wie es die Kinder thun...«

Er hielt einen Augenblick inne und fuhr fort: »Und wenn es sein muß, werde ich sie heiraten!«

Er hielt von neuem inne. Seine innere Aufregung wuchs von Minute zu Minute. Plötzlich faltete er die Hände, wie er es in seiner Kindheit that, erhob die Augen und sprach:

»Herr, mein Gott, komm du mir zu Hilfe, erleuchte mich und dringe in mich ein, um mich zu reinigen!«

Nechludoff betete. Er bat Gott, ihn zu erleuchten, und doch hatte sich das Wunder, um das er in seinem Gebete flehte, schon vollzogen. Gott, der in ihm lebte, hatte wieder von seinem Gewissen Besitz ergriffen, und Nechludoff fühlte nicht nur die Freiheit, die Güte, die Freude des Lebens; er fühlte auch, daß sich noch alles zum Guten wenden konnte. Er fühlte sich im stande, alles Gute zu vollbringen, was nur ein Mensch zu vollbringen vermag.

Und Thränen traten in seine Augen; gleichzeitig gute und böse Thränen, gute, weil es Thränen der Güte waren, die das Erwachen dieses inneren Wesens hervorgerufen, das Jahre hindurch in ihm geschlummert hatte; doch auch böse Thränen, weil es Thränen des Stolzes und der Bewunderung für sich selbst und seine Seelengröße waren.

Er erstickte, trat zum Fenster und öffnete es. Das Fenster ging auf den Garten hinaus, und die Luft war frisch, klar und still. Ein Geräusch von Rädern hallte in der Ferne wieder, dann ward wieder alles still. Unter dem Fenster zeichnete sich der Schatten einer großen, kahlen Pappel auf dem Sande der Allee und dem Rasen ab. Links erschien das Dach der Scheune, das im Mondschein ganz weiß aussah, Nechludoff betrachtete den von sanftem Silberlicht überfluteten Garten, die Scheune und den Schatten der Pappel und sog die belebende Nachtluft ein.

»Wie schön ist es, mein Gott, wie schön!« sagte er.

Am schönsten aber war es in seiner Seele!


 << zurück weiter >>