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Der Arzt der Ehre.


Zwei Schüsse fielen im Walde. Der Doctor Selly, der auf der Heidelberger Chaussee vorüber ritt, hielt sein Pferd an und lauschte. In geringer Entfernung von ihm stieg über den Wipfeln der Bäume ein bläulicher Rauch auf und verflog leise in der Luft. Rasch entschlossen, sprang er aus dem Sattel, klopfte dem Pferde zum Einverständniß schmeichelnd den Bug, befestigte die Zügel an einen Ast, und eilte tiefer in das Gehölz.

Bald gelangte er an einen freien Platz, wo sich ihm ein nicht unerwartetes, aber immer überraschendes Schauspiel zeigte. Auf dem vom Morgenthau noch feuchten Grase lag ein junger Mann in französischer Offiziers-Uniform. Ein Blutstrom rieselte aus seiner linken Brust. Ihm zur Seite kniete eine junge, in schwarze Seide gekleidete Dame, und bemühte sich mit einem Taschentuche die Wunde zu stillen. Ihr schönes dunkles Auge verrieth mehr Besorgniß, als Theilnahme, mehr Aengstlichkeit um die eigene Lage, als Mitleiden mit dem Verwundeten. Oefter wandte sie den Blick zurück und sah fragend nach einem zweiten, ebenfalls jungen Manne, der die Gruppe kaum beachtete und sich mit der Reinigung seines eben abgefeuerten Pistols beschäftigte.

Das Geräusch, das der Doctor in den Zweigen verursachte, machte ihn aufmerksam. Scharf blickte er nach ihm hin, doch der einzelne Ankömmling schien ihm eher willkommen als unangenehm. Mit großer Ruhe steckte er das Pistol in die Rocktasche, ging auf die Dame zu und flüsterte ihr, sie vom Boden aufhebend, ein paar leise Worte in's Ohr. Bald darauf waren Beide im Dickigt des Waldes verschwunden.

Der gute Doctor war über dieses Benehmen nicht wenig erstaunt. Er wollte ihnen nacheilen und eine Aufklärung über das Vorgefallene verlangen, aber ein leiser Seufzer, der dem Verwundeten entfloh, rief ihn zu diesem zurück. Er untersuchte die Wunde und fand sie gefährlich, aber nicht tödtlich. Er verband sie so gut, als es die Umstände zuließen, und überlegte, was er weiter beginnen sollte. Er war deshalb in nicht geringer Verlegenheit, da er sich allein wußte, und den Offizier nicht hülflos zurücklassen wollte.

»Es geht doch aber auch nicht, daß ich hier bei diesem jungen Lebensüberdrüssigen so lange verweile, bis er gesund wird. Darüber könnten wir Beide verhungern,« brummte er vor sich hin, indem er das gebrauchte Besteck sorgsam zusammenlegte.

In diesem Augenblicke schlug der Offizier die Augen auf und blickte verwundert um sich. Es schien ihn zu überraschen, sich mit einem Fremden allein zu sehen.

»Wer sind Sie! Wo ist Clemence? Wo der Baron?« fragte er in deutscher Sprache und in einer vom Schmerz gedämpften Stimme.

»Ich bin der Doctor Selly aus Steinach bei Heidelberg. Die junge Dame und der Baron, wahrscheinlich derselbe, dem Sie Ihre jetzige angenehme Lage zu verdanken haben, sind eben verschwunden.«

»Verschwunden? Ich verstehe Sie nicht.«

»Nun, sie haben sich aus dem Staube gemacht und Sie allein zurückgelassen. Danken Sie Gott oder dem Zufall, wenn Sie wollen, der mich hierher geführt hat. Doch, was ist ferner zu thun? Sie können nicht gehen und ich muß erst nach meinem Gute zurück, um Leute herbeizuholen, die Sie dahin bringen. Werden Sie sich so lange gedulden? Oder wollen Sie nach Heidelberg gebracht sein?«

»Bringen Sie mich nach Ihrem Gute, Doctor,« murmelte der Offizier leise und schloß wieder die Augen.

Der Doctor fühlte ihm den Puls und nickte zufrieden mit dem Kopfe. Dann warf er noch einen prüfenden langen Blick auf das männlich-schöne, jetzt so bleiche Antlitz und eilte rasch von dannen.

 

Er hielt Wort. In der schnellsten Zeit jagte er nach seinem Gute und eben so schnell war er wieder zurück, gefolgt von einem bequemen Wagen und einigen Leuten, die den Verwundeten sorgsam in denselben hineinbrachten. Nachdem dies geschehen, setzte sich der Doctor zu ihm und befahl dem Kutscher, nicht wie sonst über Stock und Stein dahinzurasseln, sondern so zu fahren, als wenn er seinen eigenen Leichnam zu befördern hätte.

»Wenn mich der Kerl ordentlich verstanden hat, fährt er langsam, und ich lerne doch auch einmal kennen, was es heißt: in gemächlicher Ruhe fahren,« sprach er zufrieden vor sich hin, das Auge immer besorgt auf den Kranken geheftet.

Der Doctor war ein sonderbarer Mann. Kein Mensch wurde aus ihm recht klug. Er that unendlich viel Gutes, aber Alles mit einer gewissen Ironie, für die den Meisten das Verständniß fehlte. Ist diese Ironie mit wahrem Wohlwollen, was bei Selly der Fall war, gepaart, so ist sie das Ergebniß einer reichen Erfahrung auf philosophischer Basis. Wer dahin nicht kommt und Stürme gehabt hat, verfällt in einen Ernst, der gar zu leicht in Trübsinn und Menschenhaß ausarten kann. Selly war reich, unabhängig, in den besten Jahren, aber unverheirathet. Das wollte ihm seine ganze, an Töchtern reichgesegnete Nachbarschaft nicht vergeben, um so mehr nicht, als er sich niemals auf eine Erklärung einließ, warum er bei seinem Junggesellenleben verharre. Aus seiner Vergangenheit wußte man so gut wie nichts, allen Fragen darüber wich er geschickt aus, und wurde er ja einmal in die Enge getrieben, so erzählte er Dinge, denen man sogleich anmerkte, daß sie in das Reich der Fabel gehörten.

Der Verwundete war, nachdem man auf dem Gute des Doctors angekommen war, in ein behaglich eingerichtetes Zimmer gebracht worden. Nach einigen Stunden hatte er sich so weit erholt, daß er Herrn Selly seinen Dank in warmen Worten ausdrücken konnte.

Der Doctor unterbrach ihn aber sogleich, indem er in einem ungewöhnlich ernsten Tone sagte:

»Bleiben Sie mir heute ruhig, wenn Sie jedoch glauben, mir einigen Dank schuldig zu sein, so erzählen Sie mir gelegentlich, wie Sie zu dem Medaillon kommen, das ich in der Brusttasche Ihrer Uniform gefunden habe.«

»Interessirt es Sie?« fragte der Offizier, sich etwas von seinem Lager erhebend.

»Ja!« war die ganze Antwort, die ihm der Doctor ertheilte, indem er das Zimmer verließ.

In seinem Studirzimmer, wohin er sich begab, sah es ziemlich bunt aus. Physikalische Apparate, Globusse, Landkarten, dicke Folianten lagen und standen in vertraulicher Gemeinschaft ungeordnet auf Tischen, Stühlen und dem allerbequemsten Platze, auf dem Boden. Mehrere Wandschränke ließen durch die etwas angelaufenen Glasscheiben eine reiche Sammlung von Conchilien und Käfern sehen. Alles bedeckte in der anerkennenswerthesten Weise, gleichmäßig ohne sonderliche Bevorzugung eines Gegenstandes, ein vieljähriger Staub, der dem eintretenden Doctor zum Willkommen freundlich entgegenkräuselte.

Man sah es an der ganzen Einrichtung des Zimmers, das hier selten oder nie eine weibliche Hand gewaltet habe. Es ist eine Eigenthümlichkeit fast aller unverheiratheten Gelehrten und derjenigen, die sich dazu zählen, ihr Studirzimmer in möglichster Unregelmäßigkeit zu erhalten. Unordnung darf man nicht sagen, denn der Gelehrte weiß aus dem chaotischen Wirrwarr jedes Blättchen Papier herauszufinden, während er, sobald nur ein Buch durch fremde Hände aus der von ihm angewiesenen Lage herausgerückt ist, das ganze Zimmer umkehren muß, um das große lateinische Lexikon zu finden, das ihm doch grade vor der Nase liegt.

Der Doctor war heute in einer unruhigen Stimmung. Peter, der grüne Papagay, der ihn vom Schreibtische herab zierlich die Pfote reichen wollte, bekam einen Klapps, der den erschrockenen Vogel so verblüffte, daß er in ein lautes anhaltendes Wehegeschrei ausbrach. Die Töne waren keineswegs angenehm, wurden aber unerträglich, als Sultane, die Hündin des Doctors, mit einem aufmunternden Fußtritt bedacht, heulend ihr Klagegeschrei mit einmischte. Am Fenster, das in einen blühenden Garten hinauszeigte, hingen einige Vogelbauer mit lebenden Bewohnern, die nicht verfehlten, mit ihrer Kehlfertigkeit das improvisirte Concert zu unterstützen. Namentlich zeichnete sich ein alter Rabe in den schwierigsten Coloraturen aus. Daß der Lärm dadurch fürchterlich und ohrenzerreißend wurde, kann man sich denken.

Selly war so überrascht von der unbekannten Virtuosität seiner Lieblinge, daß er dem plötzlich entstandenen philharmonischen Verein einen Augenblick mit vollster Aufmerksamkeit zuhörte, dann aber mit einem: »Wollt Ihr ruhig sein, Ihr Bestien!« zornig dazwischenfuhr.

Armer Doctor! Es war vergebliche Mühe! Man muß den Löwen nicht noch mehr reizen, wenn er einmal zornig geworden ist. Die Vögel und der Hund machten allerdings eine Pause, sie mochte aber in ihren Noten liegen, denn gleich darauf stimmten sie mit größerem Feuer, mit einer wahrhaft wilden Begeisterung ein Tonstück an, welches das Kriegsgeschrei von zehntausend Indianern an Kraft und Ausdruck weit überbot.

Der Doctor mußte jetzt hell auflachen.

»Bin ich nicht thörichter als diese Vögel?« rief er munter, indem er sich an den Schreibtisch setzte und eine Schublade aufriß. »Diese Bestien lassen sich nicht durch mich irre machen, der ich sie doch gleich niederschlagen könnte, und ich lasse mich durch ein Phantom, durch eine bloße Vermuthung beirren und aus der gewohnten Ruhe bringen.«

Er hielt ein mit starker Seide umschlungenes, mehrfach versiegeltes Packet prüfend in der Hand und las mit einer gewissen Beklommenheit die Aufschrift:

»Nach meinem Tode uneröffnet zu verbrennen.«

Es überfällt uns immer eine Art von Grauen, wenn etwas längst Erlebtes, das wir mit allem Nachdruck der Seele zu vergessen suchten, urplötzlich wieder vor unsere Sinne tritt, oder wenn Gegenstände, wie ausgestellte Vermächtnisse, welche mit unserem Tode zusammenhängen, bewußtvoll oder zufällig in unsere Hände gerathen.

Der Doctor empfand etwas von diesem Grauen. Es drängte ihn das Packet zu öffnen und doch zögerte er auch wieder damit, von mannigfachen Gefühlen zurückgehalten. Unwillkürlich löste sich aber doch zuletzt unter seinen Fingern ein Siegel nach dem andern, die Seide ging auf und Schriften, Papiere und Briefe fielen auf Tisch und Boden ...

»Soll ich denn wirklich den Schmerz der Vergangenheit nochmals empfinden?«

Mit diesen Worten sprang der Doctor vom Tische und machte einige Schritte durch's Zimmer. Stehen bleibend griff er nach dem ersten besten Blatt, und indem er hineinsah, zuckte er leise und zitternd zusammen. Lange starrte er darauf hin, von wunderlichen Erinnerungen überwältigt. Tief aufseufzend las er den Brief erst leise, dann laut:

»Ich habe treulos gehandelt, Dir große Schmerzen gemacht und kann mich nicht entschuldigen. Ich kann auf Deine Vergebung nie rechnen, und habe nur den Einen Wunsch: daß wir uns nie wieder in diesem Leben begegnen möchten. Ich würde Deinen Blick nicht ertragen, und diese Begegnung würde eine härtere Strafe für mein Vergehen sein, als der Tod.«

Der Doctor wurde hier durch einen Diener unterbrochen, der mit einer Meldung in's Zimmer trat.

»Herr Doctor!«

»Was giebts?«

»Eine Dame ist so eben vorgefahren; sie wünscht Sie zu sprechen.«

»Wie heißt sie?«

»Sie hat sich mir nicht genannt.«

»Führ' sie herein!« bestimmte der Doctor, indem er die herabgefallenen Briefe vom Boden auf den Tisch legte.

Der Diener öffnete der Angemeldeten die Thür und entfernte sich.

Sie schlug, sobald dies geschehen, den Schleier zurück, der ihre Züge verbarg, und begrüßte den Doctor mit gewählten Worten. Dieser war nicht wenig erstaunt, in ihr die Dame zu erkennen, die er bei dem Duell im Walde angetroffen hatte.

Er prüfte, indem er sie zum Sitzen einlud, jetzt genauer ihre Züge, die ihm, je länger er sie betrachtete, immer bekannter wurden. Er mußte die Dame, die sich mit vornehmer Nachlässigkeit in einen Fauteuil niederließ, schon irgendwo gesehen haben. Vergebens sann er aber den näheren Umständen nach.

Man konnte sie schön nennen, jeder Zug harmonirte mit dem andern, aber über dem Ganzen lag eine gewisse Gleichgültigkeit, eine Abspannung, wie ein dünner trübender Nebelschleier. Die Verletzung der Jugend durch Kummer, Sorgen, vernachlässigte Erziehung, oder durch zu frühe Hingebung an gesellschaftliche Vergnügungen, sprachen vieldeutig aus ihrem Antlitz heraus. Der frische Rosenhauch hatte es vor der Zeit verlassen.

So sehr es den Doctor drängte, etwas Genaues über das Duell zu erfahren, war er doch zu viel Weltmann, eigens eine direkte Frage deswegen zu thun, auch kam ihm die Dame entgegen, indem sie sich nach dem Befinden des Verwundeten erkundigte.

Der Arzt konnte ihr die beruhigendsten Mittheilungen machen, verhehlte ihr aber zugleich auch seine Verwunderung nicht, wie sie wisse, daß sich der Verwundete bei ihm befinde.

Sie nahm das Gesagte mit einem leisen Lächeln auf und erwiderte:

»Es ist immer angenehm von der Genesung eines Kranken zu hören, um so mehr, wenn es sich um einen Verwandten handelt.«

»Der junge Offizier ist Ihr Verwandter?« fragte Selly, indem er an ihre Gleichgültigkeit dachte.

»Ja. Er kam aus Frankreich zum Besuche nach Heidelberg, wo ich mich gerade mit meinem Verlobten aufhielt.«

»Vermuthlich der andere Herr, der Gegner Ihres Verwandten?«

»Derselbe.«

»Und darf ich mich erkühnen, nach der Veranlassung des Duells zu fragen?« fuhr Selly fort, eine leise Entrüstung, die in ihm aufstieg, unterdrückend.

»Suchen Sie diese unter den einfachsten und nichtigsten. Junge Männer fordern so gern den Tod heraus, weil sie das Leben nicht begreifen und glauben, ohne eine gewisse eingebildete Ehre nicht leben zu können.«

In den letzten Worten lag ein unendlicher Spott, der den guten Doctor beleidigte. Auch er haßte das Duell, wußte aber recht gut, daß es Verhältnisse gebe, wo es einem jungen Manne unmöglich wird, ohne Schande davon zurückzutreten, auch ahnte er, daß hier ein weit ernsterer Grund vorgewaltet haben mußte, als es die Dame zugestehen wollte. Er faßte gegen diese daher eine innere wachsende Abneigung und suchte, in der Hoffnung, von dem jungen Offiziere mehr zu erfahren, dem Besuche ein Ende zu machen.

Mit einigem Nachdruck sprach er deswegen:

»Mein Fräulein, die Theilnahme, die Sie hierher führt, entschuldigen Sie die Kühnheit meiner Behauptung, scheint mir nicht echt zu sein. Ich erinnere mich recht gut des Augenblickes auf dem Kampfplatze, wo Sie bei meinem Erscheinen davon eilten. Die Menschenpflicht gebot das Hinzuziehen eines Arztes, es ist nicht geschehen. Es muß ein Kampf auf Tod und Leben gewesen sein.«

»Woher nehmen Sie diese Vermuthung? Hat er bereits mit Ihnen gesprochen? So ist seine Wunde nicht gefährlich?«

Die Dame stand bei diesen Worten auf und trat dem Doctor mit lebhaften Augen näher.

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß sie nicht gefährlich ist,« entgegnete dieser kalt. »Der Kranke aber ist noch zu schwach, um viel sprechen zu können. Ich erfuhr von ihm nichts. Aber,« fuhr er mit erhobener Stimme fort, »wissen Sie auch, mein Fräulein, daß es meine Pflicht ist, der Behörde von dem Vorfall Anzeige zu machen?«

»Ich weiß es,« erwiderte sie leise, indem sie hinzusetzte: »ich kam deswegen, Sie zu bitten, die Anzeige nicht machen zu wollen. Ich beabsichtigte, diese Gegend gestern zu verlassen, Alles war zur Abreise bereit, die plötzliche und unerwartete Ankunft meiner Mutter jedoch hat alle Vorkehrungen zu nichte gemacht.«

»Ihre Mutter!« der Doctor fragte mit einer Beklemmung, über die er sich keine Rechenschaft geben konnte.

»Ja, sie kommt aus dem Süden Frankreichs.«

»Aus dem Süden Frankreichs?«

»Was beunruhigt Sie, Herr Doctor?«

»Nichts, nichts!« entgegnete Selly, auf dessen Stirn einzelne kleine Tropfen standen, während, wie es schien, der Athem ihm versagen wollte.

Die Dame betrachtete ihn mit steigender Aengstlichkeit, und wußte nicht, was sie von ihm denken sollte, als er sie jetzt mit einem Ausdrucke betrachtete, der ihr durch die Seele ging. Sie konnte den Blick nicht ertragen und wandte sich ab. Ihr Auge fiel auf den Tisch ... auf einen blitzenden Gegenstand, nach dem sie mechanisch griff. Es war das Medaillon, das Selly dem verwundeten Offizier abgenommen hatte.

»Ah, das Bild meiner Mutter!« rief sie verwundert.

»Ihrer Mutter?!« wiederholte der Doctor ausrufend und bebend.

»Allerdings, wie kommt es in Ihre Hände?«

Selly suchte sich zu fassen. Er fuhr mit der Hand über die Stirn, als wollte er die Bilder verscheuchen, die sich um seine Seele drängten. Er bemerkte, wie die Dame die Schriftzüge eines offen liegenden Briefes scharf musterte und ihn fixirte ... er entzog ihr denselben rasch und wollte sich mit einer Verbeugung verabschieden, als die Thür geöffnet wurde und der Gegner des Offiziers hereintrat.

»Was thun Sie hier, Clemence?« fragte er lebhaft, in einem Tone, worin etwas Befehlendes lag.

»Sie werden doch gestatten, daß ich mich nach dem Befinden eines Verwandten erkundige,« entgegnete sie, kaum im Stande, ihre Ueberraschung zu verbergen.

»Ihr Verwandter ist in zu guten Händen, als daß dies nothwendig wäre, mein Fräulein!«

Der Ton, mit dem er sprach, klang so scharf und schneidend, daß Clemence, davon verletzt, auffahren wollte. Ihre Seele mußte aber nicht frei sein, denn als ihr Blick dem seinigen begegnete, senkte sie das Auge zu Boden und schwieg.

»Mein Herr,« wandte sich jetzt der Baron an den Doctor, der ihm eben entgegentrat, – »ich bin der Baron von Löwenhelm. Ich wollte gestern diese Gegend verlassen, um sie nie wiederzusehen, die unangenehme Dazwischenkunft eines Dritten nöthigt mich aber noch auf einige Tage meine Abreise hinauszuschieben. Ich ersuche Sie in Ihrem und meinem Interesse, vorsichtig zu sein und den Worten des Herrn von Cordonay, den ich das Unglück hatte, zu verwunden, keinen größeren Glauben beizumessen, als sie verdienen. Es sind die Worte der Jugend, die nicht Alles prüft und erwägt.«

»Sie vergessen,« unterbrach ihn der Doctor stolz, »daß Herr von Cordonay Offizier ist.«

Der Baron biß sich auf die Lippen, entgegnete aber lebhaft:

»Ich hoffe, daß Ihnen der Verwundete nicht mehr sagen wird, als er darf. Im Uebrigen rathe ich Ihnen, Herr Doctor, Sie mögen hören, was Sie wollen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Schon der Besuch dieser Dame, der ohne mein Wissen geschah, war überflüssig. Wenn Sie es aber trotz meiner Warnungen vorziehen sollten, eine einfache Duellgeschichte der Oeffentlichkeit zu übergeben, so seien Sie überzeugt, daß ich noch Mittel in Händen habe, jeden Vorwitz zu bestrafen.«

Der Zorn wollte den Doctor übermannen, er unterdrückte ihn aber und entgegnete achselzuckend:

»Ihr Benehmen, Herr Baron, ist so maßgebend für mich, daß ich Ihnen nicht mehr antworten werde. Ich bin in meinem Hause.« –

Clemence ergriff den Arm des Barons, dem die Stirnader aufschwoll und zog ihn sachte zur Thür hinaus, indem sie dem Doctor im Vorübergehen ein leises: »Auf Wiedersehen!« zurief.

Doctor Selly stand nach der Entfernung Clemence's und des Barons von Löwenhelm eine kurze Weile in Gedanken versunken, dann zog er hastig die Glocke. Ein Diener trat ein.

»Friedrich, ich weiß Du bist verschwiegen. Wie?« –

Der Diener antwortete nicht. Der Doctor loderte auf: »Warum sprichst Du nicht?«

»Wenn der Herr Doctor wissen, daß ich verschwiegen bin, muß ich es mündlich bestätigen?« –

Der Doctor lächelte und wiegte mit stillem Vergnügen das Haupt, während man draußen zwei Wagen fortrollen hörte.

»Sattle sogleich ein Pferd, Friedrich,« sprach er dann »und reite den Wagen nach. Sie nehmen den Weg nach Heidelberg. Dort angekommen, beachtest Du genau, wo die Dame und der Herr, die eben hier waren, absteigen. Erkundige Dich alsdann vorsichtig nach Allem, was im Hause vorgeht. Diesen Weg mußt Du bis auf Weiteres täglich zwei Mal machen, jeden Vor- und jeden Nachmittag. Du rapportirst mir Alles genau. Sobald Du mir die Nachricht bringst, daß die Beiden Heidelberg verlassen wollen, ist Dein Auftrag zu Ende.«

Mit einem leichten: »Wird Alles pünktlich besorgt, Herr Doctor« schwenkte Friedrich zur Thür hinaus. Der Doctor faltete sorgsam die zerstreuten Briefe wieder zusammen, bis auf einen, den er nebst dem Medaillon in die Brusttasche seines Rockes steckte, während er die andern behutsam in seinem Sekretair verschloß.

Nachdem er noch einige Mal, wie um sich vollständig zu beruhigen, durch das Zimmer gegangen war, hier dem unterdeß still gewordenen Peter den grünen Rücken streichelnd, dort die eben so ruhige Sultane am Ohr in freundlichster Absicht zausend, verließ er das Zimmer und ging hinauf in das erste Stockwerk, wo der Verwundete lag.

Selly unterließ nichts, was zur schnellen Heilung seines Patienten beitragen konnte. Er wachte selbst manche Nacht an dem Bette desselben, damit der nothwendige frische Verband nicht fehle. Herr von Cordonay bat ihn dringend, seine Güte nicht zu weit auszudehnen, er sei ihm schon hoch genug verpflichtet, der gute Doctor wollte aber davon nichts wissen und verschrieb ihm in solchen Augenblicken als bittre Arznei: Stillschweigen.

 

Nach wenig mehr als acht Tagen war der Offizier wieder so weit hergestellt, daß er mit Hülfe eines Krückstockes einige Schritte gehen konnte; die Wunde zeigte sich ziemlich verharrscht ...

Es war Nachmittag. Die Julisonne brannte heiß auf Feld und Wald. Selly und sein in vollständiger Genesung begriffener Gast saßen geschützt unter dem Laubdach einer köstlichen Verande, die sich von der Schloßterrasse nach dem großen Garten des Doctors hinzog. Vor ihnen auf einem Tische standen im feinsten Porzellangeschirr die Ueberreste eines leckeren Mittagsmahles, und eben brachte ein Diener zwei Bowlen dampfenden Mokka's, dessen Aroma den würzigen Blumenduft, der von allen Seiten hinzuströmte, für einen Augenblick bewältigte. Der vorsichtige Doctor langte nach einer Kuffe heißen Wassers und verdünnte die für Herrn von Cordonay bestimmte Tasse. Dann holte er mit der Bedachtsamkeit eines echten Rauchers aus seinem Etui zwei köstliche Havanna-Cigarren, offerirte eine davon dem verbindlich lächelnden Nachbar, steckte die seinige an einer Spiritusflamme an, das Schwefelholz des weniger bedachtsamen Gastes verschmähend, und bald kräuselten sich bläuliche Wölkchen in die Luft.

Keine Stunde ist zum süßen Nichtsthun geeigneter, als die nach einer guten Tafel. Es ist ein Genuß nach dem Genusse. Blauer Himmel, Sonnenschein und frische Luft tragen zu der Befriedigung, die Körper und Seele empfinden, nicht wenig bei. Der Doctor und Herr von Cordonay empfanden diese Befriedigung im hohen Grade, denn sie thaten im eigentlichsten Sinne des Wortes nichts. Sie schwiegen, blickten in's Leere und bliesen in langen Pausen den Cigarren-Rauch von sich.

Endlich unterbrach Herr von Cordonay das lange Schweigen, durch welche Veranlassung ist noch nicht enträthselt, vermuthlich durch den herabgefallenen silbernen Löffel aus seinem Hinträumen aufgeschreckt.

»Sie sind doch ein recht reicher Mann, Herr Doctor, wenn Ihnen all' die Besitzungen gehören, die hier ausgebreitet liegen,« sagte er, mit einiger Mühseligkeit den Löffel aufhebend.

Der gute Doctor mochte an Gott weiß was gedacht haben, denn er mußte sich auf die Frage erst wiederholt besinnen, ehe er eine Antwort gab.

»Die Besitzungen gehören allerdings mir,« erwiderte er gelassen, »aber ob ich deshalb reich zu nennen bin, will ich nicht gerade behaupten.«

»Sie haben doch gewiß keine Schulden,« lachte der Reconvalescent.

»Das ist nun wieder die Bemerkung eines Kavallerie-Offiziers,« stimmte der Doctor mit ein, ernster hinzufügend: »Es ist gewiß eine schöne Sache um eine sorgenfreie Existenz, ich möchte behaupten, sie verjüngt das Alter und verlängert das Leben, aber der Frieden der Seele gilt mehr.«

»Den haben Sie doch gewiß, mein väterlicher Freund!«

»Ich, ja, so weit ich den Maßstab menschlicher Berechnung anlegen kann. Aber sind wir Menschen nicht durch und durch Egoisten? Wer steht mir dafür, daß all' die Handlungen, die meiner Meinung nach gut und edel sind, es dem Allgemeinen gegenüber bleiben? Bewußtsein ist noch nicht Gewißheit, und wir haben doch nicht allein uns selbst Rechenschaft über unsere Thaten zu geben? Der Einzelne soll im Ganzen nicht untergehen, er soll sich ihm verbindlich, nützlich machen, nach Maßgabe seiner Kraft, kann er folgerichtig darum auch sein eigener Richter sein? Das Ganze steht über dem Einzelnen. Die Befriedigung, die mir eine gute That gewährt, ist süß, aber eine solche That ist doch selbstverständlich. Kann sie der Seele den Frieden gewähren? Kann diese überhaupt ruhig sein, wenn ich mir sagen muß, Du hast Dir den Frieden erkaufen müssen durch Unglück, Kränkung Anderer? Zweifel und Ungewißheit sind die Begleiter des Menschen bis zum Tode.«

»Sie müssen sehr unglücklich gewesen sein,« entgegnete Herr von Cordonay nach einer kleinen Pause.

»Ich glaubte es gewesen zu sein. Ich war damals jünger, voll verwegener Hoffnungen. Als diese vernichtet wurden, eine nach der andern fehlschlug, gerieth ich in's Extrem, in maßlose Verzweiflung. Ich gefiel mir darin, und ich muß gestehen, die Wonne dieses Schmerzes wiegt zahllose wirkliche Freuden auf. Großer wilder Schmerz der Jugend ist Poesie. Aber man wird Mann, die heillose nüchterne Prosa macht ihr Recht an uns geltend. Der Mensch ist so abhängig von der Organisation seiner Natur, die ihn bald zur höchsten Höhe erhebt, bald zur tiefsten Erniedrigung herunterzieht; er ist abhängig von seiner Umgebung, der größeren Gesellschaft, dem Staate, der Ehre, dem Vaterlande.«

Dem Doctor war die Cigarre ausgegangen. Er zündete sie mit größter Gemüthsruhe wieder an, während der junge Offizier erröthend vor sich niederblickte. Er fühlte sich durch die Worte Selly's etwas betroffen, da er sich eingestehen mußte, ihn mit Klagen und Vorwürfen über sein Schicksal nicht verschont zu haben.

Bald darauf glimmte die Cigarre des Doctors wieder, daß es eine Freude war. Es währte denn auch nicht lange, so fuhr er fort:

»Jeder Mensch, der schwächste, kann sich zu einer gewissen Stärke erheben. Das Unglück ist zäh und eisern, es klammert sich uns mit tausend Organen an, aber es ist doch nicht stark genug gegen echte Willenskraft. Und zugegeben, daß es stärker sei, nun, ein bewußtvoller Tod ist der schönste.«

»Und doch sind wir geboren zu leben,« wandte der Offizier unwillkürlich ein.

»Ich weiß nicht, was Ihnen mehr Freude macht,« erwiderte Selly trocken, »eine durchschwelgte Nacht oder das Bewußtsein, tüchtig und mit redlichem Bestreben gearbeitet zu haben. Wer mit Anforderungen in's Leben tritt, hat bereits aufgehört zu leben; seine Voraussetzungen werden nie in Erfüllung gehen. Überhaupt ist es schwer, zwei Menschen zur Einsicht über Freude und Genuß zu vereinen; dem Einen ist eine kleine winzige Blume unendlich viel, dem Andern möchte kaum ein Königreich genügen. Unter Millionen sind eben so viel Ansichten verstreut.«

»Eine Macht,« warf der Offizier erglühend dazwischen, »eine Macht vereinigt und bewältigt Alle – die Liebe!«

Der Doctor antwortete nicht, er mußte die heruntergefallene Cigarrenasche von seinem Rocke abschütteln.

Herr von Cordonay fuhr fort:

»Herr Doctor, Sie haben mich einmal und seitdem nicht wieder nach der Veranlassung des Duells gefragt. Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen nichts zu verschweigen. Ihre Theilnahme für mich war eine väterliche. Sie sagten mir es nie, aber Sie fühlten, daß ich unglücklich sein müsse.«

»Sie sind es?« fragte Selly, wie um eine festere Ueberzeugung zu gewinnen.

»Ich bin es,« seufzte der Offizier tief auf. »Wissen Sie, Doctor, was ich für das Traurigste im Leben halte?«

»Nun?«

»Das Alleinstehen, ohne Vater, Mutter, Geschwister zu haben. Der Schmerz der Einsamkeit ist der ergreifendste. Ich bin Mann und Offizier, aber wie viele Stunden hatte ich nicht schon, wo ich, niedergedrückt von der unermeßlichen Leere, die mir im Herzen sitzt, die ich mitten im Geräusche des militairischen Lebens empfand, meinen Degen zerbrechen wollte im Angstgeschrei der Seele, die sich nach Teilnahme und Verständniß sehnte. Lassen Sie mich Ihnen Alles sagen, Doctor.

Ich wurde in der Militair-Schule von Paris erzogen. Ich erinnere mich dunkel, daß ich meine ersten Kinderjahre im Süden Frankreichs verlebte. Dort der Obhut eines Professors übergeben, erfuhr ich nie etwas von meinen Eltern. Sie seien gestorben, hieß es. Ich mochte es nicht glauben, es widerstrebte meiner ahnungsvollen Ueberzeugung, die mir immer wiederholte, ich müßte noch eine Mutter haben. Auch nährten diese Ahnung so manche Geschenke, die ich mehrmals im Laufe des Jahres erhielt. Einst befand sich unter andern Sachen auch jenes Medaillon, das jetzt in Ihren Händen ist. Wie malte ich mir das Glück aus, endlich, endlich meine Mutter zu umarmen! Jahre vergingen, meine heiße Sehnsucht wurde nicht erfüllt. –

Ich wurde Offizier. Mit welchen Ansprüchen trat ich in die Welt! Mit welchem Drange nach Befriedigung einer verlangenden, lange in den Fesseln der Entbehrung geschmiedet gewesenen Seele warf ich mich in das Leben hinein. Ich habe von der Natur heißes Blut empfangen. Ich mußte es ausströmen lassen, tropfenweise, in den Becher bittrer Erfahrung und Enttäuschung.

Auf einem Balle lernte ich Clemence von Charonay kennen. Ihre blendende Erscheinung, ihr Ton, jede ihrer Bewegungen, die eine Königin zieren konnten, machten mich erglühen. Ich gehörte ihr vom ersten Augenblicke an. Das Feuer der ersten Liebe verzehrte mich in ihrem Bilde bei Tag und Nacht. Ich schien ihr nicht gleichgültig zu sein, wenigstens schenkte sie mir eine größere Aufmerksamkeit, als vielen andern ihrer Anbeter. Sie lud mich zu sich ein, und ich verlebte an ihrer Seite schöne, unvergeßliche Stunden. Ich werde sie nie vergessen! –

Doch wozu Sie, lieber Doctor, mit einer Liebesgeschichte unterhalten wollen, deren Verlauf der friedlichste war. Lassen Sie mich kurz sein. Es kam zu einer Erklärung. Doctor, ich wurde wieder geliebt! Werden Sie meine Seligkeit begreifen, wenn ich sie mit den glühendsten Farben schildere? Nein! Sie würden mich nicht verstehen, meine Farben würden hinter der Wahrheit unendlich weit zurückbleiben! Jetzt erst gewann das Leben an Reiz für mich, jetzt erst schloß sich mir der Tempel der Freude auf. Ich fühlte mich nicht mehr einsam, ich vergaß Eltern, Geschwister, Freunde in den Armen der Liebe. Ich war unendlich glücklich! Mußte ich es denn aber sein, um unendlich elend zu werden?«

Er schwieg, von Erinnerungen überwältigt, und blickte starr vor sich hinaus. Der Doctor hatte den letzten Zug aus seiner Cigarre gethan. Verdrießlich warf er sie bei Seite und kreuzte die Arme. Das war immer ein Zeichen, daß ihm etwas nicht gefiel. Auch er schwieg und machte keine Anstalten, seinen Nachbar zur Fortsetzung seiner Erzählung anzuregen. Nach einer längeren Pause begann aber dieser von selbst:

»Eines Abends fand ich Clemence zerstreut, nachdenkend. Vergeblich blieben meine Bitten und Beschwörungen, mir ihren Kummer mitzutheilen – sie schwieg. Ich kniete vor ihr nieder, ergriff ihre Hand, bedeckte sie mit heißen Küssen, aber kein Wort entschlüpfte ihren Lippen. Sie betrachtete mich mit einem jener räthselhaften Blicke, die tief in die Seele gehen, und doch kein Verständniß zulassen. Es wurde spät, Stunde um Stunde verging ... sie blieb gedankenvoll, schweigend. Mein Blut brauste auf, ich schritt durch das Zimmer, blieb vor ihr stehen und machte meinem gepreßten Herzen durch Vorwürfe Luft. Ich beschuldigte sie des Mangels an Vertrauen, an Liebe. Sie erhob sich und blickte mich durchbohrend an. Ich erschrack vor diesem Blicke, die Weiblichkeit hatte keinen Theil daran. Mir war's in diesem Augenblicke, als durchschnitt mir ein Messer die Brust, ein Blitz durchzuckte mich: sie hat mit Dir gespielt, sie hat Dich getäuscht! –

Doch jetzt lächelte sie wieder, so sanft, so mild, daß ich vor ihr niederstürzen und sie um Verzeihung hätte anstehen mögen.

›Es ist spät, Alfons,‹ flüsterte sie, ›Sie müssen mich verlassen. Morgen werden Sie ruhiger sein, ich erwarte Sie zur gewöhnlichen Stunde.‹ –

Ich ging. Nach einer schlaflosen Nacht, in der mich entsetzliche Bilder und Vorstellungen quälten, eilte ich nach ihrem Hause. Sie war abgereist. Wie vom Donner gerührt, stand ich sprachlos, unfähig eines Wortes. Mit einem gellenden Schrei machte sich endlich die gefesselte Brust frei. Einem Rasenden gleich stürze ich in ihre Gemächer, durchsuche jeden Winkel – kein Blatt, kein Wort für mich! Ich frage, ziehe Erkundigungen ein – Niemand kann mir Auskunft geben. – Doctor, ich habe sie doch unsäglich geliebt! – Endlich erbarmt sich meiner der Portier des Hauses. Er vertraut mir, daß er das Paß-Visum besorgt und die andern nöthigen Vorkehrungen getroffen. Clemence hätte die Tour nach Straßburg eingeschlagen. Von der Kammerfrau habe er indeß erfahren, daß die Reise nach Deutschland, nach Heidelberg gehe. –

Ich fliege zu meinem Regiments-Commandeur und bitte um Urlaub. Ich erhalte ihn und bin in einer Stunde reisefertig. In dem Augenblicke, wo ich zu Pferde steige, übergiebt mir Jemand ein versiegeltes Bittet. Ich nehme mir nicht die Zeit, es zu lesen. Erst in Straßburg brach ich es auf. Es benachrichtigt mich von der Ankunft meiner Mutter. Meiner Mutter, Doctor, die ich nie gesehen, nach der ich mich in Sehnsucht verzehrt hatte! Ich stehe rathlos, unentschlossen. Welcher Sturm der Gefühle bewegte mich! Da fliegt ein Reiter an mir vorbei mit verhängten Zügeln, auf schaumbedeckten Pferde. Es ist ein Diener Clemence's ... Ohne Wahl, vom Augenblicke hingerissen, folgte ich ihm, es war eine Hetzjagd geängstigter Seelen ... Endlich war ich in Heidelberg.«

»Nun?« fuhr der Doctor lebhaft heraus, von der Schilderung Cordonay's hingerissen, als dieser innehielt.

»Ich hatte viel Mühe mit meinen Erkundigungen. In keiner Fremdenliste fand ich ihren Namen. Schon hielt ich mich abermals für getäuscht, als mich der Zufall in die Neckarstraße führte. Ein hohes ansehnliches Haus erweckte meine Aufmerksamkeit. Alle Jalousien waren heruntergelassen. Ein unbestimmtes Etwas ließ mich nicht vom Platze gehen. Ich drückte mich hinter das Portal eines gegenüberstehenden Hauses und harrte hier wol eine Stunde.

Endlich wurde ein Fenster geöffnet und ... Clemence, an der Seite eines Mannes, lehnte heraus. Es drängte mich hervorzustürzen. Mit aller Gewalt nur hielt ich mich zurück. Als sich Beide nach geraumer Zeit, die ich in Fieberangst zubrachte, wieder entfernten, überlegte ich, was ich beginnen sollte. Eine Stunde ging ich auf dem herrlichen Schloßberge auf und ab, ohne zu einem bestimmten Entschlusse zu kommen. Bald wollte ich mich rächen, bald wollte ich verzeihen. Ich konnte mir nicht klar werden und befand mich noch in Zweifel, als plötzlich ein Zufall mich zu einer Art von Entscheidung gelangen ließ. Derselbe Diener, der in Straßburg an mir vorübersprengte, begegnete mir an der Terrasse, zu deren Füßen sich das Neckar-Panorama ausbreitet. Er war überrascht, mich in Heidelberg zu sehen. Ich ließ ihm aber kaum Zeit, sich von seinem Erstaunen zu erholen. Das Geld ist ein mächtiger Hebel. Der Diener, von mir bestochen, versprach mir, mich am Abend in das Haus zu lassen.

Der Abend kam heran. Ich mußte meine ganze Kraft zusammenraffen, um nicht bei jedem Schritte, den ich that, hinzusinken. Das Zittern der Erwartung durchlief meine Glieder. Was ich eigentlich wollte, wußte ich selbst nicht. Ich wollte sie sehen, an der meine Seele hing, mit deren Entfernung der heiße Pulsschlag meines Herzens zu schlagen aufgehört hatte. Kaum vermochte ich die Treppe, die in das erste Stockwerk führte, hinaufzusteigen. Endlich stand ich vor ihrem Zimmer. Der Diener verließ mich. Ich lehnte lange, lange Zeit an dem Thürpfosten, um meine Gedanken zu sammeln. Ein Geräusch schreckte mich empor. Rasch öffnete ich die Thür und stand vor ihr. Sie war bei meinem Anblick mehr verwundert, als überrascht und erhob sich kaum vom Sopha. Ich versuchte zu sprechen, aber die Stimme versagte mir.

›Was wollen Sie?‹ fragte sie mit einem so gleichgültigen Tone, daß ich erbebte.

Ich antwortete nicht.

›Ich kann diesen Ueberfall nur Ihrer Jugend zuschreiben und vergeben,‹ fuhr sie fort, indem sie aufstand und nach der Klingel griff.

›Clemence!‹ rief ich im höchsten Schmerze verrathener Liebe, weiter vermochte ich nichts zu sagen.

Vor meinen Augen wurde es Nacht, in tausend Farben flimmerte es vor mir, und doch sah ich, wie ihre Hand bei meinem Ausruf zitterte, wie ihr die Klingel entglitt. In demselben Augenblicke aber ward eine Seitenthür aufgerissen und ein schwarz gekleideter Herr trat ins Zimmer, kalt, gleichgültig, ohne zu grüßen.

›Wer ist der junge Mann?‹ fragte er, auf mich deutend.

›Ein Bekannter aus Paris, der auf der Durchreise begriffen ist, und mir Briefe überbrachte,‹ antwortete sie ohne Zögern.

›So spät?‹ lächelte der Fremde so beleidigend, daß ich entflammte.

Er setzte sich nachlässig in eine Sopha-Ecke, maß mich von Kopf bis zu Fuß, nahm ein Zeitungsblatt und begann zu lesen. Ich knirschte mit den Zähnen, blickte bald auf Clemence, bald auf den Boden. So entstand eine kurze Pause, die durch nichts ausgefüllt wurde, bis endlich der Unbekannte das Zeitungsblatt wieder bei Seite legte, mich abermals musterte, die Uhr zog und sprach:

›Es ist spät, ist Ihre Bestellung noch nicht beendigt?‹

Mein ganzer Zorn erwachte. Mit einer Leidenschaft, welche von der Wuth die Worte lieh, machte ich ihn mit meinem früheren Verhältniß zu Clemence bekannt und schloß mit den Worten:

›Mein Herr, ich bin Offizier, die Ehre ist mein Wappen, wer es antastet, den ermorde ich!‹«

»Die Jugend, die Jugend!« fiel hier der Doktor ein.

»Der Fremde stand auf. Er nahm Clemence, die nicht zu widerstehen wagte, bei der Hand und trat vor mich hin.

›Das ist meine Verlobte,‹ sprach er mit scharfem Accent, ›sie muß Ihre Worte bestätigen, wenn ich Ihnen glauben soll. Sprechen Sie, Clemence!‹

Sie flüsterte ein leises Ja. –

›Ja?‹ wiederholte er langsam und fuhr fort: ›Mein Wappen ist nicht minder fleckenlos, ich will es rein erhalten. Was zwischen Ihnen und Clemence vorgefallen ist, will ich, daß es ein Geheimniß bleibe. Glauben Sie noch Rechte auf meine Verlobte zu haben, so machen Sie sie geltend. Wir werden uns schlagen, auf Tod und Leben. Sind Sie der Ueberlebende, können Sie Ihre Bewerbungen fortsetzen, ich werde Sie als Todter wol nicht mehr daran hindern können.‹ –

Was am andern Morgen erfolgte, wissen Sie lieber Doctor.«

Dieser hatte seit einiger Zeit unverwandt in die Ferne geblickt. Auf der Landstraße, die von Heidelberg nach dem Schlosse führt, aber noch im weitesten Gesichtskreise, am Rande des Horizontes, zeigte sich eine Staubwolke. Die Luft war so rein und klar, daß sie einem scharfen Auge nicht entgehen konnte. Ohne den Punkt aus der Acht zu lassen, fragte der Doctor den Herrn von Cordonay, nachdem dieser seine Erzählung beendigt hatte:

»Wissen Sie nicht, wer Ihr Unbekannter ist?«

»Ich weiß nichts über ihn, als daß er ein Baron von Löwenhelm ist.«

»Hm,« brummte Selly, »ich kann Ihnen einigen Aufschluß geben. Er ist ein ruinirter Mensch, ein Abenteurer, der politischen Verbindungen nicht fremd ist. Er hat Clemence in Nizza kennen gelernt und sie seit dieser Zeit nur einmal, auf wenige Monate verlassen. Sie erwartete ihn in Paris. Die Zwischenzeit füllte sie durch das Intermezzo mit Ihnen aus.«

»Und Clemence?« fragte Cordonay.

»Liebt ihn, wie ein Weib ihrer Art lieben kann. Wissen Sie, Alfons, was das Schlimmste ist, was die Jugend treffen kann?«

»Ich warte auf Ihre Antwort, Doctor.«

»Sie sind bescheiden und trauen mir eine größere Weisheit zu. Sie haben selbst die Erfahrung gemacht und wissen es nicht, einer Unwürdigen die Heiligkeit der ersten Liebe zu opfern. Die Liebe soll veredeln, unsere Empfindungen zu einer Großartigkeit anschwellen, die uns über das Leid der Erde hinwegträgt. O wüßte das weibliche Geschlecht, welche Verehrung jeder Mann beim Hinaustreten in die Welt zuerst für dasselbe empfindet, das Weib würde nicht mit voreiliger Hast sobald den Schleier von dem trügerischen Antlitz reißen, und die Verehrung in Verachtung selbst verwandeln. Es ist leider nur zu wahr, das Weib, wie es jetzt ist, lernt sehr früh mit den Empfindungen spielen, die unser höchstes Gut ausmachen sollen. Sie haben vor uns Männern eine frühere Erkenntniß derselben voraus und sie beeilen sich, den auch früheren Verlust noch zu beschleunigen. Die Emanzipation! Diese Ausgeburt, angethan mit den Flittern der Leichtfertigkeit, ist das Götzenbild, vor dem die Frauen in verblendeter Verehrung niederknieen. Das furchtbare Uebel der Haus- und Familienscheu greift immer weiter und tiefer, und vernichtet ohne Erbarmen Familienglück und Familientugend. Manche Frau sieht ihr Haus bereits für nichts mehr und nichts weniger an, als für eine Garderobe, wo sie sich an- und auszukleiden pflegt, um in den verschiedenen Rollen der Weltbühne zu figuriren. Vielen von ihnen ist die Familie nur der feste Punkt, von wo aus sie nach allen möglichen Richtungen hin ihre täglichen und nächtlichen Excursionen machen und fast überall – nur da nicht fehlen, wo irgend eine Treibjagd eines modischen Vergnügens gehalten wird, während die einsamen Laren über die Verwaisung der in der Kinderstube ausgesetzten Kleinen trauern.

Wie sollen unter solchen Umständen Achtung und Verehrung, die Hauptbestandtheile der Galanterie, wenn sie nicht Grimasse sein soll, in den Herzen junger Männer wurzeln und gedeihen? Man sehe sich unsere jungen Männer nur flüchtig an, und man wird ohne Mühe finden, daß sich der religiös galante Aberglaube, womit die heroische Ritterzeit das weibliche Geschlecht verehrte, in einen kalten formellen Unglauben verwandelt hat, der die Macht und die Herrlichkeit der weiblichen Natur frech und kühn läugnet, und ihr öfters in denjenigen Augenblicken innerlich am schmählichsten Hohn spricht, in welchen er ihr äußerlich Verehrung und Devotion zu erweisen scheint!«

Der Doctor war, seiner sonstigen Natur zuwider, in eine Aufregung gerathen, die den Offizier befremdete. Er wurde es noch mehr, als Selly seine Hand ergriff und ihn mit feuchten Augen ansah.

»Um Gotteswillen, Herr Doctor, was ist Ihnen?« rief er besorgt.

»Es ist der Rest eines alten Unmuths, die letzte Thräne, die auf meine Vergangenheit fällt. Ich glaubte nicht mehr so ernst zurückblicken zu müssen. Der Zufall spielt wunderlich mit uns. Durch das Zusammentreffen mit Ihnen komme ich wieder mit Personen in Berührung, die ich bereits zu den Todten geworfen hatte ...«

Der Doctor wollte noch etwas hinzufügen, als ihm wieder die Staubwolke, die er einen Augenblick vergessen hatte, auffiel. Er sah gespannt auf die Landstraße hinaus. Die schwellende Masse, die anfänglich so unbedeutend erschienen, und in großer Entfernung war, wuchs jetzt zusehends und kam immer näher. Man konnte einen Reiter unterscheiden, der mit verhängten Zügeln auf das Schloß zusprengte und zeitweise hinter dem Saume einer Allee verschwand. Der Doctor ging unruhig auf der Terrasse hin und her und schenkte seinem Gaste kaum mehr irgend eine Aufmerksamkeit.

Herr von Cordonay, in der Voraussetzung, daß sein Wirth vielleicht ungestört zu sein wünsche, wollte sich eben zurückziehen, als ihn der Doctor mit einer Handbewegung zum Bleiben nöthigte, während Friedrich, der Diener Selly's, athemlos auf der Terrasse erschien.

»Was bringst Du?«

Mit diesen Worten eilte ihm der Doctor hastig entgegen.

»Der Baron von Löwenhelm ist so eben verhaftet worden,« antwortete Friedrich in aller Eile und wandte sich dann, als er die Gegenwart eines Dritten bemerkte, ganz zu seinem Herrn, dem er noch etwas mit leiser Stimme mittheilte.

Herr von Cordonay horchte hoch auf. Das Betragen des Doctors war ihm längst aufgefallen, die geheimnißvolle Art jedoch, womit er jetzt seinen Diener empfing, die mancherlei Andeutungen, die er erhalten hatte, machten ihn nur noch stutziger. Vergebens suchte er sich die Verhältnisse klar zu machen. Er verlief sich in Muthmaßungen über die Berührungspunkte, die der Doctor zu den Personen haben mochte, die auch für ihn von höchstem Interesse waren. Es fiel ihm noch besonders auf, daß Selly nie etwas über den Besuch Clemence's auf dem Schlosse, der ihm dennoch durch den geschwätzigen Portier verrathen worden war, geäußert hatte.

Bei dem Gedanken an Clemence erglühte er bis an die Stirn. Noch immer war sie ihm das heißgeliebte Weib, trotzdem sie ihm so unendlich weh gethan. Der Zauber der Liebe ist ja so unversiegbar und groß, daß er Alles umfaßt, Hohes und Niedriges, Gemeines und Edles, daß er sich selbst über unlautere Quellen verbreitet. Auch giftige Blumen sind nicht ohne Reiz. Verschmäht sie der Eine, der Andere sucht sie auf, um sich an ihrer lebhaften Farbenpracht zu ergötzen.

»Zu Pferd!« rief auf einmal der Doctor so laut, daß sich der Schall an der Rückwand der Terrasse brach.

Friedrich stürzte die breite Treppe hinunter in den Garten, von da in den Schloßhof.

»Soll ich Sie begleiten?« fragte der Offizier, ohne zu wissen wohin.

»Nein, mein junger Freund, Sie dürften den scharfen Ritt nicht aushalten, den es setzen wird,« antwortete Selly in einem so übermäßig heiteren Tone, daß man ihm den Zwang sogleich anmerken konnte. »Aber,« fügte er hinzu, »Sie können mir mit Friedrich folgen. Lassen Sie sich jedoch Zeit, reiten Sie langsam, denn ich breche Ihnen den Hals, wenn Sie dem Pferde die Sporen zu tief einsetzen, und aufs Neue als Patient an Ort und Stelle ankommen!«

Ohne seinem Gaste weiteren Aufschluß zu geben, eilte er jetzt hastig seinem Bedienten nach, der ihm ein gesatteltes Pferd entgegenführte.

»Friedrich, Du weißt, was Du zu thun hast!« rief er zurück, indem er sich in den Sattel schwang, dem Pferde die Sporen tief in die Weichen drückte und im Sturm davonjagte.

 

Die Chaussee, die er verfolgte, zieht sich vom Rhein bis dicht vor Heidelberg hin. Es war gegen Abend, die Sonne neigte sich stark zum Untergange. Ihre Strahlen hatten schon etwas von jenem matten Rothgelb, das ihr baldiges Scheiden verkündet. Die Arbeiter zogen vom Felde heimwärts, den Hut mit Aehren und Laub bekränzt, auf der Schulter die blitzende Sense, sie kannten den Doctor Alle und grüßten ihn ehrfurchtsvoll, als er an ihnen vorübersprengte. Er achtete aber gegen seine Gewohnheit diesmal nicht darauf und jagte weiter.

Die Sonne sank tiefer. Der leise Wind, der den Tag hindurch geweht hatte, fuhr noch einmal lispelnd durch das Grün der Bäume und legte sich dann zur Ruhe. Das Rauschen in den Pappeln, Buchen und Eichen hörte auch auf. Ueber den Saum des Waldes zog leise ein Nebelstreifen empor, blieb aber erröthend in den letzten Sonnenstrahlen am Horizonte haften und schwebte nicht weiter. Munterer Finkenschlag erschallte in einzelnen Pausen aus den Gebüschen. Er bildete gleichsam den lauten Athemzug der Natur. Ruhe und Friede herrschte in ihr.

Nicht so friedlich schlug das Herz des Doctors. In seinem Innern stürmte es gewaltig. Er beachtete nichts was um ihn vorging, nicht die Grüße der Feldarbeiter, nicht das Scheiden der Sonne, nicht die nahende Dunkelheit. Seine Seele beschäftigte sich mit der Vergangenheit, während er auf seinem unermüdlichen Rosse dahinjagte ...

Er dachte zwanzig Jahre zurück ... Es ist eine lange, lange Zeit, was kann sich nicht Alles inzwischen ereignen! Generationen hinsinken, neue entstehen ...

Vor zwanzig Jahren war der Doctor ein junger Mann, und munter, von einer Thatkraft und Lebenslust durchdrungen, welche die beiden Pole der Erde spielend zusammenzubiegen sich getraute. Er war ein Student, der mit dem Humpen eben so gut fertig zu werden wußte, wie mit der Klinge. Er galt für den besten Tänzer sowol auf den Tennen der Dorfschaften, wie auf dem Parquet der Stadtsäle, bekam manchen heimlichen Gruß von den schönen Städterinnen, manchen Händedruck von den derben Bäuerinnen.

Das ging so fort, bis er promovirte. Er machte ein glänzendes Examen, der Doctorhut zierte sein Haupt. Seine Eltern starben und hinterließen ihm ein großes Vermögen. Er betrauerte sie, wie es ein guter Sohn thun muß, und war lange für die Welt nicht zu Hause.

Da wurde er zu einer Fremden gerufen, die in Heidelberg krank angekommen war. Sie war jung, schön, und von einer Milde und Sanftmuth, vor der sich der noch immer große Trotz des neuen Doctors beugte. Ihr einziger Begleiter, der Bruder ihrer Mutter, war im Begriff, in ihre Heimath zurückzukehren. Sonst hatte sie keine Verwandten, keine Eltern, wie sie erzählte. Sie war so verlassen, krank und elend ... kein Wunder, daß der junge Doctor, dem ein warmes Herz im Busen schlug, sich ihrer aufs Sorgfältigste annahm. Er wachte an ihrem Lager, wenn sie schlief, ihr Auge begegnete dem seinigen, wenn sie erwachte, ihre Hände kamen in Berührung, wenn er ihr die Medizin reichte ...

Das Pferd des Doctors schäumte. Er war am Stadtthore angekommen. Selly fuhr mit der Hand über die Stirn und schüttelte das herabhängende Haar aus seinem Antlitz. Er zog die Zügel an und ritt langsamer. Hie und da brannten schon einzelne Laternen; über der Neckarstraße, in welche der Doctor jetzt einlenkte, blitzte ein Stern. Er übergab dem Aufwärter im Hotel zur goldenen Krone sein Pferd, ließ sich etwas vom Staube reinigen, mehr um seine Gedanken zu sammeln, als um seine Kleider in Ordnung zu halten und bald stand er vor dem Portal des ihm bekannten Hauses.

In den obern Gemächern war Licht, der Schein blitzte durch die niedergelassenen Jalousien. Auf sein wiederholtes Pochen öffnete der Portier. Er mußte den Doctor kennen, wenigstens ließ er sich nach wenigen Worten bereden, ihn allein die Treppe hinauf gehen zu lassen. Eine Kammerfrau kam ihm an der Zimmerthür entgegen, er schob sie bei Seite, und trat hinein ...

Innen sah es ziemlich unordentlich aus, Reiseeffekten lagen zerstreut in bunter Unordnung umher. Eine düster brennende Astrallampe erhellte den Raum nur schwach. Auf einer Ottomane lag eine Frauengestalt, deren Züge Spuren ehemaliger großer Schönheit trugen. Sie sah bleich und abgespannt aus, ihr Körper war in seidene Decken gehüllt. Beim Eintritt des Doctors erhob sie etwas das Haupt und blickte ihn mit Verwunderung an. Der späte ungewöhnliche Besuch mochte sie überraschen ...

Sie wurde ängstlich, als der Doctor nicht sprach und sie sein Gesicht, worauf der Schatten des Lichtschirmes fiel, nicht erkennen konnte. Er trat ihr etwas näher ...

»Was wollen Sie? Wer sind Sie, mein Herr?« rief sie bebend.

Der Doctor nahm allen seinen Muth zusammen und antwortete mit gedämpfter Stimme:

»Beruhigen Sie sich, Madame, Sie haben von mir nichts zu befürchten. Ein Kranker ... ein Verwundeter bat mich um die Besorgung eines Auftrags.«

»Ein Kranker, Verwundeter? Mein Herr, ich bin hier fremd und kenne Niemanden, der mich näher interessirte. Ich komme von Marseille über Genf und gehe nach Paris. Ich hole meine Tochter hier ab, damit sie mich begleite.«

»Clemence ist Ihre Tochter, Madame?«

»Meine Tochter zweiter Ehe; doch woher kennen Sie sie, mein Herr?«

»Man knüpft Bekanntschaften an der Table d'hote sehr leicht an,« erwiderte der Doctor ausweichend. Dann, seine ganze Entschlossenheit sammelnd, zog er ein Medaillon hervor und reichte es ihr mit den Worten hin: »Der Verwundete hat mir dieses Bild übergeben!«

Die Dame warf einen Blick darauf, erhob sich und rief laut aus: »Mein Sohn! Ihm gab ich's, wo ist er?«

»Ihr Sohn!« wiederholte der Doctor, bis in's Mark erschüttert. Seine Ahnung, seine Hoffnung sollten in Erfüllung gehen! Er hatte bis jetzt immer gezweifelt und die Freude zurückgedrängt, um nicht in eine schmerzlichere Enttäuschung zurückzufallen. Jetzt umspielte die Gewißheit lächelnd sein Herz. In diesem Augenblicke großer Vaterfreuden vergab er Alles der Frau, die ihn verlassen, betrogen. Doch, er war ein Mann, der sich zu beherrschen gelernt hatte, und auch jetzt ließ er sich nicht ganz hinreißen ... Er hielt in seiner Hand ein Blatt Papier und reichte es ihr hin.

Sie ergriff es ... sah darauf und erhob das Haupt. Gleich darauf entglitt ihr das Blatt ... sie schwankte dicht zu ihm ... blickte ihn an, so tief, so lange, so durchbohrend und mit dem Jammer einer ganzen Menschheit ... mit einem durchdringenden Schrei sank sie zu Boden ...

»Cecilie!« rief der Doctor, indem er sich um die Ohnmächtige bemühte. Sie erholte sich langsam. Wie war sie so entsetzlich bleich und entstellt, wie blickte sie so unstät und wirr! Jetzt begegnete ihr Auge dem seinigen, und wieder sank sie in die Knie, wieder zuckte sie zusammen. Sie faltete die Hände und sprach leise:

»Dieser Augenblick ist schlimmer als der Tod. Ich habe Dir unsägliches Wehe bereitet, und Du hast mich unendlich geliebt. Du nahmst Dich einer Verlassenen an, und führtest sie als Dein Weib in Dein Haus. Ich habe Dich getäuscht, mein Herz gehörte einem Andern. Er kam zurück und ich verließ Dich wieder, der Du mir Gutes gethan. Noch mehr! Ich raubte Dir das Kind, das ich als Pfand Deiner Liebe unter meinem Herzen trug, und dachte nicht an das Elend, das mit meiner Entfernung in Deinem Hause einkehren würde. Ich weiß, Du hast mich unendlich geliebt!«

Der Doctor hatte kein Wort, kein Lächeln für die Unglückliche, die jetzt so demüthig zu seinen Füßen lag. Die Brust war ihm zusammengeschnürt. Im Fluge wiederholte sich vor seiner Seele das Glück längst entschwundener Stunden. Er sah Cecilie im Hause schalten und walten, als ein lichter Genius, der ihn bis an's Ende seiner Tage begleiten sollte. Er hatte nicht nach ihrer Vergangenheit gefragt, nie an ein intimes Verhältniß zu ihrem damaligen Begleiter, den sie ihm trügerisch als den Bruder ihrer Mutter vorgestellt hatte, glauben mögen, er hatte sie mit der sorglosen Aufrichtigkeit eines jugendfrischen Herzens als sein Weib aufgenommen und hatte die kurze Stunde des Glückes mit jahrelangem Elend bezahlen müssen. Und wie weit ging seine Liebe! In ihrer Größe wurde er schwach. Als ihn Cecilie nach ihrer Flucht von Montpellier aus um die Lösung der Ehe bat, willigte er mit blutendem Herzen ein. Der Edelmuth der Jugend gab ihm die Kraft zu einem Schritte, den seine spätere Einsicht und Erfahrung mißbilligen mußte.

Auf der Straße ließ sich Hufschlag von Pferden vernehmen. Selly horchte hoch auf.

»Und wo ist Ihr Gatte, Baron von Löwenhelm?« fragte er leise.

»Todt; sein Bruder ist mit Clemence verlobt, heute aber verhaftet worden. Ich bin entsetzlich, aber gerecht für meine Täuschung bestraft worden. Beide, mein Gatte und er waren Männer, welche die Welt mit dem Namen Verbrecher bezeichnet,« erwiderte sie tonlos. –

Der Doctor war davon bereits unterrichtet. Durch einen Legations-Secretair von Malm und durch die Erkundigungen seines Dieners Friedrich hatte er erfahren, daß die beiden Barone zu jenen Abenteurern gehörten, an denen die Gesellschaft so reich ist. Sie waren Spieler, Carbonari, Falschmünzer, je nachdem es sie zum Ziele führte. – –

Er beklagte das Weib, das so traurige Erfahrungen machen mußte, aber er liebte sie nicht mehr, ja, sie war in Gefahr, seine Achtung zu verlieren, wenn er an den verstoßenen, verlassenen Sohn, wenn er an die Erziehung dachte, die Clemence erhalten hatte.

Eben trat diese aus einem Seitenzimmer. Sie war nicht wenig überrascht, den Doctor hier anzutreffen. Sie hatte nie von ihm mit ihrer Mutter gesprochen. Ihre Ueberraschung stieg, als jetzt plötzlich Herr von Cordonay in's Zimmer trat. Er warf einen Blick auf die Gruppe, auf das am Boden liegende Medaillon und stürzte mit dem Ausruf: »Meine Mutter!« vor Cecilie weinend nieder.

Mit zitternden Armen umfing sie ihn. »Mein Sohn, mein Alfons!« mehr vermochte sie nicht zu sagen. –

Selly unterdrückte mit Gewalt eine Thräne, grollte aber über jeden Sekundenschlag, durch den hindurch ihm der Sohn entzogen wurde. Wie zitterte er, ihn an sein Herz zu drücken! Er konnte es nicht länger mit ansehen und rief laut:

»Alfons, hier ist Dein Vater, der Dich nie, nie verlassen wird.«

Alfons horchte auf und blickte auf seine Mutter. Sie ließ ihn aus den Armen und nickte leise und schweigend mit dem Haupte. Er flog auf Selly zu:

»Mein Vater!« –

Sie hielten sich lange, lange umschlungen.

»Und jetzt erst die Enthüllung? Warum mußte ich das Glück so lange entbehren, mein Vater?« –

»Ich mußte erst die Gewißheit haben, daß Du es seist, mein Sohn, ich wollte nicht wieder getäuscht werden,« entgegnete der Doctor, nicht länger fähig, einen Strom von Thränen zurückzuhalten.

Alfons gab sich willig den Liebkosungen hin, mit denen sein Vater ihn förmlich erdrückte. Hatte doch auch er so lange nicht gefühlt, was es heißt: Eltern zu besitzen! Sein feuchter Blick hing bald an dem Vater, bald an der Mutter, dann fiel er auf Clemence, die nachdenkend in der Entfernung stand.

Ihren Namen ausrufend, wollte er auf sie zueilen, der Doctor hielt ihn aber gewaltsam zurück.

»Sie ist Deine Schwester, Alfons, und hat keinen Theil an meiner Liebe!« rief er mit starker Stimme.

Alfons stand wie vom Blitz getroffen ... Clemence machte keine Bewegung ... Ihre Mutter, von den sich überstürzenden Ereignissen hart gefoltert, horchte doch hoch auf. Selly klärte sie mit kurzen Worten über die Bekanntschaft Beider auf. –

Ihr Haupt sank tiefer unter der neuen Schuld, der sie sich anklagen mußte, sie dachte unter dem Drucke zu erliegen, und mit dem letzten Aufgebot ihrer Kräfte erwiderte sie:

»Alfons trägt den Namen Cordonay auf Verwendung eines edlen Mannes, den ich in Marseille kennen lernte. Clemence ist in dieser Beziehung unschuldig, aber ihre Handlungsweise ist anzuklagen. Der Baron« – sie wagte das Wort Gatte nicht auszusprechen – »wollte nicht, daß mein Sohn in meinem Hause erzogen würde. – Dieser Augenblick, Selly,« fuhr sie mit mehr Fassung fort, »beraubt mich, ich fühl' es, eines Sohnes und überläßt mir eine Tochter, die das mit ihrer Mutter gemeinsam hat, daß sie durch eigene Verschuldung den Frieden der Seele für immer aufopferte. Giebt es noch für uns einen Trost, so soll er uns um so willkommener sein, da wir mit so ungestillter Sehnsucht in die Ferne blicken müssen, wo der schönste Theil unseres Glückes weilt. Ich verlasse noch heute Nacht mit Clemence Heidelberg und kehre zurück nach dem Süden Frankreichs; möge Gott das Uebrige fügen!«

»Vater!« rief Alfons mit geängstigter Seele.

In Selly zuckte ein letzter Funke der erstorbenen Liebe auf. Er dachte an die furchtbare Einsamkeit, die Cecilie erwartete, an ihre Trauer über den Verlust eines geliebten edlen Sohnes, an die bitteren Qualen der Enttäuschung, an ihr gefoltertes, zerschlagenes Herz ... er fühlte unendliches Mitleid mit ihr. Aber sogleich dachte er auch wieder an seine verlorene Ruhe, an seinen wüthenden Schmerz über den Verrath des geliebten Weibes, an die traurigen zwanzig Jahre, wo jeder Sekundenschlag ihm vergiftet war, an den unsäglichen Kampf, den er zu überwinden hatte; er dachte an seine verletzte, gemißhandelte Ehre ...

Er mußte sich gestehen, daß eine glückliche Harmonie nie wieder zwischen Menschen eintreten könne, die sich durch so lange Jahre entfremdet waren, daß eine Wiedervereinigung unmöglich sei, wo Verrath und unverantwortlicher Leichtsinn eine so unausfüllbare Kluft zwischen den Herzen aufgerissen. Man kann Vieles vergessen und vergeben, einen Verlust ertragen, aber der Betrug des Herzens läßt Narben zurück, die bei der geringsten Berührung wieder zu frischen Wunden werden; die gekränkte Ehre kann niemals vergeben und vergessen ...

Selly nahm Alfons bei der Hand und führte ihn zu seiner Mutter.

»Cecilie,« sprach er sanft, »Du nahmst mir die Liebe, an der ich hing mit der Inbrunst eines Heiligen, den die Gottheit begeistert. Ich habe unendlich um Dich gelitten; ich vergebe es Dir. Ziehe hin in Frieden, meine Segenswünsche begleiten Dich. Alfons, mein Sohn, darf mich nun nicht mehr verlassen. Ich habe ihn mit tausend Schmerzen erkauft. Verschmähst Du meine Freundschaft nicht, so bleibt sie Dir.« –

Er reichte ihr die Hand, sie benetzte sie mit heißen Thränen. Noch einmal sank Alfons an die Brust seiner Mutter, noch einmal umarmte er seine Schwester, dann riß er sich los, um wieder zurückzukehren und wieder Beide an sein Herz zu pressen. Endlich faßte ihn der Vater mit starkem Arm, zog ihn an sich und führte ihn aus dem Gemache.

 

Lange, lange blieb Cecilie sprachlos mit gesenktem Haupte, dann schüttelte sie das herabgefallene Haar von ihrer Stirn und stand auf. Clemence machte ein leises Geräusch. Sie ging auf ihre Tochter zu, ergriff ihre Hand und küßte sie demüthig. –

»Wenn es Dir möglich ist, mein Kind,« sprach sie flüsternd, »gieb mir einen kleinen Ersatz für einen so großen Verlust.«

Clemence fiel ihr weinend um den Hals und gelobte schluchzend, sie nie zu verlassen in Elend, Noth und Tod!

Noch in der Nacht rollte ein Reisewagen durch die Straßen Heidelbergs und nahm den Weg nach Frankreich. – –



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