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Magdalena.

Optimus ille animi vindex, laedentia pectus
Viacula qui rupit, dedoluitque semel.


Im Riesengebirge, mitten im Walde, in der Gegend von Hirschberg, trifft man auf Ueberreste einer verfallenen Hütte. Noch vor wenigen Jahren war sie bewohnt und in einem ganz anderen, stattlichen Zustande. Damals rauchte hier die Esse einer Schmiede fortwährend, und vier rüstige Arme schwangen den eisernen Hammer mit solcher Kraft und Gewalt, daß Stab und Ambos erzitterten, ringsum Feuerfunken stoben, der dröhnende Schlag weithin durch Berg und Wald erklang. Kinder und Erwachsene aus dem benachbarten Dorfe kamen oft herbei, namentlich an schönen Sommerabenden, wenn die Johanniskäfer um die Wette leuchteten mit den sprühenden Spähnen des glührothen, prasselnden Eisens, und stellten sich gaffend vor die offene Thür des Hauses; war es doch eine Lust mit anzusehen, wie Vater und Sohn im Fleiße wetteiferten und dabei Lieder sangen, die das harte Eisen und das Herz in jeder Menschenbrust weich und geschmeidig machen mußten. – Besonders der Sohn, der große Georg, hatte eine so kräftige und doch milde Stimme, daß man ihm nicht genug zuhören konnte und darüber die tiefen mächtigen Töne des Vaters ganz überhörte.

Wer die Beiden so friedlich miteinander arbeiten sah, konnte sich freilich nicht denken, daß zwischen ihnen Zwietracht herrsche, daß sie sich sonst nicht vertrügen, und dennoch war es so. Der Vater, im ganzen Gebirge nur »der Schmied im Wald« genannt, war ein strenger, verschlossener Mann, der wenig Umgang mit seinen etwas abgelegner wohnenden Nachbarn pflog. Ein unverdrossner, redlicher Arbeiter war er freilich, früh und spät auf seinem Platze, auch wußte ihm Niemand etwas Uebleres nachzusagen, als daß er hie und da manchmal zu tief in den Bierkrug guckte, aber Freunde hatte er sich nicht erworben. Schon sein Aeußeres gefiel den Andern nicht, er schaute immer finster und verdrossen drein, obwol es einige Gutmüthige gab, die das seinem großen schwarzen Barte zuschrieben, der gar seltsam gegen die grauen, beinah weißen Haare seines Kopfes abstach.

Der Sohn, der Georg, hatte wenig Aehnlichkeit mit dem Vater; blond, stark und groß, wie die schlanken mächtigen Tannen des Waldes, blickte er doch so sanft und mild mit seinen hellblauen großen Augen, daß ihm alle Männer gut waren und die Mädchen bei der festlichen Musik am Sonntag, mit Keinem lieber tanzten, wie mit ihm. Davon war nun freilich nicht oft die Rede, denn Georg hielt sich zurück, liebte es, still für sich zu gehen, noch spät nach vollbrachtem Tagewerk durch die Wälder und Berge zu streifen. Zuweilen blieb er die ganze Nacht unter einem Baume sitzen, Sterne und Mond betrachtend, versunken in eine Welt von Träumen, die aus seiner Seele herausquollen wirr und fessellos, die er nicht zu deuten vermochte. Der große sanfte Georg liebte die Blumen über die Maßen, nur die Rose nicht. Fragten ihn die Mädchen warum, wußte er nichts zu antworten. Mit Anbruch des Tages war er wieder rüstig bei der Arbeit, oft, ohne das Auge geschlossen zu haben, um seinem strengen Vater, der ihn sehr häufig und unverdientermaßen, gar hart und rauh anließ, keine größere Veranlassung zum Zorne zu geben.

Eines Abends, die ersten Blätter fielen vom Baum, und verkündeten das Nahen des Herbstes, hielt eine Kutsche vor der Schmiede. Ueberrascht von dem ungewohnten Anblick, da alle Wagen gewöhnlich im Wirthshause, an der entlegneren Landstraße zu halten pflegten, unterbrachen Vater und Sohn die Arbeit und traten heran. Ein ältlicher Herr kam ihnen bereits entgegen und reichte, wie ein alter Bekannter dem Ersteren die Hand. Mißtrauisch betrachtete ihn der Schmied eine Zeitlang, bevor er den Gruß erwiderte, dann wie von einer längstentflohenen Erinnerung betroffen, zuckte er die Augenbrauen und blickte den Fremden durchbohrend an. Dies unfreundliche Entgegenkommen anscheinend nicht beachtend, nahm ihn derselbe mit verbindlichem Lächeln unter den Arm, indem er einige Worte gleichzeitig an Georg richtete, und zog den leise Widerstrebenden an einen entlegneren Ort, tiefer im Walde.

Georg, der auf der Thürschwelle stehen geblieben war, betrachtete mit großem Wohlgefallen die schönen Pferde des Angekommenen und wollte sich eben in ein Gespräch darüber mit dem bärtigen Kutscher einlassen, als er im Wagen eine dicht verschleierte Dame bemerkte. Sie erweckte seine Aufmerksamkeit und ohne das Unbescheidene seines Benehmens zu erkennen, wurde sie der Gegenstand seiner ausschließlichen Betrachtung. Die Dame schien dies anfänglich nicht beachten zu wollen, später machte sie jedoch eine abwehrende, und wie es schien, unwillige Bewegung mit der Hand, indem sie sich auf die andere Seite wandte.

Erröthend und jetzt das Unpassende seines Benehmens fühlend, wollte sich Georg in die Schmiede zurückziehen, als ihn die Stimme seines Vaters tiefer in den Wald rief. Es wurde ihm der Befehl ertheilt, sogleich das obere Zimmer in Ordnung zu bringen und für heute die Arbeit einzustellen. Zögernd wiederholte Georg: »das grüne Zimmer?« und blieb unentschlossen stehen.

»Nun, welches denn? fuhr der Alte auf, haben wir so viele? Fort!«

Georg ging, während Jener, wie erklärend, sich an den Fremden wandte:

»Der Bursche ist nicht klug, ihm spuken Gespenster und Kobolde im Kopf. Weil seine Mutter in jenem Zimmer starb und wir es seit jener Zeit nicht gebraucht haben, müsse es Jedem Unglück bringen.«

»Das ist erklärlich, Sie wohnen ja im Vaterlande der Märchen, im Riesengebirge, alter Kriegskamerad, der noch immer nicht einen unüberlegten Jugendstreich vergessen kann,« entgegnete lächelnd der Fremde, indem er fortfuhr: »ich bin inzwischen ein Anderer, hoffentlich Besserer geworden, auch hat der Vorfall ja keine weiteren Folgen gehabt. Doch, noch Eins! wie ist es mit der Bedienung? haben Sie Jemand dafür?«

»Nein, unsere Bedürfnisse sind so gering, daß ich und mein Sohn größtenteils Alles selbst besorgen, jedoch kommt zu Zeiten eine Bäuerin zu uns in's Haus, die unsere Einkäufe übernimmt.«

»So muß ich meine Tochter ersuchen, sich für jetzt in die Umstände zu fügen; in wenigen Tagen komme ich zurück, dann wird hoffentlich Alles geordnet sein, oder ich werde ihr, falls sie länger hier verweilen müßte, ein Mädchen zur Aufwartung mitbringen.«

Indem der Fremde dies sagte, zog er eine Brieftasche aus seiner Rocktasche und überreichte dem Alten mehrere Banknoten, hinzufügend:

»Dies wird auf einige Zeit hinreichen, Sie für Ihre Auslagen zu entschädigen, doch bitte ich nochmals dringend, keine Vorsichtsmaßregeln aus den Augen zu lassen, meine Tochter mit Niemandem in Berührung zu bringen, selbst Ihren Sohn fern zu halten.«

Der alte Schmied versprach es, indem er das empfangene Geld sorgfältig in seinem Schurzfelle verbarg. –

Es war inzwischen finsterer geworden, ein feuchter Nebel senkte sich von den Bergen herab und durchwallte das Thal. Die Pferde wurden ungeduldig, mit aufgerissenen Nüstern zerrten sie an den Strängen und laut wiehernd zerschlugen sie den feuchtgewordenen Boden. Der Fremde trat an den Wagen und unterhielt sich leise mit der Dame, die er als seine Tochter bezeichnet hatte. Inzwischen war auch Georg mit der Besorgung des grünen Zimmers fertig geworden und kam, eine brennende Kienfackel in der Hand, heraus. Sobald der Vater seiner ansichtig wurde, entriß er ihm die Fackel und herrschte ihm zu, sich zu entfernen. Georg gehorchte widerstrebend und ging auf sein bescheidenes Zimmer, dessen einziges Fenster auf den Hof hinausführte.

Während er hier verweilte, wurde die Dame aus dem Wagen gehoben und von den beiden Männern die schmale kurze Treppe hinaufgeleitet, die zu dem ihr bestimmten Gemache führte. Es war sehr sparsam eingerichtet und von geringem Umfange. Das ganze Hausgeräth bestand aus dem Nothwendigsten: einem Sopha, mehreren Tischen und Stühlen und einem großen Spiegel, der in alterthümlicher Fassung, abstechend genug gegen das Uebrige, von der Decke bis fast auf den Boden reichte. Einige vergilbte, werthlose Bilder hingen an der Wand und ließen es zweifelhaft, ob sie dieser zur Zierde gereichten. Alles war aber zur Bewunderung reinlich, wenn man in Betracht zog, daß seit mehreren Jahren keine weibliche Hand hier geordnet und gewirthschaftet hatte. Zwei Fenster mit in Blei gefaßten Scheiben, zeigten auf den Wald und das Gebirge. Noch führte eine Thür in eine anstoßende Kammer, welche das frischüberzogene Bett enthielt und einen Schrank, der zur Aufbewahrung der Kleidungsstücke dienen sollte. Ein Fenster, welches man mit dieser Benennung hätte bezeichnen können, war aber nicht darin, eine einzige, rundgefaßte Scheibe ließ nur spärliches Licht herein und gewährte die jedenfalls schlimmste Aussicht, die auf den Hof.

Die Dame übersah das Ganze mit einer mißbilligenden Miene, setzte sich aber, ohne ein Wort zu äußern, stillschweigend in eine Ecke des Sophas, während der Kutscher, der sie hierher gebracht hatte, mit einem großen Koffer die Treppe heraufpolterte. Nachdem er diesen mitten im Zimmer abgeladen und sich wieder entfernt hatte, öffnete der Fremde den Koffer, nahm ein Paar silberne Handleuchter heraus und aus einem größeren Pack zwei Wachskerzen, die er an der Kienfackel anzündete.

Der alte Schmied wollte sich alsdann entfernen, blieb aber auf das Gebot der Dame, die zum ersten Male ihm gegenüber die Lippen öffnete, und die es augenscheinlich zu vermeiden suchte, mit ihrem Vater allein zu bleiben. Dieser stimmte zu ihrer sichtlichen Befriedigung, ihrem Ausspruche bei, blieb auch nur noch wenige Augenblicke, die er damit ausfüllte, seiner Tochter einige minder wichtige Verhaltungsregeln mitzutheilen, ihr zu sagen, daß sie sich in diesem einsamen Hause nicht fürchten solle, sie sei in guter Obhut, und in höchstens acht Tagen sei er auch wieder zurück. Sie gab auf Alles keine Antwort und duldete es stillschweigend, daß er ihr zum Abschied einen Kuß auf die Stirne drückte. Hierauf entfernte er sich, indem er dem alten Schmied, der bis dahin immer an der Zimmerthür gestanden hatte, einen Wink gab, ihm zu folgen. Ohne auf dessen Bemerkung, daß ihn die Kälte seiner Tochter etwas befremde und daß ihm die ganze Begebenheit unangenehm sei, etwas zu erwidern, drückte ihm der Fremde die Hand, versprach, in wenigen Tagen weitere Nachricht zu senden, stieg rasch in den Wagen, rief dem Kutscher zu, und fort rollte er durch die Nacht.

Georg war inzwischen aus seinem Zimmer in die Werkstatt, aus der Werkstatt wieder in sein Zimmer gegangen. Eine Unruhe kam über ihn, die er sich nicht erklären konnte. Fortwährend dachte er an die junge schöne Dame, die auf so geheimnißvolle Weise hier angekommen war. Daß sie jung und schön sei, hatte er nicht sehen können, aber er bildete es sich ein, daß sie es sei, es stand in seiner Seele fest bis zur Evidenz. Es ist das schöne Geschenk der Jugend, daß sie von den Flügeln der Einbildung getragen wird; wie lange dieser holde Traum dauert, ist freilich eine andere Sache. Er sagte sich auch, daß sie unglücklich sei, ja, es wurde diese Ansicht bei ihm zur Gewißheit. Noch mehr! eine innere Stimme wiederholte ihm, daß der Dame Gefahr drohe, daß er zu ihrem Beschützer und Retter bestimmt sei. Hätte er freilich Jemand Rechenschaft geben sollen über das Warum dieser seiner Gedanken und Einbildungen, so würde er es nicht vermocht haben, seine Bemühung vergeblich und unklar gewesen sein. Er hätte vielleicht sagen können in der Sprache eines Naturmenschen: Seht Ihr, hier innen, in meinem Herzen, da ist ein Stück, das größere und bessere, das nicht mir gehört, das muß wieder zurück, wo es entnommen ward, ein Anderer besitzt wieder von meinem Herzen etwas; bis wir uns nun gefunden und das Eigenthum ausgetauscht haben, vergeht eine geraume Zeit, aber sie kommt, denn es ist einmal so bestimmt; aber er hätte nicht sagen können: daß oft uns ganz fremde Personen in unser Leben entscheidend eingreifen, daß bei ihrem ersten Anblick unsere Seele lautlos ruft: Der ist's, oder Die! Er hätte nichts gewußt von Prädestination, er hätte nicht das dämonische Flüstern gehört, das in unser Ohr raunt und die Seele erbeben macht, naht sich plötzlich eine Erscheinung, die bereits früher in unsern Träumen gewirkt und gelebt hat.

Es ist nur zu wahr, daß wir gewisse Ereignisse, die augenblicklich außer der Möglichkeit und Fernsicht unserer Verhältnisse liegen, dennoch vorherfühlen, ohne diesem Gefühl einen festen, bestimmten Ausdruck, einen sichern Farbeton geben zu können, es umwallt uns wie der Dunstkreis einer drohenden Wolke. –

Georg empfand von dem Allen etwas, und zermarterte sich vergeblich, in's Klare zu kommen. Er lauschte, da ihm der Vater befohlen hatte, nicht auf die Hausflur zu treten, an der leise geöffneten Thür, die dahin führte, in der Hoffnung, die Dame im Vorübergehen näher betrachten zu können, sein Vater und der Fremde vereitelten aber diesen Versuch, indem sie neben der Dame einhergingen und zwar auf der Seite, wo Georg stand, und die Dame überdies ihren Schleier noch immer nicht zurückgeschlagen hatte. Später hörte Georg die Beiden die Treppe herabkommen und den Wagen davonfahren.

An seine Kammer grenzte, nur durch eine Wand getrennt, die Stube seines Vaters, hatte aber mit dieser keine Verbindungsthüre. Als Georg hörte, daß sein Vater Anstalt machte, sich zur Ruhe zu begeben, verhielt er sich still, als ob er es bereits gleichfalls gethan hätte; ihn floh aber der Schlaf, und als er nach einiger Zeit glauben mochte, daß er es ohne Besorgniß des Gehörtwerdens wagen könne, schlich er leise durch die Werkstatt über die Hausflur, öffnete geräuschlos die durch einen Riegel geschlossene Thüre, und trat in's Freie hinaus.

Es war schon spät in der Nacht. Ein leiser Wind hatte sich erhoben und spielte mit den dürren Blättern, die, herabgefallen von Kronen und Aesten, auf und nieder tanzten. Durch die in banger Erwartung zitternden Bäume zogen die geheimnißvollen Schauer des Herbstes und schüttelten das welkende Laub, bis es, losgerissen vom Stamm, rauschend in der Dunkelheit verschwand. Durch die verdorrenden Aeste ging ein dumpfes Aechzen, das in anschwellender Klage durch den Wald weiter und weiter zog, bis es sich an starren Felswänden brach. Hie und da huschte ein einsamer Vogel von Baum zu Baum und suchte sein verborgenes Lager; in der Ferne erklang das heisere Geschrei eines Raben und weckte den einförmigen Ruf des Kukuks, der schlaftrunken auf der höchsten Spitze einer Tanne erwachte. Der Mond ging auf und warf einzelne Lichtstrahlen herab, neidische Wolken, die eilend von Osten nach Westen zogen, hemmten die volle Entwicklung seines magischen Glanzes. Die Sterne waren fast gänzlich verhüllt. –

Nach und nach wurde es ganz still, das Geschrei der Vögel verstummte, nur das Flüstern in den Bäumen dauerte fort, der vernichtende Hauch des Herbstes berührte sie unfaßbar und demüthig neigten sie ihr Haupt, das seinen schönsten Schmuck, tausende von Blättern verlor. –

Georg athmete in langen Zügen die frische Waldluft und schritt unhörbar auf die entgegengesetzte Seite des Hauses, von wo er das ganze Gebäude übersehen konnte. In den oberen Fenstern brannte das Licht noch fort, er bemerkte einen hin- und herschwankenden Schatten und stellte sich aus Furcht vor der Verrätherei des eben hervorblickenden Mondes hinter den Stamm einer gewaltigen Eiche. Von hier aus konnte er deutlich wahrnehmen, wie die Fremde dicht ans Fenster trat und lange hinausblickte in die wilderregte Natur. Ihre Züge konnte er nicht erkennen, die Vorhänge warfen ihren Schatten über die ganze Gestalt.

Was hätte nicht Georg Alles hingegeben, hätte er an ihre Seite eilen, vor ihr niederknieen können und sagen: ›Du scheinst mir unglücklich, ich bin es! laß uns gemeinsam den Kummer tragen, erzähle mir Deine Sorgen, vielleicht kann ich Dir helfen!‹

Er fühlte seine ganze Seele gehoben, er wußte es, jetzt in diesem Augenblicke, daß sie Gefahr umschwebe, und schon wollte er, angespornt durch eine unsichtbare Macht hinstürzen und sie anrufen, als er unfern von sich das Knistern von Fußtritten vernahm und gleichzeitig die Fremde vom Fenster trat, die Vorhänge zuzog und das Licht verlöschte. Mit einem leisen, kaum hörbaren Seufzer, zog er den schon erhobenen Fuß zurück und lauschte gespannt dem jetzt stärker vernehmbaren Rauschen. Eine unsägliche Angst kam über ihn, nicht für sich, nur für sie, die Unbekannte, aber gewaltsam sprach er sich Muth zu und bückte sich, im heimlichen Instinkt hinter das ihn umgebende Gesträuch.

Kaum hatte er sich hier verborgen, als die Straße vom Dorfe her, zwei Männer dicht an ihm vorüber gingen, stehen blieben und sich vorsichtig überall umsahen. Georg konnte sie deutlich erkennen. Der Eine war jung, groß, schlank und in Jagduniform; der Andere schien dem Bauernstande anzugehören, wenigstens deutete Alles darauf hin, der Anzug, die gedrungene, kräftige Gestalt, die starken gebräunten Züge des Gesichts und die derbe Redeweise, wie sich aus einem kurzen leise geführten Gespräch herausstellte.

»Das Nest ist bereits geschlossen,« brummte er, »und wir haben das leere Nachsehen. 'S ist doch ein verteufelter Kerl dieser R…« – er nannte einen Namen, den Georg nur halb verstand. –

»So bleibt nichts Anderes übrig,« erwiderte der Jüngere, indem er sein Gewehr von der Schulter nahm und sorgsam die Pfanne prüfte, »als das Haus zu überfallen und mit Gewalt einzudringen.«

»Seid Ihr denn aber auch gewiß überzeugt,« zögerte der Andere, »daß sie hier ist? Kann sie nicht nach Friedberg oder in ein benachbartes Dorf gebracht worden sein?«

»Nicht doch, ich habe ja den Brief und verfolgte den Wagen, so weit ich konnte. Daß Eure Mähre den Hals brach, verzögerte das ganze Unternehmen.«

»In das Haus können wir aber heute nicht,« entgegnete der Bauer, »die Schmiede sind grobe Gesellen und wir sind Ihrer nur zwei; auch der Mond macht ein so verteufelt neugieriges Gesicht, daß wir lieber noch einige Tage warten, bis er sich ganz verkriecht. Seid gescheit und befolgt meinen Rath.«

»Wo sollen wir aber bis dahin uns aufhalten?« wandte der Jüngere ein.

»Laßt mich nur machen, ich kenne Winkel und Plätze genug im Gebirge,« versicherte der Bauer, »einige Tage früher oder später machen nichts aus. Kommt, wir wollen uns wenigstens die Hausgelegenheit ein wenig betrachten.«

Der Jäger wollte noch etwas einwenden, sein Begleiter blieb aber bei seiner Ansicht und zog ihn mit Gewalt fort. Sie gingen einige Schritte, blieben wieder stehen, indem der Jüngere fragte: »wo mag nur ihr Zimmer sein?« –

»Nun, wo denn sonst, als da oben,« lachte der Bauer, indem er einen Stein aufhob und gegen die Fenster warf, »kommt, kommt, jetzt wird es bald spuken, der Hofhund könnte uns verrathen und zwischen die Beine fahren.« –

Georg war unentschlossen, was er thun sollte. Es drängte ihn, hervorzustürzen und über die Beiden herzufallen, aber er bedachte zugleich, daß er wehrlos sei und gegen zwei Bewaffnete, denn auch der Bauer trug eine Büchse, nothwendig unterliegen müßte. Er hatte Geistesgegenwart genug, um sich zu sagen, daß mit seiner Niederlage, die trotz seiner bedeutenden Körperkraft vorauszusehen war, es den Beiden ein Leichtes sein würde, in das Haus zu dringen und die Dame zu entführen. Daß es auf diese abgesehen war, sagte ihm das Gespräch. Hätte der Jüngere sein Vorhaben gleich ausgeführt, so würde Georg natürlich keinen Augenblick gezögert haben, ihnen nachzuspringen, sich mit irgend einem eisernen Werkzeuge zu bewaffnen, den Vater zu wecken, und die Beiden entweder niederzuschlagen oder gefangen zu nehmen.

Leise bog er die Zweige des ihn verbergenden Gesträuches zurück, als sich die Fremden entfernten und beobachtete aufmerksam ihre Bewegungen. Er sah, wie sie sich von der graden Straße entfernten und den Weg hinter der Schmiede einschlugen, bald waren sie seinen Augen entschwunden.

Sachte trat er hervor und umging das Haus; er hörte nichts mehr. Einen Blick warf er noch hinauf nach den oberen Fenstern, dann begab er sich eben so vorsichtig, wie er gekommen war, in seine Kammer zurück. Lange floh ihn der Schlaf, verworrene Gedanken durchkreuzten seine Seele, und als er endlich zu entschlummern begann, verfolgten ihn halbwache Träume, das Bild der unbekannten Dame, die fremden, ihm eben so geheimnißvollen Männergestalten. Dazwischen durch fühlte er einen heftigen Schmerz, vor seinen geschlossenen Augen sah er den Jäger in den Armen einer schönen, bleichen Dame ...

 

Die Sonne stand schon hoch, als ihn ein heftiges Rütteln und die zornige Stimme seines Vaters erweckte. Rasch sprang er empor und kleidete sich an. Heute wollte die Arbeit aber nicht so gut von statten gehen, wie sonst, der Hammer wurde seiner Hand zu schwer, und es bedurfte einer nachdrücklichen Vermahnung des Vaters, bevor er sich von seinen Gedanken losreißen konnte. Er fragte sich fortwährend, ob er diesem von seinen nächtlichen Erlebnissen etwas mittheilen sollte; eine heimliche Scheu hielt ihn davon zurück. Er sagte sich im Stillen: ›ich allein will sie beschützen.‹

Als aber die Sonne immer höher stieg und Niemand die Treppe hinunter kam, wie er mit leiser Hoffnung erwartete, konnte er nicht länger die Frage unterdrücken: Wer denn die junge Dame bedienen solle? sie könnte sich doch nicht Alles allein besorgen.

»Für Dich,« herrschte ihm der Vater zu, »giebt es außer mir Niemanden im Hause! Bursche, hüte Dich, gegen Jemand davon zu sprechen.«

Georg schwieg, suchte aber aus der Schmiede zu kommen, um die Fenster beobachten zu können. Glücklicherweise kamen mehrere Bauern mit ihren Pferden, die sie beschlagen ließen. Als er vors Haus trat und den Huf eines verletzten, sehr schönen Hengstes, welcher ihm dadurch auffiel, untersuchte, erkannte er zu seiner nicht geringen Ueberraschung in dem Manne, der sich für den Besitzer des Pferdes ausgab, denselben Bauer, den er vergangene Nacht in Begleitung des Jägers gesehen hatte. Auf seine Frage, woher er komme? pfiff der Bauer mit verschmitzten: Lächeln eine bekannte Volksweise und entgegnete kurz: aus der Stadt. Es lagen viele Städte in der Umgegend, Georg konnte sich nun denken, welche er wollte, aber er war entschlossen die Möglichkeit einer Aufklärung sich nicht so leicht entgehen zu lassen.

Er verzögerte absichtlich die Arbeit und suchte den Bauer, der ihm doch mehr zu sein schien, wiederholt in ein Gespräch zu verwickeln. Es gelang ihm aber durchaus nicht und zu seinem Verdrusse bemerkte er auch noch, wie Jener heimlich nach den Fenstern, die ihm so wichtig waren, hinaufblinzelte.

Endlich war die Arbeit vollendet, der Bauer bezahlte, schwang sich lachend auf sein Pferd, rief: »auf Wiedersehn!« und jagte davon. Georg stand rathlos, in seinem Kopfe kreuzten sich viele Pläne, doch kam er zu keinen, Entschlusse.

Es wurde Mittag, es kam der Abend, von der Dame war nichts zu hören, noch zu sehen, die Vorhänge ihres Zimmers blieben fest geschlossen. Wie gern hätte er ihr einen Wink gegeben, wie gern ihr zugeflüstert: ›Seid auf der Hut!‹ Zu seinem Vater hatte er kein Vertrauen, auch fiel ihm dessen erste Begegnung mit dem Fremden wieder ein, er mußte auf eine frühere Bekanntschaft schließen, die mindestens, nach allen Wahrnehmungen, die er gemacht hatte, für seinen Vater keine angenehme gewesen sein konnte.

Indem er noch hin und her überlegte, trat die Bäuerin, die häufig bei ihnen verkehrte und manche Einkäufe für ihren Haushalt besorgte, in die Schmiede. Ein Lichtstrahl fiel in die Seele Georgs. Er hämmerte vor Freude auf das Eisen, das er bearbeitete, so gewaltig los, daß es zersprang und in Stücken herumflog.

»Ei, ei, Herr Georg« rief die Bäuerin, indem sie die Schürze vor das Gesicht hielt, um nicht getroffen zu werden, »was macht Ihr denn für Streiche. Wollt Ihr nicht, daß ich komme, so geh' ich wieder.«

Georg suchte sie, selbst erschrocken, zu beruhigen, während der Vater ihm einen zornigen Blick zuwarf und ihm befahl, die Arbeit einzustellen. Er müßte nach der Stadt, hieß es. Das war nun ein heftiger Donnerschlag für ihn, und sprachlos starrte er vor sich hin, wie seinen Ohren nicht trauend.

»Nach der Stadt?« wiederholte er zögernd.

»Soll ich Dir mit der Hand begreiflich machen, wohin?« schrie der Vater, indem er zugleich Miene machte, seinen Worten einen besonderen Nachdruck zu geben.

Georg trat zurück und sah ihm starr und bleich ins Gesicht. Zum ersten Male überlief ihn der Gedanke, daß der blinde Gehorsam des Kindes gegen die Eltern eine Grenze habe, daß eine immerwährende Nachgiebigkeit gegen Härte und Druck zur Knechtschaft und Unterdrückung führe, daß diese Tyrannei nicht gerechtfertigt sein könne vor Gott und Menschen – er war entschlossen, diesmal nicht zu gehorchen. Schon oft hatte er gefühlt, daß kein kindliches Band zwischen ihm und dem Vater bestehe, daß dieser ihn härter behandle, als er verdiente, aber er war zu keinem klaren Bewußtsein gekommen, jetzt stand es lebhaft vor seinen sichtbaren Augen: ›er geht zu weit, so behandelt kein Vater sein Kind! ich habe ohne Murren Alles ertragen, was er mir aufgebürdet hat, Hunger und Kälte, ja sogar Schläge, wo ich sie nicht verdiente, das darf nicht mehr fein, ich darf das nicht länger ertragen!‹

Mit thränenden Augen, aber entschlossen erwiderte er mit fester Stimme: »kein Schlag, Vater, es dürfte nicht gut sein, und ich kann diesmal nicht gehorchen!«

»Nicht? Nicht?« stieß der Schmied zähneknirschend hervor und griff, vor Wuth zitternd, nach einer naheliegenden Stange Eisen, »so will ich Dir wenigstens die Knochen im Leibe zerschlagen!«

Mit beiden Händen packte er den Stab – Georg stand regungslos und erwartete den tödtlichen Schlag – die Bäuerin schrie entsetzt nach Hülfe und eilte hinaus – der Vater holte weit aus – da trat zwischen ihn und Georg hochaufgerichtet, mit erhobener, abwehrender Hand eine weibliche Gestalt.

Erblassend ließ der Schmied langsam das schwere Eisen zu Boden sinken. Es arbeitete furchtbar in seinem Innern, krampfhaft hob sich seine Brust, die Augen rollten wild von einem Gegenstande zum andern. Georg stand noch immer regungslos, dann fiel er auf die Kniee und sah mit leuchtendem Blick auf die schöne, so plötzliche Erscheinung. Schüchtern trat auch die Bäuerin wieder herein, die durch ihr Hülfegeschrei die Veranlassung gegeben hatte, daß die Dame herabgeeilt war und durch ihr entschlossenes Dazwischentreten vielleicht einen Mord verhütete. Trotz ihrer nicht geringen Schwatzhaftigkeit, die sich gern in einem: ›Gott sei Dank! es ist glücklich vorüber!‹ Luft gemacht hätte, wagte sie doch nicht das allgemeine Verstummen zu unterbrechen. Niemand hatte Worte, die Erschütterung war zu mächtig gewesen, als daß sie so leicht hätte besiegt werden können.

Auch die Fremde, wie selbst erschrocken über ihre gefährliche Kühnheit, verblieb noch in ihrer Stellung und wurde dann so schüchtern, daß sie kaum aufzublicken wagte. ›Wie ist sie doch so schön!‹ dachte Georg, und in der That, sie war es. Der Spiegel der Seele, ihre dunklen, wunderbar lichten Augen sagten: ›hier ist ein edles, frommes Gemüth!‹ damit harmonirte alles Uebrige. Eine Fülle der schönsten, dunkelblonden Haare lagen gescheitelt auf einem Haupte, das wie von einem Heiligenschein umstrahlt schien, die Gestalt war edel und schlank, die Züge ihres Antlitzes sämmtlich von einem Gepräge, das der Meister der Schöpfung nur sparsam zu gewähren scheint, denn man begegnet solchen Zügen so selten, und geschiehts, daß man ihnen begegnet, ist das Bild bereits ein getrübtes, angehaucht von dem Jammer oder der Verirrung des irdischen Lebens. –

Georgs Vater faßte sich zuerst, zögernd warf er das Stabeisen von sich und richtete einige Worte der Entschuldigung an die Fremde. Aus seinem Blicke sprach aber keineswegs Versöhnung und Vergebung, er fiel vernichtend auf seinen Sohn, der ihn auch zu gut kannte, als daß er sich damit Hoffnung gemacht hätte.

Georg war aufgestanden; es drängte ihn, jetzt alle seine Befürchtungen auszusprechen, der Dame zu sagen, daß ihr Gefahr drohe, daß er sie beschützen, sie retten wolle, aber es fehlten ihm die Worte; demüthig und zitternd, durchbebt von einem Gefühle, das ihm bis dahin fremd war, das alle seine Pulse elektrisirte, das ihn mit ungeahnter Seligkeit erfüllte, blickte er stumm und regungslos auf den Boden, während sein Herz in Ueberfülle der Empfindungen hätte zerspringen mögen.

Auch machte sein Vater das Vorhaben unmöglich, er trat zwischen Georg und die Dame, indem er diese bei der Hand ergriff und mit gesuchter Höflichkeit bat, wieder auf ihr Zimmer zu gehen.

»Wenn Sie etwas brauchen,« fuhr er fort, indem er auf die Bäuerin zeigte, die an der Thür gelehnt stand, »so wenden Sie sich nur an diese Frau, sie wird Alles besorgen.«

Die Dame schickte sich zum Gehen an, hielt aber, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, nach wenigen Schritten inne und kehrte sich zu Georg mit der Frage:

»Könnten Sie wol eine Bestellung für mich ausführen?«

Freudig wollte dieser zusagen, als ihn der Vater mit der Bemerkung unterbrach:

»Wenn Sie etwas wünschen, so wenden Sie sich an mich.«

»Ach, ich vergaß, daß ich hier eine Gefangene bin!« erwiderte die Dame leise und zitternd und eilte die Treppe hinauf nach ihrem Zimmer.

Der alte Schmied und auf seinen Wink die Bäuerin folgten. –

Georg hatte die Worte vernommen, trotzdem, daß sie kaum hörbar gesprochen worden waren. Es stand bei ihm fest, Alles für die Dame zu thun, selbst mit Aufopferung seines Lebens. Ihr Anblick hatte ihn wunderbar ergriffen und mit einer Thatkraft erfüllt, die keinen Widerstand mehr kannte. Eine dunkle Stimme sagte ihm aber auch, daß er keine Zeit mehr zu verlieren habe, daß er sogleich handeln müsse. Sein Vater, das fühlte er, war sein Feind, er stand im Kampfe gegen das Bild seines Herzens, das heller und heller strahlte, je mehr er sich den gehabten Eindruck wiederholte, und auch diesen zu vernichten, wenn es sein müßte ... er bebte vor diesem entsetzlichen Gedanken zurück, es überlief ihn kalt ... aber er sagte: ich muß!

Er warf den Hammer, den er eben ergriffen hatte, um mechanisch die aufgetragene Arbeit zu vollenden, von sich, daß der Boden dröhnte und krachte, und eilte auf sein Zimmer. Georg konnte schreiben, schlecht und recht, er ergriff eine alte, lange nicht gebrauchte Feder und schrieb einige Worte auf ein altes, vergilbtes Stück Papier, das er dann sorgfältig in seinem Schurzfell verbarg. Dann trat er wieder hinaus in die Schmiede und schürte das Feuer auf dem Heerde, daß es sprühte und flammte und lodernd die Esse hinauf fuhr. Sein Vater trat ein, er bemerkte Georg nicht, oder wollte ihn nicht bemerken. Auch sagte er kein Wort, als ihm dieser dicht zur Seite trat und von einem Gesimse ein Stück Eisen herunterholte. Stumm arbeiteten sie nebeneinander.

Georg horchte mit banger Erwartung auf die Zurückkunft der Bäuerin. Eine Stunde verging, sie kam nicht. Draußen erhob sich ein Sturm, wie er nicht selten in jenen Gebirgsgegenden wüthet. Die Bäume schüttelten sich, als wollten sich ihre Wurzeln trennen, ein Stöhnen ging durch den Wald, als wäre hier der ganze Jammer der Menschheit auf der Flucht. Der Regen goß in Strömen herab und prasselte auf das Dach, als sollte dieses bersten und das ganze Gebäude aus seinen Fugen gerissen werden. Einzelne Sparren fielen durch den Schlot und jagten das ersterbende Feuer wieder empor zur helleren Gluth. Stunde um Stunde verging, die Nacht war längst hereingebrochen, ein treuer Begleiter des Schauers, und ließ draußen nichts mehr erkennen.

Die Männer arbeiteten mechanisch fort, sie sahen sich nicht an, sie sprachen nicht, die einzelnen Schläge des Hammers wurden matter, aber sie harrten Beide aus; es schien, als wüßten sie, daß Jeder auf die Entfernung des Andern wartete. Endlich stellte der Alte die Arbeit ein. Ohne Georg anzusehen, rief er ihm zu: »die Bäuerin bleibt diese Nacht hier, ich gehe zur Ruhe.«

Georg athmete auf. Er folgte seinem Vater mit den Blicken, dann schloß er sorgsam die Thür, die auf die Straße führte und eilte nun gleichfalls in seine Kammer. Er wusch und kleidete sich um. Den Brief aus dem Schurzfell vergaß er nicht, in die Tasche seiner Sonntagsjacke zu stecken, er wollte ihn durch die Bäuerin übergeben lassen. Es geht nicht anders, murmelte er inzwischen, warum kam Katharina nicht herunter, ich hätte ihr so gern den Brief zugesteckt, nun bleibt nichts anderes übrig.

Er schlich sachte die Treppe hinauf und blieb lauschend oben stehen. Durch eine Spalte fiel ein Lichtstrahl aus dem Zimmer, welches die Dame bewohnte, er horchte, es regte sich nichts, nur das Wüthen des Sturmes dauerte fort ... er klopfte. Aufathmend wartete er ... es wurde nicht geöffnet, es blieb innen Alles still und ruhig.

»Man hat mich nicht gehört,« murmelte er und entschlossen griff er nach dem Drücker ... die Thüre ging auf; er blieb an der Schwelle stehen. Auf dem Sopha lag die Dame im weißen Nachtkleide und las. Vor ihr stand ein Tisch, auf dem zwei Wachskerzen brannten und ein helles Licht verbreiteten; Katharina, die Bäuerin, war nicht zu sehen.

Ueberrascht und sichtlich erschrocken, wandte sich die Fremde um und ließ das Buch aus ihrer Hand gleiten. Als sie in das ehrliche Gesicht Georgs blickte, schien sie sich etwas zu beruhigen, konnte aber ihre Verwunderung, ihn hier zu sehen, nicht ganz unterdrücken. Sie sagte ihm dies mit einigen befangenen Worten.

Georg blieb in seiner Stellung und erwiderte leise, nachdem er seinen ganzen Muth zusammengerafft hatte und doch am ganzen Körper, geblendet von so vieler Schönheit, zitterte:

»Fürchten Sie nichts! ich bin Ihr Freund, ich mußte Sie sprechen.«

»Und was haben Sie mir zu sagen?« fragte die Dame mit aufmunterndem Tone, indem sie hinzusetzte: »aber treten Sie doch näher!«

»Nein, lassen Sie mich hier,« bat Georg, »ich kann hören, wenn Jemand die Treppe heraufkommt. Aber wo ist die Bäuerin, die mit Ihnen ging?«

»Sie schläft hier nebenan in der Kammer, wo mein Bett steht,« entgegnete die Dame, »sie war etwas ermüdet und bleibt nun so lange bei mir, bis ich hier wieder abgeholt werde.«

Es fuhr Georg wie ein Messer durch's Herz, er faßte sich aber und erzählte mit gedrängter Kürze die Vorfälle der verwichenen Nacht. Er schloß mit den Worten:

»Seit dem Tode meiner Mutter, es sind dies fünf Jahre her, lebe ich in fortwährender Uneinigkeit mit meinem Vater. An wem die Schuld liegt, weiß ich nicht, ich habe mit Willen nie etwas gethan, um ihn zu kränken, zu ihm kann ich also kein Vertrauen haben. Es thut mir recht weh, das sagen zu müssen, denn wenn ich auch gefehlt haben mag, so fühle ich es doch dunkel, daß Vergebung etwas Schönes sein muß und daß zwischen uns keine Liebe besteht, wie es doch am Ende geboten ist in der Stellung eines Vaters zu seinem Kinde.«

Die Dame war sichtlich überrascht von der letzten, schlichten Bemerkung Georgs, und hätte dieser eine schärfere Beobachtungsgabe gehabt, so würde er bemerkt haben, daß sie tief erröthete bei der Erwähnung des Jägers, der in voriger Nacht um die Schmiede gegangen war, ja, daß sie Mühe hatte, einen leisen, freudigen Schrei zu unterdrücken, der sich in einem helleren Leuchten des Auges verlor.

Nach einer kurzen Ueberlegung stand die Dame auf und trat Georg näher.

»Unsere Begegnung ist so wunderbarer Art,« sprach sie leise, »daß ich es verzeihlich finden würde, wenn Sie eine Erklärung wünschten. Sie fordern diese nicht, haben mir aber einen Beweis Ihrer Theilnahme geschenkt, und es ist billig, daß man diese überall ehre, selbst da, wo sie uns weniger angenehm entgegen tritt. Die Menschen fliehen sich oft und wenden solchergestalt sehr häufig ihrem eigenen Vortheil den Rücken. Ein geringes Vertrauen, ein kleines Entgegenkommen, wie könnte das manchmal großes Leid und Unglück verhüten! aber die Menschen werden bei der Geburt von dem blinden Geschicke in die Welt gesetzt, und diese Umarmung nimmt ihnen den größeren Theil der Sehkraft ihrer Augen! Ich lese etwas in Ihren Zügen, was mich Ihnen vertrauen heißt, Sie haben mir auch einen Beweis gegeben, daß ich es darf – ich will nicht ungerecht sein gegen Ihre Theilnahme. Selbst wenn ich annehmen könnte, daß die Redlichkeit, die aus Ihren Augen blickt, eine täuschende Maske sei.« –

»O nie, nie,« unterbrach sie hier lebhaft Georg, der sich Mühe gab, ihren Worten mit Verständniß zu folgen.

»Sie kommt so oft vor, diese Täuschung,« fuhr mit schmerzlichem Lächeln die Dame fort, »daß sie mich auch hier nicht überraschen, doch verwunden würde, denn Sie sind ein Sohn des Waldes, ein Kind der Natur, und ist man übersättigt von dem Jammer, dem Elend und dem geräuschvollen Leben in der Stadt, thun Worte, aus denen der Reiz der ungeschmückten Wahrheit klingt, sehr wohl. Ich brauche Hülfe, ich nehme sie von Ihnen an!«

Georg fühlte etwas, wie die Kraft eines Giganten in sich, aber vergebens rang er nach Worten, die das ausdrücken sollten, was er empfand. Er hätte die ganze Welt zum Kampfe herausfordern mögen, so gestählt fühlte er sich, so erhaben durch die einfach gesprochenen Laute: ›ich nehme die Hülfe von Ihnen an!‹ Er war schön anzusehen, wie er dastand, gewaltig, wie die Säulen des Waldes, glühend, wie der sardische Talos, dessen Umarmung Tod und Verderben brachte, Vernichtung im Auge, die Trümmer der Welt im drohend gehobenen Arm!

Der Dame entging keine seiner Bewegungen, mit innerer Befriedigung, die sich durch ein leichtes Lächeln auf den schwellenden Lippen verrieth, betrachtete sie den Sohn der Natur, den ein einziges Wort, das sagte sie sich still, zu ihrem gehorsamen Sklaven machen konnte. Sie ergriff den Widerstrebenden, der ihr gegenüber dem Gewicht einer scheuen Ehrfurcht unterlag und zog ihn fast gewaltsam neben sich auf das Sopha. Plötzlich fiel ihr aber wieder die Bäuerin ein und schnell eilte sie in das nebengelegene Kabinet, um sich von ihrem Schlafe zu überzeugen. Beruhigt kehrte sie zurück.

»Hören Sie mich an Georg, nicht wahr, Sie heißen so?« begann die Dame, indem sie die herabgebrannten Kerzen durch neue ersetzte.

Georg nickte bejahend mit dem Kopfe, ohne sich weiter zu erkundigen, woher sie das wußte.

»Ich weiß das von Ihrem Vater selbst,« erläuterte auch sogleich die Dame, »und liebe diesen Namen« – Georg durchzuckte es fieberhaft – »er erinnert mich an einen Bruder, der mir nun längst gestorben ist, doch wozu die Zeit mit Erinnerungen verknüpfen, die hier nur Wichtigeres verdrängen würden! Sie wissen, daß mich mein Vater hierherbrachte, daß dieser den Ihrigen kannte. So viel ich davon erfahren habe, datirt sich diese Bekanntschaft aus einer häßlichen Geschichte. Der Mann, dem Sie das Leben verdanken, war in seinen jüngeren Jahren Kassendiener bei dem Banquier Reinstem, bei dem zu gleicher Zeit mein Vater als Buchhalter angestellt war. Erlassen Sie mir jede weitere Erklärung, ich will das Schlimme nicht in Worte kleiden, aber denken Sie auch nicht das Schlimmste,« ergänzte sie schonend, »es waren Fehler der Jugend, deren größte Schuld wol auf meinen Vater, als dem Urheber fällt.«

Georg stützte in beide Hände den Kopf und blickte vor sich nieder. Daß sie das sagte, that ihm unendlich weh, er hätte so gern rein vor ihr dagestanden, und die Schuld seines Vaters fiel doch auch auf ihn!

Die Dame ehrte seine Gefühle durch ein kurzes Stillschweigen, fuhr aber bald wieder fort:

»Georg, ich muß fort von hier, wenn möglich noch diese Nacht. Mein Vater ist hart und grausam gegen mich, und ich kann das nicht länger ertragen. Es ist schlimm, wenn das ein Kind sagen muß, aber urtheilen Sie selbst! Aus der Residenz kommend, hielten wir uns einige Wochen in Warmbrunn auf. Ich lernte dort einen jungen Mann kennen, der mir die achtungsvollste Aufmerksamkeit schenkte. Mein Vater, der andere Pläne mit mir vor hatte, sah diese Theilnahme mit mißgünstigen Augen an, obwol ich Ihnen versichern kann, daß von meiner Seite nicht die geringste Befürchtung vorhanden war, diese Pläne zu vereiteln. In der Einförmigkeit des Badelebens hascht man nach jeder Zerstreuung und in dieser Beziehung waren mir die Gespräche mit dem Freiherrn von Riehl sehr willkommen. Ich konnte aber trotz aller Versicherungen meinen Vater von der vorgefaßten Meinung nicht abbringen. Eines Morgens befahl er nur, meine Sachen zu packen und mich zur Abreise bereit zu halten. Kaum gewann ich Zeit, seinen Befehlen Folge zu leisten, als auch schon der Wagen vor der Thür hielt, der uns hierher brachte.«

Georg hatte mit wechselnden Gefühlen zugehört, bald wurde er roth, bald breitete sich eine fahle Blässe über sein Gesicht, wie unbewußt entschlüpfte ihm die Frage: »und nun?« –

»Und nun sollen Sie mich die paar Stunden Weges zurückführen nach Warmbrunn.«

Die Dame stand auf.

»Das Wetter ist furchtbar,« stammelte Georg.

»Eben deshalb; ich bin keinen Augenblick sicher vor der Zurückkunft meines Vaters. Findet er mich bei der Tante, die ich in Warmbrunn habe, und die mich nach der Residenz bringen soll, so wird er mir diesen Schritt vergeben. Ich kann nicht länger hier verweilen, und Ihre Einwendung gegen das stürmische Wetter, ist für mich nicht stichhaltig und kein Grund zum Bleiben. Sie sprachen von Verfolgern, in einer solchen Nacht wird man mich nicht auf der Landstraße vermuthen.«

Georg litt sichtlich unter den Eindrücken der eben gehörten Erzählung. Zu wenig mit der Welt vertraut und voll seines Glaubens für das Mädchen, zweifelte er nicht im geringsten an der Wahrheit ihres Berichtes, aber ein, ihm bis dahin unbekanntes Gefühl, die Eifersucht, bemeisterte sich seiner und folterte ihn entsetzlich. Er liebte zum ersten Mal, der Gegenstand seiner Verehrung war ihm unter so besonderen Umständen erschienen, er hatte sich daran geklammert mit aller Gluth der Jugend, und jetzt sollte er das Mädchen wieder verlieren, er sollte sie selbst den Händen eines Andern überliefern!

Ihm schauderte. Der Schleier vor seinen Augen war plötzlich gewichen, er hatte für die Unbekannte Theilnahme empfunden bei ihrem ersten Erscheinen, jetzt liebte er sie mit dem rasendsten Verlangen. O die Eifersucht ist eine furchtbare Eumenide! sie zerfleischt, wo sie sich blicken läßt. Es brannte vor seinen Augen, und doch wußte sie nichts von dem furchtbaren Feuer, das ihn verzehrte, dachte er!

Er hatte sich getäuscht, in den Frauen wohnt ein eigner Instinkt, der ihnen die leiseste Zuneigung verräth. Die Dame, die schöne junge Dame mit dem milden Angesicht, erkannte nur zu gut, was in der Seele Georgs vorging. Mitleid fühlte sie mit ihm, vielleicht noch etwas mehr, und erregt von dem Gefühle, lehnte sie sich auf seine Achsel und schaute ihm so bittend, so unwiderstehlich in das bleiche Gesicht.

Georg war trunken, verloren. Er sprang auf, preßte sie wie wahnsinnig an seine Brust, und obgleich er keinen Widerstand fühlte, erschrack er doch so sehr vor seinem rasenden Beginnen, daß er zitternd, bebend an allen Gliedern, niederfiel auf die Kniee und: »Vergebung! Vergebung!« stammelte.

»Nichts von Vergeben, nichts davon, Georg!« entgegnete sie liebreich, »nur lassen Sie uns eilen, wir müssen fort, Sie begleiten mich – vielleicht in die Residenz! Doch horch! hören Sie nichts?«

Georg, aufgesprungen, und wirbelnd vor Seligkeit, lauschte hinaus. Der Sturm brauste fort und schlug peitschend an die Scheiben des Fensters, daß sie klirrend erzitterten, die morschen Stäbe krachten und ächzten. Die Windsbraut zog gellend durch das Haus und rüttelte furchtbar an den Balken und Sparren, als wollten sie aus den Fugen springen und zog pfeifend wieder hinaus durch den Schlot, wo sie sich in der Luft mit dem Regen zu einem Heulen vermischte, das den grimmigsten Aufruhr der Natur verkündete. Die Wolken jagten über den Horizont, wie kämpfende Titanen und entluden sich in einem Gewitter, vor dem die stärkste Seele erbeben mußte.

Georg und die junge Dame, die ihm ihren Vornamen, Julie, zugeflüstert hatte, standen regungslos und erschrocken über die zunehmende Gewalt des Sturmes, die sie früher nicht beachtet hatten. Georg faßte sich zuerst und suchte die bange Furcht Juliens zu verscheuchen, indem er darauf hinzufügte:

»Sie sehen jetzt wol selbst die Unmöglichkeit ein, noch heute diesen Ort zu verlassen.«

»Der Sturm ängstigt mich nicht so,« entgegnete Julie leise, »mir wars, als hörte ich Jemand an der Thüre.«

»Nicht doch!« tröstete Georg, »es wird der Wind gewesen sein, oder sollte Katharina aufgewacht sein?«

Sie horchten Beide mit gespannter Aufmerksamkeit, hörten aber nichts als das Toben des Sturmes.

Etwas beruhigter, wollte Georg sich verabschieden, indem er versprach, über die Mittel nachzusinnen, die am besten ihre Flucht sichern könnten, Julie ließ ihn aber noch nicht gehen und beschwor ihn, sie nicht zu verlassen, bis der Sturm sich etwas gelegt haben würde.

Wie gern gehorchte Georg! wie gern setzte er sich wieder an die Seite des Mädchens, das nun von diesem und jenem zu plaudern anfing! Lächelnd über die gehabte Angst, schmiegte sie sich dichter an Georg, indem sie ihm ins Ohr flüsterte:

»Es ist doch ein eigenes Gefühl, das uns bei einem Gewitter beschleicht! Wir können uns, trotz aller Seelenstärke, eines Schauers nicht erwehren, wenn es so dumpf über unsern Köpfen rollt. Namentlich wir Mädchen, die wir von Natur furchtsamer sind, als die Männer, vergehen vor Angst, wenn uns nicht Jemand zur Seite ist, den wir lieb haben. Georg, ich habe Sie in dieser Stunde recht lieb gewonnen!«

Georg erbebte in innerster Seele, vor seinen Augen bildeten sich Ringe im rosenfarbenen Glanze, gaukelnde Bilder umtanzten ihn, seine Pulse zitterten fieberhaft, und schwankend zwischen Entzücken und der Furcht, zu beleidigen, streckte er, wie von einem Nebel umfangen, die Hand aus. Julie entwich ihm schalkhaft lächelnd ... er faßte auf den Tisch und ergriff einen dort liegenden Dolch. Bestürzt betrachtete er die blitzende Waffe – und blickte fragend Julie an. Sie entriß ihm dieselbe mit behender Gewandtheit und warf sie auf den Tisch.

»Es ist für den Nothfall,« lachte sie, »in dieser Einsamkeit kann man nicht genug Waffen bei sich führen; es ist ein Jagdmesser meines Vaters, der es wahrscheinlich aus Versehen mit eingepackt hat. Uebrigens,« setzte sie hinzu, »soll mir der Dolch trefflich zu Statten kommen, falls Herr Georg die Stunde mißbrauchen sollte ... wir sind so allein.«

Sie setzte sich wieder an seine Seite und spielte mit den Locken seines reichen Haares.

Nicht länger Herr seiner selbst, der Sinne nicht mehr mächtig, preßte er Julie heftig in seine Arme und drückte einen heißen, glühenden Kuß auf ihre Lippen., sie widerstand nicht ... lag mit geschlossenen Augen, hingebend an seiner wogenden Brust ... stammelte »Georg!« ... da wurde die Thür weit aufgerissen – Georgs Vater stand vor ihnen. –

Mit einem lauten durchdringenden Schrei stürzte Julie in die Kissen des Sophas, während Georg entsetzt, mit starren Augen aufsprang und dann wie gelähmt, angewurzelt stehen blieb, die Hand krampfhaft aufs Herz gedrückt, niedergeschmettert von der ganzen Schwere des verhängnißvollen Augenblicks.

»Also hier treff' ich Dich?« donnerte die Stimme seines Vaters, der bebend vor Zorn, näher trat, »hier muß ich ich Dich suchen? Wahrhaftig, Bube, Du verdientest, daß ich Dir mit einem Hammer den Schädel einschlüge!«

Georg antwortete nicht; so jäh, so furchtbar aus seinem Himmel gerissen, das war zu viel für seine Fassungskraft.

»Nicht umsonst,« tobte der Alte weiter fort, »sagte ich Dir, daß Katharina die Nacht hier bleiben würde, ich hatte eine leise Ahnung davon, daß es dem Burschen einfallen könnte, während ich schliefe, hier hinaufzuklettern; ich dachte, ich würde ihn dadurch abhalten und hieß die Katharina sich durch die Hinterthür entfernen, und dennoch dennoch ... Bursche, wenn Du Deinem Vater in den Weg treten willst, wenn es Dir einfallen kann, mir nicht zu gehorchen, sieh Bursche« ... er trat einen Schritt näher.

Georg antwortete nicht.

»Antwort! Antwort!« wüthete der Alte, indem er Georg heftig an den Schultern rüttelte, »Antwort! was willst Du hier? Was treibst Du hier? Sieh, Bursche, ich trete Dich mit Füßen, ich reiße Dir die Arme aus, wenn Du nicht sogleich gestehst!«

Georg antwortete noch immer nicht; seine Sinne waren wie gelähmt, es überlief ihn kalt, dann wieder so heiß, daß sich einzelne Schweißtropfen auf seiner Stirne bildeten. Vor seinen Blicken war es schwarze dunkle Nacht, nur leise, unklar durchrieselte ihn der marternde Gedanke: geschmäht vor ihr! O dann zuckte er auf, ein entsetzlicher Schmerz wühlte in seiner Brust, er hätte aufrasen und sich die Stirn an den Mauern zerschmettern mögen, aber die Schande legte dann wieder ihre eiskalte Faust auf sein Haupt und drückte ihn ohnmächtig zu Boden.

Der Alte hielt ihn noch immer an den Schultern gepackt und schrie ihn an:

»Hund! hinaus! hinaus aus diesem Zimmer, oder so wahr ich an den Gekreuzigten glaube, ich erwürge Dich! Hörst Du es,« brüllte er wie ein Rasender, den der Wahnwitz packt, »hörst Du es, Hund, ich erdroßle Dich!«

Georg durchzuckte es leise und schaurig.

»Hast Du's nicht gehört, Georg, ich erwürge Dich!«

Der Alte schüttelte ihn furchtbar – Georg antwortete nicht und blieb.

»Hei, Schurke,« lachte der Alte, daß es gellend durch die Räume klang, »Du willst nicht gehorchen – da!«

Mit eiserner Faust schlug er seinem Sohne ins Gesicht.

Georg zuckte leise, das Blut rieselte von seinen Wangen, er wischte es nicht ab, keine Bewegung verrieth seinen heftigen Schmerz, er sah auf, kalt, theilnahmlos ... sein Blick fiel auf den Tisch.

Der Alte, anstatt durch das herabströmende Blut seines Sohnes zur Besinnung zu kommen, gebehrdete sich beim Anblick desselben, wie das bei rohen Naturen fast immer der Fall ist, nur noch rasender. Mit einem heftigen Stoß schleuderte er Georg zurück und sprang auf Julien zu, die bis dahin regungslos, und wie es schien, ohne alle Theilnahme, in ihrer Stellung verharrt hatte. Sie mußte ohnmächtig sein, denn auch jetzt machte sie keine Bewegung, als sie der Alte beim Arm ergriff und, seiner Sprache kaum mehr mächtig, Georg stöhnend zuschrie:

»Sieh, Schurke, wenn Du nicht gehst, wenn Du nicht gleich das Zimmer verläßt ... Schurke ... ich sage Dir, ich schleife das Mensch hier die Treppe hinunter ... und zerre Dich nach ... ich sage Dir, geh!«

»Vater!«

»Das Wort nicht, ich verfluche Dich ... Du gehörst nicht mehr mir ... ich werfe Dich auf die Straße hinaus, Dich und Deine Buhlerin!«

Der Alte zerrte die Ohnmächtige empor, packte sie an den Haaren und riß sie auf den Boden.

Georg, der keine laute Empfindung für den eigenen Schmerz hatte, der über sich selbst widerstandslos Alles hatte ergehen lassen, raste bei diesem Anblick empor. Er sah Julien, kalt, leblos, der Sprache vor Schreck beraubt, mit aufgerissenen Kleidern, das glänzende reiche Haar gepackt von der Faust eines Wütherichs, der hohnlachend auf sie niedersah – der Dämon des Wahnsinns erfaßte Georg und schüttelte seine Glieder, daß sie sich dehnten und reckten, es blitzte furchtbar verlockend vor seinen Augen, in seinem Hirn wirbelte es, daß es springen wollte, das Blut in seinen Adern brauste auf, er glaubte, und wars nicht so? ... er horchte einen Augenblick, einen entsetzlichen Augenblick – er glaubte, eine schwache röchelnde Stimme, ihre Stimme zu hören – seine Hände faßten den Dolch, er sah einen Mörder, der ein Weib ermorden wollte ... er taumelte hin ... mit einem gellenden Schrei, zum Tode getroffen stürzte sein Vater zusammen ....

Georg lauschte mit geschlossenen Augen, wars ihm doch durch Mark und Bein gegangen, er bekam Furcht vor sich selbst, der Dolch entglitt seinen Händen. Er horchte, er wollte nicht sehen, sagte ihm doch eine bange Ahnung etwas Entsetzliches ... draußen wüthete der Sturm noch fort. Der Blitz hatte gewiß irgendwo eingeschlagen ... ein leises Lächeln flog über sein Antlitz, so leise, daß es bald wieder erstarb, so unmerkbar wie ein Sommerfaden an einer Trauerweide ...

Da hörte er seinen Namen, Georg, von einer Stimme, die lieblich in seine düsteren Träume hineinspielte, die er gehört hatte, als sein Herz die Sonne erkannte, die Sonne, die mit ihren Strahlen über seine verwelkten Blumen sprang, die ihm geleuchtet hatte in seine finsteren Jugendtage hinein. Die Blumen, die er aus dem Grün des Waldes, aus der Tiefe des murmelnden Baches in sein Inneres verpflanzt hatte unter dem schweren Drucke des Geheimnisses und unbekannten Sehnens, sie waren wieder aufgeblüht in herrlicher Schöne, bestrahlt von der leuchtenden Sonne, er mußte sie sehen die Sonne, die sie zum Leben erweckt hatte – er öffnete lächelnd die Augen – er taumelte mit einem Schrei des Entsetzens zurück.

Täuschung! Täuschung! wüthete er auf und zwang sich zu sehen, was er nicht glauben, nicht denken mochte. Es war nur zu wahr! Sein Vater lag leblos auf dem Boden, er hatte so eben geendet. Vor ihm kniete Julie, ganz überströmt von dem Blute des Ermordeten; sie weinte nicht, war ihr doch der Todte fremd, ihre Züge drückten keine Reue aus, kein Bewußtsein der Schuld, sie waren strenger, ernster ... nachdenkend ... sie mochte überlegen, was sie jetzt beginnen sollte.

Da rief sie plötzlich: »Georg!«

Er hörte nicht, er kauerte zusammengebrochen am Kopfe des Leichnams und wischte das Blut von den entstellten Zügen.

»Georg!! wiederholte sie lebhaft und aufspringend, »ein Wagen hält vor dem Hause ... man pocht ... man sprengt die Thür ... man kommt die Treppe herauf!«

Georg antwortete nicht, geduldig ließ er es geschehen, daß sie sich ängstlich an ihn klammerte, aber er stand nicht auf zu ihrer Unterstützung, er blieb an der Leiche des Vaters.

Die Thüre ging auf und drei Männer stürzten herein, blieben aber schaudernd und erschrocken stehen, als sie die Gruppe erblickten.

Julie wollte ihnen entgegen eilen, als sie in dem zuerst Eintretenden den Jäger erkannte, von dem sie Georg erzählt hatte, fuhr aber mit einem Schrei zurück, als Jenem noch zwei Männer folgten, die ihr nur zu wol bekannt waren. Der eine, derselbe, der sie hierher gebracht und den sie Vater genannt hatte, fragte, nachdem er sich etwas erholte:

»Was ist hier vorgefallen?«

Julie wußte nicht, was sie sagen sollte und stammelte unzusammenhängend etwas von einem unglücklichen Fall, den der alte Schmied gethan hätte.

»Es ist nicht wahr,« unterbrach sie Georg mit tonloser, leiser Stimme: »ein Sohn hat seinen Vater erschlagen!«

Die Männer erbebten. Georg fuhr fort:

»Ich betete eine Heilige an, seht Ihr, die dort mit den schönen blonden Haaren und dem frommen Madonnengesichte. Ich dachte, sie wäre unglücklich, und ich liebe die Unglücklichen, gehör' ich doch von der Wiege an zu ihnen. Ihr wißt das nicht, denn Ihr habt eine Mutter und keinen harten Vater, wie ich einen hatte. Er ist nun todt, erschlagen von mir, und deshalb will ich Euch nichts erzählen von dem, was ich erdulden mußte; aber er war sehr hart gegen mich, ich kann Euch sagen, so hart, daß ich oft verzweifeln wollte. So gingen meine Jahre hin, so wurde ich groß. Ich und mein Vater, wir sangen Lieder zusammen, aber die fromme Wirkung zerschlug der Hammer, der meinen Vater daran erinnerte, daß ich ihm nicht genug verdiente. Ich lebte sehr traurig; da kam am vorgestrigen Tage die heilige Madonna ins Haus. Mein Herz hatte noch nie geliebt; jetzt schloß es sich auf, ich lernte die Rosen lieben, die ich immer verachtet hatte, und verstieß die Veilchen, die ich draußen am Waldesrand immer belauschte. Die vergangene Nacht entdeckte ich, daß der heiligen Madonna Gefahr drohe; ich wollte sie warnen, ich kam herauf. Ich sagte ihr Alles und sie sprach: ›Georg, ich liebe Dich!‹ Mein Vater trat ein, es störte mich nicht, ich träumte fort den seligen Traum von Blumen und leuchtenden Sonnen, mich kümmerte nicht die Erde. Da ging mein Vater auf sie zu und ergriff sie bei den schönen blonden Haaren ... sie sind jetzt mit Blut genetzt und der Heiligenschein etwas erblichen ... da dunkelte es vor meinen Augen, ich griff um mich und stürzte dazwischen ... ein Sohn hat seinen Vater erschlagen!«

Gleich in Stein gehauenen Bildern, erstarrt, selbst nicht zu athmen wagend, hatten die Männer den entsetzlichen Bericht angehört. Weniger die Worte, aber der schwere, bleierne Nachdruck, mit dem sie Georg trotz des leisen Tones belegte, machte sie erbleichen. Sie wagten es nicht, ihn zu unterbrechen, als er nach einer kleinen Pause, die kein lauter Athemzug störte, wieder fortfuhr:

»Ich hatte die Madonna so lieb, o so lieb ... nun Ihr seht ja die Folgen davon ... mein Vater ist todt, er hatte mir nicht vergeben, er hatte vielleicht nicht Zeit dazu ... das Böse, das kommt immer so rasch. Wenn man in Aufruhr ist, und es stellt sich ein Mensch dazwischen, so schlägt man ihn todt ... es ist sehr schlimm in der Welt. Aber das Schlimmste ist und kommt nach der That. Auch ich sehe jetzt heller, es muß eine große Gewalt im vergossenen Blute liegen. Die Katharina ist nicht hier, längst fortgegangen, die schöne blonde Dame täuschte mich; sie wollte mit mir in dieser Nacht entfliehen zu dem Herrn dort, und jetzt kommt er mit Euch, der Ihr auch ein Vater seid ... Ich wollte, Ihr dürftet Euch nicht beklagen über Euer Kind ... ich glaube sie ist falsch Eure Tochter.«

Georg hielt inne und blickte mit unheimlichem Lächeln von Einem zum Andern. Mit beiden Händen hielt er den Kopf des Todten und rückte ihn hin und her, indem er dazwischen mit einer vom Weinen unterdrückten Stimme murmelte: »steh' doch auf! steh' doch auf!« –

Julie schien sich gefaßt zu haben und stand aufrecht, die Hand auf den Tisch gestützt, den Blick starr auf das flackernde Licht der Kerzen gerichtet. Von den drei Angekommenen ermannte sich der im Jagdkleide zuerst, wenngleich die andern Beiden bei der Stelle: ›ich glaube sie ist falsch, Eure Tochter!‹ ebenfalls in lebhaftere Erregung geriethen.

Der Baron von Niehl, so nannte ihn Julie, ein junger, schöner Mann, wandte sich zu seinen Begleitern mit den heftig hervorgestoßenen Worten:

»Verdient dieses Weib nun noch unsere geringste Theilnahme? Ich habe Ihren Erörterungen, Herr Gluden, die Sie mir in Warmbrunn machten, nur wenig Glauben geschenkt, obgleich diese Ihr Verwalter bestätigte. Auch war es mir verdächtig, daß Sie so viele Umstände mit einem Wesen machten, das nach Allem, was ich höre, zu den verächtlichsten ihres Geschlechtes gehört. Der Schmerz dieses Menschen« – er deutete auf Georg – »kann nicht mehr größer werden, wenn wir ihm wenigstens in der Hauptsache Manches erklären, vielleicht wird uns auch bald die Gelegenheit genommen, ihn ferner sprechen zu können, denn es wird nothwendig sein, daß den Gerichten von dem traurigen Vorfall Anzeige geschieht. Gehn Sie hinunter Herr Verwalter« – er wandte sich an den dritten Begleiter, denselben, der im Laufe des Tages in der Schmiede den Hengst beschlagen ließ – »und schicken sie den Kutscher hinüber ins Dorf. Sie bleiben wol gefälligst so lange bei den Pferden, bis dieser zurückkehrt.«

Der Angeredete ging. Der reiche Gutsbesitzer Gluden, der Julien in die Schmiede gebracht hatte, wollte Einwendungen machen, Herr von Riehl ergriff ihn aber bei der Hand und flüsterte ihm ins Ohr:

»Fühlen Sie denn nicht, dieser Mensch braucht Zorn, auftoben muß er vor Wuth, sehen Sie denn nicht, wie verglast seine Augen auf einen Punkt starren, wie er dem Wahnsinne ins schreckliche Antlitz sieht? Und Du,« wandte er sich an Julien, die herbeieilen und ihn im Sprechen verhindern wollte, »höre Deine Beichte: In einem verworfenen Hause, in einem Tempel der Demoralisation, fand Dich dieser Herr. Er führte Dich fort aus dem Hause der Schande und erwählte Dich zu seiner Begleiterin. Er brachte sie,« wandte er sich mehr an Georg, »der etwas aufmerksamer wurde, ohne daß er die Worte ganz verstand, – »in diesem Sommer mit nach Warmbrunn Hier lernte ich sie kennen und, wie Du, Sohn des Waldes, lieben. Sie gab mir keine Gelegenheit, an der Aufrichtigkeit ihrer Gesinnungen zu zweifeln, und sprach mir von ihrer Gegenliebe. Hierauf trat ich zu diesem Herrn, der sie für seine Tochter ausgab, und bat um ihre Hand. Sie wurde mir verweigert, aber aus welchem Grunde, mir nicht gesagt. Liebend und wieder geliebt, schrie ich über Tyrannei und verabredete mit dieser Heiligen eine heimliche Flucht. Das wurde verrathen, und an demselben Tage war sie aus Warmbrunn verschwunden. Verzweifelnd, trostlos, brachte mich ein glücklicher Zufall auf die rechte Fährte. Sie haben mich in jener Nacht belauscht, mich und meinen Begleiter. Jubelnd, voll heißer Sehnsucht die Stunde erwartend, wo ich meine Geliebte befreien und mit ihr entfliehen würde, kehrte ich in einem, eine kleine Meile entfernten Dorfe ein. Hier traf ich den Wagen dieses Herrn, ihn selbst. Ein guter Genius flüsterte mir zu, mich noch einmal offen an ihn zu wenden. Ich thats, da hörte ich denn das Schreckliche, was ich bereits erwähnt habe, hörte, daß dieses Weib mit der Engelsmiene, ihren Wohlthäter vor unserer Flucht bestohlen habe, hörte, daß dieses Weib bereits früher nach dem Tode ihrer Eltern aus dem Hause ihres Vormundes entflohen und sich in die Arme der Schande geworfen hatte. Ihre Heuchelei, ihre Verstellung hatten diesen Herrn, den Bruder ihrer Mutter, noch einmal bewogen, sich ihrer anzunehmen, zu erbarmen. Hier, bei Ihrem Vater, dessen Bekanntschaft mit diesem Herrn sich aus den Kriegsjahren herschreibt, sollte diese verächtliche Dirne ...«

Julie brach, krampfhaft auflachend, zusammen, Herr von Riehl hielt inne. Vor innerer Empörung zitternd, im leidenschaftlichsten Tone erzählend, hatte er seine Umgebung fast gar nicht mehr beachtet.

Georg hatte sich nach und nach erhoben, aus seinen Händen glitt der Kopf des Todten, er stand aufrecht, hoch emporgerichtet. Er bebte am ganzen Körper, aber in seinen Muskeln wohnte riesige Kraft, er wollte nicht schwanken. Die Arme streckte er in die Luft, als wollte er nach etwas Unsichtbarem fassen, die Augen traten aus ihren Höhlen, sein Haar sträubte sich empor und: »Magdalena!« ertönte es so gellend durch das Haus, daß seine Pfeiler erzitterten. »Magdalena!« wiederholte er dann hohl und geisterhaft, »Du hast gemordet, siebenfach gemordet, und ich lebe noch, Du lebst noch? O mein Kopf, mein armer Kopf, er möchte zerspringen, es braust darin, daß es Funken schlägt, sie schwirren vor meinen Augen, sie reihen sich aneinander und vor mir steht wieder: Du hast gemordet! Büßen kannst Du nicht Deine Verbrechen, Du hast den Glauben zerschlagen, aber den Heiligenschein reiße herunter, dieser fromme, milde Heiligenschein war es, der so garstig, so entsetzlich die ganze Menschheit betrogen!«

Georg schwankte, die Fremden sprangen hinzu, ihn zu unterstützen, er wehrte es ab.

»Lassen Sie mich!« bat er, »der entsetzliche Traum ist vorüber, mir ist wieder wohl, meine Brust frei. Bald werden die Diener des Gerichts kommen und mich fortführen, bleiben Sie nicht hier, es kann mir nichts nutzen und Sie kann es nur in eine Geschichte verwickeln, die so oder so verloren ist, gehen Sie!«

Die Männer sahen sich fragend an und überlegten, was sie thun sollten. Sie mußten sich gestehen, daß ihr Hiersein zwecklos sein würde.

Der ältere Herr trat dicht vor Julien und legte die Hand auf ihr Haupt, indem er sagte:

»Ich vergebe Dir, Kind meiner Schwester, lebe wohl! Nie sehen wir uns wieder. Du hast die Hülfe von Dir gestoßen, die ich Dir anbot, aber Du sollst nicht verzweifeln. Ich werde Jemanden hierherschicken, der Dich begleiten mag, wohin Du willst, er wird Dir die Mittel für Deine Existenz übergeben. Denke an Gott, an eine Vergeltung und wähle den Weg der Besserung, wenn Du kannst.«

Die Fremden entfernten sich, nachdem sie noch zuvor Georg herzlich die Hand gedrückt und einige Worte des Trostes hinzugefügt hatten.

Eine schauerliche Stille trat ein, man würde das Rieseln einer Sanduhr vernommen haben. Draußen tobte der Sturm mit erneuerter Heftigkeit, der Donner rollte in seiner ganzen Schwere.

Georg kniete wieder an der Leiche und hielt die Hände gefaltet, er schien zu beten.

Julie erwachte geräuschlos aus ihrer Lethargie, die sie jedoch nicht verhindert hatte Alles zu empfinden, und blickte um sich. Sie wagte nicht die tiefe Ruhe zu unterbrechen. Sichtlich kämpfend unter dem Eindrucke neuer Gefühle, stand sie endlich entschlossen auf und flüsterte näher tretend:

»Georg!«

Er gab keine Antwort.

»Georg,« fuhr sie fort, indem Thränen aus ihrem Auge stürzten, »ich habe Dir sehr weh gethan, kannst Du mir vergeben? Sieh,« sprach sie weiter, als er noch immer schwieg, »ich will Dir ja eingestehen, daß ich viel, sehr viel verschuldet habe. Ich sagte das noch zu Niemandem. Ich will mich auch nicht entschuldigen, obwol ich es vielleicht dadurch könnte, daß ich eine schlechte Erziehung gehabt habe, daß ich noch niemals Liebe fand. Früh verlor ich meine Eltern, ich hatte Niemanden, der sich meiner erbarmte. Ein harter, liebloser Vormund ward mir von Gerichtswegen bestellt, da sich Keiner freiwillig dazu verstehen wollte, für eine vermögenslose Waise Vaterstelle zu vertreten. Er selbst, ein Kaufmann in der Residenz, weihte mich ein auf dem Pfad des Lasters. Georg, ich habe entsetzliche Stunden gehabt, bittere Nächte durchkämpft, aber das Laster wird süß, wird man aus der Gesellschaft der Menschen gestoßen, man klimmt immer weiter und weiter, man wird blind unter dem strahlenden Schimmer einer glänzenden Außenseite, und gewahrt nicht eher den gähnenden Abgrund unter seinen Füßen, bis eine so fürchterliche Mahnung eintritt, wie diese. O dann sieht man klar, die geheimsten Fasern einer verdammungswürdigen Vergangenheit stehen in ihrer ganzen Blöße vor unsern Augen! – Ich war jung, schön, mit mancherlei geselligen Talenten ausgestattet, das war aber mein ganzer Reichthum. Ich fühlte den Werth eines unbelasteten Gewissens nicht, in der Gesellschaft von Männern, die nur dem Genusse opferten, sank ich von Stufe zu Stufe, der letzte Rest edler Weiblichkeit ging in mir verloren. Georg, es ist ein großer, entsetzlicher Verlust! die Selbstverachtung folgt ihm auf dem Fuße. Du, ein Sohn der Natur, hast mir die Augen geöffnet, und bebend sprech' ich es aus: O, wenn es noch nicht zu spät wäre, wenn ich durch Dich mir selbst zurückgegeben würde! – Sieh', der Bruder meiner Mutter liebte mich auch nicht, er lernte mich erst kennen, wie es zu spät war, und dann wollte er nur die Ehre seines Namens retten, der durch mich bereits befleckt war. Der einzige Weg, der im Strom der Schande ertrinkende Menschen retten kann, ist ja Liebe. O hätte er sich früher meiner erbarmt, hätte er früher die Ehre seines Namens bedacht! Von Liebe sprechen die Leute immer so viel, aber sie ziehen sich zurück, begehrt man ihre Hülfe. Ein einziges mildes Wort aus tiefer, theilnehmender Seele könnte oft unsägliches Elend in Freude verwandeln. Davon war bei mir nie die Rede ... Erst heute, durch Dich lernte ich die Bedeutung wahrer Liebe erkennen ... Dieses Licht aus, wie ich meinte, traumhaften Regionen, erhellte mich, ich fühlte unnennbare Wonne, aber es war zu spät. Der Druck der Verachtung und Schande verlöschten das Licht wieder und das Elend folgt mir in die Ferne.«

Georg stand auf, ein milder Schein umflog sein bleiches Gesicht. Er sah sie lange, innig an.

»Julie,« sprach er flüsternd, »wecke den Todten nicht mit Klagen, ich fühle sie nicht. In schlichten Worten will ich Dir sagen, was ich einst in einem Buche las. Es war eine Legende und es hieß: hat man sich in Liebe erschöpft, sammelt die Thränen der Freude ein Engel und trägt sie hinauf vor den Thron des Ewigen, der Mensch muß sterben, die Seligkeit ist nur das Eigenthum des Himmels. Ich habe Dich geliebt, ich muß sterben.«

»Georg!« weinte Julie, »edler, guter Mensch!«

Er ließ es duldsam geschehen, daß sie sich an ihn drängte, ihn mit ihren Armen umfing.

»Laß uns fliehen, Georg,« hauchte sie, »noch ist es Zeit, wir leben vereint in der Fremde! Gott wird mir vergeben und uns eine zweite glücklichere Heimath schenken, Du darfst nicht auf dem Schaffote sterben!«

»Nein, Julie,« entgegnete er sanft, aber fest, »ich werde mich der strafenden Gerechtigkeit nicht entziehen., doch horch!«

Ein Schlag erdröhnte, der das Gebäude in seinen Grundfesten erschütterte, ihm folgte ein langanhaltender Blitz, der züngelnd durch das Zimmer fuhr, das Haus stand in Flammen.

»Jesus Maria!« rief Julie, indem sie sich an Georg klammerte, »das Gewitter hat eingeschlagen!«

»Gottes Gericht!« jubelte dieser mit leuchtenden Blicken, sie fest in seine Arme pressend, – »die Schande hat kein öffentliches Zeugniß durch uns, wir sterben zusammen!« –

Das Feuer griff mit rasender Schnelle um sich, binnen weniger als einer Stunde war »die Schmiede im Wald« in Schutt und rauchende Trümmer verfallen. –



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