Ludwig Tieck
Der Schutzgeist
Ludwig Tieck

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Die Vorlesung war hier unterbrochen worden, denn der ungestüme Arzt hatte sich nicht abweisen lassen. Als er eintrat, sagte er: Verzeihung, da ich aber doch zurückkehre, mußte ich Sie, theure Gräfin, noch einmal sprechen. Er fühlte den Puls, schrieb ein Recept, sprach und verordnete, und ging dann auf Nachrichten und Neuigkeiten des Tages über. Neben so vielem Unglück, das sich jetzt zuträgt, fuhr er fort, ist denn auch neuerdings eine widerwärtige Geschichte vorgefallen, die ich Ihnen lieber selbst mittheilen wollte, damit nicht ein roher Mensch vielleicht Sie in Ihrer kranken Aufgereiztheit mit der seltsamen Neuigkeit verletze oder erschrecke.

In jener großen deutschen Handelsstadt, die nicht so gar entfernt von hier liegt, ist vor einigen Nächten ein furchtbarer Mord begangen worden. Ein Tischlermeister, 24 der schon seit Jahren in seinem Gewerbe zurückgekommen und tief verschuldet war, hat sich der Verzweiflung ergeben. Er war Witwer, aber Vater von fünf Kindern, zwei Knaben und drei Mädchen, alle unmündig, das älteste zehn, das jüngste kaum zwei Jahr alt. Den Nachbaren fällt es auf, daß seine Wohnung am Morgen so lange verschlossen bleibt, man bricht endlich die Thüren auf und findet ihn als Leiche, alle Kinder mit abgeschnittenem Hals und einen Zettel, in dem er sagt, daß er nicht anders sich habe helfen können.

Die Kranke seufzte tief auf, der Priester sah bekümmert zu Boden und der Arzt fuhr entrüstet fort: Alles die schrecklichen Folgen der Weichlichkeit unsers Jahrhunderts, einer falschen Humanität. Hätten unsre Gerichte nicht schon seit lange alle Verbrecher und Mörder, wo es nur irgend auslangen mochte, für Geisteskranke und Wahnsinnige ausgegeben, so wäre jener moralische Schreck, der wohlthätige Schauder vor dem Gesetz im Volke geblieben. Seit es aber Mode geworden ist, Mörder und Brandstifter für poetisch Aufgereizte, für Träumer oder Zerstreute auszugeben, die oft einem starken Antriebe, auch wenn sie wollten, durchaus nicht widerstehn können, seitdem hat sich Alles, was wir ehemals mit ganzer Seele verabscheuten, in eine Art von Curiosität verwandelt, die wir eben so neugierig, aber ohne moralischen Widerwillen, wie eine jede andere Rarität betrachten. Ist nun beim gemeinen Mann das Gewissen erst überwunden, so leistet ihm jene ehrwürdige grauenhafte Gestalt des Gesetzes, der Schande, des allgemeinen Abscheues keinen Widerstand mehr, ja es giebt Menschen, die aus Eitelkeit das thun, was vormals auf ein Jahrhundert den Menschen zum verruchten Bösewicht stempelte. Man sieht es aber auch endlich ein, denn die Gerichte haben sich sogleich versammelt, für die armen Kinder ein christliches, sehr 25 anständiges Begräbniß verordnet, wobei sich der ganze Rath und eine angesehene Bürgerschaft eingestellt hat, der Mörder aber ist, als wäre er noch lebendig, verurtheilt und sein Körper vom Henkersknecht auf ein Rad des Hochgerichts gelegt worden.

Die Kranke richtete sich auf und sagte: Ist es nicht sonderbar, daß sich dieselbe Geschichte schon einmal, und in derselben Stadt ereignet hat? Es werden jetzt ohngefähr zehn Jahr seyn, als ein Mord einer ganzen Familie gerade eben so geschah, und der Rath es damals auch für nothwendig hielt, den unglücklichen Vater unter beschimpfenden Ceremonien auf das Hochgericht zu werfen. Diese That hat also damals doch auch nicht jenen heilsamen Schrecken erregt, der aus ihr folgen sollte.

Der Arzt schlug es ab, im Schlosse sein Mittagsmahl einzunehmen, und als er sich entfernt hatte, sagte der Geistliche: Diese Geschichte, theure Gräfin, hat Sie mehr angegriffen, als es der Doktor bemerkt hat.

Ja wohl, erwiederte sie. Ich begreife die Menschen nicht, die gerade bei so ungeheuern Vorfällen, die mein Wesen in allen Tiefen erschüttern, gleich mit einem moralischen Urtheil so bei der Hand seyn können. Fühle ich mich in den Zustand des erbarmungswürdigen Vaters hinein, so vergehn mir alle Gedanken. Wie unsre Seele beim Anschaun großer Tugend und Aufopferung vor Wonne erschrickt und in einem Schwindel von Bewunderung hinauf entzückt wird, so geschieht etwas Aehnliches bei solcher übermenschlichen Unthat. Wir wissen uns nicht zu fassen und können nicht unterscheiden, ob Grauen, Schreck, Mitleid, Staunen oder Haß in uns mächtiger wirken, und da Alles, was von Menschen geschieht, auch als möglich in der eignen Seele ruht, so erfaßt uns ein Entsetzen vor uns selbst, das auf lange 26 allem Urtheil Laut und Stimme nimmt. In wiefern Gesetz und Richter anders fühlen und sprechen dürfen, ist eine andere Frage.

Ja, meine edle Freundin, sagte der Priester, darum ist auch der Stand des Geistlichen ein beneidenswerther, weil er eigentlich mit diesen Justiz- und Moral-Fragen nie etwas zu thun hat. Er darf im Verbrecher nur den gefallenen verirrten Bruder sehn, er vernimmt nur die Rede des Sünders und antwortet mit Sprüchen des Trostes.

Nur vergessen wir nicht, fiel sie lebhaft ein, daß jene Hexenrichter und die Inquisition, alle diese Foltern, Martern und Hinrichtungen im Namen der Religion auch von verbrecherischen verirrten Priestern ausgingen, die auf diesem Wege schon sehr früh ihrem Berufe untreu wurden.

Der Geistliche konnte nur mit einem Seufzer antworten. Ja diese Menschenopfer, sagte er dann, die immerdar unter neuen Vorwänden wiederkehren, von denen keine Zeit und kein Volk sich frei erhalten hat. Auch dieser schreckliche Irrthum liegt tief in unsrer Seele und Wand an Wand mit der Wahrheit. Wie wohl immer. Und eben dadurch ist der Fanatismus so gräulich und allmächtig. – Dieser arme Vater mordete seine Kinder in Verzweiflung, wie die Kirche Tausende in wildem Eifer für das Wesen, welches sie in Verruchtheit Gott schalten, mit kalten Formen und anmaßlicher Vernunft und gemißbrauchtem Gesetz gemordet hat. Die Kirche wollte sie auf ihrem Wege zur Seligkeit führen, und in ihnen den bösen Geist bestrafen: dieser unglückliche Vater mochte glauben und fühlen, daß ihm die eignen Kinder am nächsten standen, daß sie ihm mehr als dem sogenannten Staate zugehörten. Die finstre Stunde raunte ihm zu: daß wenn er es überdenken könne, was er that, kein fremdes Wesen darein zu reden habe. Sein Erbarmen mit 27 den Knaben und den noch ärmern Mädchen rieth ihm, sie gewaltsam und auf immer der Gemeinheit, der Schändlichkeit der Menschen zu entraffen, damit sie nicht sein Schicksal, oder ein noch schlimmeres erleben dürften. Nur in der Vernichtung sah er noch Rettung, mit den kalten Todesarmen drückte er sie noch einmal an das brechende Herz, ihr Erwürgen war sein letzter Trost.

Das ist das Elend der Menschheit, erwiederte die Kranke, daß der Unglückliche mitten in der bewegten Gesellschaft, die mit allen Wellen um ihn braust, oft so einsam steht, so ganz vergessen, ohne Anhalt, ohne allen Trost und Hülfe. Für ihn ist Senat und Stadt, Familie, Nachbarschaft und Alles, was zum Wohlsein der Menschheit gegründet und so künstlich zusammen gefügt ist, oft gar nicht da; er ist vergessener und verlassener, wie auf einer wüsten Insel, ja die Gesellschaft, die ihm helfen könnte, wüthet gegen ihn als ein ergrimmter Feind. Ich habe oft mit vielem Kummer darüber denken müssen, wie schwer es ist, vielleicht unmöglich, die ächte Humanität, die wahre Menschenliebe unter den Menschen einheimisch zu machen. Talent, Schönheit, hoher Stand werden in der Persönlichkeit aufgesucht, geachtet und jedermann schmeichelt dem Manne, der eines großen Rufes genießt. Wie beeifern sich alle, zu wohlthätigen Anstalten, Armenhäusern und dergleichen beizutragen. Es fängt schon an, eine Eitelkeit der Staaten zu werden, große, fast prachtvolle Gefängnisse dem Fremden vorzeigen zu können, in denen die Verbrecher zuweilen so gut verpflegt werden, daß sie es besser haben, wie der arbeitende Bruder, dessen Schweiß sie ernähren muß. Man ehrt sich, indem man diese Musterwirthschaften unterstützt, läßt seinen Namen eintragen und sich beloben, Reisende urtheilen von der Cultur, dem Wohlstande und der Menschenliebe des Volkes, je 28 nachdem sie diese Häuser prächtig, groß, die innere Einrichtung behaglich finden, und – wie sich der Mensch in unsrer Zeit leicht und gern für einen solchen allgemeinen Begriff einer solchen Anstalt begeistert, je weniger findet der einzelne Hülflose, der arme Mensch selbst in seiner bestimmten Erscheinung Ansprache und Mitleid. Die schöne allgemeine Illusion der großartigen Wohlthätigkeit wird durch sein armseliges Auftreten gestört, man wendet sich von ihm ab, und findet in der Regel die Prosa seiner Gegenwart unerträglich. Zuweilen begegnet es auch, daß der Trostlose, wenn er bei Reicheren Hülfe sucht, deren Hartherzigkeit er schon verschiedentlich erfahren hat, sich durch Wein oder ein starkes Getränk zu seinem sauern Gange stärken will. Nun wittert der wohlhabende Helfer aus der Atmosphäre nur einen Lüderlichen heraus, einen verschwenderischen Säufer, und meint in seiner abschlagenden herzlosen Kälte noch tugendhaft zu handeln, wenn er dem Laster keinen Vorschub gewährt. – Und nachher – wenn das Entsetzlichste geschehen ist – wendet man sich mit Ekel und Grauen wieder ab, und verurtheilt, verdammt, wo der Richtende vielleicht mit einer kleinen Hülfe wie ein rettender Engel in die Hütte des Elendes hätte treten können. – O diese bittern Thränen, die jetzt aus meinen kranken Augen dringen, sind das geringste Zeichen meines Mitgefühls, was ich über den unermeßlichen Jammer unsrer Erde äußern kann. Wie wird sich denn irgend einmal dies Weh ausgleichen können! – Kommen wir, Freund, zu Tauler zurück. Es war doch wohl zu hart, daß der Laie ihn geradezu einen Pharisäer nennen durfte.

Der Geistliche antwortete: Wir haben uns neuerdings angewöhnt, bei Pharisäer etwas gar zu Schlimmes zu denken, nehmlich egoistische Heuchler und Lügner. In der Schrift ist es aber nicht so gemeint. Der wahre Pharisäer kann 29 ein redlicher, gelehrter und tiefsinniger Mann seyn. Er forscht in der Weisheit, er meint von Gott begünstigt zu seyn, er ist selbst begeistert und von frommer Ueberzeugung durchdrungen. So erfreut er sich der Vorzüge, die er genießt, er ist stolz auf den Rang, den er unter den Gläubigen und Wissenden einnimmt, er betet aus vollster Seele und selbst ohne Uebermuth: Ich danke Dir, Gott, daß ich nicht so unwissend bin, wie jener, nicht so einfältig, wie der, nicht so abergläubig, wie ein Thor, von Dir fühle ich mich gesegnet und erwählt, daß Du meinen Geist gewürdiget und erhoben hast, und so bin ich ein von Dir ausgerüstet Glücklicher und Ausgezeichneter vor Tausenden. – Ein solcher Pharisäer war nach der Meinung des Laien auch jener fromme und gottselige Tauler. Er war noch nicht dahin gekommen, sich selbst aufzugeben, er war noch glücklich in seinem geistlichen Stolz.

Ich erschrecke! rief die Kranke aus; nach dieser Bestimmung müßten wohl viele unserer vortrefflichsten Theologen und ruhmwerthen Lehrer zu den Pharisäern gezählt werden. Und unsere neuern Frommen, nun gar die Pietisten, Bekehrten, Begeisterten, Christusbrüder und wie sie sich alle nennen mögen – wie weit möchten die allermeisten unter diesen zu laufen haben, bevor sie sich nur erst zu den Pharisäern zählen dürften.

Was der Laie verlangte, antwortete Theodor, und wohl an sich selbst erlebt hatte, dahin gelangen freilich nur wenige, und auch diese nur durch besondere Gnade. Und so ward es, nach schwerem Kampfe zwar, dem Tauler, von dem ich Ihnen jetzt lieber in der Kürze weiter mündlich erzählen will, als jene Blätter lesen, die mir doch etwas zu weitläufig gerathen sind. – Durch die letzte Predigt, die dem Laien so wenig genügt hatte, war Taulers Ruhm in der 30 Stadt noch mehr ausgebreitet worden. Er selber aber berieth sich mit dem Laien, suchte diesen zu verstehn und begriff es endlich, daß er auf einem falschen Wege gewandelt sei, der ihn nur um so mehr vom Ziele entfernte, je näher er diesem gekommen zu seyn wähnte. So verging ihm viele Zeit in innern Kämpfen. Jetzt erst fing er an, gewahr zu werden, wer er selber sei, und warum sich ihm der Gott entzogen habe, mit welchem er sich in so vertrautem Umgang zu stehn, in seiner Täuschung vorgebildet hatte. Dieses innere Erkennen geschah nicht auf gelinde Weise, sondern ihm war, als wenn sein ganzes Wesen zerbrechen sollte. Aller jener bunte, glänzende Trug fiel nieder, den er bisher für seinen Ruhm, für die herrliche Schönheit seines Wesens gehalten hatte, und er erschrak vor seiner Nacktheit. Furcht, Zweifel, Bangigkeit, Leerheit und Verzweiflung bemächtigten sich seines ganzen Herzens, je mehr sich die Tiefen der Gottheit vor ihm aufthaten, und ihm war, als sei die Liebe aus ihr auf ewig entwichen, ja ein furchtbarer Zweifel redete ihm zu, sie sei niemals gewesen, sondern nur ein lieblicher Trug des menschlichen Herzens, alles, alles sei nur seit Ewigkeit in sich selbst beschlossene Nothwendigkeit. So ward Himmel und Hölle eins, und er selbst in sich selbst vernichtet, ein blindes Werkzeug ohne Freiheit und eigne Kraft, ein Athem der Unermeßlichkeit, ein blind dienender eingeschmiedeter Ring in des Universums Kette des Aberwitzes und Unverstandes, ein stummer, tauber, blinder Sklave einer unbekannten, unsichtbaren tyrannischen Gewalt. In dieser Verzweiflung seiner Seele, in diesem Todesgrauen rang sich eine sanfte, schwebende Wehmuth empor, die auf ihren stets fließenden Thränen noch die schwache Erinnerung an die Liebe Gottes auf Wassern einsog, und nur in der tiefsten Trauer war er sich noch seines Lebens bewußt. Diese 31 Erschöpfung und Klage, diese Gestaltlosigkeit, dieser jammernde Tod der Hoffnung war jetzt seine Heimath.

Als sein Geist in dieser Gefangenschaft schmachtete, entzog er sich den Brüdern seines Klosters und allen Menschen. Predigen, Beichte hören vermochte er nicht, so daß alle, die in seine Nähe kamen, glauben mußten, er sei blödsinnig geworden. Priester und Laien zogen sich von ihm zurück, viele verachteten ihn, manche verlachten ihn, selbst in seiner Nähe, so daß er ihren Hohn und Spott vernehmen konnte, der ihm in seiner Einsamkeit wie aus einer weiten Ferne tönte. In der Stadt wie im Lande ward von Schwätzern bald das Gerücht verbreitet, der große Gottesgelehrte Tauler sei albern geworden, und seines Verstandes nicht mehr mächtig, was manche Böswillige als Folge eines geistlichen Hochmuthes auslegten, andre es der zu großen Anstrengung bei seinen Studien und den häufigen Nachtwachen zuschrieben. Er selber kümmerte sich weder um die Nahelebenden, noch Entfernten und er schien es kaum zu bemerken, wenn seine Brüder, die ihn vor Kurzem noch verehrt hatten, ihm kopfschüttelnd, stillschweigend vorübergingen, keiner ihn begrüßte oder anredete.

So waren fast zwei Jahre vergangen. Tauler war von den meisten schon ganz vergessen, und er galt allen, wenn sie von ihm sprachen, für einen Blödsinnigen, dessen Geist völlig verdunkelt sei. In dieser Stille hatte die Seele sich aber selbst wieder gefunden, und war in dieser Demuth und Selbstverläugnung gekräftigt und stark geworden. Er erkannte nun deutlich, warum sein voriger Weg ein Irrwandel gewesen sei, und Armuth bedünkte ihm jetzt, woran er sich damals als an Reichthum erfreut hatte. Er hatte in seiner innersten Seele erlebt, was in jener Zeit nur kalte Wissenschaft gewesen war, jetzt war ihm die Pforte der Ewigkeit erschlossen, und durch sein Herz rieselte und strömte der 32 Quell, welcher einzig den Durst, der sonst immerdar brannte, löschen kann. Die Geistlichkeit erstaunte nicht wenig, als Tauler sich nach so vielen Monden wieder ansagte, daß er beim nächsten Feste eine Predigt zu halten gedenke. Er wies alle ihre Einwendungen zurück und beharrte bei seinem Entschlusse, und sie, an seinem Wesen irre, gaben nach und ihre Einwilligung. Es ward in der Stadt bekannt, daß derselbe Tauler, der so lange für geisteskrank, ganz albern und blödsinnig gegolten hatte, wiederum als Lehrer und Verkündiger des Wortes zum Volke reden wolle. An dem bestimmten Tage war der Tempel so angefüllt und von Zuhörenden bedrängt, wie sonst niemals, denn die Neugier war unendlich gespannt, und es erschien fast wie ein Wunder, daß es der Blödgesinnte wieder wagen wollte, vor einer großen Versammlung als lehrender Priester aufzutreten. Tauler selber war muthig, denn er fühlte den göttlichen Geist, welcher ihn bewegte. Er bestieg die Kanzel, und sah jetzt die große Versammlung der Gläubigen, alle begierig, ein Wort des Lebens aus seinem geweihten Munde zu vernehmen. Nun übermannte ihn das Gefühl, wie er sonst an dieser Stätte gepredigt, wie unwürdig er damals gewesen, im Namen des Herrn zu lehren und seine Verheißungen auszulegen, wie er jetzt so großer Gnade sei gewürdigt worden und doch derselbe schwache sündige Mensch sei, den die göttliche Kraft zum Werkzeug auserkoren, nun die ewige Liebe zu verkündigen. Da überfiel ihn eine so innige, durchdringliche Wehmuth, daß ihm ein Thränenstrom aus den Augen stürzte. Die versammelte Gemeine ward auch gerührt, als sie dies Zeichen seiner Demuth sah, und Tauler suchte sich zu fassen, um die Gedanken wieder zu sammeln, die zu seinem Vortrage nöthig waren. Je mehr er aber in sich selber rang, um sein Gefühl zu bewältigen und Worte und 33 Accorde auszusprechen, um so schmerzlicher ward sein Gefühl, um so inbrünstiger seine Wehmuth, so daß sie sein ganzes Wesen bewältigte und er in Thränen sich aufzulösen schien und man nur statt der Reden ein lautes Schluchzen von ihm vernahm. Das währte so lange, daß die Gemeine endlich ungeduldig wurde und ein Mann aufstand, welcher ihm zurief, er möge sie nicht länger mit Verdruß warten lassen, sondern ihnen nun die versprochene Predigt halten. Aber es dauerte noch eine geraume Zeit, bevor Tauler vor Schluchzen und Weinen irgend ein Wort finden konnte, bis er endlich mit schwacher Stimme sagte: Lieben Kinder, vergebt mir, daß ich euch hier versammelt habe, ich kann nicht zu euch sprechen, so gern ich wollte, denn der Herr, dem ich mich ergeben muß, will es heut nicht zulassen, alle meine Gedanken gehen in Wehmuth unter. So heftig weinend stieg er von der Kanzel herunter und begab sich in seine einsame Zelle, ganz und gar seinem Schmerz dahingegeben. Nun erst hielten ihn die Brüder und Priester der Stadt so wie Bürger und Adel für einen Thoren, dem Geist und Vernunft völlig und auf immer entwichen sei. Die Priester der Kirche schämten sich seiner und machten ihm Vorwürfe, daß er sie dem Volke so bloß gestellt und ihren ehrwürdigen Stand beschädigt, ja den Tempel des Herrn gewissermaßen beschimpft habe. Er verantwortete sich nicht weiter, sondern vergoß nur stumme Thränen und fühlte, daß er dem Herrn folgen müsse und diesen gewähren lassen, wenn er ihn zum Thoren vor der Welt machen wolle.

So verging wieder eine geraume Zeit, in welcher Tauler still in seiner Zelle bei Tage und in stillen Nächten mit dem Geiste rang, eifrig im Gebet und in brünstiger Andacht. Jetzt hatte er sich völlig bezwungen, und eine stille Lauterkeit, eine Süßigkeit, wie aus dem Paradiese, ein 34 seliger Friede, wie er in den Chören der Engel herrscht, quoll durch sein Inneres und verklärte sein Wesen. So ging er einfach und ohne Zagen zu den Brüdern und eröffnete ihnen, daß er gesonnen sei, an einem der nächsten Festtage wieder zu predigen. Diese erstaunten nicht wenig über die Anmaßung und wollten ihm sein Begehren als eine Unmöglichkeit rund abschlagen. Er drang mit Bitten in sie und unterwarf sich gern einer Prüfung, um zu zeigen, daß er wohl zum Lehrer des Wortes unbedingt berufen sei. So versammelte sich der Convent und er trug ihnen eine Lection vor, die so tiefsinnig, beredt und gelehrt war, daß sie alle in Erstaunen über die Kraft und Macht seines Geistes versanken. – Am nächsten Sonntage verkündigte der Prediger der versammelten Gemeine, daß Tauler am Feste wiederum die Kanzel betreten würde und daß man hoffen könne, er würde diesmal seinem Berufe genügen, weil er der Brüderschaft einen tiefsinnigen Vortrag gehalten und das Schwerste auf einleuchtende Weise deutlich gemacht habe. Das Gerücht verbreitete sich, und, wo möglich war der Tempel noch gedrängter mit Wißbegierigen angefüllt, alle fest in der Meinung, sie würden wiederum als Zeugen der Unfähigkeit und Thorheit ihres ehemals verehrten Lehrers da sitzen. Wie Tauler jetzt die Kanzel betrat, war es allen, als glänze sein ehrwürdiges Antlitz von einem überirdischen Lichte. Er redete ohne Zagen, und so eindringlich, so wunderbar, daß alle fühlten, dergleichen Worte hätten sie noch niemals vernommen. Ein solches Entzücken ging durch die Versammlung, eine so brünstige Andacht bemächtigte sich der Gemüther, daß viele nach der Predigt in Ohnmacht sanken, oder, wie von Krämpfen ergriffen, in Freude zitterten und nur einzelne Worte zu stammeln vermochten. So war der Ruhm Taulers nun im ganzen Lande größer als jemals, und er lebte und wirkte noch lange zum Segen der christlichen Gemeine. Der Laie verließ ihn jetzt 35 und kehrte in seine Heimath, als er nun den frommen Mann in seinem christlichen Wesen, in seiner wahren Gottergebenheit befestigt sah, und in der Ferne vernahm er noch, wie das Volk ihren Seelenhirten immer mehr verehrte, und durch dessen Wandel und herrliche Beredsamkeit erbaut und gekräftigt werde. – –

Die Kranke hatte mit großer Aufmerksamkeit zugehört. – Und dieser Laie, wer ist er, was ist aus ihm geworden? fragte sie nach einer Pause.

Von diesem, antwortete der Geistliche, kann ich keine Nachricht geben. Er muß ein wohlhabender Mann gewesen seyn, vielleicht ein vornehmer, der wohl in der Geschichte jener Tage unter einem andern Namen auftreten mag. Er erzählt nur noch am Schluß seines Berichtes, daß ihm nach Jahren auf einer Reise der Geist Taulers erschienen sei. Dieser habe ihm gemeldet, daß sein Krankenlager ein langes und sehr schmerzliches gewesen sei, unendliche Versuchungen, Kämpfe und Zweifel habe er überstehen müssen, so daß selbst seine Freunde an ihm und seiner Frömmigkeit irre geworden wären. Doch sei dieser lange Todeskampf, dieses Ringen mit den bösen Geistern ebenfalls eine Gnade Gottes gewesen, denn dadurch habe er alle irdischen Schlacken völlig abgeschüttelt, in diesen schlimmen Tagen habe er alle früheren Sünden abgebüßt und sei gewürdigt worden, gleich nach dem Tode ohne Fegefeuer vor das Angesicht des Allerheiligsten zu treten.

Alle diese Berichte, sagte die Kranke, bewegen mich zu vielfachem Nachdenken. Dieses Durchdringen zu Gott, indem der Mensch eine Zeitlang alle seine irdischen und geistigen Kräfte fallen läßt und sich unbedingt in den Willen des Unsichtbaren ergiebt, um die Liebe zu finden, kommt fast bei allen Religionshelden, aber auch bei den meisten Ketzern 36 vor. Dieser Quiestismus ist zur wahren Frömmigkeit unentbehrlich, und doch ist die Linie sehr fein, und verschwindet vielen Augen wohl völlig, wo das Gebiet der Sünde, des Frevels, Wahnwitzes und der groben Verbrechen beginnt. Denn dicht an dieser sich vernichtenden Demuth liegt ein so furchtbarer Hochmuth, wie ihn die fromme Sage immer nur dem Fürsten der Finsterniß zuschreiben kann. Die Lehre, daß der in Gott Vernichtete nicht mehr sündigen könne, ist die Lehre aller Erleuchteten, und doch führt die kalte Consequenz in schändliche Sinnlichkeit, Stolz, Lüge und Versuchung, wie wir so oft in den Geschichten wahnsinniger Verbrecher oder wiederkehrender Irrender, die auch diese Versuchung überwanden, lernen können. Den Christen versuchen böse Geister, wenn er sich auf dem richtigen Wege zu Gott befindet, die Weisheit der Indier sagt, daß die hohen Götter selbst in Furcht stehen, daß der büßende Anachoret, der strenge ascetische Einsiedler, durch seine Frömmigkeit eine der Mächte von ihrem Throne im Tode stoßen könnte, sie selber senden darum dem Büßenden die Versuchung, um ihn zum Abfall zu reizen, wäre es auch nur die Verführung einer Sekunde. Die Heiligen dort glauben aber niemals, wie so mancher Ueberfromme der christlichen Kirche, daß die Sinnlichkeit und der Fall mit einer schönen Nymphe ihrer Würde und Frömmigkeit nicht schade, sondern eine irrende Minute vertilgt die Buße und den heiligen Wandel eines Jahrhunderts. Und so sind es immer wieder Bilder, die uns entgegen treten, wenn wir in den einsamsten Hallen der abstraktesten Gedanken zu wandeln wähnen. Wie alles Geschaffene, was uns umgiebt, uns Gestalt und Form entgegen hält, wechselnd, zerfließend, immer anders und doch eins, so ist auch unser Hoffen und Fürchten, unsre Andacht und der Glaube, das Unsichtbare und Undenkbare unerläßlich in 37 Gestalt und Form hineingebannt, und es ist mir lehrreich, wie dieser Laie seinen Tauler noch einmal sieht, als Geist oder Gespenst, um von ihm zu erfahren, daß ihm die Qual des Fegefeuers erlassen ist. Diese Erscheinung, diese Erklärung des Freundes war ihm und seiner Religion eine nothwendige Gestaltung, er mußte sie erleben – und – mag ich doch nicht sagen, daß es Täuschung war, – er konnte in solcher Erscheinung das nur fassen und sich selbst wieder sagen, was ihm das Göttliche war. Der Zustand nach dem Tode mag seyn, welcher er will, so erfordert er gewiß, daß der Mensch sich zu ihm vorbereite, oder sich dort in ihn finden lerne, um zum besseren emporzusteigen oder den schlimmern zu ertragen. So hat die Lehre vom Fegefeuer, in ihrem bildlichen Ausdruck, Sinn.

Wie alles, fiel der Geistliche ein, was seit dem Beginn der Zeiten begeisterte Gemüther geschaut und in wandelbaren irdischen Worten ausgesprochen haben. Wie alle Erscheinung, alle Gestaltung vergänglich ist und gleichsam im Verschwinden nur lebt, so ist sie doch eben dadurch auch ewig, denn bis zum Wurm hinab, bis zum dünnsten Moose auf der hohen Felsenklippe ist alles nach einer Vorgestalt, nach einer unsterblichen Idee sichtlich nach nothwendigem Gesetze empor gewachsen und jedes Fädchen der Schöpfung, jedes kleinste Insekt weiset auf einen Grundgedanken zurück, das Abbild auf das Bild, das Vergängliche auf das Unvergängliche. So sehn und wahrnehmen wir immerdar Orakel, und es ist ein großes Wort, wenn wir den Unsichtbaren den Allgegenwärtigen nennen, der uns in den Millionen Gestaltungen immerdar sichtbar ist, und sich als den Ewigen, Unvergänglichen im scheinbar Vergänglichen uns offenbart. Und so ist es mit der Offenbarung in Geschichte, Poesie, Gemüth, heiligen Schrift und Sage. Jedem tritt die ewige Liebe, wenn 38 er sie nicht von sich weiset, in der Gestaltung entgegen, die ihm am vernehmlichsten ist, auch in der Pflicht, Moral, der Arbeit, selbst dem sogenannten todten mechanischen Geschäft. Der Wege zu ihr sind unendlich viele. Keiner darf zu seinem Nächsten sagen, wenn dieser einen wahrhaften Beruf gefunden hat, dem er sich mit ganzem Herzen ergiebt: Auf diesem Wege ist Gott nicht zu finden! Alles, was der Mensch recht thut, mit aller Kraft ausübt, ist ein Gottesdienst. Die Offenbarung ist ein gewaltig großes Buch, und kein Blatt, wo es auch immer aufgeschlagen werden mag, ist leer und ohne Inhalt.


Die Untergebenen der Herrschaft waren sehr unzufrieden, daß der bejahrte redselige Geistliche sich so viel und lange im Krankenzimmer aufhielt, denn sie glaubten alle, daß er die Schmerzen der Leidenden erhöhe, und wohl gar ihren Tod beschleunige. Der Arzt selbst war nicht thätig, dieses Vorurtheil, welches alle Diener laut äußerten, zu vernichten, da durch seine tadelnden Reden sich diese Meinung im Hause zuerst verbreitet hatte, denn ihm war es sehr zuwider, daß die religiösen oder tiefsinnigen Gespräche, welche die Gräfin am meisten liebte, und die ihm lästig waren, seine Erzählungen so oft verdrängen sollten, vorzüglich seit die Kranke ihn einmal hatte merken lassen, daß er wohl nicht ganz die Verdienste des Priesters zu würdigen wisse.

Da er nun überzeugt war, daß keine menschliche Hülfe den Gang der Krankheit ändern, oder den ganz nahen Tod aufhalten könne, so waren seine Besuche im Krankenzimmer selten, auch kürzte er sie ab, welches der Gräfin um so lieber war. Sie hatte sich aus dem Bette erhoben und mit Hülfe ihrer Kammerfrauen in den Lehnstuhl setzen lassen, welcher 39 im tiefen Bogenfenster stand. Von hier konnte sie weit in die Landschaft hinaussehen und sie freute sich, daß bei dem wärmeren Frühlingswetter schon viele Bäume Knospen und kleine Blätter zeigten. Den Frühling, sagte sie zum Geistlichen, der zu ihr getreten war, erlebt man immer wieder zum erstenmal: meine Seele erstaunt immer von neuem über das Wunder, das sich vor meinen Augen entwickelt. In meinen jüngern Jahren war es mein Entzücken, dieses Erwachen der Natur von Minute zu Minute zu beobachten, oder bewußtvoll diesen süßen Traum der Natur mit zu träumen. Es ist ganz ein Anderes, die Natur wie ein Kunstwerk zu genießen, vor welches man von Geschäften oder aus Zerstreuungen plötzlich hintritt, um unsre gewohnten oft lästigen Empfindungen zu unterbrechen, oder in dieser Natur selbst einheimisch zu seyn, und so wie Blatt und Blüthe am Baum, das Herz mit seinen Fühlungen zu entfalten. So mit der Natur eins ist der Beobachter, die Freude an und in ihr ein gewissermaßen bewußtloses geheimnißvolles Schaffen, ein unendlich liebliches Weben in ihren Tiefen, die unser ganzes Wesen, ihm alsdann entgegen kommend, in sich aufnehmen. Die meisten Menschen wollen aber das, was sie Schönheit nennen, nur wie im Blitz, im Vorübergehen, in neuer Zerstreuung, die die alte stört, genießen, sich aber nicht mit allem Geist und vollen Sinnen in das Geheimniß, in diese Offenbarung auflösen. Freilich können auf dem Wege, den ich gewählt habe, Träume entstehen, Visionen, die für andere Menschen gar nicht existiren und die sie leugnen, wie alle Wunder und Erscheinungen denn immer nur für den Wahrheit haben können, welcher sie erlebt hat.

Gewiß, antwortete der Geistliche: und so können wir hieran wieder jene Betrachtung knüpfen, daß das, was der Mensch Wunderbares erlebt, eine Vision, oder was daran 40 gränzt, wiederum den Charakter der Eigenheit an sich tragen wird, wie es grade für dieses und kein Wesen möglich und wirklich wird. Die innerste Seele des Menschen tritt in sichtbarer Erscheinung vor ihn, und darum sind jene Fragen und Untersuchungen, ob dergleichen Täuschung oder Einbildung war, höchst überflüssig.

Die Gräfin dachte tief nach, indem sie die großen blauen Augen niedersenkte. Ja wohl, sagte sie, dann ist vielleicht in dem Leben eines jeglichen Menschen ein solcher Lebenspunkt, wo sich ihm das, was wir das Unsichtbare nennen, sichtbarlich offenbart. Zu erklären ist es nicht, und bedarf auch keiner Erklärung: es ist ein Erlebtes, was aber freilich nicht so, wie der erlebte Gedanke, wie die Erscheinungen im Gemüth des Poeten seine Folge und Wirkung hat, sondern unerklärt für sich besteht, oder auch auf die Sinnesweise und Lebensrichtung einen Einfluß übt, der oft mit dem Charakter oder dem Gedanken desselben Menschen in Widerspruch steht.

Vielleicht, erwiederte der Geistliche, ist dies der Weg, billig gegen das Alterthum und dessen wundersame Legenden zu verfahren. Nur mischt sich freilich Lüge und Aberwitz, der Hang zum Ungewöhnlichen, Tollen und ganz Unzusammenhängenden in diese Neigung, die jedes Gemüth in sich hegt, und so entsteht in widerwärtiger Consequenz jene ekelhafte Poesie der tausend Gespenstergeschichten, der Frevel der Hexenprocesse, das ganze System jener Dämonologie, die zur Schande einiger Jahrhunderte eine eigne, möchte man doch sagen, Wissenschaft bildeten. Und sind wir nicht auch schon in dieser abscheulichen Lügenwelt verstrickt? Sind nicht Hunderte, ja Tausende, die ihren Sinn der Wahrheit verschlossen haben? Und selbst Wissenschaft, Philosophie und Beobachtung der Natur, so wie die Offenbarung, müssen ihnen dazu 41 dienen, sie in ihrer fast thierischen Verblendung und Lüge zu bestärken.

Sie sind zu heftig, sagte die Kranke: auch die Zeitalter sind oft krank, und wenn diese Epidemie einmal da ist, so hilft keine Vernunft, sondern sie muß sich eben austoben. Bemitleiden müssen wir das Menschengeschlecht, das, so wie es auch mit göttlichen Kräften ausgestattet ist, doch so oft bejammernswürdiger Schwäche unterliegt. Oft entwickeln sich aus diesen Krankheiten die kräftigsten Gesundheits-Erscheinungen, und so ist die Zeit, oder das Jahrhundert, vielleicht ein noch größerer Zeitraum, wieder die Geschichte eines Individuums.

Theure Gräfin, sagte Theodor jetzt mit einiger Heftigkeit, schon vor geraumer Zeit versprachen Sie einmal, aus Ihrer frühern Jugend mir ein wunderbares, unerklärliches Ereigniß mitzutheilen; erschüttert Sie es nicht zu sehr, so ist dies vielleicht der Augenblick, meine Neugier zu befriedigen. Denn ich theile mit allen Sterblichen den Hang zum Wunderbaren, und ein wahrhaft erlebtes Wunder, mir von den reinen Lippen der Wahrheit mitgetheilt, muß mir um so wichtiger und lehrreicher seyn.

Was ich Ihnen schon sonst einmal erzählen wollte, ist nichts Erschütterndes, sagte die Kranke, und ich theile Ihnen das Ereigniß am liebsten mit, weil Sie mir glauben werden.

Sie müssen wissen, daß ich seit meinem dritten Jahre eins der wildesten und unbändigsten Kinder war. Mein Vater verzog mich, ihn freute mein Eigensinn, den er Charakter nannte, und so konnte es meiner sanften und stillen Mutter, die sich vor meinem Vater fürchtete, nicht gelingen, meinen Starrsinn zu beugen. Wie ich größer wurde, schien es mir natürlich, die Dienerschaft und selbst meine Eltern zu beherrschen. Der Vater lachte nur, wenn ich mich recht 42 ungezogen zeigte. Was auch dazu beitrug, mich zu einem heftigen Kinde zu machen, war mein Putz, der immer neu, immer gesucht war, und in Seide, in den glänzenden Farben, dem Perlenschmuck fand ich mich besser und klüger, als alle Welt. Wie die Kinder nur liebenswürdig seyn können, wenn sie reinlich und sauber gehalten werden, so bedenken viele Eltern nicht, wie zu prächtige und auffallende Kleider die Kinder lieblos, stolz und eitel machen können. Nur in einem Punkte war ich mit meiner lieben Mutter einverstanden, in der Freude an Kirche und Gottesdienst. Keine Spazierfahrt, kein Fest konnte mir etwas Aehnliches von der Freude geben, mit welcher ich unsern weltbekannten Münster betrat. Diese breiten Fenster, das süßdämmernde Licht, die schlanken aufstrebenden Säulen, die hohen Gewölbe waren mein Entzücken. Schon der Eintritt in die Kirche durch das herrliche Portal begeisterte mich. Ich weiß nicht, inwiefern meine Eltern Unrecht hatten, wenn sie mir in dieser frühen Jugend schon viel Religion und Liebe zu Gott zutrauten, wenn sie meinten, daß ich der Messe oder Predigt verständig folgen könnte: mir war es genug, ja mehr als alles, diese Säulen, Wölbungen und Mauern zu betrachten, und der liebliche Traum, die erhabnen Ahndungen, welche mich umfingen, genügten mir. Und so, mein theurer Freund, ist es eigentlich durch alle Jahre meines Lebens geblieben. Wie andere die göttliche Gegenwart am meisten oder am nächsten in der Natur empfinden, wie andächtige Seelen sich in die Tiefe der Mystik versenken, jener sich dem Unbegreiflichen in der Entwickelung der Vernunft befreundet, ein andrer ihn in heiligen Legenden und Wundergeschichten zu verstehen wähnt, so genügte mir vor allen Erscheinungen immer jene geheimnißreiche Architektur am meisten, die unsre Vorfahren in einer großen Zeit zu unsrer Beschämung so herrlich 43 aufzurichten vermochten. Diese Weihe ist mein Bild und meine Offenbarung, denen sich mein Gemüth am liebsten und leichtesten entgegen neigt. Man möchte das, was mich in diesen Tempeln begeistert, eine Bezauberung nennen, denn ich kann keine Worte finden, um die Harmonie, Befriedigung und Seligkeit zu beschreiben, die diese Linien und Mauern auf mich niedersenden.

Meine Eltern, um meinen religiösen Trieb zu belohnen und aufzumuntern, schenkten mir ein sehr kostbares Gebetbuch, welches auf der andern Seite meiner Eitelkeit wieder viele Nahrung gab. Nicht genug, daß es klar und anmuthig auf dem reinsten Pergament gedruckt und mit den feinsten und lieblichsten Miniaturen ausgeschmückt war, die jedes Auge ergötzten, so war auch der Einband der theuerste und köstlichste, den man sehn konnte. Die Deckel waren von innen und außen von geschlagenem Golde, in Azurblau und Gold prangte das Wappen unsers Hauses, Blumen, von Edelsteinen gebildet, wetteiferten leuchtend mit schimmernden Perlen, so daß dies kleine Büchelchen, zum Gebrauch eines Kindes bestimmt, gewiß mit großen Summen war bezahlt worden. Es war natürlich, daß auf dieses schöne Buch von der Familie sehr gehalten wurde und daß man mir empfahl, es vorsichtig zu behüten und in Acht zu nehmen. Ich selber aber war so erfreut über das kostbare Geschenk, daß ich es nie aus den Händen geben wollte, es auch dem Bedienten nicht vergönnte, das Buch mir nach der Kirche hin oder zurück zu tragen. Ich war auf diesen Besitz nicht wenig stolz und man hätte mich nicht härter bestrafen können, als wenn man mir die Kostbarkeit auf eine Zeitlang genommen und weggeschlossen hätte; auch machte es mir einen großen Eindruck, als meine Mutter, gegen welche ich mich vergangen hatte, mir einmal damit drohte.

44 Im Sommer war ein großes Kirchenfest. Die ganze Stadt war in Aufregung. Fremde, Vornehme wie Geringe, Fürsten und Militairs hatten sich in der Stadt versammelt, denn auch andre Feierlichkeiten und kostspielige Zurüstungen hatten Tausende von Reisenden herbeigelockt. Noch nie war der Münster so angefüllt gewesen, und noch niemals war mir das Gebäude so ehrwürdig erschienen. Wir mußten uns durch die Schaaren drängen, die hin und her wogten. Es war ein sonnenheller Nachmittag und meine Eltern waren nicht in die Kirche gegangen, weil sie in ihrem Hause Anstalten trafen, vornehme Gäste zu bewirthen. Meine Kammerfrau und der Diener wurden von meiner Seite weggedrängt, und ich benutzte im kindischen Uebermuthe die Verwirrung, um mich immer weiter von ihnen zu entfernen, und mich endlich in einem dämmernden Winkel zu verbergen. Wie wohl fühlte ich mich, wie frei und unabhängig! So verging die Vesper, der Gesang erlosch, die Priester zogen sich zurück und das Volk verließ die Kirche. Mir dünkte, ich sah den Bedienten einmal in der Ferne, doch verschwand sein Kopf bald. Die Thüren wurden geschlossen und ich war in dem mächtigen Gebäude ganz allein.

Die Abendsonne, die durch die bunten Fenster schien, meine Schritte, die in der Einsamkeit von den Gewölben wiederhallten, die unbedingte Freiheit, die ich genoß, als wenn der große Münster mir ganz allein gehörte: diese neue Lage, mir war nie etwas Aehnliches geschehn, machte mich ganz übermüthig und trunken. Ich wandelte durch alle Theile, betrachtete alle Bildnisse und Denksteine, las alle Inschriften und hörte nur, wie aus trauriger Ferne, das Geräusch der Welt auf den Straßen. Was manche Schwärmer vom Paradiese und dessen Genüssen geträumt haben, was andere Phantasirende von Visionen der Heiligen erzählen, alles das 45 erlebte ich in meiner kindischen Brust. Es giebt eine Freude die so innig ist, das Bewußtsein eines Besitzes, das unser ganzes Gemüth so vollständig ausfüllt, daß wir in diesem Zustande kaum Wünsche kennen, daß die seligste Beruhigung und die stürmende Freude eins und dasselbe werden. Ja wohl war das Gebäu mir eine Wohnung des Allerhöchsten, des Unnennbaren, denn ich empfand seine unmittelbare Nähe, und die hohe Weihe dieser Stunden ist mir in meinem ganzen Leben nicht wieder entschwunden, noch die Erinnerung daran erblaßt. Diese Wände und hohen Gewölbe, diese aufstrebenden schlanken Säulen und alle ihre Linien und Kreise strömten auf mich wie mit einem heiligen Feuer ein, und ich dachte mir kein größeres Glück, als in diesem Tempel Priester zu seyn, und alltäglich hier Stunden zu wohnen und zu wandeln, jene heiligen symbolischen Gebräuche übend, die mir, je weniger ich sie verstand, um so ehrwürdiger erschienen.

Nun aber begann es zu dämmern, und ich erwachte gleichsam aus meinem Taumel. Ich fühlte mich plötzlich einsam und verlassen. Eine gespenstische Angst überfiel mich. Ich begriff nicht, wovor ich mich fürchtete, da ich eben noch so glücklich gewesen war. Dieselbe Einsamkeit, die mich entzückt hatte, gab mir jetzt Entsetzen und ich sehnte mich nach Menschen und nach meinem Hause, das ich sonst so gern verließ. Es giebt in uns eine Furcht, die ganz ohne Gegenstand ist, und die sich oft vorzüglich in der Jugend ohne alle Veranlassung meldet, so wie die Andacht, die plötzliche Freude an der Natur, oder ein großer Gedanke. Wie diese Gefühle und das Denken uns durch ihre Sonnenklarheit beglücken, so ist jene dunkle Angst eine stumme Verzweiflung.

Indem ich so umherirrte, kam mir aus einem der Gänge ein wunderschönes Kind, ein Mädchen, entgegen. Sie schien 46 von meinem Alter und lachte mich gleich so freundlich an, daß meine Angst verschwunden war. Ich weiß selbst nicht, wie wir sogleich in die vertraulichsten Gespräche geriethen. Ich sagte ihr Alles von mir und von meinen Eltern, was ich nur wußte, und sie ermahnte mich so liebreich, gehorsam, fleißig und fromm zu seyn, daß ich mir vornahm, dem Wesen zu gefallen, mein eignes ganz umzuändern. Das ganz fremde Kind war mir gleich so vertraut wie eine Schwester geworden, mit der man aufgewachsen ist. So vergingen die Stunden und es war fast ganz finster geworden. Es ist nicht auszusprechen, wie lieb ich das süße Wesen hatte, dessen himmlische Schönheit in der Dunkelheit des späten Abends leuchtete, und die mir mit jedem Worte, Blick und Händedruck einen beglückenden Trost und die behaglichste Zufriedenheit in die Seele flößte. Ich umarmte sie endlich, drückte sie an meine Brust und sagte: Schwesterchen, Du mußt zum Andenken mein schönes Buch von mir nehmen. – Wird es Dich nie gereuen? fragte sie mit bewegter Stimme. – Nein! nein! rief ich aus, und drückte ihr die kostbare Gabe in die weiche zarte Hand, aber einen Kuß mußt Du mir dafür geben. Sie drückte einen Kuß auf meine Lippen und indem hörten wir Geräusch, die Kirchenthür ward geöffnet und herein drang der Sakristan mit verschiedenen Dienstleuten meines Hauses. Ich ging ihnen entgegen, sah mich noch einmal um, und meine kleine Freundin war verschwunden. Zu Hause hatte man mich erst beim Feste nicht vermißt, weil man glaubte, ich sei mit der Kammerfrau zu einer Tante gegangen, die ich oft besuchte. Die Dienerin glaubte erst, ich sei mit einem der Leute zurückgekehrt; als sie den Irrthum gewahr ward, suchte sie mich allenthalben. Die Eltern wurden unruhig, als sie erfuhren, daß ich mich verloren habe, endlich fiel man darauf, auch den Münster öffnen zu lassen, 47 und so kam ich, zur Beruhigung meiner trauernden Mutter, spät am Abend wieder nach Hause.

In der Familie wurden jetzt Untersuchungen wegen des Gebetbuches angestellt. Ich sagte in meiner Verlegenheit, daß ich es in dem großen Gedränge verloren haben müsse. Man forschte nach, man machte den Verlust in den Zeitungen bekannt, doch, wie sich begreift, ohne Erfolg. So mußte man den Verlust verschmerzen, und mein neues Meßbuch war von weit geringerem Gehalte, was ich aber gar nicht bedauerte. Ich wurde überhaupt stiller und schweigsamer, folgte meinen Eltern williger, lernte mit mehr Begier und fügte mich in alle Dinge, die man von mir verlangte, weil ich immer an meine wunderbare Gespielin dachte, und wie sie meine Aufführung loben solle.

So ging ein volles Jahr hin. Meine Eltern waren mit mir zufrieden und meine Mutter vorzüglich erfreute sich über mein Wesen und Betragen. Man vertraute mir, in vielen Stunden erschien ich mir selbst solide und über mein Alter verständig. An einem Sommertage waren wir alle in unserm Garten vor dem Thor versammelt. Die Gesellschaft fuhr zurück und man ließ mich dort. Die Kammerfrau ging mit ihrem Bräutigam lebhaft sprechend und ihre nahe Ehe verhandelnd im fernen Lindengange auf und ab: ich saß auf einer Bank zwischen blühenden Rosengebüschen. Es zeigt sich nicht selten bei artigen Kindern, die im Zimmer ruhig und still sich verhalten, daß plötzlich, wenn sie unvermuthet und bei schönem Wetter ins Freie kommen, sie von der Natur, der Luft, den Gewächsen und dem Sonnenschein wie in einen Rausch und Taumel gerathen, die sich ihrer so sehr bemächtigen, daß sie sich nicht zu beherrschen vermögen. So erging es mir auch an diesem Tage. Es war, als wenn mich ein Geist anrührte, alle meine Kräfte jauchzten empor, und 48 ich vergaß mein voriges Leben völlig. Jubelnd sprang ich umher, ich rührte lachend diese Blume, dann jene an, schlug mit der kleinen Hand in die Gebüsche und hätte mit der hohen blassen Lilie sprechen mögen, oder vielleicht zanken, weil sie so gerade aufrecht, wie meine alte Hofmeisterin, vor mir stand. Das Gras, dessen Spitzen ein zarter Wind kräuselte, so daß es kleine grüne Wellen schlug, schien mir, wie Spaß machend, entgegen zu lächeln, und ich drohte ihm mit dem Finger, und rieth ihm, ernsthaft zu seyn. Am wunderlichsten erschienen mir aber mitten in dieser grünen und farbigen Pracht einige steinerne Bildsäulen, die mir wie Fratzen, wie Wesen aus einem Tollhause vorkamen. Einen Cupido warf ich mit abgefallenen unreifen Früchten und kleinen Steinen, ein Apollo machte mir die Miene, wie im Hause ein alter Kater, der bei meiner Mutter oft auf dem Ofen saß. Indem ich ganz ausgelassen wurde und mit lauter Stimme sang, befiel mich plötzlich in meiner Wildheit eine unaussprechliche Wehmuth, so daß die Thränen meinen Gesang erstickten. Ich wollte mich besinnen, denn dergleichen war mir noch niemals begegnet, da fiel es mir aufs Herz, daß ich meine kleine unbekannte Gespielin noch gar nicht wieder gesehn hatte, daß sie es eigentlich sei, die ich herbei wünschte, um mich an ihrem freundlichen Angesicht, an ihren schönen Augen wieder einmal zu erfreuen. Nachdenklich ging ich in die Laube zurück, und wie ich den Blick wieder aufschlage, sitzt das himmlische Kind wirklich drin und auf meiner Bank. Ich kann es nicht schildern, wie entzückt, überrascht ich war, mit welcher Freude ich das schöne Wesen in meine Arme schloß. Ich mußte ihr viel erzählen und sie sprach mit so lieblichen Tönen, so sanft und zart, so sinnige Worte, die ich doch alle verstand, daß mein ganzes Herz überfloß und sich ihrem Willen ganz ergab. So war eine geraume Zeit 49 verflossen, ich liebte das Kind so innig, daß ich dies Gefühl mit keinem andern, auch mit der Zärtlichkeit zu meiner Mutter nicht vergleichen konnte. Sie lobte mich auch, daß ich fleißiger und gehorsamer geworden sei, daß ich meinen Eigensinn gebrochen und auch die Dienstboten mit mehr Freundlichkeit, wie es sich gezieme, behandle. – Woher weißt Du denn das alles? fragte ich; kennst Du denn meine Eltern? Hast Du denn vorher vielleicht die Sabine gesprochen? – Ich kenne Dich, sagte sie, bin oft bei Dir, weiß alles, was Du thust, und freue mich innig, wenn Du artig und folgsam bist. – Ich sah die Kleine scharf an, und wußte nicht, wie ich ihre Rede verstehen sollte. Aber ich war verstimmt, denn ich wollte nicht, daß wer anders, als die Eltern, meine Lehrer und die Hofmeisterin mich beobachten sollten. – So ist es also sehr unfreundlich, sagte ich, daß Du nicht öfter zu mir gekommen und mit mir gesprochen hast. Wo warst Du? – Das kann ich Dir nicht bezeichnen, antwortete sie, genug, daß ich gern um Dich bin. – Ja, rief ich aus, Du sollst aber meine Freundin, mein Liebchen seyn, und nicht meine Hofmeisterin: mir wird schon von andern genug vorgepredigt, so daß ich oft die Geduld verliere. Und Du sollst nicht mit den Dienstleuten klatschen, wenn Du mein Herzblatt seyn willst; denn nur von ihnen hast Du das Alles von meiner Art und Unart erfahren. – Die Kleine wollte sich verantworten, aber ich gerieth immer mehr in Eifer und überschrie im Zorn ihre zarte Stimme. Du bist nun doch wieder recht unartig! sagte sie, als ich endlich einen Augenblick schwieg. – Und Du bist Schuld daran! rief ich wieder mit Heftigkeit; Du kommst nur her, mich zu ärgern, Du bist ein boshaftes, schlechtes Kind! Und nun will ich auch mein schönes Gebetbuch wieder haben, das ich Dir damals geschenkt habe, denn Du verdienst es nicht; es gehört 50 mir und ich will es auch behalten! – Siehst Du, sagte jene, es gereut Dich jetzt, wie ich Dir damals sagte: aber so wird Dich auch Dein jetziges Betragen wieder reuen. – Nein! nein! schrie ich wie besessen, und weinte schon vor Bosheit: Du bist mein Feind, Du bist schlecht! mein Buch gieb mir wieder, Du böse Range! – Ich schlug nach ihrem Gesichtchen mit meiner geballten Faust, aber mein Hieb traf nur einige groß aufgeblühte Rosen und die Dornen ritzten meine Finger. Ich sah mich um, und das Kind war nirgend zu sehn. Wie von einem bösen Geiste besessen, schlug und stampfte ich nun mit Händen und Füßen in die schönen Blumen hinein, riß aus und zerstörte, was ich nur habhaft werden konnte, schrie und tobte, so daß ich bald vor Ermattung nieder sank. – Nun war mein Schmerz und meine Reue nicht weniger heftig. Ich zerriß in Verzweiflung mein Haar, das aufgegangen und mir ins Gesicht gefallen war, ich wälzte mich auf dem Boden, dann rang ich die Hände und schrie laut, rief alle Namen, die mir beifielen, weil ich nicht wußte, wie sich meine beleidigte Freundin nannte. Mein Schmerz war ohne Maß, ich mochte den Zustand dieser Stunde Verzweiflung nennen. Ich wußte nicht mehr, was ich that, und warf mich wieder in die Gesträuche hinein, ich fühlte es nicht, wie die Dornen mein Gesicht zerrissen, ich sah es nicht, daß mein Blut aus Wunden floß, daß meine Kleider in Unordnung waren, denn manches Stück meines Anzuges war zerrissen oder hing an den Büschen. So fand mich meine Kammerfrau und war entsetzt. Wir fuhren nach der Stadt und es war ihr Glück, daß ihre Hochzeit so nahe war, sonst hätte meine Mutter sie aus dem Dienst entlassen, da sie mich so unverzeihlich vernachlässigt hatte. Denn da ich nichts von meiner Gespielin und dem Streit, den ich mit dem wunderbaren Kinde gehabt hatte, erzählte, so begriffen 51 meine Eltern den Wahnsinn gar nicht, der mich mußte befallen haben, um mich selber so zu zerfleischen. Ich sagte von der Fremden nichts, denn als mich die Leidenschaft wieder verlassen hatte, schämte ich mich, auch schien es mir Unrecht, die Unbekannte zu verrathen, denn ihre Freundschaft erschien mir wie ein heiliges Geheimniß, das ich nicht entweihen dürfe. – Seitdem aber wurde ich still, folgsam, und was man gesetzt nennt. Es war, als hätte diese Wuth in der höchsten Gestaltung sich noch einmal meines ganzen Wesens bemeistern müssen, um mich auf immer zur Ruhe zu bringen. Von jetzt an waren meine Eltern immer mit mir zufrieden, auch ich war mit ihnen in allen Dingen einverstanden, so daß zwischen ihrem Willen und dem meinigen niemals ein Widerspruch stattfand.

Der Geistliche war im Nachsinnen verloren. Unsere Kirche, sagte er dann, lehrt und glaubt die schützenden Geister oder Engel, welche den Menschen begleiten und behüten. Da wir, wie schon gesagt, in Täuschung nur leben können und von bunten Bildern umstellt sind, selbst unser Denken nicht ohne Bild und Figur seyn kann, so muß sich auch wohl das eigne Innere, die geheimnißreiche Ahndung, oder ein Geist aus anderer Region uns als figürliches, unserm Sinne verständliches Bild darstellen. Im Gefühl der Liebe fassen wir auch wohl diese geistige Offenbarung am richtigsten, so Sie in der Kindheit, die das Wesen als Freundin und Gespielin anerkannte. Dürfte ich mich eines Gleichnisses bedienen? Wären keine Instrumente erfunden, so würden Tausende niemals erfahren, welch ein Himmel von Melodie in ihrer Seele wohnte, und dennoch schliefe das Talent, wenn auch unausgebildet, die Vision, in ihnen. Unendliches hat der Mensch erfunden, um seine Seelenkräfte zu manifestiren, aber das sichtbare Offenbaren jener Geheimnisse ist unsrer 52 Willkür nicht anheim gegeben, sondern die Schickung hat es sich vorbehalten, nur selten und nur wenigen die Decke des Vorhanges aufzuheben.

Wie immerdar, antwortete die Gräfin, wenn unsere Seele recht thätig ist, sei es in Andacht, Denken, Verständniß der Kunst, eine göttliche Kraft aus uns sich entwickelt, der von jenseit eine übermenschliche göttliche Einwirkung entgegen kommt, und in dieser Vereinigung der Mensch seine höchste Bestimmung erreicht und auf Augenblicke einer wahren Seeligkeit theilhaft wird: so giebt es vielleicht, ja wahrscheinlich, Zustände, in welchen sich ohne diese erhobenen und verklärten Stimmungen, in einem Zustande, den wir gleichgültig nennen, uns sichtbar und menschlich befreundet das göttliche Geheimniß, so zu sagen spielend, entgegen tritt. Unser Geist, oder unsere Seele ist gewiß oft thätig, ohne aufgeregt zu seyn, ohne sich dieser Thätigkeit bewußt zu werden. In dieser Unbewußtheit sammelt die Seele wohl oft die allertheuersten Schätze, die später erst Gedanken und Gefühle, Glaube und Ueberzeugung werden. Ist es nun mein eigenes Inneres, was mir in der Gestalt des Kindes so freundlich und seltsam begegnete? ist es wirklich mir sichtbare Vergegenwärtigung jener ewigen Liebe, die ich nur in dieser Umgebung und Stimmung sehn und zum Theil verstehn konnte? Oder war es ein Prolog zu meinem Leben, und sollte diese Erscheinung auch noch auf andere Weise mir eine Gewähr leisten, daß mein Gemüth auf den rechten Bahnen wandele?

Hier ist es wohl unmöglich, zu entscheiden, antwortete Theodor. Ist Ihnen aber, geehrte Freundin, niemals dieses Kind, oder eine andere Erscheinung wieder vorgekommen?

Ich war im Begriff, in meiner Erzählung fortzufahren, sagte die Kranke. Ich war nun ganz eine Tochter nach dem 53 Herzen meiner Eltern, mein Eigenwille schien völlig gebrochen. An Gesellschaften, Bällen, Komödien und den Zerstreuungen der Welt fand ich kein Wohlgefallen, die Einsamkeit war mir lieb, das Lesen guter Bücher erfreute mich, aber mein Entzücken war, den Münster zur Messe oder Vesper zu besuchen, und meine Eltern, vorzüglich da meine Mutter viel kränkelte, ließen mich gewähren. So erschien mir das Leben in einer sehr ernsten Gestalt und ich ging ohne alle Freundinnen oder Gespielinnen in meiner Jugend so hin, da ich allen zu ernst und langweilig erschien. Am verwirrtesten erschienen mir aber jene Zustände und Empfindungen, die ich so oft als Liebe und als das Höchste des irdischen Lebens schildern hörte. Ich bedauerte alle Menschen, die sich dieser Leidenschaft überließen, um so mehr, da ich sehr oft zu bemerken glaubte, daß die meisten nur eine willkürliche Eitelkeit in diesen Taumel hinein jagte. Als es meine Eltern für gut fanden, vermählte ich mich mit dem General, den sie mir bestimmten, einem edeln Mann, der natürlich kein Jüngling war. Hätte ich ganz meiner Neigung folgen dürfen, so hätte ich mich der Kirche gewidmet, denn ich sah diese Verbindung als ein Opfer an, um mich dem Willen meiner Eltern zu fügen. Aber ich mußte meinen Gatten verehren, dessen Erfahrung und Weisheit meine Lebensbahn um so sicherer machte. Meine Liebe zu ihm, eine innige, wahre, gestaltete sich aber ganz anders, als ich sie unter meinen Bekannten hatte beobachten können. Liebe und Ehe erschienen mir als etwas Heiliges, daß nur durch diese geheimnißvolle Weihe, durch die Entfernung alles Leichtsinns und Muthwillens jene sonst widrige irdische Verbindung, die Schrecken der Niederkunft, das Erniedrigende aller dieser körperlichen und krankhaften Zustände eine edle Bedeutung erhalten konnten. So gebar ich denn zur Freude meines Gatten meinen 54 Sohn. Eine unaussprechliche Rührung durchdrang mich, wenn ich das hülflose zarte Kind betrachtete, eine sonderbare Liebe, die bis dahin stumm in meinem Herzen gelegen hatte, trat jetzt mächtig, durchdringend, in mein Leben und Bewußtsein. Ja wohl, Mutterliebe, Liebe zum Säugling, zum Kinde – wie soll ich nur einen Ausdruck finden, der irgend dies höchste aller menschlichen Gefühle andeuten könnte? Was hat unsre Kirche damit ausgesprochen, daß der Heiland als Kind, mit der Mutter scherzend oder an ihrem Busen saugend, uns immer in Gebilden und Gesängen gegenwärtig ist! Ein unaussprechlich, nie zu erschöpfendes Geheimniß, eine nie ersättigende Süßigkeit waltet im Verhältniß der Mutter zu ihrem Kinde. Wie geheiliget ist nun ihr Leben, wie ist das geheimnißvolle Dasein noch geheimnißvoller und zugleich so klar. Das Allerfernste, Göttlichste, Unerreichte ist nun ganz nah, und sie hält es sichtlich und fühlbar in ihren Armen.

Mein Sohn war kaum drei Jahr alt, als er tödtlich erkrankte. Meine Sorge, Angst um ihn, mein Nachtwachen, alle diese Anstrengung, Qual und Liebe warfen mich auch auf das Krankenlager. Ich blieb zwar im Zimmer bei meinem Kinde, aber ich konnte seinem Aechzen nur mit meinen Seufzern antworten. Ich konnte mich über seinen Zustand nicht täuschen, auch gaben die Aerzte selbst nur wenige Hoffnung. – Ich rang mit tausend Schmerzen und vergaß mein Leiden über das meines Sohnes. Da ward mein Gemahl, schwer verwundet, in den Palast gebracht. Ich erfuhr es erst, als man mir seinen Tod melden mußte. Warum, sagte ich zu mir selbst in der Verzweiflung, ist uns Menschen der Tod denn etwas so Entsetzliches? Müssen wir denn nicht alle früher oder später sterben? Das ist ja von der Geburt an unsere räthselhafte Bestimmung. Ich konnte nicht weinen. 55 Da vernahm ich, denn die Fieberangst hatte mein Gehör geschärft, wie mein Sohn dumpf stöhnte und ächzte und wie der alte Doktor zum jungen leise sagte: Jetzt ist es vorüber. – Ein furchtbarer Unglaube wollte mein Herz zusammenpressen. Da stand das Kind lächelnd und mit tröstendem Auge an meinem Bett. Es reichte mir die Hand und sagte: Jetzt ist der Sohn gerettet, er lebt und auch Du wirst wieder gesund werden; vertraue nur und überwinde Dein Leid. – Wie ein Himmel von Entzücken und Trost quoll es in mein müdes Herz hinein. Er wird genesen! rief ich mit starker Stimme den erstaunten Aerzten zu. Jetzt war das Kind verschwunden.

Mein Sohn besserte sich von diesem Augenblick und ich erholte mich so schnell, daß ich bei der Bestattung meines Gemahles zugegen seyn konnte. Seitdem ist mir das Kind niemals wieder erschienen.

Gedankenvoll ging der Priester nach seiner Wohnung, und der Kranken war es vergönnt, nach dieser langen Erzählung in einen gesunden Schlaf zu fallen.



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