Ludwig Tieck
Der Schutzgeist
Ludwig Tieck

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Die große Haushaltung der Gräfin war seit einigen Tagen in vielfacher Aufregung. Man besorgte ihren Tod. Und da die Kranke von jedermann geliebt war, so ängstigten sich alle, und die Nachbarn sendeten fleißig, um sich zu erkundigen, wie der Zustand der würdigen Frau beschaffen sei.

Ihre nächste Umgebung war am meisten in Trauer. Nur in den Augenblicken, wenn das Leben erlöschen soll, wissen die Vertrauten, was sie am Freunde besaßen. Seine Tugenden treten uns dann erst ganz sichtbar hervor, und was oft Fehler genannt wurde, verschwindet, oder die Einsicht erwacht, daß diese Mängel die Grundlage der Vorzüge bildeten, oder nur die Schatten der bewunderten Tugenden selber waren. Diese hohe, vergeistigte Billigkeit ist der edelste Abschied, den wir von dem Abreisenden nehmen, der jetzt das unbekannte, räthselhafte Reich betritt, dem wir alle im sogenannten Leben entgegen geführt werden.

Der einzige Sohn, der Obrist, war entfernt und auf einer Dienstreise begriffen. Er wußte, daß seine Mutter krank sei, er kannte sie als eine stets Leidende, aber von ihrer nahe bevorstehenden Auflösung hatte er in der Ferne nichts erfahren können, weil seine Versendung ihm nicht gestattete, lange an einem Orte zu verweilen, und so wußte man in diesem Augenblick nicht, in welcher Stadt er sich eben 6 aufhalten möchte. Sehnsüchtig erwartete ihn die Mutter, aber doch mit ergebener Fassung.

Ungewöhnliche Stürme hatten in diesem Frühjahr gewüthet und in vielen Gegenden großen Schaden angerichtet. Der nahe Rhein war über seine Ufer getreten und hatte Bäume, Vieh und Häuser weggeschwemmt. Menschen, die sich von der Fluth hatten überraschen lassen, waren verunglückt und die Wetterkundigen sagten fürchtend voraus, daß Wolkenbrüche von Neuem noch öfter die Fluren und Wälder verwüsten würden.

Der Weltgeistliche, ein stiller bescheidener Mann, war eben in vertrauter Unterredung mit der Kranken. Unter ihren Freunden war ihr dieser der liebste, und sein Gespräch ihr das lehrreichste, weil seine milde Weise ihrem etwas heftigen Temperament am meisten zusagte. Er hatte ihr eben aus einem Briefe vorgelesen, welches Unheil die nördlichen Ströme in der Schweiz angerichtet hatten, und man sprach die Besorgniß aus, daß auch Freunde in den Landschaften dort an ihrem Vermögen beschädigt seyn möchten.

Ostern, rief die Gräfin lebhaft aus, muß gutes Wetter seyn, davon bin ich innigst überzeugt, und Sie wissen, Freund, wenn ich etwas so ganz bestimmt glaube und ausspreche, daß mein Vorwissen immer eintrifft.

Kann seyn, gnädige Frau, antwortete der Geistliche, aber Sie denken doch unmöglich daran, schwach wie Sie sind, Ihre Ostern in der Stadt zu feiern?

Ich gebe Ihnen mein Wort, sagte die Kranke, und eine leichte Röthe überzog ihr leichenblasses Angesicht, daß ich das hohe Fest in Straßburg, in meinem geliebten Münster, begehe.

Der alte Priester schüttelte wehmüthig lächelnd mit dem Kopf. Seit vier Wochen, sagte er, haben Sie das Bett nicht verlassen dürfen, mit jedem Tage werden Sie 7 schwächer, und der Arzt, selbst wenn eine Anstrengung scheinbar Ihre Kräfte erhöhte, würde niemals zu dieser Reise seine Einwilligung geben.

Ich werde meinen überklugen Herrn Doktor gar nicht darum fragen, rief die Leidende mit so großer Lebhaftigkeit, daß sie in diesem Augenblick als eine Gesunde erscheinen durfte. Von dergleichen, fuhr sie fort, versteht dieser gelehrte Mann gar nichts. Glauben Sie mir nur, Krankheit, Gesundheit, Leben und Sterben hängen auch, zum Theil wenigstens, von unserm Willen ab. Ich werde meine Ostern-Andacht im Münster feiern, das weiß ich so gewiß, als daß Sie vor mir stehn und jene englische Uhr mir die Stunde richtig zeigt.

Jetzt trat der geschäftige, redselige Arzt herein. Die gewöhnlichen Krankenberichte, Ermahnung zur Ruhe fielen vor und wurden abgehandelt. Sie haben unserm Freunde nichts von Ihrem Vorsatze mitgetheilt, fing der Geistliche an, nachdem der Arzt sich entfernt hatte.

Davor werde ich mich wohl hüten, erwiederte die Gräfin, warum mich mit dem Rechthaber zanken, der mich schon seit einem Jahre wie einen Leichnam behandelt, der durch seine Kunst nur noch in beigebrachten Springfedern sich bewegt! Er würde mir die Unmöglichkeit beweisen, denn er versteht nichts von Seele und Geist, die er höchstens auch nur für Gas, oder Electricität und Galvanismus hält.

Eine Fürstin aus der Nachbarschaft, die am Schlosse vorgefahren war, ließ sich jetzt melden. Man sah, daß die Kranke verdrüßlich war, doch hielt sie es für unmöglich, den vornehmen Besuch abzuweisen. Beim Eintritt der Dame entfernte sich der Geistliche. Er setzte sich, nachdem er durch den vordern Saal gegangen war, im Vorzimmer zum Arzte nieder. Die Fürstin war klug genug, die Kranke nicht lange 8 zu belästigen, und trat jetzt mit ihrer Hofdame zu den beiden Männern. Wie finden Sie die Kranke, Doktor? fragte sie leicht hin. – Sie ist ihrem Ende nahe, sagte dieser bekümmert. – Denken Sie, rief die Dame, daß sich die Kranke fest einbildet, sie werde Ostern drüben im Münster seyn können.

Ach Gott, erwiederte der Arzt, man möchte fast lachen, wenigstens ist ein Lächeln zu verzeihn. Glauben mir Durchlaucht, die Aermste wird Ostern gar nicht erleben, ihr Lebensfaden ist so mürbe und so dünn, daß er in wenigen Tagen abreißen muß. Nenne man unsre Kunst immerhin eine trügliche und ungewisse, bei diesen ganz unzweifelhaften Symptomen, bei diesen längst allgemein anerkannten Regeln können wir wenigstens nicht irren. In drei Tagen ist sie nicht mehr. Und wenn auch: – sie drei, vier Meilen reisen? Vielleicht im Sturm? Ueber das Wasser auf der Fähre setzen? Wenn sie gar über Kehl reisen wollte, – wo sie in die feindlichen Truppen gerathen möchte? Unsinn! Aber man lasse ihr den Wahn, der ihr so lieb ist. Sie wird in Schwäche ruhig einschlafen und ihren Irrthum gar nicht gewahr werden, – als jenseit, – wie wir uns auszudrücken pflegen.

Als die Dame sich entfernt hatte, sagte der Arzt: Traurig für uns Männer der Wissenschaft, daß wir so oft bei unsern Kranken nicht bloß ihr Uebel, sondern auch noch ihre Grillen zu bekämpfen haben. Und Sie glauben nicht, wie diese Grillen, unnütze Gedanken und Wünsche, Erhitzungen und Einbildungen in der Regel das Uebel vermehren und wohl gar eine unbedeutende Krankheit zu einer gefährlichen machen können. Menschen, die dem Arzt, was die körperliche Diät betrifft, die gewissenhafteste Folge leisten, erlauben sich Schwelgereien des Geistes, die den Organismus 9 aushöhlen und die letzten Kräfte vernichten. Bei unserer Sterbenden ist es freilich eine andere Sache, diese darf sich in diesen letzten Tagen alles erlauben, denn hier kann nichts besser und nichts schlimmer werden, und genau genommen, bin ich ihr schon ganz überflüssig.

Er ritt fort, um in der Nachbarschaft einen Patienten zu besuchen.

Der Geistliche ward wieder zur Kranken gerufen. Ich mißbrauche vielleicht Ihre Freundschaft, verehrter Mann, sagte sie, aber gedulden Sie sich bis Ostern, dann sind Sie mich los.

Sie scherzen, sagte der Mann gerührt, aber wenn Sie eine wahre Freundin sind, wie ich glaube, so möge auch ein solcher Scherz unter uns nicht stattfinden.

Setzen Sie sich, sagte sie, gut, daß ich nicht mehr lange mit diesen meinen Organen denken und phantasiren werde, denn sonst, da ja die Wände Ohren haben, brächte ich Sie noch in den Ruf der Ketzerei. Wenn unser Pater hier im Ort, oder der Bischof der nächsten Stadt unsre Diskurse hören könnten, – was würden diese frommen Männer dabei denken? Oder sie würden vielmehr nicht denken, sondern nur verurtheilen und verdammen.

Ist nicht, sagte der Geistliche, von jeher alles mit dem Namen Ketzerei belegt worden, was unser innerstes Gemüth, die Erscheinungen dort, die Bewegungen unsers Herzens, die eigentlichsten, wahrsten Gedanken unsers Selbst aussprechen will? Das ist das Babylon unsrer angestammten Verwirrung, daß unsre Gedanken sich nicht verstehn. Daß sogenanntes Wissen, Studium, System meist nur dahin streben, unsern eignen Geist, die nächsten Gedanken zu verdämmern, die Freiheit der Seele, die sie doch in diesem Leben erstreben soll, wenn sie sie auch nicht erringen kann, zu bestricken und 10 zu fesseln, und das wird dann Rechtgläubigkeit, Ueberzeugung und Philosophie genannt. Wer sich diesen Käfigen nicht fügen will, ist Ketzer, unwissend, unfähig oder bösgewillt.

Ich glaube Sie zu verstehn, sagte die Kranke. Freilich ist es mit der weltlichen Wissenschaft nicht anders, wie mit der Religion und dem sogenannten Glauben. Der grobe Zweifel ist nur ein versteckter Aberglaube und springt oft plötzlich sichtbar genug in diesen über. Und was sollen wir überhaupt Aberglauben nennen? Er ist wohl, recht verstanden, die Wurzel unsers Daseins.

Nur die falsche Consequenz, sagte der Priester, sollte man Aberglauben nennen. Die ins Unendliche gethürmten Schlußfolgen richtiger Wahrnehmungen und erlebter Erscheinungen, durch die wir endlich, vom Lügengeist den Visionen des Schönen und Heiligen entführt, in die Region der dümmsten Dummheit, des Aberwitzes, der Verfolgung und Grausamkeit gelangen. Dies ist die Geistergeschichte, die immerdar in die Weltgeschichte hinein wirkt. Meist fürchterlich und unmenschlich. Wenn das Gefühl der Liebe sich nicht genügt, wenn das, was unsichtbar bleiben muß und nur im Glauben besessen werden kann, sichtbar werden soll, eine Münze für Handel und Wandel, oder ein Gespenst, welches die geistige Entzückung in krasser Erscheinung überbietet, so entsteht Schwärmerei, Religionskrieg, Marter, und die verirrte Liebe zündet Scheiterhaufen an, um die verletzte, nach ihrem Wahn gekränkte Gottheit zu sühnen und zufrieden zu stellen. –

Ja wohl, sagte die Kranke, ist das jenes Kapitel, welches wir so oft durchgesprochen haben, der Text, der eine mündliche Auslegung in tausend mannigfaltigen Gestalten zuläßt. Ich hoffe, daß ich Vieles nach meiner Anschauung heller sehn und verstehn werde. Denn eben das Organ, welches uns Menschen gegönnt ist, um uns dem Unendlichen 11 zu nähern, beschränkt uns auch wieder und hindert uns. Und es ist gut, daß es so ist; denn nicht bloß Fürwitz, auch der redliche Wahrheitstrieb würde sonst über dieses Leben hinausspringen.

Alles, fuhr der Geistliche fort, muß auf diese Weise, um die Freiheit zu gewinnen, seine ihm zuerkannte Schranke und Hemmung suchen. Es ist mit der eigentlichen Wissenschaft, welche die Erscheinungen verstehn und bewältigen will, nicht anders beschaffen.

Gewiß, sagte sie. Welche vornehme Miene giebt sich in unsern Tagen die Natur-Wissenschaft. Sie spricht ohngefähr, wie früher die Philosophie und in noch ältern Zeiten die Theologie, als wenn von ihr das Heil der Welt und die wahre Erlösung der Menschheit ausgehn würde und müsse. Wie viel neue, große Entdeckungen sind auch in der That gemacht worden! Der jetzige Wissende und Eingeweihte kann auf die Gelehrten voriger Jahrhunderte wie auf fähige, gut geartete Kinder hinabsehn. Er hat viel mehr Elemente, Gas, Oxyd, Minerale, Versteinerungen als jener. Ganz andre sogenannte Naturgesetze. Er spielt jetzt, experimentirt schärfer, vielseitiger, reicher in Combinationen, als jener, ob am Ende tiefsinniger, mag dahin gestellt bleiben. Denn keiner dieser Weisen der Gegenwart kann mir es erklären, was der Sturm ist, oder woher er entsteht, was das Wesen der Electricität, oder der Galvanismus sei; was der Magnet unsrer Erde bedeute.

Drum eben, fuhr der Geistliche fort, müssen auch diese Wahrnehmungen, Erfahrungen und Hypothesen oder Einsichten eine für sich abgeschlossene, bestimmte und beschränkte Wissenschaft bilden, die aus ihren menschlichen, geistigen oder irdischen Schranken nicht hinaus kann und soll, um nicht, wie alles Hohe und Edle, Schwärmerei und Tollheit zu 12 werden. Erleben wir doch auch, zu welchem Aberwitz die Entdeckung des Magnetismus, Hellsehens, und andrer halb geistigen Erscheinungen führt. Hier muß ein Aberglaube an Wissenschaft den schlimmeren Aberglauben des Wahns und der Schwärmerei fesseln und unschädlich machen.

Und eben so, erwiederte die Kranke, daß der gläubige Christ doch auch wohl die ehrwürdige Wissenschaft der Theologie ansehe. Das Unmittelbarste, Geistigste, das was nur erlebt werden kann, kann sie eben so wenig lehren und zum Gesetz stempeln, wie Philosophie, Philologie, oder Physik die Erscheinungen und Geheimnisse des Denkens, der Sprache, oder der Natur auf immer feststellen und befriedigend lösen können. Aber, wie auch für Politik, muß eine Wissenschaft da seyn, die alles Denkbare, alles in der Erfahrung Mögliche in ihre Schranken aufnimmt, und immer neue Fächer ausbaut, um alles Vorgefundene unterzubringen. Diese Bienenthätigkeit unsers Geistes, diese Kraft der Menschheit ist denn doch das Edelste, was uns verliehen ist.

Vereint mit jener unmittelbaren Offenbarung Gottes, sagte der Weltpriester, welche sich nie erschöpft, nie ruht, immer wieder für den frommen Menschen Mensch wird. Dieses unmittelbar Erlebte, diese Bewegung unsrer innigsten Schöpfungs- und Heilkräfte muß in die Sabbathstille unsers Gemüths, in die heiligste Kapelle gelegt und aufbewahrt werden, um dem Pöbel und Unverstand nicht zum Mißbrauch zu dienen. Wer diese Kleinodien verwahrlost, oder, mit ihnen geputzt, auf den Markt hinaustritt, um sie auszubieten und sich Ansehn zu erwerben, der wird eben Charlatan und falscher Prophet, deren Anzahl unendlich ist. Und sehr oft waren es ursprünglich die edelsten Geister. – Aber, Gräfin, diese Discurse werden Sie ermüden und erschöpfen.

Wie wenig kennen Sie mich, sagte sie lächelnd, wenn 13 Sie das wirklich glauben. Sie, im Gegentheil sind mein wahrer Arzt. Sprechen wir noch einige Tage so, so wird das mir die Kraft geben, meine Oster-Reise ungehindert zu vollbringen.



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